Wir zwei ein Leben lang

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Bei Erin und Dominic ist es Liebe auf den ersten Blick - intensiv und mitten ins Herz. Doch sich zu verlieben ist einfach, aber die Liebe zu leben ist schwer. Erin und Dominic wagen es und heiraten. Allen Zweiflern zum Trotz. Ein besonderes Geschenk begleitet sie auf ihrem gemeinsamen Weg: ein in Leder gebundenes Notizbuch, in dem sie ihre Gefühle festhalten sollen. All das, worüber sie mit dem anderen nicht sprechen können - und jeder Eintrag endet mit »Ich liebe dich, weil …«. Bis der Tag kommt, an dem Dominic etwas beichtet, das es Erin unmöglich macht, an eine gemeinsame Zukunft zu glauben. Ist das starke Band zwischen Dominic und Erin zerrissen? Oder ist ihre Liebe doch diese eine, die ein Leben lang andauert?

»Sie werden weinen. Sie werden lieben. Sie werden staunen. An diesen Roman werden Sie sich erinnern. Ich liebe ihn so sehr.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Anna McPartlin

»Berührend und mit unvorhersehbarer Dramatik liest sich jede Seite dieses sehr zu empfehlenden Romans.« EKZ Bibliotheksservice


  • Erscheinungstag 01.03.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783745750003
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Eamonn und Mary,
und auch für Jim und Monica,
die einst so geliebt haben.

1

Dominic

HEUTE – 3. Juni 2017

Aus dem Buch der Liebe:

»Ich liebe dich, weil du mich gefunden hast.«

Ich bin hellwach, obwohl ich es nicht sein sollte. Kerzengerade und reglos sitze ich auf der Bettkante, lausche nach irgendeinem Hinweis auf sie. Da ist nichts außer den vertrauten Geräuschen des alten Gemäuers, die in der Stille hallen. Eine Fliege surrt am Schlafzimmerfenster. Durch die Eichendielen dringt das Brummen des Kühlschranks unten in der Küche. Die Rohre ächzen in den Wänden, was einem schnellen, erwartungsvollen Herzschlag ähnelt. Sogar das Haus vermisst Erin.

Ich stehe auf und strecke mich, wobei meine Finger fast die Decke berühren. Dann beginne ich meine Inspektion der Nummer 44 Valentine’s Way, meine Morgenrunde. In die Kinderzimmer schaue ich nur flüchtig. Dort gibt es nichts Neues, abgesehen von einer weiteren dünnen Staubschicht. Ich gehe nach unten, die linke Hand auf dem Geländer der Original-Jugendstiltreppe. Unten, gleich rechts im Arbeitszimmer, brennt die Schreibtischlampe neben einem Stapel von Architekturzeichnungen. Ein Blick auf meinen Terminkalender dahinter fördert eine schmerzliche Erinnerung an Erin zutage, die mich vor Monaten zu bewegen versuchte, meine Termine doch in meinem Handy zu speichern. Ich hatte lachend widersprochen und die Spitze über meine Steinzeitmethoden ignoriert; stattdessen erinnerte ich sie daran, dass sie es gewesen war, die mich überhaupt erst trotz meines Sträubens zum handgeschriebenen Wort geführt hatte.

Das heutige Datum, mit dem dünnen Kringel in der Mitte der Seite, zeigt, dass heute Abend Lydias Geburtstagsparty ist. Meine Schwester wird Personal aus ihrem Café engagiert haben, das mit Tabletts voller winziger Häppchen und Prosecco herumgeht. Sie selbst wird zwischen den Gruppen unserer Freunde und einigen von ihren, die ich nicht kenne, hin und her schweben, ein künstliches Lächeln im Gesicht haben und so tun, als wäre alles bestens.

Das Telefonklingeln im Flur erschreckt mich, aber ich rühre mich nicht, weil ich ahne, dass es wieder jemand sein wird, der gleich auflegt.

»Hi«, erklingt Erins Stimme aus der Diele. »Wir sind gerade nicht zu Hause. Bitte hinterlasst eine Nachricht.« Dann ertönt meine Stimme. »Falls es jemanden interessiert, ich bin auch nicht da.« Daraufhin kichert Erin direkt vor dem »Piep« und dem Klicken. Ich laufe in die Diele – höre den Nachhall ihres Lachens, der geradezu von den Wänden abfedert, und frage mich, warum die Tage ohne sie so schmerzlich ermüdend scheinen. So ist es immer gewesen. Von dem ersten Moment an, in dem ich sie so albern tanzen sah, bis zum letzten Mal, als wir miteinander gesprochen haben, hat sie in meiner Seele gewohnt. Sie war einfach eingezogen, hatte sich häuslich eingerichtet. Keine Diskussion. Keine Erlaubnis. Keine Reue.

Ohne mir dessen bewusst zu sein, habe ich mich dem Wandtisch aus Mahagoni mit der einzelnen Schublade genähert. Das Buch scheint nach mir zu rufen. Ich stelle mir Blaulichter vor, die mich vor der Gefahr warnen, dennoch ist es tröstlich wohltuend, es in der Hand zu halten. Das weiche Nappaleder ist stellenweise vernarbt, so wie ich. Ich ertappe mich dabei, wie ich in den von uns beschriebenen Seiten blättere. Sie riechen nach Erin, enthalten eine dezente Note ihres Pfingstrosendufts. Ich hebe das Buch an mein Gesicht und atme tief ein, bevor ich ihren letzten Eintrag aufschlage. In der Diele des Heimes, das wir uns gemeinsam eingerichtet haben, schreite ich auf den schwarz-weißen Fliesen auf und ab. Erstes Morgenlicht dringt durch das Oberlicht und hilft mir, ihre Worte laut zu lesen.

12. Mai 2017

Lieber Dom,

im August 2004 hast du hier etwas rausgenommen, weißt du noch?

Manchmal, für gewöhnlich, wenn ich gegen Morgengrauen wach liege, frage ich mich – nein, möchte ich vielmehr dringend wissen –, ob wir all den Herzschmerz vermieden hätten, hättest du es nicht getan.

Ich meine, was wäre gewesen, hättest du jene Seite gelassen, wo sie hingehörte? Was, wenn jene Worte ebendie in unserem Buch der Liebe gewesen wären, die du eigentlich damals hättest zu mir sagen sollen? Vielleicht warst du ehrlich, hast etwas gesagt, sogar um Hilfe gebeten. Und hätte ich jene Worte von dir zu der Zeit gelesen, wäre es dann anders? Was wäre, hätte ich sie sehen können, indem ich die nächste Seite ins Licht gehalten und die Druckspuren deines Stiftes entziffert hätte?

Ich habe es versucht – solche Sachen funktionieren nur in Filmen.

Ja, ich weiß. Du nennst mich »Die Königin des Was-wäre-wenn«. Aber dies ist nur eines der Dinge, die mich verfolgen, wenn ich zu früh aufwache und im Morgengrauen daliege.

Du rätst mir, ich solle nicht albern sein, nicht in der Vergangenheit festhängen. Du hältst mich in den Armen und sagst mir, alles, was geschieht, soll so sein; nicht direkt »aus einem Grund«, sondern weil »das Leben« – meinst du dauernd – »sich genauso entwickelt, wie es soll«.

Also blieb die fehlende Seite sehr fehlend. Abwesend. Fort. Ich habe nie gewusst, was dort stand, und du hast es mir nie verraten. Und das Leben entwickelte sich, wie es sollte, und da war Leid – aber auch so viel Liebe. Gott, wie viel Liebe da war.

Es ist immer noch welche da.

An die klammere ich mich in den ruhelosen Stunden, die der Nacht folgen.

Ich erinnere mich daran, dass Liebe überdauert.

Erin x

Ich hocke mich auf die unterste Treppenstufe. Die geschlossene Haustür gegenüber verhöhnt mich. »Was, wenn sie jetzt hier reinkäme?« Mein Flüstern ist kaum zu hören.

Meine »Königin des Was-wäre-wenn …«. Ich würde sie in die Arme nehmen, mit den Fingerspitzen ihr zartes Gesicht berühren und ihr sagen, dass sie recht hat, dass es Liebe ist, die dem Leben einen Sinn verleiht.

2

Erin

DAMALS – Dezember 1996

»Denn ohne Liebe ist man angeschmiert«, verkündete Seamus Fitzpatrick, Fitz, seinen Freunden und seinem Publikum.

Erin fühlte, wie Dom ihre Hand drückte, und folgte seinem nervösen Blick über den Tisch. Als sie die geschürzten Lippen ihrer frischgebackenen Schwiegermutter bemerkte, sah sie weg und konzentrierte sich stattdessen auf einen nassen Ringabdruck auf der Papiertischdecke.

»In Irland haben wir einen anderen Ausdruck dafür, also für ›angeschmiert‹, aber andere Länder, andere Sitten, nicht?« Fitz lachte, was jedoch leise und unsicher klang.

O Gott, dachte Erin. Bitte fluche nicht. Setz dich jetzt hin, Dad. Setz dich, bitte!

Sie schluckte angestrengt, während seine Stimme den kleinen Raum ausfüllte. Es war ein kleines Séparée für private Feiern hinten in The King’s Arms, direkt gegenüber vom Standesamt. Nicht die Art Räumlichkeit, in der sie sich ausgemalt hatte ihre Hochzeit zu feiern. Wie jedes kleine Mädchen hatte auch sie sich einst vorgestellt, sie würde ihr Ehegelübde in einem eleganten langen Kleid in einer malerischen Dorfkirche ablegen; und nach einem prächtigen Empfang gäbe es ein rauschendes Fest, auf dem sie ihren eingeübten ersten Walzer als Brautpaar zu »ihrem Lied« tanzen würden.

Ein Nebenzimmer in einem Pub, dessen Boden ein wenig klebrig war, mit verqualmter Samttapete, abgewetzten Sitzpolstern, faserigem Lametta und Lichterketten mit lauter defekten Birnen waren in diesem Traum nicht vorgekommen. Und Dom und sie kannten sich noch nicht lange genug, um »ein Lied« zu haben. Erin strich sich mit einer Hand über den Bauch, als sie eine inzwischen vertraute Angst beschlich. Sie hatten sich lange genug gekannt, um ein menschliches Wesen zu erschaffen, das in ihr strampelte, doch nicht lange genug, um ein Lied zu haben. Einzig Doms Hand auf ihrer vertrieb ihre Zweifel und erinnerte sie daran, dass sie das Wichtigste richtig gemacht hatte. Dominic Carter war ein Prinz unter den Männern.

»Denn ohne Liebe«, fuhr ihr Vater fort, »hat man nur zwei Leute, die durchs Leben wandern wie durch ein Tal … ein Tal der Tränen.«

Sie widerstand dem Impuls, an seinem Ärmel zu zupfen, und flehte im Geiste ihre Mutter an. Mach, dass er sich hinsetzt, Mum, bitte!

»Deshalb erfüllt es mich mit Freude …«

Sie blickte auf und verzog das Gesicht, denn Fitz fing an zu weinen.

»Es erfüllt mich mit Freude«, brachte er schniefend hervor, »zu sehen, dass ihr beide euch wirklich liebt. Lasst mich euch sagen«, er schaute sie und Dom über den Rand seiner ovalen Metallgestellbrille an. »Haltet an dieser Liebe fest, und ihr werdet ein fantastisches Leben haben.«

Erins Mundwinkel zuckten bei ihrem Versuch zu lächeln.

»Und jetzt erheben wir die Gläser auf das Brautpaar. Ich wünsche euch beiden Gesundheit, Glück und eine Familie, die euch liebt und euch Halt gibt.«

»Danke, Dad.« Sie berührte seinen Arm in dem neuen, schlecht geschnittenen Anzug, als er sich hinsetzte.

»Deine Mum wäre heute so stolz auf dich«, erklärte er lächelnd.

»Danke, Dad«, wiederholte Erin und starrte auf ihren Babybauch. Unmöglich hätte sie diese Kugel mit irgendwas verbergen können, und sowieso wusste hier jeder Bescheid.

»War es in Ordnung?«, fragte Fitz.

Sie versicherte ihrem Vater, dass seine Rede wunderbar gewesen war, während sie wieder einmal über den runden Tisch zu ihren Schwiegereltern blickte. Sophie sammelte imaginäre Krümel vom Tisch. Gerard lächelte und nickte verhalten in Erins Richtung.

»Vielleicht hätte ich nicht …« Ihr Vater lehnte sich zu ihr, wobei er sein Glas leerte. Sie schlang einen Arm um seinen Hals und küsste ihn auf die Wange.

»Sie war wirklich perfekt, Dad, habe ich doch gesagt. Danke.«

Drei runde Tische mit jeweils zehn Leuten waren in den Raum gequetscht worden, was die Geräuschkulisse erzeugte, die Dom und sie jetzt brauchten. »Willst du hier raus?«, fragte ihr Mann flüsternd.

»Du weißt, dass wir das nicht können.« Sie fühlte sein Seufzen an ihrem Ohr, und ein Schauer überfiel sie. Nichts wollte sie lieber als zurück in ihre Wohnung und sich mit diesem Mann und ihrem Babybauch ins Bett kuscheln.

»Na dann bleiben wir noch ein bisschen«, stimmte er ihr zu. »Aber keiner erwartet ernsthaft, dass wir mit ihnen trinken, Schatz.«

»Laufen wir ein bisschen herum und halten noch eine halbe Stunde durch«, entgegnete sie. Sie stemmte sich vom Stuhl hoch und verdrängte den Gedanken, dass es weder Musik noch einen ersten Tanz gab, und erinnerte sich daran, wie dankbar sie Dom sein sollte, dass er dies alles so schnell organisiert hatte – allein, ohne nennenswerte Hilfe von ihr oder sonst jemandem. »Ich verschwinde mal kurz«, sagte sie leise, bevor sie nach hinten zu dem Korridor lief, der zu den Toiletten führte. Als sie gerade um die Ecke biegen wollte, ließ eine bekannte Stimme sie abrupt stehen bleiben.

»Sie ist schamlos.«

Reflexartig wanderte Erins Hand schützend vor ihren Bauch. Jede Faser in ihr schrie, dass sie sich umdrehen sollte; dass sie nicht lauschen durfte. Doch ihre Füße waren wie mit dem schmutzigen Teppichboden verwurzelt.

»Du bist müde. Wir gehen bald.«

»Bevormunde mich nicht, Gerard! Ich bin nicht müde. Ich kann das Mädchen einfach nicht leiden.«

»Das ›Mädchen‹, wie du sie nennst, ist mit unserem Enkelkind schwanger. Und sprich leiser.«

Erin drängte sich an die Wand. Sie versuchte, jeden Wirbel gegen sie zu drücken, und plötzlich war ihr das altweiße Kleid egal, das sie so sorgfältig in dem kleinen Vintage-Laden nahe Putney ausgesucht hatte. Sie schloss die Augen und wünschte sich, unsichtbar zu sein.

»Tut sie das?«, stieß Sophie fauchend hervor. »Das wissen wir nicht, oder? Und er ist zu verknallt, als dass es ihn kümmert.«

»Hör auf!«, erwiderte ihr Mann. »Wenn du gehen willst, tun wir das, aber dies ist weder die Zeit noch der Ort, eine Szene zu machen.«

Sie sollte hinlaufen, sagte Erin sich. Einfach den schmalen, matschbraunen Korridor entlangmarschieren und langsam an ihnen vorbei, ihre Babykugel vorführen. Sie sollte ihrer Schwiegermutter zuckersüß zulächeln und Gerard einen dankbaren Blick zuwerfen, denn anscheinend war er größtenteils für Doms Charakter verantwortlich. Erin war klar, dass sie es tun müsste. Stattdessen flehte sie ihre Blase an durchzuhalten, wich zurück in den Raum und mischte sich unter ihre Freunde, so gut sie konnte.

»Du siehst aus wie ein Engel«, flüsterte Lydia.

»Göttlich«, stimmte Hannah ihr zu.

»Tja, ich würde nicht Nein sagen«, meinte Nigel, Doms Trauzeuge, grinsend. »Im Ernst, schwangere Frauen haben etwas total Verführerisches.«

Und Sophie im Auge behaltend, die aus dem Korridor kam, lachte Erin.

Als sie gingen, bildeten alle ein Spalier zu einer schrägen musikalischen Version von »Here Comes the Bride«. Erst als Dom sie unter dem Spalier und vorbei an Fitz und ihrem Bruder Rob entlangführte, entdeckte sie Sophie ganz am Rand. Sicher wartete sie darauf, ihrem Sohn zuzuflüstern, dass er immer ein Zuhause hätte, sollte er es sich anders überlegen. Erin duckte sich tief. Dom würde es sich nicht anders überlegen. Er liebte sie. Seit sie ihm von dem Baby erzählt hatte, hatte er nicht aufgehört zu lächeln. Und obwohl sie ihn nie gefragt und es auch nicht von ihm erwartet hatte, bat Dom sie wenige Tage nach der Nachricht, ihn zu heiraten. Dom hatte sie geheiratet. Weil er sie liebte.

Er zog sie durch das Spalier, und als sie sich wieder aufrichtete, lehnte sie sich vor, um Gerards Kuss zu empfangen, erwiderte den Luftkuss ihrer Schwiegermutter und ergriff die Hand ihres Bräutigams. Sie wurde abermals umarmt, während Dom versuchte, ihr in den Mantel zu helfen.

»Ich rufe dich morgen an.« Lydia drückte sie fest. »Schlaf ein bisschen.«

Erin nickte. Es war ein langer Tag gewesen, dennoch umarmte sie ihre Schwägerin herzlich.

»Pass auf meinen Bruder auf«, sagte Lydia grinsend. »Er ist der einzige, den ich habe.«

Erin nickte wieder, schloss Hannah, ihre zweite Brautjungfer, in die Arme und schaute sich im Raum um, bis ihr Blick bei Fitz und Rob verharrte. Die beiden, die es hassten, sich zu verabschieden, waren von der Tür zurückgetreten. Als ihr Vater ihr einen Luftkuss zublies und ihr einziger Bruder ihr zuzwinkerte, nickte Erin erneut und zwang ihre Tränen zurück.

Nigel reichte Dom die Autoschlüssel und lächelte Erin zu. »Er steht draußen, schon aufgewärmt für euch.«

»Danke, Nigel«, flüsterte sie. Manchmal waren es kleine nette Gesten, die sie zu Tränen rührten. Sie sah zu Sophie, die ihre Hände rang. Und manchmal, dachte sie, waren es bissige Worte. Wider besseres Wissen wandte sie sich zu ihrer Schwiegermutter um und sagte leise: »Ich liebe euren Sohn, und das wird er immer wissen. Immer.«

Ihre Reaktion beschränkte sich auf ein kaum merkliches Nicken, ein winziges Rucken mit abweisender Miene, eine kalte, aber merkliche Zurkenntnisnahme.

Im Wagen fröstelten sie beide. Dom griff hinüber und rieb sanft mit den Händen über ihre Arme. »Wer heiratet denn bloß im Dezember?«, fragte er lachend. »Gut, schaffen wir dich nach Hause und ins Bett.«

Für einen Moment schloss sie die Augen, um sich diese Szene einzuprägen – seinen Wunsch, sie zu wärmen und zurück in Sicherheit zu bringen. Mit siebenundzwanzig sollte Doms Hochzeitsnacht Flitterwochensex vorsehen, jede Menge. Ein Teil von ihr wollte sich entschuldigen – nicht nur für die Hochzeitsnacht, die ausfallen würde, sondern für alles. Für das ganze »Junge trifft Mädchen, erfährt sieben Monate später, dass sie schwanger ist, und heiratet sie fünf Monate danach«. Der Begriff »Blitzhochzeit« traf es nur ungefähr.

Er schob eine Hand in ihren Mantel und drückte ihr Knie, das nur von der dünnen, hautfarbenen Strumpfhose verhüllt war, die sie zu ihrem kurzen Spitzenkleid trug. »Mehr denn je«, erklärte er.

Sie lachte. »Woher weißt du, was ich dich fragen wollte?«

»Weil ich deine Gedanken lesen kann. Außerdem fragst du mich jeden Abend, ob ich glücklich bin.«

Sie schaute durchs Fenster zu den Schatten der vereisten Tannen am Straßenrand. »Ich möchte nur sicher sein …«

»Erin?«

»Mhm?« Sie beugte sich zur Heizung vor.

»Versprichst du mir etwas?«

»Alles.«

»Glaub mir, dass ich glücklich bin. Ich wäre nicht hier bei dir, bei euch beiden, wenn ich es nicht sein wollte. Also, ab heute kein Vergewissern mehr, einverstanden?«

»Einverstanden.«

»Versprochen?«

»Ich verspreche, dich nicht wieder zu fragen, ob du glücklich bist, es sei denn, ich bin aus einem wirklich guten Grund unsicher.«

Dom schüttelte den Kopf. »Schon wird verhandelt! O Gott, was habe ich getan?«

Minuten später parkte er den Wagen direkt vor dem Haus, in dem sie wohnten. »Vielen Dank, Parkplatzfeen«, flüsterte Erin. In der Hawthorn Avenue hatten zu viktorianischen Zeiten einzelne Familien die großen Häuser bewohnt, vornehme Leute, von denen Erin sich oft ausmalte, dass ihre Geister noch durch die Zimmer wanderten. Heute war die Nummer 27, wie die meisten anderen Häuser auch, in drei Wohnungen unterteilt. Dom und sie wohnten im Erdgeschoss, wo die Räume hohe Decken hatten und sie Zugang zu ihrem eigenen Garten. Obwohl Gerard und Sophie Carter ihre Vermieter waren, wohnte Erin sehr gern hier; sie mochte den Originalstuck an den Wänden und Decken, den gemauerten Kamin im Wohnzimmer, die Bilderleiste in ihrem Schlafzimmer und die alten knarrenden Holzdielen, bei denen jede einzelne Fuge mit Jahren von Geschichte gefüllt war. Da sie in einem klassischen Reihenhaus aus den Sechzigern aufgewachsen war, das ihre Eltern mit einem Kredit von der Gemeinde gekauft hatten, liebte Erin es, in diesem Gebäude Geschichte fühlen zu können.

»Na denn«, sagte Dom, legte einen Arm um sie und verriegelte den Wagen mit der Fernbedienung. »Wie machen wir das?«, fragte er, während sie sich der Haustür näherten. »Ist das hier die Schwelle oder die an unserer Wohnungstür?«

»Dom, nicht, das ist zu peinlich. Ich bin zu …«

Bevor sie den Satz beenden konnte, hatte er ihr die Autoschlüssel in die Hand gedrückt und sie hochgehoben. Mit einem Arm unter ihrem Rücken und einem unter ihren Knien trug er sie, und sie öffnete lachend die Tür. »Das reicht!«, rief sie.

»Nein! Wir müssen die andere auch noch schaffen. Für alle Fälle. Sonst bringt es vielleicht Unglück!«

In der Wohnung ließ er Erin wieder herunter. Und während Dom einen verletzten Rücken vorspielte, sich auf dem harten Holzboden herumrollte und mit der Hand gegen ihren anderthalb Meter hohen Plastikbaum mit den roten und grünen Kugeln stieß, ruhte Erins eine Hand auf dem sich bewegenden Baby. Es lachte ebenfalls.

Demzufolge, was Erin über das Thema gelesen hatte, war dies die Art, wie die Natur sie vorbereitete, aber Erin war es leid, müde zu sein, nachts nicht schlafen zu können und es mit kurzen Nickerchen tagsüber ausgleichen zu müssen. Sie schüttelte den Wasserkessel auf dem Herd und rückte ihn in die Mitte der Kochplatte. Dann blieb sie am Herd stehen, bis das Wasser brodelte, damit das laute Pfeifen Dom nicht weckte.

Sie tauchte einen Kamillenteebeutel in einen großen Becher und wanderte an der Spüle vorbei zu dem Geschenkestapel auf dem Küchentisch. Ihre leere Teetasse von heute Morgen, als sie noch unverheiratet gewesen war, stand kopfüber auf dem Abtropfgestell. Sie setzte sich oben an den Tisch – massive Eiche, im Landhausstil mit gedrechselten Beinen und einer Besteckschublade an einer Seite. Er war ein Geschenk der Carter-Familie. Sie hatten angeboten, für eine Hochzeitsfeier zu bezahlen; wahrscheinlich wäre die eher so ausgefallen, wie Erin es sich erträumt hatte, doch weder sie noch Dom wollten das Angebot annehmen, weil sie die unausgesprochene Ablehnung gegenüber Erin spürten.

Erin strich mit der Hand über die Geschenke. Es gab nur eines in dem großen Berg, das sie zu gerne öffnen würde und von dem sie wusste, es würde Dom nicht stören, sollte sie es als Erste sehen. Fitz hatte es in altes Zeitungspapier eingewickelt und mit einer blauen Schleife verpackt.

Die Verpackung war flach, und in ihr, mit Schichten von Seidenpapier eingeschlagen, lag ein ledergebundenes Notizbuch. Weiches Nappaleder in Bitterschokoladenbraun mit einer Lasche zum Öffnen wie bei einem Briefumschlag. An der Spitze der Lasche war ein dünnes Lederband zum Verschnüren des Buches angebracht. Erin hob das Buch an und stellte fest, dass es leichter war, als sie gedacht hätte. Mit dem Zeigefinger malte sie die geprägten Worte auf dem Einband nach:

Was bin ich?

Ich bin das Buch der Liebe,

die Seiten der Wahrheit mit ihrem Licht und ihrem

Schatten.

Ich bin die Liebe,

und wenn ich echt bin, werde ich nie verblassen.

Als sie es aufschlug, fiel eine Karte heraus und landete mit der Rückseite nach oben auf dem Tisch. Dort sah sie die Handschrift ihres Vaters.

Erin und Dom, eure Mutter und ich haben solch ein Buch früher geführt. Ich schwöre, dass es uns vor manch schwierigen Zeiten bewahrt hat, also ist dies eine »geliehene« Geschenkidee. Ich hoffe, ihr werdet es so benutzen, wie wir es getan haben – um miteinander zu reden, um aufzuschreiben, was immer ihr nicht über die Lippen bringt. In den kommenden Jahren wird dieses Buch ein Ort sein, zu dem ihr zurückblicken und in dem ihr von Dingen lesen könnt, die zu verstehen ihr vielleicht zu jung oder zu naiv wart. Es gibt nur zwei Regeln. Die erste lautet, macht es nicht zu oft; dies ist ein Weg, über schwierige Sachen zu sprechen, nicht der einzige, um sie zu erwähnen. Und die zweite ist, wenn ihr etwas schreibt, beginnt und endet mit liebenden Worten wie »Meine liebste/mein liebster Erin/Dom« etc. und schließt immer, IMMER mit einer Erinnerung daran, dass ihr euch liebt und warum, z. B. »Ich liebe dich, weil …«.

Erin fand die Geschenkidee nett, dennoch legte sie das Buch kopfschüttelnd zurück in die Schachtel. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es jemals eine Zeit geben würde, in der Dom und sie nicht einfach offen aussprachen, was sie wollten.

Das Geräusch von tapsenden Füßen bewirkte, dass sie sich umdrehte.

»Komm ins Bett, Schatz.« Dom hatte eine gestreifte Pyjamahose an, aber einen nackten Oberkörper und rieb sich die Augen.

»Ich kann nicht schlafen.« Er legte von hinten die Arme um sie.

»Es ist drei Uhr nachts«, sagte er gähnend. »Was ist in der Schachtel?«

»Ein Geschenk von meinem Dad.«

Dom zog sich einen Stuhl neben sie, trank einen Schluck aus ihrem Becher und schnitt eine Grimasse. »Kein Wunder, dass du nicht schlafen kannst. Das Zeug ist pulverisierter Mist.« Er deutete mit dem Kopf auf das Geschenk. »Also, was ist das?«

»Ist egal – nur eine von Dads verrückten Ideen.«

Dom nahm ihre Hand. »Erinnerst du dich, wie wir uns zum ersten Mal begegnet sind, Mrs. Carter?«

Leise lachte sie. »Es ist erst ein Jahr her. Natürlich.«

»Auf Lydias Silvesterparty. Als ich dich zum ersten Mal sah, hast du getanzt, mit all deinen eins fünfundsiebzig.« Er streichelte die feinen Härchen an ihrem Arm. »Du hast dieses komische Hippie-Schwingen gemacht, wobei du all deine langen Glieder geschwenkt hast.«

»Du hast mich Baummädchen genannt, und ich hasste dich.«

»Du fandest mich scharf.«

»Vielleicht, ein bisschen. Aber ich habe den Spitznamen gehasst.«

»Ich wusste genau in diesem Moment, dass ich dich heiraten würde.«

»Wusstest du nicht!«

»Oh doch.«

Erin umfing sein stoppeliges Kinn mit den Händen und konzentrierte sich auf die bernsteinfarbenen Sprenkel in seinen braunen Augen. »Ehrlich?«

»Ehrlich.« Er nickte. »Hätte ich allerdings geahnt, dass ich in meiner sexlosen Hochzeitsnacht um drei Uhr nachts auf wäre, hätte ich dich doch schlicht da in dem Wohnzimmer weiterhopsen lassen und wäre verschwunden.«

»Autsch.«

»Ja, ich hätte sofort kehrtgemacht und nie wieder zurückgeblickt.«

»Lügner.«

»Du kennst mich so gut.« Er lächelte.

Sie blickte zurück zur Schachtel. »Denkst du, dass wir immer so miteinander reden können? Wie jetzt? Einfach ausspucken, was uns durch den Kopf geht?«

»Klar. Solange es nicht jedes Mal drei Uhr morgens sein muss. Es war ein langer Tag, Schatz. Kommst du wieder ins Bett?«

Leise seufzte Erin, stand mit ihm auf und hakte sich bei ihm ein. Ihr war klar, dass er nicht wieder einschlafen würde, wenn sie es nicht versuchte.

Sekunden nachdem sie im Bett lagen, fröstelte Erin unter der kalten Decke. Sie rollte sich zusammen und schmiegte sich dankbar in der Löffelchenstellung an Dom. Prompt fühlte sie, wie sein Körper ihren wärmte, wie sein ruhiger Geist ihren besänftigte; wie seine Liebe aus jeder seiner Poren in sie hineinströmte, um sie zu erfüllen. Im schwachen Licht, das durch die Jalousien hereinfiel, sah sie den Ringfinger seiner linken Hand; anstelle eines Rings hatte er dort »Erin forever« tätowiert. Seine Mutter hatte beinahe einen Herzinfarkt bekommen, als sie es sah. Erin hatte es geliebt. Sie hatte kaum glauben können, dass irgendein Mann, vor allem nicht dieser, sich so zu ihr bekennen würde. Dieser Mann, der bei allem mit solch einer Leidenschaft dabei war.

Sie drückte seine Hand. Mit der anderen Hand griff sie nach hinten und berührte seine Wange. Noch haftete ein schwacher Ledergeruch an ihren Fingern.

»Ich bin die Liebe«, flüsterte sie.

»Du auch«, sagte er leise.

Lächelnd schloss sie die Augen.

3

Erin

DAMALS – April 1997

»Das ist ein Scherz, oder?«

Dom schüttelte den Kopf und blieb vollkommen ernst.

»Doch, ist es! Du nimmst mich auf den Arm.« Erin lachte. »Nicht mal du würdest Strippoker mit einer Frau vorschlagen, die im neunten Monat ist und ihre Füße nicht mehr sehen kann.«

Sie beobachtete ihn, als er das Tablett ruhig in den Händen balancierte und fast über die kleine Krankenhaustasche stolperte, die sie vor Wochen gepackt hatte.

»Was? Ich bekomme Tee und Toast ans Bett, wenn wir spielen, ›weil Wochenende ist und wir es können‹?«

»Genau«, erwiderte er und stellte das Tablett neben ihr ab. »Und ich werde dich vernichten. Du wirst als Erste nackt sein.«

Erin biss in den Toast, schnippte die Krümel von ihrem Flanellpyjama und dachte an ihre ersten Nackt-Kartenspiele. Da kannten sie sich erst seit ein paar Wochen und hatten ihr Zimmer ein ganzes Wochenende nicht verlassen. »Ich habe zwei Kleidungsstücke an, und die ziehe ich nicht aus«, sagte sie, aber er holte bereits ein Kartenspiel aus seiner Tasche.

»Tja, dann solltest du lieber gewinnen, was?«

Erin stöhnte. »Dom … ich …« Sie fühlte, dass er sie ansah.

»Du bist wunderschön«, sagte er. »Ich weiß, dass du es im Moment nicht so empfindest, doch nichts ist so sexy wie dein mit meinem Baby schwangerer Körper. Und ich versuche, dich davon abzulenken – von dem Baby-Ding.«

Erin rieb mit der Zunge über ihre Schneidezähne. Sie hatte Morgenmundgeruch. Und es klebten Krümel in ihren Mundwinkeln. Sie hatte auf Ausschlafen gehofft, aber hier war er mit seinem Frühstückstablett und seiner ansteckenden Art. Lächelnd hielt sie eine Hand ausgestreckt, um die Karten entgegenzunehmen, die er bereits mischte. »Halt deine Hose gut fest, Dom«, sagte sie.

»Werde ich nicht müssen.« Er biss von ihrem Toast ab. »Oh, entschuldige, ist ein bisschen kalt.«

»Wenn ich gewinne, darfst du neuen machen gehen.«

»Wenn ich gewinne und nachdem du dir wieder etwas angezogen hast, führe ich dich zu einem frühen Mittagessen aus.«

»Abgemacht«, entgegnete sie, strich sich das Haar hinter die Ohren und übte schon mal ihr Pokerface.

Nach einem herrlich faulen Tag mit Dom lehnte Erin im Rahmen der Hintertür und bemühte sich, ihr leises Unbehagen zu unterdrücken. In letzter Zeit verschlimmerten die Schwangerschaftshormone ihre natürliche Angst.

»Du verstehst das nicht«, flüsterte sie, während sie kleine Kreise um ihren Nabel malte.

»Dann erklär es mir.« Dom griff nach ihrer Hand.

Ihre Stimme zitterte. »Ich schätze, dass ich Angst habe.«

»Wovor? Ich meine, erzähl mir, wovor genau du Angst hast?«

Erin senkte den Blick. Gleich vor der Tür, neben ihren Füßen, die nur in Socken steckten, war ein Flecken spät blühender Krokusse, deren Knospen kurz vorm Aufgehen waren. Vielleicht würden sie morgen in Lila und Goldgelb erblühen und stolz ihre Staubgefäße zeigen. Sie beobachtete, wie sich ihr runder Bauch mit jedem Atemzug hob und senkte. Und vielleicht würde sie sich bereit fühlen, Mutter zu sein, wenn ihr Baby erst geboren war.

Manchmal konnte sie nicht glauben, dass in ihr ein anderes menschliches Wesen lebte. Dann wieder, wenn das Kind trat und sich gegen die Enge in ihrem gedehnten Bauch stemmte, war sie sich dessen allzu bewusst. Und heute Abend wurde ihr Bauch von weiteren Braxton-Hicks-Kontraktionen hart – »unnütze Wehen«, wie sie einzig ein Mann nennen konnte. Erin fragte sich, ob jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, Dom zu sagen, dass sie dies hier nie wieder tun würde. Der Gedanke, dass noch einmal jemand anders ihren Körper übernahm …

»Rede mit mir«, bat er sie.

Sie schloss die Augen. Ihr war klar, würde sie aussprechen, wie sie wirklich empfand, vollkommen ehrlich zu ihm sein, würde Dom sich bloß sorgen. Sie könnte ihm gestehen, dass sie fürchtete, Eltern zu werden, würde sie verändern, dass in ihrer Liebe kein Platz für eine weitere Person wäre. Sie könnte ihm erzählen, was ihre Hormone mit ihren alten Ängsten anrichteten, die sie so sorgfältig verdrängt hatte. Sie könnte ihm verraten, dass sie Angst hatte, bei der Geburt zu sterben. Ihr Verstand sagte ihr, dass die Panik, die jedes Mal einsetzte, wenn sie an die Geburt dachte, kein bisschen logisch war, aber … Sie schob diese unheimlichen Gedanken von sich.

»Erin?«, fragte Dom.

Er hob eine Hand an ihr Gesicht, und sie legte sie an ihre Wange. »Ich bin doof.«

Sie fühlte seine Lippen an ihrer Stirn. Mit seinem Kuss bestätigte er ihr, dass er bei ihr war, ihr zuhören würde, wenn sie »doof« war, falls sie es wollte. Aber Erin schwieg. Unmöglich konnte sie ihrem Mann von ihren Zweifeln erzählen, denn er glaubte, er könnte ihre Ängste fortküssen.

Vier Tage bis zum Termin, und die Gedanken reihten sich aneinander, stießen nervös zusammen. Was wäre, fragte sie sich ängstlich, wenn ich sterbe und dich allein zurücklasse? Was wäre, wenn ich überlebe, wir ein wunderschönes Kind haben, ich es aber nicht lieben kann? Was wäre, wenn ich es mehr liebe als dich? Was wäre, wenn ich mein Gewicht behalte, würdest du mich weiterhin hübsch finden? Was wäre, wenn wir vergessen würden, uns zu lieben? Sie dachte an vorhin, als er sie im Strippoker geschlagen hatte und sie nackt im Bett gelegen hatten, sich einfach in den Armen gehalten. Nun griff sie sich an den Bauch und atmete sich durch das Ziehen.

»Hast du wieder diese falschen Wehen?«, wollte er wissen, und sie nickte. Wahrscheinlich konnte er sie auch spüren, während er sie umarmte. »Das muss sich verrückt anfühlen.«

»Ja.« Sie wich von ihm zurück und beugte sich vor, die Hände auf die Knie gestützt. »Aber diese gehen nicht weg«, erklärte sie. Mit einer Hand hielt sie sich am Türrahmen fest.

»Atme.« Dom rieb ihren Rücken. »Langsam.«

Das tat sie, veratmete die unangenehmen »unnützen Wehen« und spürte, wie Dom sanft ihren Rücken massierte, als sie ein kleines Ploppen fühlte und sah, dass Wasser an ihren Beinen hinunter zu ihren Socken rann.

»Oh Mist!« Dom richtete sich ruckartig auf. »Ist das …?«

Erin machte sich ebenfalls gerade. »Hol die Tasche, Schatz.«

»Klar.« Er starrte sie an.

»Dom, die Tasche?« Sie schloss die Hintertür, drehte den Schlüssel im Schloss und drückte die Klinke, um sicher zu sein, dass sie verriegelt hatte.

»Geht es dir gut?«

Sie nickte. »Die …«

»Ich weiß, die Tasche.« Dom klopfte seine Hosentaschen ab, als könnte er die kleine Reisetasche, die Erin vor sechs Wochen gepackt hatte, darin finden. Sie griff nach seiner Hand.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie, und im selben Moment erkannte sie all ihre Ängste in seinen Augen. Natürlich. Selbstverständlich hatte er auch Angst. »Alles gut.« Sie drückte seine Hand.

Er nickte, bevor er ins Schlafzimmer rannte.

»Bring mir auch eine frische Unterhose und Leggings mit«, rief sie ihm nach.

»Klar.«

Sie hörte, wie er nebenan Schubladen aufzog und vor sich hin murmelte. Unterdes begann sie, sich die durchnässten Sachen abzuschälen. Mit den Leggings wischte sie die kleine Pfütze auf dem Boden auf. Sie ignorierte den Gedanken, dass sie mit einer Sturzflut gerechnet hatte, vielleicht bedeutete diese geringe Menge Flüssigkeit, dass der Rest in ihr Baby war. »Mist«, flüsterte sie.

Sie stand an der Spüle, füllte die Plastikschüssel mit heißem Wasser und tauchte ihre besudelten Sachen mit den Händen hinein, als Dom plötzlich neben ihr war.

»Na gut, machen wir uns auf den Weg.« Behutsam legte er einen Arm um ihre Schultern.

Erin klammerte sich an den Spülenrand, als sie eine Welle Schmerz und Übelkeit überfiel. »Unter-hose«, sagte sie japsend.

»Ja, entschuldige, die habe ich in die Tasche gepackt.« Dom riss den Reißverschluss auf, bückte sich und zog Erin einen Slip die Beine hinauf. Sie stöhnte, als sie piksige Spitze fühlte, und begriff, dass er offensichtlich ein Teil aus ihrer Vor-der-Schwangerschaft-Schublade geholt hatte, auf die sie irgendwann wieder zurückzugreifen hoffte.

»Ein Tanga?«, fragte sie. Das nutzlose Stoffdreieck saß tief unten an ihrem Bauch, und ein dünner, elastischer Streifen klemmte zwischen ihren Pobacken.

»O Gott, entschuldige!« Er hatte schon begonnen, ihren einen Fuß durch ein Bein der schwarzen Leggings zu führen, die er nun rasch wieder nach unten schob.

Erin versuchte zu grinsen. »Lass nur – ist egal«, meinte sie und packte seine Schultern, weil sich eine neue Wehe ankündigte. »Da haben die Schwestern etwas zu lachen. Ab ins Krankenhaus.« Sie zerrte die Leggings so weit nach oben, wie es ging. »Und tritt aufs Gas.«

»Neiiiiin!«, schrie Erin, als Susan, eine mollige Hebamme aus dem irischen Westen, die sie neun Stunden zuvor kennengelernt hatten, das Wort »Arzt« aussprach. Erin hatte die Bücher gelesen, die Geschichten anderer Frauen gehört. Ein Arzt bedeutete, dass ein Kaiserschnitt gemacht würde. Sie schaffte dies hier. Sie fixierte Doms Augen – dunkelbraun – zwischen der verschwitzten, von Sorgenfalten gezeichneten Stirn und der OP-Maske. »Sag ihnen, dass ich es schaffe.« Sie umklammerte seine Hand. »Bi-it-te …«

Dom richtete sich auf, ohne sie loszulassen. »Sie sagt, dass sie es schafft«, verkündete er in einer seltsamen »Ich habe das Sagen«-Stimme, die Erin noch nie zuvor gehört hatte, aber für die sie ihn jetzt liebte.

»Okay, Erin.« Susan blickte zwischen ihren Oberschenkeln auf. »Versuchen wir es noch einmal. Jetzt atmen … und warten Sie auf die nächste Wehe, ehe Sie pressen«, sagte sie und blickte zu dem Monitor neben sich. Erin blieb nur wenig Zeit, um Atem zu schöpfen, ehe sie es in sich anrollen fühlte; noch eine Wehe, die einer Flutwelle gleich an Tempo zulegen würde. Erin versuchte, sie zu kontrollieren, in sie hineinzuatmen, kurz bevor ein quälender Druck ihren ganzen Körper ergriff. Ohne die Anweisung abzuwarten, presste Erin, bis sie glaubte, ihr Schädel würde bersten. Es war überhaupt nicht wie in den Büchern beschrieben; kein bisschen wie in den Kursen, in denen Dom und sie die Atemübungen gelernt hatten. Und während sie in den letzten Stoß hineinschrie, mit dem ihr Kind geboren würde, war sie sicher, dass ihr Körper entzweigerissen wurde.

»Pressen, Schatz, pressen!«, drängte Dom, und sie wollte ihn schlagen. Sie wollte ihn anbrüllen, ihn fragen, wie er denn wohl eine Melone scheißen wollte, aber sie brauchte ihre gesamte Kraft, und der einzige Laut, der ihr über die Lippen kam, war ein langes Heulen – ein schneidender Schrei, der genauso lange anhielt, wie das Baby brauchte, um herauszukommen. Und als sie endlich wieder atmete, hörte sie Dom schluchzen. »Du hast es geschafft, Süße. Oh Mann, du hast es geschafft.«

Erin wartete auf ein Babyschreien. Sie versuchte, sich auf die Ellbogen aufzustützen. »Wo …«

Dann hörte sie es: ein winziges, quäkendes Wimmern, das ebenfalls nichts mit dem gemein hatte, was sie erwartet hatte.

»Sie haben ein kleines Mädchen bekommen.« Susan lächelte, als sie das zappelnde Baby abwischte und es Erin auf die Brust legte.

Stumm starrte Erin den blutigen Säugling an, der nur aus Falten und zappelnden Gliedmaßen bestand. Sie zog die Kleine in ihre Arme, überprüfte die Finger und Zehen. Dom lehnte seine Wange an ihre, und gemeinsam beobachteten sie, wie ihr Neugeborenes die Augen öffnete. Abermals irrten die Bücher, denn Erin hatte das Gefühl, dass ihre Tochter schon richtig sehen konnte – sie entdeckt hatte und beide ansah, als wolle sie sagen: »Hallo, Mummy und Daddy. Hier bin ich. Seid ihr die, die so lange mit mir geredet haben?«

Sie hielt ihr Baby fest, ignorierte alles, was unterhalb ihrer Taille stattfand, achtete nicht auf Worte wie »Nachgeburt« und »Stiche«.

»Du bist so tapfer gewesen«, flüsterte Dom. »Ist sie nicht wunderschön?«

Da war Erin sich nicht sicher. Sie war sich nicht sicher, ob ihr Kind schon wunderschön war, sehr wohl aber, dass die Kleine es eines Tages sein würde. Sie war sich nicht sicher, ob sie tapfer gewesen war oder widerspenstig. Und sie fragte sich, ob es genug selbstauflösende Wundfäden auf der Station, auf der Welt gab, um ihre beiden Körperhälften wieder zusammenzunähen.

Sie war sich aber durchaus der klaren Vision von Dom sicher, als Daddy mit seinem kleinen Mädchen, das zum ersten Mal auf einem Kinderfahrrad ohne Stützräder fuhr. Sie war sich seiner Stimme sicher, die er beim abendlichen Vorlesen passend zu den Figuren in den Geschichten verstellte. Sie war sich dieses Schwalls von Liebe sicher, die sie für dieses winzige Wesen empfand, das so lange ihren Körper eingenommen hatte. Die war stärker als jeder Schmerz, den sie ausgehalten hatte, stärker, als es irgendeine der Zeitschriften beschrieben hatte. »Hallo, Kleine«, sagte sie. »Willkommen.«

Und zum zweiten Mal in ihrem Leben war Erin Carter verliebt.

Als sie aufwachte, tat ihr alles weh. Ihr Bauch war noch so gewölbt, dass sie sich fragte, ob sie alles geträumt hatte oder sie ein Baby in ihr vergessen hatten. Dom saß auf einem Stuhl neben ihrem Bett und fütterte das Kind aus einer kleinen Flasche. Erin spürte ein Ziehen in ihren Brüsten. Sie wollte sich aufsetzen, sagen, dass sie das Baby an die Brust nehmen wollte, aber sie brachte die Worte nicht heraus.

Dom streckte eine Hand nach ihr aus. »Schlaf, mein Schatz, du bist erschöpft.« Er stand auf, hielt ihre kleine Tochter in einem Arm und streichelte Erins Stirn. Sie fühlte das rhythmische Streichen seiner Hand. Es war hypnotisch. Panik überkam sie, und sie flüsterte seinen Namen. »Dom …«

»Du musst dich ausruhen, Schatz. Dein Blutdruck ist niedrig.«

Erins Atmung beruhigte sich erst, als sie einen Arm ausstreckte und ihr Kind berührte.

»Ich kümmere mich um sie«, sagte er. »Keine Sorge.«

Erin befahl ihren Augen, nicht zuzugehen, aber sie taten es, und sie sagte sich, dass sie noch reichlich Gelegenheit hätte, ihr Baby zu stillen. Es würde genug Zeit bleiben zu fühlen, wie sie saugte, sie aus ihren geschwollenen Milchdrüsen zu nähren. Jetzt gerade konnte sie eine flammende Hitze in ihrem Unterleib spüren, und zum ersten Mal seit ihrem Blasensprung dachte sie an sich.

Etwas stimmte nicht.

Du wirst nicht sterben.

Dennoch stimmte etwas nicht.

Da ist nichts. Schlaf. Hör auf, schlimme Dinge zu fantasieren. Du hast jetzt jemand anderen, an den du denken musst.

»Hast du.« Aus dem Nichts drängte sich die Stimme ihrer Mutter in ihre Gedanken. »Du bist jetzt Mutter. Ich bin so traurig, dass ich nicht bei dir sein kann.«

Etwas stimmt nicht.

»Alles ist in Ordnung, Erin.«

Im Geiste sah sie ihre Mutter lächelnd direkt hinter Dom und ihrem Baby stehen. Sie trug ihre Lieblingslatzhose und einen bunten Schal über einer weißen Bluse um die Schultern. Erins Herz schlug schneller. »Entspann dich, ihr geht es gut«, versicherte ihre Mutter ihr. »Du wirst eine wunderbare Mutter sein, aber jetzt brauchst du erst mal Ruhe. Dom hat alles im Griff.«

Seit sie aufgewacht war, wehrte Erin sich dagegen, wieder einzuschlafen, weil sie fürchtete, dass sie nie wieder aufwachen könnte.

Entspann dich. Dom hat alles im Griff.

Und während sie gegen Müdigkeit, Sorge, Freude und Schmerz ankämpfte, rannen ihr Tränen aus den schweren Lidern, denn gerade heute wünschte sie sich wirklich, ihre Mutter wäre bei ihr.

Achtundvierzig Stunden später, nachdem sie zwei Tage lang mit Antibiotika gegen die postnatale Infektion behandelt worden war, war Erin geduscht und wollte sich anziehen, als Dom am Fußende des Bettes auftauchte und durch den Vorhang spähte. Ihre Tochter schlief friedlich, eingehüllt in eine leuchtend gelbe Wolldecke.

»Hey, Schönheit.« Dom kam herein, beugte sich zum durchsichtigen Krankenhausbettchen und küsste ihr Kind.

»Wie geht es dir?«, fragte er und umarmte Erin vorsichtig.

»Die Schwestern haben sie in der Nacht gefüttert, also nicht allzu schlecht. Ich konnte sie gestern Abend und gleich heute Morgen stillen, und das ging gut. Wir müssen uns einen Namen aussuchen.« Sie sprach leise, während sie sich ein T-Shirt über den Still-BH zog. »Und hör auf, meine Möpse anzuglotzen«, ermahnte sie ihren Mann grinsend.

»Ich kann nicht anders. Die sind wie eines der Weltwunder.«

»Fürs Erste gehören sie Rachel.« Sie nickte zum Bettchen.

»Du meinst, Maisie«, antwortete er, beide Hände in die Hüften gestemmt. »Und wir sollten ihr von Anfang beibringen, fair zu teilen. Findest du nicht, dass Maisie zu ihrem Gesicht passt?«

Erin lächelte. »Wie wäre es mit Rachel und Maisie als zweitem Vornamen?«

»Oder nur Maisie«, entgegnete er grinsend. »Hör mal, da ist etwas …«

»Was?« Erin kramte in der Tasche nach Unterwäsche, die sie ganz unten reingepackt hatte, endete jedoch mit dem Tanga in der Hand, den sie zur Entbindung getragen hatte.

»Ich weiß, dass du erschöpft bist, und ich verspreche, dass es nicht lange dauert.«

Stirnrunzelnd sah sie zu ihrem Mann und ahnte bereits, was kommen würde.

»Sie ist ihr erstes Enkelkind. Sie haben sich bisher nicht aufgedrängt und möchten sie nur ganz kurz sehen. Deshalb kommen sie für zehn Minuten vorbei, wenn wir zu Hause sind.«

Erin sank auf das Bett und seufzte laut, bevor sie sich den Tanga auf den Kopf legte.

Dom verengte die Augen, und sie spürte, wie er zusah, als sie sich einen größeren Schlüpfer anzog und sich bückte, um die Leggings überzuziehen. »Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe«, sagte sie, fasste sich an den Bauch und kniff hinein. »Ich habe eine Jeans eingepackt. Ein bisschen zu optimistisch, wie mir jetzt klar wird.«

»Hast du mitbekommen, dass ich sagte, meine Eltern kommen nachher vorbei?«

Erin sah ihm in die Augen. »Ja, das habe ich gehört. Für zehn Minuten.«

»Mehr nicht. Ist dir bewusst, dass du einen Tanga auf dem Kopf hast?«, fragte er und setzte sich neben sie.

»Ist es.« Sie zerrte den Tanga nach unten um ihren Hals. »Ich werde ihn als Kette tragen, bis mein riesiger Hintern wieder reinpasst.« Sie lehnte den Kopf an Doms Schulter, und gemeinsam betrachteten sie ihr Baby.

»Glaubst du, dass sie immer so ruhig sein wird?« Er zupfte an einem Deckenzipfel, der sich gelöst hatte.

»Träum weiter … Sie mag es nur gern, eingewickelt zu sein.«

Dom lächelte, und sie starrte ihn an. »Was?«, fragte sie.

»Das kannst du schon«, sagte er. »Sachen einwickeln. Du wirst genial sein …«

»Schmeichelei … Ich werde immer noch einen Tanga um den Hals haben, wenn deine Mutter zu Besuch kommt.«

Dom lachte, stand auf und zog Erin nach oben. »Entweder bemerkt sie es nicht, oder sie sagt kein Wort. Du bist über Nacht zum Superstar aufgestiegen. Kein Schmerzmittel außer Lachgas und Luft, ein gesundes, über viertausend Gramm schweres Mädchen. Laut Dad haben Mums Stricknadeln die ganze Nacht durchgeklickert – natürlich alles in rosa Wolle.«

Erin verzog das Gesicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Sophie angesichts einer Stricknadel an irgendetwas anderes dachte, als sie ihr ins Herz zu rammen. Trotzdem nickte sie brav und wollte ihrer Schwiegermutter, mal wieder, einen kleinen Vertrauensvorschuss geben – um ihres Mannes willen.

»Ich gehe nur kurz fragen, ob sie dich jetzt hier rauslassen.« Dom war hinter dem Vorhang, bevor sie ihm sagen konnte, dass schon alle Entlassungspapiere fertig waren. Sie warteten darauf, dass sie ging. Wahrscheinlich schrie schon die nächste Frau im Kreißsaal, die hinterher ihr Bett bräuchte. Erin legte eine Decke aus ihrer Tasche aufs Bett, die aus kleinen bunten Häkelquadraten bestand. Die hatte ihre Mutter für sie gemacht. Erin hatte sie sorgfältig in weicher Seife gewaschen und faltete sie nun zu einem Dreieck.

Behutsam hob sie das Baby aus dem Bettchen, legte es in die Mitte und zog die Zipfel über den winzigen Körper. Dabei dachte sie: Dom hatte recht, sie sah wie eine Maisie aus. Das Baby regte sich im Schlaf, rümpfte die Nase, und Erin hielt für einen Moment die Luft an, ehe sie die Kleine an ihre Brust hob. Sie atmete den berauschenden Duft des dunkelbraunen Babyhaars ein.

Du kannst das.

»Alles klar zum Gehen.« Dom zog den Vorhang zurück. »Die Papiere sind fertig. Bist du so weit? Hast du alles?«, fragte er.

Du schaffst das. Deine Mum ist nicht hier, aber mit Dom an deiner Seite kannst du das.

»Alles, was wichtig ist.« Erin holte tief Luft und küsste Maisies Kopf.

4

Dominic

HEUTE – 3. Juni 2017

Aus dem Buch der Liebe:

»Ich liebe dich, weil du mir ein Toblerone-Dreieck

in die Anzugtasche gesteckt hast.«

»Kennst du den Ausdruck ›eine New Yorker Minute‹? Es ist wie die kürzeste Zeiteinheit, in der sich aber unglaublich vieles verändern kann. Tja, so war es. Vergiss Amor und seine Pfeile – ich wurde von Erin Fitzgerald harpuniert!« Meine Augen verengen sich. »Hörst du mir zu?« Ich zeige mit dem Finger auf einen Stoffelefanten. »Sie hat getanzt«, erkläre ich, »so hippiemäßig, hat den Körper geschwenkt, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Mich hat sie an einen Baum erinnert – groß, kupferrotes langes Haar, lange Beine, schmale Finger.«

Draußen ist es trübe, denn am späten Vormittag hat ein düsterer Dauerregen eingesetzt, der jede Junibraut zum Heulen bringen würde. Unsere Bäume hinten im Garten, zwei majestätische Eichen, eine weiß blühende japanische Zierquitte und mehrere Birken, halten ihr Laub fest, während der Regen auf sie einprasselt. Ich schlage die Zeit bis zu Lydias Party tot, indem ich auf Maisies Lieblingsstofftier einrede, ein fadenscheiniges graues Ding mit nur noch einem Ohr, das herrschaftlich in einem der Sessel thront – warum, habe ich nie richtig verstanden.

»Jedenfalls war sie da, diese herbstliche Platane, verwurzelt in der Mitte des alten Teppichs, und ich konnte an nichts anderes denken als daran, wie es sich anfühlen würde, wenn diese Finger durch mein Haar fahren oder meinen Rücken umklammern.«

Ich starre den Elefanten an. »Ich langweile dich …« Kopfschüttelnd weigere ich mich, diese Szene objektiv zu betrachten: Der mittelalte Schatten des Mannes, der ich früher mal war, unterhält sich mit einem Stofftier darüber, wie er seine Frau kennengelernt hat.

»Ich habe sie ›Baummädchen‹ genannt …« Der Elefantenkopf kippt zur Seite, und ich richte ihn wieder auf. »Sie war Lydias neue Mitbewohnerin, also liegt es an ihr, dass wir uns überhaupt begegnet sind?«

Das Regentrommeln bringt mich auf den Gedanken, wie enttäuscht meine Schwester sein wird, dass sie das geplante Geburtstagsgrillen heute nach drinnen verlegen muss.

»Erin hat mir einen Kaffee gemacht, und wir haben Schokolade aus dem Kühlschrank gegessen«, erzähle ich dem Elefanten. »Toblerone. Ihre. Aber meine absolute Lieblingsschokolade.«

Mein Seufzen fällt lang aus. »Keiner von uns glaubte diesen Quatsch von Liebe auf den ersten Blick, aber …« Ich sehe hinter mich. Die Neonuhr an der Wand sagt, dass es noch zwei Stunden sind, bis ich zur Party kann.

»Aber«, ich greife nach dem Elefanten und setze ihn aufs Sofa, »die Sache ist die: Das war damals, und dies ist heute.«

Die grauen Glasaugen des Elefanten blicken mich über den gebogenen Rüssel und die schmutzigen Stoßzähne hinweg an, und eine New Yorker Minute lang denke ich, er versteht mich.

»Zwischendurch waren wir glücklich, wirklich glücklich. Sicher gab es Zeiten …« Ich zögere, weil ich ungern meinen Anteil an den schlechten Zeiten gestehen will, nicht mal vor einem Stofftier. Mein Blick fällt auf das lederne Buch vor mir auf dem Couchtisch. Ich habe es nicht zurück in die Schublade gesteckt. »Und sogar während all dem Mist haben wir uns geliebt, verstehst du? Und unsere Kinder hätten sich keine bessere Mutter wünschen können. Ehrlich, sie …«

Die grauen Augen scheinen größer zu werden, und ich antworte auf die imaginäre Frage. »Ich? Ja, ich bin auch ein guter Dad gewesen. Ich denke, das würden sie beide sagen. Sie sollten heute Abend da sein«, ergänze ich. »Ja, wahrscheinlich sehe ich sie heute Abend.«

Noch zwei Stunden. Einhundertzwanzig Minuten. Ich scheine meine Zeit mit Warten zu verbringen, dass die Zeit vergeht. Vielleicht sollte ich einfach von siebentausendzweihundert rückwärts zählen.

»Erin hatte immer diesen Gedanken.« Immer noch spreche ich mit dem Elefanten, auch wenn mein Blick von den schwankenden Bäumen draußen gebannt ist. »Sie dachte immer, dass ich glauben würde, sie habe mich in eine Falle gelockt.« Ich lache laut. »Mum war auf jeden Fall dieser Meinung, doch mir ist der Gedanke nie gekommen. Schwanger oder nicht, ich wollte nichts anderes, als mit ihr zusammen sein. Ich denke, sie hat es begriffen – irgendwann …«

Der Elefant ist umgekippt. »Sie war nicht immer einfach, weißt du? Damals, als sie sich dauernd sorgte. Gott, sie konnte sich wegen Kleinigkeiten verrückt machen, hat es aber gut versteckt. Ich schätze, wir haben alle unsere Masken.« Ich setze den Elefanten wieder auf. »Was ich sagen will, ist, dass die guten Teile die schlechten bei Weitem überwogen haben.«

Ich lehne meinen Kopf auf dem Sofa zurück und versuche, nicht darauf zu achten, dass ich die letzten zehn Minuten – sechshundert Sekunden – mit einem leblosen Objekt gesprochen habe. Meine Lider werden schwer.

Als ich einnicke, träume ich. Ich träume von Erin an unserem Hochzeitstag. Ich träume von Maisie. Und ich träume von Elefanten im Zimmer.

5

Erin

DAMALS – Januar 1998

Erin fuhr … Sie fuhr schneller, als erlaubt war, und die Tachonadel überschritt die achtzig. Einzig Maisies aufgeschreckter Ruf von der Rückbank brachte sie dazu, den Fuß vom Gas zu nehmen.

»Schhh, Schatz.« Sie griff nach hinten, ertastete das Schienbein des Babys und streichelte es. »Wir sind fast da, Süße.«

Maisie, das fröhlichste Kind, seit sie erstmals Luft geholt hatte, gurgelte eine muntere Antwort.

Erin blickte in den Rückspiegel und sang ein Lied aus ihrer eigenen Kindheit, etwas über Miss Polly, deren Puppe krank war. Während sie zum Abbiegen von der M3 blinkte, musste sie über die Ironie grinsen. Krank. Arme Polly. Arme Erin.

In der engen Straße vor dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, parkte Erin hinter dem Wagen ihres Vaters. Die Windschutzscheibe von Fitz’ Toyota war noch von einer dünnen Schicht Nachtfrost überzogen. Der Wagen schien beinahe so alt wie Fitz selbst, und Erin konnte sich nicht erinnern, wann er je ein anderes Auto gefahren hatte. Er war von Beruf Mechaniker und arbeitete mit siebenundfünfzig noch Vollzeit, um Motoren zu warten, als handele es sich um menschliche Herzen. Sie mussten umsorgt werden, geliebt, genährt und gelegentlich richtig eingestellt. Die Haustür war schon offen, bevor Erin die Hände vom Lenkrad nahm. Ihr Vater riss die hintere Wagentür auf, redete im Singsang auf das Baby ein und hob Maisie aus ihrem Sitz, ehe Erin eine Chance hatte, Hallo zu sagen.

»Du kannst jetzt wieder fahren«, sagte Fitz, als er mit seiner Enkelin auf dem Arm wegging. Erin hängte sich die Wickeltasche über die Schulter und schloss den Wagen ab. Sobald sie sah, wie ihr Vater eine Hand nach hinten zu ihr ausstreckte, ergriff Erin sie dankbar.

»War natürlich ein Scherz. Es ist immer wunderbar, mein kleines Mädchen zu sehen«, sagte er. »Und ihr kleines Mädchen dabeizuhaben, ist ein Bonus. Hast du gegessen?«

Erin nickte, wobei sie den Blick senkte, denn sie war sicher, er würde an ihren Augen ablesen, dass sie log. Sie hatte Maisie gefüttert. Nur das war wichtig. Ihr war heute bei dem Gedanken an Essen übel geworden.

Sie saßen in der kleinen Küche hinten im Haus. Der blanke Kieferntisch, an dem Rob und sie früher bei den Familienessen und bei den Hausaufgaben gesessen hatten, war fort. Derjenige, der ihn in dem Wohlfahrtsladen gekauft hatte, an den ihr Vater ihn gespendet hatte, müsste die Narben herausgeschmirgelt haben – Kuli- oder Filzstiftbotschaften, die ins Holz geprägt waren, ihr Name, mit dem Dorn ihres Kompasses für die Nachwelt reingeritzt, die große Delle von dem gefrorenen Truthahn, den ihre Mutter an einem Weihnachten hatte drauffallen lassen. An seiner Stelle stand nun ein merkwürdig aussehendes, schreibtischartiges Ding, das mit der Längsseite ganz an die Wand gerückt war. Zwei seltsame Stühle standen an den Enden, aus einem quoll das Polstermaterial aus einem kleinen Loch im Bezug. Es gibt nichts Schlimmeres, hatte ihr Vater ihr einmal gesagt, als allein an einem großen Tisch zu essen. Erin nahm sich den Stuhl, der am nächsten war, setzte sich und wippte Maisie auf ihrem Schoß.

»Tee«, verkündete Fitz und befüllte den Kessel.

Sie atmete den Duft des vertrauten Raumes mit der Kachelmuster-Tapete ein, jede »Kachel« geziert von einem anderen Gemüse. In der Ecke stand eine Kiste voller Stapel von What-Car?-Zeitschriften, die darauf warteten, entweder gelesen oder an jemanden weitergegeben zu werden, der sie haben wollte. Daneben quoll ein kleiner Karton mit Papiergirlanden und schlaffem Lametta über. Das Chaos ihres Vaters tat ihr gut, und sie seufzte tief. Sie war hier – sicher und geborgen.

»Hast du diese Woche von Rob gehört?«, fragte sie Fitz.

»Er hat gestern Abend angerufen. Alles läuft richtig gut.«

Das war nicht, was Erin hören wollte. Dass ihr einziger Bruder nach New York zog, um für eine amerikanische Bank zu arbeiten, war letztes Weihnachten ein Schock gewesen. Sie war nach wie vor nicht sicher, ob sie ihm vergeben konnte. Maisie hatte eine Faust in ihrem Mund und kaute mit ihren Schneidezähnen auf der Haut, während sie mit der anderen Hand versuchte, nach allem auf dem Tisch zu greifen. Erins Blick wurde in die Mitte gelenkt, wo ein abgegriffenes Notizbuch lag. Neugierig lehnte sie sich vor und hielt Maisies Hände fest, damit sie nicht nach irgendwas schnappen konnte.

»Ah, das darfst du auch nicht anfassen«, rief Fitz herüber. »Es liegt ja nicht grundlos außer Reichweite. Nur für meine Augen bestimmt.«

Erin nickte, als würde sie es verstehen, was sie nicht tat. Sie wischte sich die Stirn und dachte, dass sie zu Hause sein sollte, um die endlose Liste an Sachen abzuarbeiten, die zu tun waren. Den Wäscheberg, der sie anschreien würde, hätte er eine Stimme. Wer hätte gedacht, dass ein Baby so viel Wäsche produzierte? Wer hätte gedacht, dass sich um eine kleine Person zu kümmern, ihren Tag derart ausfüllen und sie so sehr erschöpfen könnte? Doch nun war sie hier, abgekämpft, und schaute zu, wie Fitz zwei Becher Tee aus einer Kanne einschenkte.

»Gut.« Fitz setzte sich ihr gegenüber hin. »Was ist los?«

»Meine Schwiegermutter ist eine Irre.«

»Nein, ist sie nicht.« Fitz lachte.

»Du hast recht, aber sie hasst mich.«

»Tja, das ist etwas völlig anderes. Und ich dachte, es hätte sich seit Maisies Geburt beruhigt.«

»Hat es auch, aber … Sie betet Maisie an, betet Dom an, aber mit mir hat sie noch Probleme.«

»So wie ich Sophie kennengelernt habe, schätze ich, dass sie die mit jedem hätte, der ihr in ihren Augen den Sohn wegnimmt. Vielleicht liegt es daran, dass sie so lange warten musste, bis sie Kinder bekam. Wie alt war sie, als sie Dom bekommen hat? Vierzig? Und sie sieht dich, Miss Superfruchtbar, die innerhalb von wenigen Monaten schwanger und verheiratet ist.«

Erin wurde rot und rieb sich den Hals. »Ich muss noch herausfinden, wie ich mit Dom über bestimmte Sachen rede. Das ist einer der Gründe, weshalb ich zu dir gekommen bin.«

Ihr Vater runzelte die Stirn.

»Zum Beispiel spielt er«, platzte sie heraus. »Nur Kleinkram, aber er erzählt es mir nicht.«

»Glücksspiel?«

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