Yelena und die verlorenen Seelen

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Die bösen Kräfte rotten sich noch einmal zusammen - wird Yelena sie aufhalten können?
Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht, dass Yelena eine Seelenfinderin ist, die Seelen fangen und in die Ewigkeit entlassen kann. Gerade als sie versucht, dieser Gabe Herr zu werden, erhält sie eine verstörende Nachricht: Ferde, der Mörder von elf Mädchen, ist aus dem Gefängnis entkommen und plant gemeinsam mit den Daviians, die Macht in Sitia zu übernehmen. Um das Schlimmste zu verhindern, muss die junge Magierin sich jetzt einer Herausforderung stellen, die sie an die Grenzen ihrer Fähigkeiten bringt. Doch die Hoffnung, am Ende endlich wieder ihren Geliebten in die Arme schließen zu können, verleiht ihr ungeahnte Kräfte.
  • Erscheinungstag 01.05.2011
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783862780525
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

DANKSAGUNG

Inzwischen dürfte Ihnen allen bekannt sein, wie wundervoll mein Mann Rodney sein kann. Ich habe mich schon ausführlich bei ihm bedankt für die selbstlose Unterstützung, die er mir bei meinen beiden ersten Büchern hat zuteil werden lassen. Ohne ihn hätte ich die Geschichten weder beenden noch die Lücken in der Handlung schließen können. Deshalb möchte ich ihm an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich danken, denn eine solche Hilfe ist gewiss nicht selbstverständlich. Und natürlich bedanke ich mich auch bei den beiden „Funken“, die meine Vorstellungskraft entzünden – meine Kinder Luke und Jenna.

Eine meiner besten Entscheidungen war, am Kurs „Kreatives Schreiben“ an der Seton Hill University teilzunehmen. Dort habe ich eine Menge gelernt und eine Vielzahl talentierter Schriftsteller kennengelernt. Mein Dank gilt ihnen allen und ganz besonders meinen kritischen Kommilitonen Diana Botsford, Kimberley Howe und Jason Jack Miller, die mir bei der Entstehung dieses Buches geholfen haben. Ich kann nur hoffen, Kim, dass diese Lektüre interessanter ist als die Kochanweisung auf einer Tiefkühlpackung! Außerdem möchte ich meinem Mentor in Seton Hill, David Bischoff, von ganzem Herzen danken.

Die ersten Entwürfe eines Romans können mitunter ziemlich holprig sein, aber meine Herausgeberin Mary-Theresa Hussey verfügt sowohl über das Wissen als auch die Erfahrung, mir die ebenen Wege zu zeigen und mich dorthin zu geleiten. Danke, Matrice, für all die Arbeit, die du mit mir hattest – und danke auch für die Smileys auf meinem Manuskript. Sie haben mich motiviert, am Ball zu bleiben.

Bedanken will ich mich außerdem bei Robert Mecoy, meinem fantastischen Agenten, der mich so viel über das Verlagswesen gelehrt hat – und wie wichtig es ist, einen erfahrenen Agenten an der Seite zu haben. Vielen Dank auch an Erin Craig, die das wunderbare Originaltitelbild des Romans zum Leuchten gebracht hat.

Recherchen für eine Geschichte anzustellen macht immer sehr viel Spaß. Dieses Mal habe ich an einem Glasbläser-Lehrgang teilgenommen. Meine Wertschätzung für die Glaskunst ist beträchtlich gestiegen, seitdem ich selbst versucht habe, einfache Gegenstände aus flüssigem Glas anzufertigen. Dank meiner Lehrerin, der Glaskünstlerin Helen Tegeler, habe ich nicht nur eine Menge Kenntnisse über Glas für dieses Buch erworben, sondern auch für mich persönlich ganz neue Durchblicke gewonnen.

Zum Schluss geht mein tief empfundener Dank an ein ganzes Heer von guten Geistern. Sie ziehen hinaus in die Welt, machen Werbung für meine Bücher, geben Empfehlungen ab bei allen, die ein offenes Ohr haben, verteilen unzählige Aufkleber und Lesezeichen. Dank an meine Tante Bette, die auf diesem Gebiet Meisterhaftes geleistet hat. Der Commander wäre stolz auf sie!

1. KAPITEL

Das ist doch Unsinn, Yelena“, rief Dax empört. „Eine allmächtige Seelenfinderin, die nicht allmächtig ist.

Willst du mich etwa auf den Arm nehmen?“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, hob er seine langen dünnen Arme in gespielter Hilflosigkeit.

„Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss, aber ich bin nicht diejenige, die von ‘allmächtig’ gesprochen hat.“ Ich schob mir eine Strähne meiner schwarzen Haare aus dem Auge. Vergebens hatten Dax und ich versucht, meine magischen Fähigkeiten zu erweitern. Während wir im Erdgeschoss von Irys’ Turm übten – eigentlich war es ja auch meiner, seit sie mir drei Etagen zur Verfügung gestellt hatte –, gab ich mir Mühe, mir den Unterricht nicht durch meine gereizte Stimmung zu verderben. Schließlich wollte ich einen Erfolg sehen. Schlechte Laune war da wenig hilfreich.

Dax wollte mir gerade beibringen, durch Zauberei Gegenstände zu bewegen. Er hatte die Möbel umgestellt, die Sessel in Reih und Glied aufgebaut und die Couch allein mithilfe seiner magischen Kräfte umgekippt. Ich dagegen konnte mich noch so sehr anstrengen: Ich schaffte es einfach nicht, Irys’ gemütliches Wohnzimmer wieder in seinen Urzustand zu versetzen. Es gelang mir nicht einmal, einen kleinen Beistelltisch davon abzuhalten, mir hinterherzujagen. Mir klebte das schweißnasse Hemd an der Haut. Und das lag nicht nur daran, dass ich mich nicht genügend angestrengt hätte.

Plötzlich fröstelte ich. Trotz eines kleinen Feuers im Kamin, der dicken Teppiche und der geschlossenen Fensterläden herrschte Eiseskälte im Wohnzimmer. Die weißen Marmorwände, die während der heißen Jahreszeit für angenehme Abkühlung sorgten, entzogen der Luft in den kalten Monaten jegliche Temperatur. Es war, als würde die Wärme des Zimmers durch die grünen Adern in den Steinen nach außen geleitet.

Mein Freund Dax Greenblade zog seine Tunika glatt. Mit seinem großen und hageren Körper war er ein typischer Vertreter der Greenblade-Sippe. Er erinnerte mich an einen scharfkantigen Grashalm, weil er genauso schneidende Bemerkungen machte.

„Offensichtlich bist du nicht fähig, Gegenstände zu bewegen. Lass es uns also mit Feuer versuchen. Jedes Kind kann Feuer machen.“ Dax stellte eine Kerze auf den Tisch.

„Jedes Kind? Jetzt übertreibst du aber! Wieder mal.“ Ob ein Mensch Zugang zur Kraftquelle finden und magische Fertigkeiten entwickeln konnte, zeigte sich nämlich erst während der Pubertät.

„Papperlapapp!“ Dax bewegte die Hand, als wollte er eine Fliege verscheuchen. „Jetzt konzentriere dich darauf, diese Kerze anzuzünden.“

Mit hochgezogener Augenbraue schaute ich ihn an. Bis jetzt waren all meine Bemühungen mit unbelebten Dingen im Sande verlaufen. Ich konnte den Körper meines Freundes heilen, seine Gedanken hören und sogar seine Seele sehen, aber wenn ich einen magischen Faden zu zupfen versuchte, um damit einen Stuhl in Bewegung zu setzen, geschah überhaupt nichts.

Dax hob drei Finger. „Drei Gründe, warum du in der Lage sein solltest, das zu tun: Erstens, du hast die Macht. Zweitens, du bist hartnäckig. Und drittens: Du hast Ferde, den Seelendieb, besiegt.“

Der entkommen war und jederzeit einen neuen Feldzug anzetteln konnte, um sich die Seelen anderer Menschen einzuverleiben. „Warum erwähnst du Ferde? Was willst du damit bezwecken?“

„Das soll dich natürlich anspornen. Wär’s dir lieber, wenn ich all die Geschichten erzählen würde, die derzeit über dich …?“

„Nein. Machen wir lieber mit dem Unterricht weiter.“ Das Letzte, das ich von Dax hören wollte, war der neueste Klatsch. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht, dass ich eine Seelenfinderin geworden war, zwischen den Türmen der Magier verbreitet. Und noch immer befielen mich Zweifel, wenn ich über diese Bezeichnung nachdachte. Es jagte mir Angst ein und machte mir das Herz schwer.

Ich verscheuchte alle Gedanken, die mich abzulenken drohten, und zapfte die Quelle der Magie an. Sie umhüllte die Erde wie ein fein gewobenes Netz, aber nur Zauberer waren in der Lage, Fäden aus ihr herauszuziehen und sie zu benutzen. Ich zupfte mir einen Faden und leitete ihn zu der Kerze, um mit seiner Hilfe eine Flamme zu entfachen.

Nichts geschah.

„Gib dir mehr Mühe!“, befahl Dax mir.

Ich verstärkte die Kraft und versuchte es erneut.

Dax’ Gesicht hinter der Kerze verfärbte sich rot, und er gab Geräusche von sich, als wollte er ein Husten unterdrücken. Ein Blitz blendete meine Augen, und der Docht flammte auf.

„Das war ziemlich plump.“ Sein zorniger Gesichtsausdruck hatte etwas Komisches.

„Du wolltest doch, dass ich sie anzünde.“

„Ja, aber ich hatte nicht vor, es für dich zu tun.“ Ratlos ließ er den Blick durch das Zimmer schweifen. Er sah aus, als ringe er mit sich, um die Geduld zu bewahren, die man brauchte, wenn man mit ungehorsamen Kindern fertigwerden wollte. „Die Zaltanas mit ihren seltsamen Kräften, die mich zwingen, die Kerze anzuzünden! Pah! Allein der Gedanke, dass ich mir mal gewünscht habe, stellvertretend für dich deine Abenteuer zu bestehen …“

„Pass auf, was du über meine Familie sagst! Sonst …“ Fieberhaft suchte ich nach einer wirksamen Drohung.

„Sonst was?“

„Erzähle ich dem Zweiten Magier, wohin du jedes Mal verschwindest, wenn er eines dieser alten Bücher aus dem Regal holt.“ Bain war Dax’ Mentor und hatte ein Faible für alte Geschichte. Dax dagegen lernte lieber die neuesten Tanzschritte.

„Okay, okay, du hast gewonnen und irgendwo ja auch recht. Aber leider überhaupt kein Talent, um ein Feuer zu entfachen. Also werde ich mich weiter mit alten Sprachen abplagen.“ Dax schnitt eine Grimasse. „Während du versuchst, Seelen zu finden.“ Es sollte sicher wie ein Scherz klingen, aber sein bissiger Unterton entging mir nicht.

Sein Unbehagen angesichts meiner Begabung hatte gute Gründe. Der letzte Seelenfinder war vor etwa einhundertfünfzig Jahren in Sitia zur Welt gekommen. Während seines kurzen Lebens hatte er seine Feinde in hirnlose Sklaven verwandelt, und beinahe hätte er es auch geschafft, die Herrschaft über das Land an sich zu reißen. Daher reagierten die meisten Sitianer beim Gedanken an einen weiteren Seelenfinder alles andere als begeistert.

Ein spitzbübisches Glitzern in Dax’ flaschengrünen Augen lockerte die angespannte Situation. „Ich verschwinde jetzt lieber. Ich muss nämlich noch lernen. Morgen schreiben wir einen Test in Geschichte. Hast du das etwa vergessen?“

Ich stöhnte, als ich an das dicke Buch dachte, das auf mich wartete.

„Dein Wissen über die Geschichte Sitias ist ziemlich lückenhaft, stimmt’s?“

„Aus zwei Gründen.“ Ich hielt die Finger hoch. „Erstens, Ferde Daviian. Zweitens, die Ratsversammlung von Sitia.“

Dax machte eine abfällige Handbewegung.

Ehe er etwas sagen konnte, sagte ich: „Ich weiß. Alles nur Kleinigkeiten.“

Grinsend warf er sich seinen Umhang über. Als er hinausging, strömte ein Schwall eiskalter Luft ins Zimmer. Die Flammen im Kamin loderten auf, ehe sie wieder gleichmäßig flackerten. Ich trat näher, wärmte meine Hände am Feuer und dachte an die Gründe, aus denen ich mich wenig mit Sitias Geschichte beschäftigt hatte.

Ferde gehörte zu der in Ungnade gefallenen Sippe der Daviianer, deren Mitglieder Abtrünnige des Sandseed-Clans waren. Die Daviianer erwarteten mehr vom Leben, als unentwegt über die Avibian-Ebene zu ziehen und ihre Geschichten zu erzählen. Auf einem Beutezug hatte Ferde zwölf Mädchen in seine Gewalt gebracht und gefoltert, um in den Besitz ihrer Seelen zu gelangen und sich mehr magische Kräfte anzueignen. Doch ehe er seine Mission zu Ende führen konnte, hatten Valek und ich ihm das Handwerk gelegt.

Beim Gedanken an Valek schlug mein Herz schneller. Ich berührte seinen Schmetterling, der an einer Kette um meinen Hals hing. Vor einem Monat war Valek nach Ixia zurückgekehrt, und von Tag zu Tag vermisste ich ihn mehr. Vielleicht sollte ich dafür sorgen, dass ich in eine lebensbedrohliche Situation geriet. Er besaß nämlich die Gabe, genau dann aufzutauchen, wenn ich ihn am dringendsten brauchte.

Natürlich waren solche Momente immer ziemlich gefährlich, und daher hatten wir leider nur selten Gelegenheit, einfach so zusammen zu sein. Ich sehnte mich danach, auf eine langweilige Mission nach Ixia abkommandiert zu werden.

Der Rat von Sitia würde eine solche Reise jedoch erst dann billigen, wenn er entschieden hatte, was sie mit mir vorhatten. Die Ratsversammlung bestand aus den elf Anführern der Clans sowie den vier Meister-Magiern, und einen ganzen Monat lang hatten sie sich die Köpfe über meine neue Rolle als Seelenfinderin heißgeredet. Irys Jewelrose, die Vierte Meister-Magierin, war von den vier Zauberern meine größte Befürworterin; Roze Featherstone dagegen, die Erste Meister-Magierin, meine erbittertste Gegnerin.

Versonnen beobachtete ich den Tanz der Flammen über den Holzscheiten. Meine Gedanken verweilten bei Roze. Das willkürliche Zucken der Feuerzungen verwandelte sich in einen geordneten Ablauf mit Bewegungen, die wie eine Ballett-Choreografie wirkten.

Seltsam. Ich blinzelte. Statt zu einem normalen Feuer zurückzuschrumpfen, wuchsen die Flammen, bis sie mein Blickfeld vollkommen einnahmen und den Rest des Zimmers ausblendeten. Das grelle orangefarbene Licht stach mir in die Augen. Ich schloss sie, doch das Bild blieb haften. Eine Vorahnung überkam mich. Trotz meiner starken mentalen Schutzmauer umfing ein Magier mich mit seiner Zauberkraft.

Gefangen und gebannt sah ich zu, wie sich das Feuer in ein lebensgroßes Abbild meiner selbst verwandelte. Mein Flammen-Ich beugte sich über einen ausgestreckten Körper, aus dem eine Seele aufstieg, die ich einatmete. Der seelenlose Körper erhob sich, und mein Flammen-Ich deutete auf eine weitere Gestalt. Der Körper verfolgte die Gestalt und erwürgte sie.

Beunruhigt versuchte ich, die Feuervision zu beenden, leider erfolglos. Ich wurde gezwungen, mir dabei zuzusehen, wie ich andere Personen von ihren Seelen befreite, die daraufhin weitere mörderische Feldzüge unternahmen. Eine gegnerische Armee griff an. Feuerschwerter wurden geschwungen, Blutflammen spritzten umher. Wäre ich nicht so maßlos entsetzt gewesen über das lodernde Gemetzel, hätte mich die Kraft des Zauberers mit ihrer ausgefeilten Kunstfertigkeit sehr beeindruckt.

Wenig später war meine Armee besiegt und ich in einem Flammennetz gefangen. Mein Flammen-Ich wurde weggeschleppt, an einen Pfahl gefesselt und mit Öl übergossen.

Ich sprang in meinen Körper zurück. Noch immer stand ich dicht neben dem Kamin und spürte das Netz magischer Energie. Es zog sich zusammen, und auf meiner Kleidung züngelten kleine Flammen, die sich rasch ausbreiteten.

Mit meiner Kraft konnte ich ihr Fortschreiten nicht aufhalten. Ich verfluchte meine Ungeschicklichkeit im Umgang mit Feuer und fragte mich wieder einmal, warum ich nicht über dieses magische Talent verfügte.

Im Geiste hörte ich die Antwort. Weil wir eine Möglichkeit haben müssen, dich umzubringen.

Taumelnd trat ich ein paar Schritte vor der Hitze zurück. Schweiß rann mir in Strömen den Rücken hinab, während mir das Blut heiß in den Ohren rauschte. Mein Mund war wie ausgetrocknet, und das Herz hämmerte mir in der Brust. Die stickige Luft versengte mir die Kehle. Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg mir in die Nase, und mir wurde übel. Jeder Quadratzentimeter meiner Haut schmerzte höllisch.

Mein Körper stand in Flammen.

Kein Sauerstoff, um zu schreien.

Ich wälzte mich auf dem Boden und versuchte, das Feuer zu löschen.

Endlich wurde der magische Angriff beendet und ich von meinen Qualen erlöst. Ich lag auf der Erde und sog begierig die kühle Luft in meine Lungen.

„Yelena, was ist passiert?“ Irys legte ihre kühle Hand auf meine Stirn. „Ist alles in Ordnung?“

Meine Mentorin und Freundin schaute auf mich hinab. In ihrer Miene las ich Anteilnahme, und ihre smaragdgrünen Augen blickten besorgt.

„Mir geht’s gut.“ Ich krächzte und musste husten. Irys half mir, mich aufzusetzen.

„Schau dir nur deine Kleidung an. Hast du dich etwa selbst in Brand gesetzt?“

Der Stoff war rußverschmiert, und meine Ärmel und mein Hosenrock waren übersät von Brandlöchern. Da sie nicht mehr zu flicken waren, würde ich meine Cousine Nutty bitten müssen, mir neue Kleidung zu schneidern. Ich seufzte. Vielleicht sollte ich gleich hundert Baumwolltuniken und Hosenröcke in Auftrag geben. Vorfälle wie dieser und ähnliche magische Angriffe bescherten mir ein spannendes Leben.

„Ein Zauberer hat mir eine Botschaft durch das Feuer geschickt“, erklärte ich. Obwohl ich wusste, dass Roze in Sitia die größte Zauberkraft besaß und meine magische Schutzmauer durchdringen konnte, wollte ich sie nicht beschuldigen, ohne einen Beweis zu haben.

Bevor Irys mir weitere Fragen stellen konnte, fragte ich: „Wie war die Ratsversammlung?“ Man hatte mir nicht gestattet, daran teilzunehmen. Darüber war ich immer noch wütend – ungeachtet der Tatsache, dass ich wegen des regnerischen Wetters wenig Lust zu einem Spaziergang zur Versammlungshalle hatte.

Der Rat wollte, dass ich mich in allen Fragen auskannte, mit denen er sich täglich beschäftigte. Das sollte mich dazu befähigen, als Vermittlerin zwischen der Ratsversammlung und dem Territorium von Ixia tätig zu werden. Meine Ausbildung zur Seelenfinderin war jedoch ein Thema, über das sich die Mitglieder des Rats noch nicht einig waren. Irys vertrat die Theorie, meine Unlust, mit dem Unterricht zu beginnen, hinge mit der Unentschlossenheit der Ratsmitglieder zusammen. Ich dagegen vermutete, sie befürchteten, dass ich in die Fußstapfen des damaligen Seelenfinders treten würde, wenn ich erst einmal das Ausmaß meiner Kräfte entdeckt hätte.

„Die Versammlung …“ Sie verzog den Mund zu einem dünnen Lächeln. „Wie man’s nimmt. Die Mitglieder haben beschlossen, deine Schulung zu unterstützen.“ Sie machte eine Pause.

Ich wappnete mich für die nächsten Neuigkeiten.

„Roze war … verärgert über die Entscheidung.“

„Verärgert?“

„Sie war strikt dagegen.“

Wenigstens wurde mir nun klar, was es mit meiner flammenden Nachricht auf sich hatte.

„Sie hält dich immer noch für eine Bedrohung. Deshalb hat die Versammlung beschlossen, dass Roze dich unterrichten wird.“

Mühsam kam ich auf die Füße. „Bloß nicht!“

„Es ist die einzige Möglichkeit.“

Ich verkniff mir eine Antwort. Es gab durchaus andere Möglichkeiten. Es musste andere Möglichkeiten geben. Ich befand mich im Bergfried der Magier, umgeben von Zauberern, die über unterschiedliche Qualifikationen verfügten. Es würde sich gewiss ein anderer finden lassen, der mit mir arbeiten konnte. „Was ist denn mit dir oder Bain?“

„Sie bestanden auf einem unparteiischen Mentor. Von den vier Meistern ist das allein Roze.“

„Aber sie ist überhaupt nicht …“

„Ich weiß. Doch es könnte von Vorteil sein. Wenn du mit Roze zusammenarbeitest, kannst du sie davon überzeugen, dass du an der Herrschaft im Land kein Interesse hast. Sie wird einsehen, dass es dein innigster Wunsch ist, sowohl Sitia als auch Ixia zu helfen.“

Mein zweifelnder Gesichtsausdruck blieb bestehen.

„Sie mag dich nicht, aber ihr Wunsch nach einem sicheren und freien Sitia wird sie ihre persönlichen Gefühle vergessen lassen.“

Ehe ich eine sarkastische Bemerkung über Rozes persönliche Gefühle loswerden konnte, übergab mir Irys eine Schriftrolle. „Die hier ist während der Versammlung eingetroffen.“

Ich entrollte die Botschaft. Die mit zierlichen Buchstaben geschriebenen Zeilen stammten von Mondmann. Sie lauteten: Yelena, ich habe gefunden, was du suchst. Komm schnell.

2. KAPITEL

Die Nachricht in meiner Hand war typisch für Mondmann, meinen Geschichtenweber von den Sandseeds. Rätselhaft und vage. Ich stellte mir vor, wie er die Sätze mit einem verschmitzten Grinsen niedergeschrieben hatte. Als mein Geschichtenweber wusste er, dass mir viele Dinge am Herzen lagen. Mehr über Seelenfinder in Erfahrung zu bringen und ein Gleichgewicht zwischen Sitia und Ixia herzustellen standen ganz oben auf meiner Wunschliste. Ein erholsamer Urlaub wäre ebenfalls nicht zu verachten, aber ich hatte das Gefühl, seine Botschaft bezog sich auf Ferde.

Ferde Daviian, der Seelendieb und Mörder von elf Mädchen, war mithilfe von Cahil Ixia aus dem Bergfried der Magier geflohen. Nachdem es den Mitgliedern der Ratsversammlung nicht gelungen war, seiner habhaft zu werden, diskutierten sie schon einen ganzen Monat lang darüber, wie sie den beiden auf die Spur kommen könnten.

Und von Tag zu Tag wuchs meine Unruhe. Ferde war geschwächt, seitdem ich ihm bei unserem Kampf die Seelen der Mädchen entrissen hatte – sie waren die Quelle für seine magischen Kräfte. Doch er brauchte lediglich ein weiteres Mädchen zu töten, um einen Teil seiner alten Stärke zurückzuerlangen. Bis jetzt war zwar noch keines als vermisst gemeldet worden, aber das Wissen, dass er weiterhin frei herumlief, legte sich wie eine Eisenklammer um mein Herz.

Ich verdrängte die Gedanken an den Schrecken, den Ferde verursachen konnte, und konzentrierte mich auf die Botschaft in meiner Hand. Mondmann hatte nicht ausdrücklich erwähnt, dass ich alleine kommen sollte, doch kaum hatte ich darüber nachgedacht, die Ratsmitglieder zu informieren, verwarf ich die Überlegung auch schon wieder. Ehe sie zu einer Entscheidung kämen, wäre Ferde längst wieder über alle Berge. Ich würde gehen, ohne den Rat in Kenntnis zu setzen. Irys nannte es meine „Kopfüber-hineinstürzen-und-auf-das-Beste-hoffen“-Methode. Abgesehen von einigen kleinen Pannen war ich damit bislang immer ganz gut gefahren. Außerdem war es ohnehin viel prickelnder, still und heimlich zu verschwinden.

Irys war ein paar Schritte beiseitegetreten, als ich die Nachricht entrollte, aber ihr bewusstes Schweigen verriet mir, dass sie neugierig war. Also berichtete ich ihr, worum es ging.

„Wir sollten die Ratsversammlung informieren“, schlug sie sofort vor.

„Warum? Damit sie einen weiteren Monat über alle möglichen Alternativen diskutieren? Es ist eine Einladung an mich. Wenn ich deine Hilfe brauche, gebe ich dir Bescheid.“ Ich spürte, wie ihr Widerstand dahinschmolz.

„Du solltest nicht alleine gehen.“

„Gut. Dann nehme ich eben Leif mit.“

Nach kurzem Zögern stimmte Irys zu. Als Mitglied der Ratsversammlung war sie darüber zwar nicht glücklich, aber sie hatte gelernt, meinem Urteilsvermögen zu vertrauen.

Mein Bruder Leif war vermutlich genauso froh wie ich, den Bergfried und die Zitadelle für eine Weile hinter sich lassen zu können. Roze Featherstones zunehmende Feindseligkeit mir gegenüber brachte Leif in eine schwierige Lage. Roze hatte sich während seiner Ausbildungszeit im Bergfried um ihn gekümmert, und nach seiner Prüfung war er einer ihrer Gehilfen geworden. Seine magische Fähigkeit, die Gefühle eines anderen Menschen zu erraten, half Roze bei Gerichtsprozessen, die Schuld eines Menschen festzustellen. Außerdem versetzte seine Zauberkraft die Opfer in die Lage, sich genau daran zu erinnern, was mit ihnen geschehen war.

Leifs erste Reaktion auf meine Heimkehr nach Sitia nach vierzehnjähriger Abwesenheit war blanker Hass. Er hatte sich eingeredet, meine Entführung nach Ixia habe nur stattgefunden, um ihn zu ärgern, und meine Rückkehr aus dem Norden sei von den Ixianern bloß arrangiert worden, damit ich für sie in Sitia spioniere.

„Zumindest sollten wir den Meister-Magiern von Mondmanns Nachricht erzählen“, meinte Irys. „Roze möchte bestimmt gerne wissen, wann sie mit deiner Ausbildung beginnen kann.“

Stirnrunzelnd betrachtete ich sie und überlegte, ob ich ihr von Rozes hinterhältiger Feuerattacke berichten sollte. Nein. Um Roze wollte ich mich persönlich kümmern. Doch allein beim Gedanken daran, wie viel Zeit ich in ihrer Gesellschaft würde verbringen müssen, wurde mir unbehaglich zumute.

„Heute Nachmittag findet im Verwaltungsgebäude ein Treffen der Meister statt. Es wäre eine günstige Gelegenheit, sie über dein Vorhaben zu unterrichten.“

Trotz meiner abweisenden Haltung blieb sie hartnäckig.

„Gut. Dann sehen wir uns später“, verabschiedete sie sich.

Ehe ich protestieren konnte, rauschte Irys aus dem Turm hinaus. Doch nach wie vor war ich in der Lage, sie mit meinen Gedanken zu erreichen. Unser Bewusstsein blieb in ständigem Kontakt. Die Verbindung war so eng, als hielten wir uns im selben Raum auf. Zwar hatte jeder von uns seine persönlichen Gedanken, aber wenn ich zu Irys „sprach“, konnte sie mich hören. Tiefer in die Gedanken oder Erinnerungen des anderen einzudringen wäre jedoch eine Missachtung des Verhaltenskodex der Magier.

Zwischen meinem Pferd Kiki und mir bestand die gleiche Verbindung. Allein der Gedanke, Kiki zu rufen, genügte, damit sie mich „hören“ konnte. Die Kommunikation mit Leif oder meinem Freund Dax gestaltete sich da schon schwieriger; ich musste ganz bewusst eine Kraftquelle anzapfen und mich auf die Suche nach ihnen begeben. Wenn ich sie dann gefunden hatte, mussten sie mir den Zugang zu ihren Gedanken durch ihren mentalen Verteidigungsschild hindurch gestatten.

Meine Fähigkeit, durch ihre Seelen einen direkten Weg zu ihren Gedanken und Gefühlen zu nehmen, betrachteten die Sitianer als Missachtung ihres Verhaltenskodex. Ich hatte Roze Angst eingejagt, als ich mein Talent dazu benutzte, mich vor ihr zu schützen. Umgekehrt hatte sie mich trotz all ihrer magischen Kräfte nicht daran hindern können, in ihr tiefstes Wesen einzudringen.

Während mir all dies durch den Kopf ging, beschlich mich ein unbehagliches Gefühl. Mit meinem neuen Titel „Seelenfinderin“ hatte ich mich nämlich auch noch nicht so recht anfreunden können. Doch dann verdrängte ich jeglichen Gedanken daran, warf mir meinen Mantel über die Schultern und verließ den Turm.

Auf meinem Weg über den Campus des Bergfrieds dachte ich einmal mehr über meine Befähigung zur mentalen Kommunikation nach. Was Valek anbetraf: Meinen Kontakt zu ihm konnte man nicht als magische Verbindung bezeichnen. Für mich war sein Bewusstsein unerreichbar. Er verfügte jedoch über die verblüffende Gabe, zu wissen, wann ich ihn brauchte, und in diesem Fall setzte er sich mit mir in Verbindung. Auf diese Weise hatte er mir schon mehrfach das Leben gerettet.

Während ich Valeks Schlangenarmreif um mein Handgelenk drehte, grübelte ich über unsere Beziehung nach, bis ein mit Eisnadeln gespickter, beißender Wind alle Gedanken an ihn, die mir das Herz erwärmten, fortwehte. Mit aller Macht war die kalte Jahreszeit über den nördlichen Teil von Sitia hereingebrochen. Ich trat in matschige Pfützen und schützte mein Gesicht vor dem Eisregen. Die weißen Marmorgebäude des Bergfrieds waren schlammbespritzt und schimmerten grau im düsteren Licht – ein exaktes Spiegelbild des trüben Tags.

Da ich die meisten meiner einundzwanzig Jahre im Norden von Ixia verbracht hatte, hatte ich dieses Wetter nur einige wenige Tage während der kühlen Jahreszeit aushalten müssen. Für Sitia hingegen war diese ungemütliche Witterung laut Irys während der kalten Jahreszeit ganz normal. Wobei Schnee nur ganz selten fiel und kaum jemals länger als eine Nacht liegen blieb.

Ich stapfte zum Verwaltungsgebäude des Bergfrieds und achtete nicht auf die feindseligen Blicke der Studenten, die zwischen ihren Klassenräumen hin und her eilten. Nachdem ich Ferde dingfest gemacht hatte, war ich sofort von der einfachen Schülerin zur Gehilfin einer Magierin befördert worden, was den anderen Schülern natürlich mächtig gegen den Strich ging. Irys und ich hatten uns auf eine Zusammenarbeit geeinigt, wozu auch gehörte, dass sie mir anbot, ihren Turm mit mir zu teilen. Ich hatte den Vorschlag erleichtert angenommen, denn so musste ich mich nicht länger der gnadenlosen Missgunst meiner Mitschüler aussetzen.

Deren Verachtung freilich war nichts im Vergleich zu Rozes Zorn, der mir entgegenschlug, als ich das Beratungszimmer der Meister betrat. Während ich noch versuchte, mich gegen die unvermeidlichen Vorwürfe zu wappnen, sprang Irys von ihrem Sitz an dem langen Tisch auf und erläuterte, warum ich gekommen war.

„… erhielt Yelena eine Nachricht von einem Geschichtenweber der Sandseeds“, erklärte sie. „Möglicherweise hat er Ferde und Cahil ausfindig gemacht.“

Verächtlich zog Roze die Mundwinkel hinunter. „Unmöglich. Es wäre glatter Selbstmord, über die Avibian-Ebene zu seinem Clan auf das Daviian-Plateau zurückzukehren. Außerdem ist es viel zu offensichtlich. Cahil bringt Ferde vermutlich entweder zum Land der Sturmtänzer oder zu dem der Bloodgood. Dort hat Cahil viele Unterstützer.“

Roze war Cahils Fürsprecherin in der Ratsversammlung gewesen. Cahil war unter den Soldaten aufgewachsen, die nach der Eroberung Ixias geflohen waren. Sie hatten Cahil davon überzeugt, dass er der Neffe des toten Königs von Ixia sei und den Thron erben sollte. Deshalb hatte er große Anstrengungen unternommen, Anhänger zu finden und eine Armee aufzustellen, um den Commander von Ixia zu besiegen. Nachdem er jedoch herausgefunden hatte, dass er bloß der Sohn eines gewöhnlichen Soldaten war, befreite er Ferde und verschwand.

Roze hatte Cahil ermutigt. Beide glaubten fest daran, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Commander Ambrose sich dazu entschließen würde, Sitia zu erobern.

„Cahil könnte die Ebene umgehen, um auf das Plateau zu gelangen“, mutmaßte Zitora Cowan, die Dritte Magierin. Ihre honigbraunen Augen blickten besorgt, doch weil sie die jüngste der vier Meister-Magier war, gaben die anderen in der Regel nichts auf ihre Worte.

„Wie sollte es dann dieser Mondmann erfahren haben?“, wandte Roze ein. „Die Sandseeds wagen sich nur aus der Ebene, wenn es absolut unvermeidlich ist.“

„Genau das sollen wir wahrscheinlich glauben“, entgegnete Irys. „Es würde mich nicht wundern, wenn sie einige Kundschafter in der Gegend postiert hätten.“

„So oder so“, ergriff Bain Bloodgood, der Zweite Magier, das Wort. „Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Egal, ob es offensichtlich ist oder nicht – irgendjemand muss uns die Bestätigung bringen, dass Cahil und Ferde sich nicht auf dem Plateau aufhalten.“ Mit seinem weißen Haar und den fließenden Gewändern sah Bain ganz so aus, wie ich mir einen klassischen Zauberer immer vorgestellt hatte. Sein mit Runzeln übersätes Gesicht strahlte Weisheit aus.

„Ich werde das tun“, erbot ich mich.

„Wir sollten Soldaten mit ihr schicken“, schlug Zitora vor.

„Leif könnte sie begleiten“, fügte Bain hinzu. „Als Cousine und Cousin der Sandseeds sind Yelena und Leif in der Ebene willkommen.“

Stirnrunzelnd strich Roze sich mit ihren schmalen Fingern über die kurzen weißen Haarsträhnen. Sie schien tief in Gedanken versunken. Mit Anbruch der kühleren Temperaturen hatte Roze die von ihr bevorzugten ärmellosen Kleider gegen Gewänder mit langen Ärmeln getauscht. Der dunkelblaue Stoff ihres Kleides verschluckte das Licht und passte ausgezeichnet zu ihrer dunklen Hautfarbe. Mondmann hatte den gleichen Teint, und ich überlegte, von welcher Farbe sein Haar gewesen sein mochte, bevor er seinen Kopf kahl geschoren hatte.

„Ich schicke niemanden“, verkündete Roze schließlich. „Es ist reine Verschwendung von Zeit und Kapazitäten.“

„Ich werde gehen. Deine Erlaubnis brauche ich nicht.“ Ich machte Anstalten, den Saal zu verlassen.

„Und ob du meine Erlaubnis brauchst, um den Bergfried zu verlassen“, hielt Roze mich zurück. „Dies ist mein Zuständigkeitsbereich. Ich bin verantwortlich für alle Magier, dich inklusive, Seelenfinderin.“ Zur Bekräftigung ihrer Worte schlug sie mit den Händen auf die Stuhllehne. „Wenn ich den Vorsitz über die Ratsversammlung hätte, würde ich dich in die Zelle des Bergfrieds werfen lassen, wo du auf deine Hinrichtung warten kannst. Von einem Seelenfinder ist schließlich noch nie etwas Gutes gekommen.“

Schockiert schauten die anderen Magier auf Roze, die sich noch mehr ereiferte. „Schaut euch doch bloß unsere Geschichte an. Jeder Seelenfinder sehnt sich nach Macht. Nach Zauberkraft. Politischem Einfluss. Nach Macht über die Seelen von Menschen. Yelena wird genauso sein. Im Moment genießt sie noch ihren Status als Vermittlerin und hat sich bereit erklärt, von mir unterrichtet zu werden. Doch es ist nur eine Frage der Zeit. Und schon jetzt …“ Roze deutete auf die Tür. „Schon jetzt will sie fortlaufen, ehe ich mit der ersten Lektion überhaupt begonnen habe.“

Laut tönten ihre Worte durch das betroffene Schweigen. Roze betrachtete die entsetzten Mienen der Ratsmitglieder, während sie die Falten ihres Gewandes glatt strich. Ihre Abneigung mir gegenüber war wohlbekannt, aber dieses Mal war sie entschieden zu weit gegangen.

„Roze, das ist sehr …“

Sie hob die Hand, um Bain an weiteren Belehrungen zu hindern. „Ihr kennt die Geschichte. Ihr seid sehr, sehr oft gewarnt worden, deshalb werde ich kein weiteres Wort darüber verlieren.“ Sie erhob sich von ihrem Platz. Gute fünfzehn Zentimeter größer als ich, schaute sie nun auf mich hinunter. „Dann geh. Nimm Leif mit dir. Betrachte es als deine erste Lektion. Eine Lektion in Nutzlosigkeit. Aber wenn du zurückkommst, gehörst du mir.“

Roze wandte sich zum Gehen, aber ich bekam ein Ende ihrer Gedanken zu fassen.

sollte sie beschäftigen und von mir fernhalten.

Ehe Roze den Saal verließ, blieb sie noch einmal kurz stehen. Über ihre Schulter warf sie mir einen durchbohrenden Blick zu. Halte dich aus den Angelegenheiten von Sitia heraus. Dann könntest du die einzige Seelenfinderin in der Geschichte sein, die älter wird als fünfundzwanzig.

Schau lieber noch einmal in deine Geschichtsbücher, Roze, schlug ich ihr vor. Mit dem Ableben eines Seelenfinders ist stets der Tod eines Meister-Magiers verbunden.

Roze würdigte mich keines Blickes mehr, als sie den Versammlungssaal verließ. Die Sitzung war beendet.

Ich machte mich auf die Suche nach Leif. Seine Zimmer lagen in der Nähe des Studentenflügels auf der Ostseite des Campus. Er wohnte im Gebäude der Zauberer zusammen mit den anderen, die ihre Ausbildung im Bergfried beendet hatten und nun entweder neue Schüler unterrichteten oder als Gehilfen der Meister-Magier arbeiteten.

Die übrigen Magier, die ebenfalls ihre Lehre beendet hatten, waren in unterschiedliche Städte geschickt worden, um den Bürgern von Sitia zu dienen. Die Ratsversammlung bemühte sich zum Beispiel darum, in jede Stadt einen Heiler zu schicken. Die Magier mit den seltenen Begabungen jedoch – dazu gehörte etwa die Fähigkeit, alte Sprachen lesen oder verlorene Gegenstände finden zu können – zogen von Ort zu Ort, je nachdem, wo sie gerade gebraucht wurden.

Zauberer, die über große Kräfte verfügten, unterzogen sich dem Meistertest, ehe sie den Bergfried verließen. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte nur Zitora die Prüfung bestanden und die Zahl der Meister-Magier auf vier erhöht. In der gesamten Geschichte Sitias hatte es nie mehr als vier Meister-Magier gleichzeitig gegeben.

Irys vertrat die Ansicht, dass ein Seelenfinder stark genug sei, um die Meisterprüfung zu bestehen. Ich widersprach ihr. Abgesehen davon, dass es bereits vier Magier gab, die Höchstzahl mithin erreicht war, fehlten mir die grundlegenden magischen Fähigkeiten, um Feuer anzuzünden oder Gegenstände in Bewegung zu versetzen – Talente, über die alle Meister verfügten.

Außerdem war es schlimm genug, eine Seelenfinderin zu sein. Sich der Prüfung zu unterwerfen und durchzufallen, wäre geradezu unerträglich. Jedenfalls nahm ich das an. Außerdem klangen die Gerüchte, die über die Tests die Runde machten, entsetzlich.

Noch ehe ich Leifs Tür erreicht hatte, schwang sie auf, und mein Bruder steckte den Kopf heraus. Innerhalb von Sekunden hatte der Regen sein Haar durchnässt. Ich scheuchte ihn zurück, während ich sein Wohnzimmer betrat und schmutzige Pfützen auf seinem sauberen Fußboden hinterließ.

Seine Wohnung war ordentlich und nur spärlich möbliert. Lediglich einige wenige Gemälde, mit denen er das Zimmer geschmückt hatte, ließen Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit zu. An den Wänden hingen die detailgetreue Wiedergabe einer seltenen Ylang-Ylang-Blume, die im Dschungel von Illiais heimisch war, das Gemälde einer Würgefeige, die sich um einen absterbenden Mahagonibaum wand, sowie das Bild eines Baumleoparden, der auf einem Ast kauerte.

Missbilligend musterte Leif meine schmutzige Kleidung. Seine jadefarbenen Augen waren der einzige Hinweis darauf, dass wir Geschwister waren. Sein kräftiger Körper und seine eckige Kinnpartie waren das komplette Gegenteil zu meinem ovalen Gesicht und zierlichen Körperbau.

„Du bringst bestimmt keine guten Nachrichten“, begrüßte er mich. „Bei dem Wetter kommst du doch bestimmt nicht zu mir, nur um Hallo zu sagen.“

„Du hast die Tür geöffnet, ehe ich angeklopft habe“, entgegnete ich. „Also weißt du, dass etwas im Busch ist.“

Leif wischte sich den Regen aus dem Gesicht. „Ich habe gerochen, dass du kommst.“

„Gerochen?“

„Du stinkst ziemlich nach Lavendel. Badest du in Mutters Parfüm, oder wäschst du bloß deinen Mantel damit?“, neckte er mich.

„Wie banal. Ich hatte mit etwas mehr Magie gerechnet.“

„Warum sollte man seine Kräfte mit Zauberei vergeuden, wenn es nicht unbedingt nötig ist? Obwohl …“

Leifs Blick verlor sich in der Ferne, und ich spürte das Prickeln, das ich stets empfand, wenn Kraft aus der Quelle gezogen wurde.

„Vorahnung. Aufregung. Ärger. Zorn“, zählte Leif auf. „Ich vermute mal, die Ratsversammlung hat dich noch nicht zur Königin von Sitia ernannt?“

Als ich schwieg, fuhr er fort: „Mach dir keine Sorgen, Schwesterchen. In unserer Familie bist du immer noch die Prinzessin. Wir wissen beide, dass Mutter und Vater dich am liebsten mögen.“

In seinem Tonfall lag eine gewisse Schärfe, und ich erinnerte mich, dass er mich vor noch gar nicht langer Zeit am liebsten tot gesehen hätte.

„Esau und Perl lieben uns beide gleich. Es ist schon ganz gut, wenn ich in deiner Nähe bin. So kann ich wenigstens deine Irrtümer richtigstellen. Ich habe dir schon mal gezeigt, dass du falschliegst. Das kann ich jederzeit wieder tun.“

Leif stützte die Hände in die Hüften und zog zweifelnd die Augenbrauen hoch.

„Du hast behauptet, ich hätte Angst, zum Bergfried zurückzukommen. Und nun …“, ich breitete meine Arme aus, sodass Wassertropfen auf Leifs Tunika spritzten, „… bin ich hier.“

„Du bist hier. Das sehe ich. Aber bist du auch furchtlos?“

„Ich habe bereits eine Mutter und einen Geschichtenweber. Deine Aufgabe besteht darin, der lästige ältere Bruder zu sein. Halt dich an das, was du kannst.“

„Oh. Da habe ich wohl einen wunden Punkt getroffen.“

„Ich habe keine Lust, mich mit dir zu streiten. Hier.“ Ich zog die Nachricht von Mondmann aus einer Tasche meines Mantels und gab sie ihm.

Er faltete das feuchte Papier auseinander und überflog den Brief. „Ferde“, schlussfolgerte er schließlich genau wie ich. „Hast du den Ratsmitgliedern davon erzählt?“

„Nein. Die Meister wissen es ohnehin.“ Ich informierte Leif über die Ereignisse im Besprechungssaal. Meinen Wortwechsel mit Roze Featherstone erwähnte ich allerdings nicht.

Leif ließ seine breiten Schultern sinken. Nach längerem Schweigen meinte er: „Master Featherstone glaubt nicht, dass Ferde und Cahil auf dem Weg zum Daviian-Plateau sind. Sie vertraut mir nicht mehr.“

„Das weißt du aber nicht mit …“

„Sie vermutet, dass Cahil in eine andere Richtung aufgebrochen ist. Normalerweise würde sie mich losschicken, um herauszufinden, wo er sich aufhält. Ich würde sie benachrichtigen, sie würde kommen, und dann würden wir ihm gemeinsam gegenübertreten. Stattdessen wurde ich mit der Jagd nach dem wilden Valmur beauftragt.“

„Valmur?“ Es dauerte eine Weile, bis ich mit dem Namen die kleinen, langschwänzigen Tiere verband, die im Dschungel lebten.

„Weißt du nicht mehr, wie wir sie durch die Baumkronen gejagt haben? Sie waren so schnell und wendig, dass wir niemals einen erwischt haben. Aber wenn du dich hinsetzt und ihnen eine Süßigkeit aus Pflanzensaft vor die Nase hältst, springen sie dir direkt in den Schoß und folgen dir überallhin.“

Als ich nicht antwortete, zuckte Leif schuldbewusst mit den Schultern. „Das muss gewesen sein, nachdem …“

Nachdem ich entführt und nach Ixia verschleppt worden war. Obwohl ich Leif danach viele Jahre lang nicht mehr gesehen hatte, konnte ich mir sehr gut vorstellen, wie er als kleiner Junge auf der Suche nach einem schnellfüßigen Valmur durch das Dickicht des Dschungels gestrolcht war.

Die Heimstatt des Zaltana-Clans befand sich weit oben in den Baumkronen, und mein Vater hatte immer Witze darüber gemacht, dass die Kinder zuerst klettern lernten, bevor sie laufen konnten.

„Roze könnte sich irren, was Cahils Absichten anbelangt. Pack ein paar von den Süßigkeiten ein“, befahl ich. „Vielleicht brauchen wir sie.“

Leif erschauerte. „Wenigstens wird es in der Ebene wärmer sein, und das Plateau liegt weiter im Süden.“

Ich verließ Leifs Unterkunft und ging zurück zu meinem Turm, um einige Sachen einzupacken. Der Schneeregen blies nun von der Seite und wirbelte mir winzige Dolche aus Eis ins Gesicht, während ich mir meinen Weg durch das Unwetter bahnte. Irys wartete in der Empfangshalle auf mich, die unmittelbar hinter dem großen Eingangstor zum Turm lag. Die Flammen im Kamin loderten empor, als kalte Luft hereinströmte und ich mit den Türen kämpfte, die der heftige Sturm mir aus der Hand zu reißen drohte.

Ich trat ans Feuer und streckte meine Hände aus. Die Aussicht, bei einem solchen Wetter reisen zu müssen, war alles andere als verlockend.

„Weiß Leif, wie man ein Feuer entfacht?“, fragte ich Irys.

„Ich glaube schon. Aber egal, wie begabt er ist – nasses Holz lässt sich nicht entzünden.“

„Na prima“, murmelte ich. Mein feuchter Mantel dampfte. Ich legte das klamme Kleidungsstück über einen Stuhl, den ich näher ans Feuer zog.

„Wann reist du ab?“, wollte Irys wissen.

„Sofort.“ Mein Magen knurrte, und mir wurde bewusst, dass ich das Abendessen verpasst hatte. Ich seufzte, denn nun würde meine Mahlzeit vermutlich aus einer Scheibe kaltem Käse und trockenem Brot bestehen.

„Ich treffe Leif in der Scheune. Oh, verflixte Schlangenbrut.“ Unvermittelt fiel mir ein, was ich noch zu tun hatte.

„Irys, könntest du Gelsi und Dax sagen, dass ich mit ihrem Unterricht beginne, sobald ich zurück bin?“

„Welcher Unterricht? Doch nicht etwa Magie …“

„Nein, nein. Ich bringe ihnen Selbstverteidigung bei.“ Ich zeigte auf meine Waffe. Der ein Meter fünfzig lange Streitkolben aus Ebenholz steckte noch in der Halterung an meinem Rucksack. Wassertropfen glänzten auf der Waffe.

Ich zog sie heraus und wog den schweren Stock in meiner Hand. Unter der schwarzen Oberfläche aus Ebenholz schimmerten goldfarbene Motive aus meiner Jugend. Bilder von mir als Kind, vom Dschungel, meiner Familie und andere waren in das Holz geätzt. Sogar eine Nachbildung von Kikis liebevollen Augen gehörte zu meiner Lebensgeschichte. Der Streitkolben schmiegte sich in meine Hände. Er war das Geschenk einer Meisterschnitzerin aus dem Sandseed-Clan, die sich auch um die Aufzucht von Kiki gekümmert hatte.

„Bain weiß bereits, dass du morgen früh nicht an seinem Unterricht teilnehmen wirst“, erklärte Irys. „Aber er meinte …“

„Erzähl mir bloß nicht, dass er mir Hausaufgaben geben wird“, bat ich. Allein der Gedanke, das gigantische Geschichtsbuch mit mir herumschleppen zu müssen, verursachte mir Rückenschmerzen.

Irys lächelte. „Er hat gesagt, dass er dir Nachhilfeunterricht geben wird, sobald du wieder zurück bist.“

Erleichtert griff ich nach meinem Rucksack und kontrollierte den Inhalt, um nachzuschauen, welche anderen Dinge wir noch benötigten.

„Sonst noch was?“, wollte Irys wissen.

„Nein. Was wirst du der Ratsversammlung erzählen?“, erkundigte ich mich.

„Dass Roze dir aufgetragen hat, von den Geschichtenwebern etwas über deine magischen Kräfte zu erfahren. Der erste nachgewiesene Seelenfinder in Sitia war ein Sandseed. Hast du das gewusst?“

„Nein.“ Eigentlich hätte mich das nicht überraschen sollen. Schließlich würde alles, was ich über Seelenfinder wusste, nicht einmal eine einzige Seite in Master Bains Geschichtsbüchern füllen.

Nachdem ich gepackt hatte, verabschiedete ich mich von Irys und kämpfte mich durch den Sturm zum Speisesaal. Das Küchenpersonal hielt stets einen Vorrat an Reiseproviant für die Magier bereit. Ich steckte ausreichend Lebensmittel für eine Woche ein.

Als ich mich den Ställen näherte, sah ich ein paar mutige Pferde ihre Köpfe aus den Boxen stecken. Kikis kupferfarbenes und weißes Gesicht war sogar im dämmerigen Zwielicht zu erkennen.

Zur Begrüßung wieherte sie, und ich öffnete mein Bewusstsein für sie.

Gehen wir? fragte sie.

Ja. Tut mir leid, dass ich dich an so einem scheußlichen Tag hinausführen muss, entschuldigte ich mich.

Nicht schlimm mit dem Lavendelmädchen.

Lavendelmädchen war der Name, den die Pferde mir gegeben hatten. Sie tauften die Leute um sie herum ebenso, wie wir ein Haustier benennen würden. Ich musste lächeln, als mir Leifs Bemerkung einfiel, die er gemacht hatte, als ich in den intensiv duftenden Kräutern gebadet hatte.

Lavendel riecht wie … Kiki fehlten die Worte, um ihre Eindrücke zu beschreiben. In ihren Gedanken nahm ein blaugrauer Lavendelbusch mit seinen langen, dunkellila Blüten Gestalt an. Gefühle von Zufriedenheit und Geborgenheit gingen mit dem Bild einher.

Ungeachtet der Futtersäcke neben dem Eingang hallten meine Schritte durch den Mittelgang des Stalls, als ob er leer sei. Die mächtigen Stützbalken des Gebäudes standen wie Soldaten zwischen den Boxen. Das Ende der Reihe versank in der Dunkelheit.

Leif? fragte ich Kiki.

Trauriger Mann ist in der Sattelkammer.

Danke. Ich schlenderte zum rückwärtigen Teil der Scheune und atmete den vertrauten Geruch von Leder und Sattelseife ein. Der herbe Duft von getrocknetem Stroh verursachte mir ein Kratzen in der Kehle und vermischte sich mit dem erdigen Aroma von Pferdedung.

Auch Verfolger.

Wer?

Doch ehe Kiki antworten konnte, entdeckte ich Captain Marrok in der Sattelkammer zusammen mit Leif. Die scharfe Spitze von Marroks Schwert war auf Leifs Brustkorb gerichtet.

3. KAPITEL

Bleib zurück, Yelena“, befahl Marrok. „Antworte mir, Leif.“

Leifs Gesicht war bleich, aber sein Kinn hatte er trotzig vorgestreckt. Unsere fragenden Blicke trafen sich.

„Was willst du, Marrok?“, erkundigte ich mich.

Die Wunden auf Marroks Gesicht waren blasser geworden, aber sein rechtes Auge war immer noch geschwollen und gerötet – trotz der Bemühungen von Heiler Hayes, seine gebrochenen Wangenknochen zu verarzten.

„Ich will Cahil finden“, antwortete Marrok.

„Wir wollen ihn alle finden. Warum bedrohst du meinen Bruder?“ Ich schlug einen strengen Ton an, um ihn daran zu erinnern, dass er es nun mit mir zu tun hatte. Einen schlechten Ruf zu haben hatte manchmal auch seine Vorteile.

Marrok schaute mich an. „Er arbeitet mit der Ersten Magierin zusammen. Sie ist mit der Suche beauftragt. Wenn sie irgendetwas über Cahils Aufenthaltsort in Erfahrung bringt, wird sie Leif losschicken.“ Er deutete auf die Zügel in Leifs Hand. „An einem Tag wie heute reitet er bestimmt nicht zum Markt oder zum Vergnügen aus. Aber er weigert sich, mir zu sagen, wohin er geht.“

Es erstaunte mich immer wieder, wie schnell Neuigkeiten und Klatsch die Runde bei den Wächtern des Bergfrieds machten.

„Hast du ihn gefragt, bevor oder nachdem du dein Schwert gezogen hast?“

Die Spitze von Marroks Klinge zitterte. „Was spielt das für eine Rolle?“, grollte er.

„Weil die meisten Menschen eher zur Zusammenarbeit bereit sind, wenn kein Schwert auf ihre Brust gerichtet ist.“ Marrok war ein Berufssoldat, der die meisten Unterhaltungen mit seinem Schwert führte. Deshalb änderte ich meine Taktik.

„Warum bist du Leif nicht einfach gefolgt?“ Marroks Begabung, anderen auf die Spur zu kommen, hatte die Pferde so sehr beeindruckt, dass sie ihm den Namen „Verfolger“ gegeben hatten.

Marrok berührte seine Wange und zuckte zusammen. Ich konnte seine Gedanken erraten. Marrok war Cahil in grenzenloser Loyalität ergeben, aber Cahil hatte ihn praktisch halb tot zurückgelassen, nachdem er ihn geschlagen und gefoltert hatte, um die Wahrheit über seine Abstammung herauszufinden.

Mit einer raschen Bewegung steckte der Soldat sein Schwert zurück, als habe er soeben eine Entscheidung getroffen. „Ich kann Leif nicht verfolgen. Er würde mich mit seinen Zauberkräften aufspüren und meinen Geist verwirren.“

„Das kann ich überhaupt nicht“, protestierte Leif.

„Wirklich nicht?“ Marrok ließ die Hand in der Nähe seines Schwerts und schien zu überlegen.

„Aber ich kann es“, bemerkte ich.

Marrok konzentrierte sich wieder auf mich.

„Marrok, du bist kaum in der Lage zu reisen. Und ich kann nicht zulassen, dass du Cahil tötest. Der Rat von Sitia möchte zuerst mit ihm reden.“ Ich wollte mit ihm reden.

„Mir geht es nicht um Rache“, erwiderte Marrok.

„Um was denn dann?“

„Ich will helfen.“ Marrok umklammerte den Griff seines Schwertes.

„Was?“, entfuhr es Leif und mir wie aus einem Mund.

„Sitia braucht Cahil unbedingt. Nur der Rat und die Meister wissen, dass er kein königliches Blut hat. Ixia stellt eine echte Bedrohung für die Einwohner von Sitia dar. Sitia braucht einen Repräsentanten, hinter dem die Bevölkerung steht. Jemand, der sie in den Kampf führt.“

„Aber er hat Ferde bei der Flucht geholfen“, gab ich zu bedenken. „Und Ferde könnte bereits wieder ein Mädchen foltern und vergewaltigen, während wir hier miteinander reden.“

„Cahil war einfach beschämt und total durcheinander, als er die Wahrheit über seine Geburt erfahren hat. Ich habe ihn großgezogen. Ich kenne ihn besser als irgendjemand sonst. Vermutlich bereut er seine Unbesonnenheit längst. Ferde ist wahrscheinlich schon tot. Wenn es mir möglich wäre, mit Cahil zu sprechen, würde er kampflos zurückkommen, da bin ich mir sicher. Und wir können die ganze Angelegenheit mit den Ratsmitgliedern regeln.“

Ich spürte magische Kräfte, die durch mich hindurchfuhren.

„Seine Absichten sind aufrichtig“, stellte Leif fest.

Aber wie stand es um Cahils Absichten? Ich hatte mitbekommen, wie rücksichtslos und opportunistisch er sich verhalten hatte, als es darum ging, ein Heer aufzustellen; unbesonnen war er jedoch nie gewesen. Allerdings hatte ich ihn auch nur während zweier Jahreszeiten erlebt. Ich überlegte, ob ich meine magischen Kräfte benutzen sollte, um in Marroks Erinnerungen an Cahil einzudringen, doch wenn er es mir nicht ausdrücklich erlaubte, wäre das ein Verstoß gegen den Verhaltenskodex der Magier. Also bat ich ihn darum.

„Nur zu“, forderte Marrok mich auf und erwiderte meinen Blick.

In seinen blaugrauen Augen lag ein Ausdruck des Schmerzes. Seitdem er von Cahil misshandelt worden war, hatte sich sein kurzes graues Haar vollkommen weiß verfärbt.

Allein die Tatsache, dass er mir sein Einverständnis gab, überzeugte mich von seiner Aufrichtigkeit, aber ungeachtet seiner guten Absichten hatte er immer noch vor, eine Armee aufzustellen und Ixia anzugreifen. Und das widersprach dem, was ich glaubte. Ixia und Sitia mussten einfach Verständnis füreinander aufbringen und zusammenarbeiten. Ein Krieg würde niemandem helfen.

Sollte ich Marrok zurücklassen, damit er die Ratsversammlung überreden konnte, einem Angriff zuzustimmen, oder sollte ich ihn mit mir nehmen? Sein Talent als Fährtensucher wäre eine zusätzliche Hilfe.

„Wenn ich dir erlaube, mit uns zu kommen, musst du all meinen Anordnungen Folge leisten. Bist du damit einverstanden?“, wollte ich wissen.

Marrok richtete sich auf wie ein Soldat, der Haltung annimmt. „Jawohl, Sir!“

„Bist du stark genug, um zu reiten?“

„Ja, aber ich habe kein Pferd.“

„Das macht nichts. Ich besorge dir ein Sandseed-Pferd. Du musst nur dafür sorgen, dass du nicht hinunterfällst.“ Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich an Kikis windschnellen Galopp dachte.

Leif lachte, und seine Körperhaltung wurde lockerer, als die Anspannung von ihm wich. „Dann wünsche ich dir viel Erfolg dabei, den Stallmeister dazu zu überreden, dass er dir sein Pferd leiht.“

„Was meinst du damit?“, fragte ich.

„Garnet ist das einzige andere Pferd im Stall des Bergfrieds, das von den Sandseeds aufgezogen wurde.“

Beim Gedanken an den dickköpfigen und unleidlichen Stallmeister schwand mein Optimismus schlagartig. Was tun? Keine andere Pferderasse würde mit uns Schritt halten können.

Honig, meldete Kiki sich in meinem Bewusstsein.

Honig?

Avibianischer Honig. Oberster Mann liebt Honig.

Ich sollte dem Stallmeister also anbieten, ihm avibianischen Honig mitzubringen. Dann würde er mir vielleicht sein Pferd leihen.

Wir verließen die Zitadelle durch das südliche Tor und nahmen den Weg durch das Tal. Von Wagenspuren durchzogene Stoppelfelder erstreckten sich entlang der rechten Seite, während sich die Avibian-Ebene nach links ausdehnte.

Die langen gelben und roten Gräser in der Ebene hatten sich im kalten Wetter braun verfärbt. Der Regen hatte sich in großen Pfützen gesammelt und verwandelte die hügelige Landschaft in ein Sumpfgebiet. Ein Geruch von klammer Fäulnis lag in der Luft.

Leif ritt auf Rusalka, und Marrok hielt Garnets Zügel fest umklammert. Seine Nervosität übertrug sich auf das große Pferd, das bei jedem Geräusch seitwärts ausbrach.

Kiki wurde langsamer, und ich konnte mit ihm reden. „Marrok, entspann dich. Ich bin diejenige, die versprochen hat, avibianischen Honig mitzubringen und das Zaumzeug des Stallmeisters drei Wochen lang sauber zu halten.“

Er ließ ein bellendes Lachen hören, ohne seinen Griff zu lockern.

Es war Zeit, die Taktik zu ändern. Ich zupfte einen magischen Faden aus der Hülle, die die ganze Welt umgab und unsere Kraftquelle war, und nahm Kontakt zu Garnets Gedanken auf. Das Pferd vermisste den Obersten Mann und mochte den Fremden auf seinem Rücken nicht, aber es beruhigte sich, als ich ihm unser Ziel zeigte.

Nach Hause, stimmte Garnet zu. Er wollte weitergehen. Schmerzen.

Marroks straffer Griff verursachte Garnet heftige Schmerzen am Maul, und ich wusste, dass Marrok nicht lockerlassen würde, selbst wenn ich drohte, ihn zurückzulassen. Seufzend suchte ich Kontakt zu Marroks Bewusstsein. Seine Sorgen und Ängste konzentrierten sich mehr auf Cahil als auf sich selbst. Sein Unbehagen rührte daher, dass er das Gefühl hatte, das mächtige Tier unter sich nicht kontrollieren zu können, obwohl er Garnets Zügel hielt. Außerdem machte es ihm zu schaffen, dass er nicht Herr der Lage war und Befehle von ihr entgegennehmen musste.

Eine unterschwellige Feindseligkeit in seinen Gedanken ließ meine Alarmglocken schrillen, und ich wäre gerne tiefer in sein Bewusstsein eingedrungen. Er hatte mir Zutritt zu seinen Erinnerungen an Cahil gewährt, jedoch nicht gestattet, sie genauer zu untersuchen. Stattdessen schickte ich ihm ein paar beruhigende Gedanken. Auch wenn er meine Worte nicht hören konnte, war er doch bestimmt in der Lage, auf ihren beschwichtigenden Tonfall zu reagieren.

Nach einer Weile hielt Marrok sich nicht mehr so verkrampft, und sein Körper bewegte sich im Einklang mit Garnets Trab. Sobald das Pferd sich wieder wohlfühlte, lief Kiki nach links auf die Ebene. Schlamm spritzte von ihren Hufen auf, als sie schneller wurde. Ich gab Leif und Marrok das Signal, ihren Pferden die Kontrolle zu überlassen.

Bitte finde Mondmann. Schnell, bat ich Kiki.

Mit einem kleinen Hüpfer wechselte sie in ihren windschnellen Galopp. Rusalka und Garnet folgten. Ich fühlte mich wie von einem Luftstrom getragen. Die Ebene verschwamm unter Kikis Hufen, als sie in einem Tempo dahinflog, das zweimal schneller war als ein rasanter Galopp.

Nur Pferde der Sandseeds waren in der Lage, diese Geschwindigkeit zu erreichen, und auch nur dann, wenn sie über die Avibian-Ebene rannten. Es musste eine magische Fähigkeit sein, aber ich hätte nicht sagen können, ob Kiki die Kraftquelle anzapfte. Ich würde Mondmann danach fragen, wenn wir ihn gefunden hatten.

Die Ebenen nahmen einen großen Teil des östlichen Sitias ein. Sie erstreckten sich südöstlich der Zitadelle, reichten bis zu den Smaragd-Bergen im Osten und bis zum Daviian-Plateau im Süden.

Mit einem gewöhnlichen Pferd benötigte man fünf bis sieben Tage, um die Ebene zu durchqueren. Die Sandseeds waren der einzige Clan, der innerhalb der Grenzen lebte, und ihre Geschichtenweber hatten das Land mit einem mächtigen Schutzzauber umgeben. Jeder Fremde, der ohne die Erlaubnis der Sandseeds in die Ebene eindrang, war rettungslos verloren. Der Zauber würde den Verstand des Eindringlings durcheinanderbringen, und er würde sich immer im Kreis bewegen, bis er entweder zufällig einen Ausweg fand – oder verdurstete.

Magier mit starken Kräften waren in der Lage zu reisen, ohne von dem Zauber beeinflusst zu werden. Dennoch wussten die Geschichtenweber immer, wenn jemand in ihr Land eindrang. Da der Zaltana-Clan entfernte Cousins und Cousinen der Sandseeds waren, konnten auch dessen Mitglieder das Gebiet unbehelligt betreten. Die anderen Sippen machten dagegen einen großen Bogen um das Land.

Da Marrok auf einem Sandseed-Pferd ritt, wurde er durch den Schutzschild nicht beeinträchtigt, und wir konnten die ganze Nacht weiterreiten. Bei Sonnenaufgang blieb Kiki schließlich stehen, um eine Rast einzulegen.

Während Leif Feuerholz suchte, striegelte ich die Pferde und gab ihnen zu fressen. Marrok half Leif, aber seinem bleichen Gesicht sah ich an, wie erschöpft er war.

Während der Nacht hatte der Schneeregen nachgelassen, aber noch immer hingen graue Wolken schwer am Himmel. Auf unserem Rastplatz gab es viel Gras für die Pferde. Er lag auf einem höheren Teil der Ebene in der Nähe eines einsam stehenden Felsens, der umgeben war von niedrig wachsenden Bäumen. Der Ort war ideal für uns, weil wir nicht knöcheltief im Matsch versanken.

Unsere Mäntel waren feucht. Deshalb spannte ich meine Leine zwischen zwei Bäume, um unsere nasse Kleidung aufzuhängen. Leif und Marrok fanden tatsächlich einige trockene Zweige. Leif stapelte sie zeltförmig aufeinander, und indem er sie intensiv betrachtete, erweckte er kleine Flammen zum Leben.

„Angeber“, spottete ich.

Grinsend füllte er einen Topf mit Wasser, um Tee zu kochen. „Du bist ja bloß neidisch.“

„Stimmt. Das bin ich wirklich.“ Ich seufzte frustriert. Leif und ich hatten zwar dieselben Eltern, aber dennoch unterschiedliche magische Fähigkeiten. Unser Vater Esau verfügte nicht über offensichtliche Zauberkräfte, aber er hatte ein Talent, Pflanzen und Bäume im Dschungel aufzuspüren, die für Nahrung, Arzneien und seine Erfindungen zu gebrauchen waren. Perl, unsere Mutter, konnte lediglich spüren, ob ein Mensch magische Kräfte besaß.

Wie kam es also, dass Leif die Zauberkraft hatte, Feuer zu entzünden und die Gefühle eines Menschen zu spüren, während ich in Kontakt mit ihren Seelen treten konnte? Mithilfe meiner Zauberkraft vermochte ich Leif zu zwingen, ein Feuer zu entfachen, aber ich selbst war dazu nicht in der Lage. Ich überlegte, ob irgendjemand in der Geschichte von Sitia den Zusammenhang von Magie und elterlicher Abstammung erforscht hatte. Bain Bloodgood, der Zweite Magier, wusste vermutlich darüber Bescheid. Er besaß nahezu alle Bücher, die in Sitia veröffentlicht worden waren.

Kaum hatten wir unsere Vorräte an Brot und Käse zum Frühstück verspeist, schlief Marrok ein. Leif und ich blieben beim Feuer sitzen.

„Hast du ihm etwas in den Tee getan?“, fragte ich.

„Ein wenig Rinde vom Wacholderbaum, um seine Genesung zu beschleunigen.“

Marroks Gesicht war übersät von Falten und Narben. Weiße Bartstoppeln verdeckten die gelb verfärbten Schrammen an seinem Kinn. Aus seinem geschwollenen Auge flossen Blut und Tränen. Rote Striemen liefen über seine rechte Wange. Heiler Hayes hatte mir nicht gestattet, ihn bei Marroks Genesung zu unterstützen. Ich durfte ihm nur bei der Behandlung der kleineren Verletzungen helfen. Noch einer, der Angst vor meinen Kräften hatte.

Ich berührte Marroks Stirn. Seine Haut fühlte sich heiß und trocken an. Der üble Geruch von faulendem Fleisch stieg mir in die Nase. Ich suchte die Verbindung mit der Kraftquelle und spürte die schützende Magie der Sandseeds, die nach Anzeichen auf eine Bedrohung suchten, die von mir ausgehen konnte. Ich konzentrierte die Zauberkraft auf mich und sandte Marrok einen Faden, sodass die Muskeln und Knochen unter seiner Haut sichtbar wurden. Seine Verletzungen pulsierten rot schimmernd. Sein Wangenknochen war zerschmettert worden, und einige Knochensplitter waren in sein Auge gedrungen, sodass seine Sehkraft beeinträchtigt war. Kleine dunkle Flecken deuteten auf eine Infektion der betroffenen Stellen hin.

Ich konzentrierte mich auf die Verletzung, bis seine Schmerzen sich auf mein eigenes Gesicht übertrugen. Es war, als stächen Nadeln in meine Augen, während meine Sicht verschwamm und Tränen zu fließen begannen. Ich rollte mich zu einem Ball zusammen, um die Attacke abzuwehren, und leitete die Magie der Kraftquelle durch meinen Körper. Unaufhörlich strömte der Fluss, und ich verspannte mich. Dann bewegte sich der Zauberstrom mit einem Mal so leicht, als hätte jemand einen Biberdamm beiseitegeräumt und den Schmerz weggespült. Ich empfand eine Welle der Erleichterung und entspannte mich.

„Glaubst du, das war eine gute Idee?“ Forschend musterte Leif mich, als ich meine Augen öffnete.

„Die Wunde war infiziert.“

„Aber du hast deine ganze Energie benutzt.“

„Ich …“ Ich setzte mich – müde, aber nicht erschöpft. „Ich …“

„Du hattest Hilfe“, ertönte eine Stimme aus dem Nichts.

Überrascht fuhr Leif hoch, aber ich erkannte den tiefen, männlichen Ton sofort. Mondmann tauchte neben dem Feuer auf, als habe sein Körper aus der aufsteigenden Hitze und der Asche Gestalt angenommen. Sein kahler Schädel schimmerte im Sonnenlicht.

Um sich vor der Kälte zu schützen, trug Mondmann eine langärmelige, braune Tunika und dunkelbraune Hosen, die zu seiner Hautfarbe passten. Aber er war barfuß.

„Keine Farbe?“, fragte ich Mondmann. Als ich ihn zum ersten Mal getroffen hatte, war er aus einem Mondstrahl herausgetreten und trug nur indigoblaue Farbe auf der Haut. Er hatte behauptet, mein Geschichtenweber zu sein, hatte mir meine Lebensgeschichte vorgeführt und meine Kindheitserinnerungen ans Licht geholt. Sechs Jahre meines Zusammenlebens mit meiner Mutter, meinem Vater und Bruder waren von einem Magier namens Mogkan aus meinem Gedächtnis getilgt worden. Auf diese Weise wollte er verhindern, dass ich mich nach meiner Familie sehnte, nachdem er mich entführt hatte.

Mondmann lächelte. „Ich hatte keine Zeit, meine Haut zu bemalen. Aber es ist gut, dass ich genau in diesem Moment gekommen bin.“ In seiner Stimme schwang Missbilligung mit. „Sonst hättest du deine gesamte Energie verbraucht.“

„Nicht die gesamte“, widersprach ich und klang dabei wie ein trotziges Kind.

„Bist du etwa schon eine allmächtige Seelenfinderin geworden?“ Spöttisch riss er die Augen auf. „Dann werde ich mich vor deiner gewaltigen Größe verneigen.“ Er bog den Oberkörper nach vorn.

„Genug, das reicht jetzt“, erwiderte ich lachend. „Ich hätte darüber nachdenken sollen, ehe ich Marrok heilte. Bist du jetzt zufrieden?“

Er seufzte theatralisch. „Ich wäre zufrieden, wenn ich davon ausgehen könnte, dass du deine Lektion gelernt hast und so etwas nicht wieder tun würdest. Stattdessen bin ich mir sehr wohl bewusst, dass du dich immer wieder in solche Situationen hineinmanövrieren wirst. Es ist in dein Lebensschicksal eingewoben. Für dich besteht keine Hoffnung.“

„Hast du mich deshalb kommen lassen? Um mir mitzuteilen, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin?“

Mondmann wurde ernst. „Ich wünschte, es wäre nur das. Wir haben erfahren, dass der Seelendieb mit Cahils Unterstützung aus dem Bergfried der Magier geflohen ist. Einer unserer Geschichtenweber, der das Daviian-Plateau auskundschaftet, hat einen Fremden gespürt, der mit einem der Würmer unterwegs ist.“

„Sind Cahil und Ferde auf dem Plateau?“, erkundigte Leif sich.

„Wir glauben es, aber wir möchten, dass Yelena den Seelendieb identifiziert.“

„Warum?“, wollte ich wissen. Die Sandseeds verschwendeten normalerweise keine Zeit mit Verhören und Kerkerhaft. Sie exekutierten die Verbrecher, sobald sie ihrer habhaft geworden waren.

Allerdings war es nicht leicht, die Würmer von Daviian zu finden, denn unter ihnen befanden sich mächtige Zauberer. Die Würmer waren eine Gruppe von jugendlichen Sandseeds, die unzufrieden darüber waren, dass ihre Clan-Mitglieder strikt für sich blieben und den Kontakt zu anderen Sippen auf ein Minimum beschränkten. Die Würmer wollten, dass die Geschichtenweber der Sandseeds ihren Einfluss nutzten, um ganz Sitia und nicht nur die Bewohner der Ebene zu beherrschen.

Sie hatten mit dem Sandseed-Clan gebrochen und sich auf dem Daviian-Plateau niedergelassen, wo sie zum Daviian-Clan geworden waren. Die trockene und unfruchtbare Erde des Plateaus machte das Bestellen der Böden zu einer äußerst schwierigen Angelegenheit, sodass die Daviianer die Sandseeds bestahlen. Deshalb hatte man ihnen den Spitznamen Würmer gegeben. Die Magier der Würmer wurden von den Sandseeds auch als Fälscher bezeichnet, weil sie ihre Zauberei ausschließlich für egoistische, nach ihrer Meinung also falsche Zwecke einsetzten.

„Du musst den Seelendieb identifizieren, weil er möglicherweise noch mehr Seelen gestohlen hat. Und nur du kannst diese Seelen befreien, bevor wir ihn töten“, erklärte Mondmann mit tonloser Stimme.

Ich packte ihn am Arm. „Habt ihr Leichen gefunden?“

„Nein. Aber ich mache mir Sorgen über das, was wir finden werden, wenn wir ihr Lager erobern.“

Der Schrecken, den Ferde während der beiden vergangenen Jahreszeiten verbreitet hatte, drohte mich zu überwältigen. Elf Mädchen hatte er verstümmelt und vergewaltigt, um in den Besitz ihrer Seelen zu gelangen und seine magische Macht zu vermehren. Valek und ich hatten ihm das Handwerk gelegt, ehe er die letzte Seele an sich bringen konnte. Hätte er Erfolg gehabt, würde er nun über Sitia und Ixia herrschen. Stattdessen hatte ich alle Seelen befreit und in den Himmel fliegen lassen. Die Vorstellung, dass er wieder von Neuem begonnen hatte, war unerträglich.

„Ihr habt ihr Lager aufgespürt?“, fragte Leif.

„Ja. Wir haben unser Leben aufs Spiel gesetzt“, erzählte Mondmann. „Die Krieger des Clans haben das gesamte Plateau auf den Kopf gestellt. Wir haben ein großes Feldlager am südlichen Rand in der Nähe der Grenze zum Dschungel von Illiais entdeckt.“

Ganz nahe bei meiner Familie. Unwillkürlich musste ich nach Luft geschnappt haben, denn Mondmann berührte meine Schulter und drückte sie leicht.

„Mach dir keine Sorgen um deine Sippe. Jeder Soldat der Sandseeds ist darauf vorbereitet, die Würmer anzugreifen, sobald sie Anstalten machen, ihr Lager zu verlassen. Wir brechen auf, sobald die Pferde sich ausgeruht haben.“

Unruhig lief ich um das Lagerfeuer herum. Eigentlich hätte ich schlafen müssen, aber meine Gedanken ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Leif striegelte die Pferde, und Marrok schlief. Mondmann hatte sich neben das Feuer gelegt und starrte in den Himmel.

Marrok wachte auf, als der Himmel sich bereits verdunkelte. Sein Auge hatte aufgehört, blutige Tränen zu vergießen, und die Schwellung war abgeklungen. Vorsichtig berührte er seine Wange mit einem Finger. In seiner Miene machte sich ein Ausdruck des Erstaunens breit, bis er Mondmann entdeckte. Er sprang auf die Füße, zog sein Schwert und fuchtelte mit der Waffe vor dem Geschichtenweber herum. Sogar bewaffnet wirkte Marrok klein neben dem muskulösen Sandseed, der ihn um zwanzig Zentimeter überragte.

Mondmann lachte. „Ich sehe, es geht dir wieder besser. Komm. Wir haben etwas zu besprechen.“

Wir vier ließen uns am Feuer nieder, während Leif das Abendessen vorbereitete. Marrok setzte sich neben mich, und aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass er jedes Mal, wenn er seine Wange berührte, Mondmann mit furchtsamer Bewunderung betrachtete. Seine rechte Hand blieb die ganze Zeit in der Nähe seines Schwertes.

„In der Morgendämmerung brechen wir auf“, erklärte Mondmann.

„Warum muss eigentlich immer alles in der Morgendämmerung beginnen?“, maulte ich. „Die Pferde können nachts sehr gut sehen.“

„Auf diese Weise können sich die Pferde einen ganzen Tag lang ausruhen. Ich reite mit dir auf Kiki. Sie ist die Stärkste. Und wenn wir erst einmal das Plateau erreicht haben, werden wir keine Rast mehr einlegen, bis wir bei den anderen angekommen sind.“

„Und was passiert dann?“, hakte ich nach.

„Dann werden wir angreifen. Du wirst nahe bei mir und den anderen Geschichtenwebern bleiben. Der Seelendieb wird ebenso bewacht wie die Fälscher. Wenn wir den äußersten Ring der Wachen erst einmal durchbrochen haben, beginnt der schwierige Teil.“

„Der Kampf gegen die Fälscher“, mutmaßte ich.

Er nickte.

„Kannst du nicht noch mal das Vakuum verschieben?“, schlug Leif vor.

Das Vakuum war ein Loch in der Kraftquelle, an dem keine Magie existierte. Als die Sandseeds das letzte Mal ein Versteck der Würmer entdeckt hatten, war es durch einen magischen Schild geschützt, der Trugbilder erzeugte. Das Lager schien nur von wenigen Kriegern bevölkert zu sein. Als die Sandseeds das Vakuum über die Würmer geschoben hatten, verschwand die Illusion sofort. Unglücklicherweise befanden sich viermal so viele Soldaten im Lager, und wir waren hoffnungslos unterlegen.

„Sie kennen den Trick und werden auf uns aufmerksam, wenn wir versuchen, die Kraftquelle zu bewegen“, erklärte Mondmann.

„Wie willst du dann die Fälscher überwältigen?“, fragte ich besorgt. Wenn die Würmer Zugang zur Zauberei hatten, würde es ein schwieriger Kampf werden.

„Sämtliche Geschichtenweber der Sandseeds werden sich zusammentun und ein starkes magisches Netz herstellen, das sie gefangen hält und daran hindert, sich ihrer Zauberei zu bedienen. Wir werden sie so lange in Schach halten, bis du den Seelendieb gefunden hast.“

Marrok unterbrach das anschließende Schweigen. „Was ist mit Cahil?“

„Er half dem Seelendieb zu fliehen“, erwiderte Mondmann. „Er sollte bestraft werden.“

„Die Ratsmitglieder möchten mit ihm reden“, gab ich zu bedenken.

„Und dann werden sie entscheiden, was mit ihm passieren soll“, fügte Leif hinzu.

Mondmann zuckte mit den Achseln. „Er ist kein Wurm. Ich werde den anderen sagen, dass sie ihn nicht töten sollen, aber in einem solchen Kampfgetümmel ist das nicht einfach.“

„Er hält sich vermutlich in der Nähe der Führer von Daviian auf“, mutmaßte Marrok.

„Marrok, du und Leif, ihr sucht Cahil und bringt ihn an den nördlichen Rand des Schlachtfelds. Nach dem Kampf stoße ich dann zu euch.“

„Jawohl, Sir!“, erwiderte Marrok.

Leif nickte, aber ich bemerkte den zweifelnden Blick in seinen Augen.

Gibt’s ein Problem? meldete ich mich in seinen Gedanken.

Was ist, wenn Cahil Marrok dazu überredet, ihn nicht zurück zum Rat zu bringen? Was passiert, wenn sie sich gegen mich verbünden?

Ein gutes Argument. Ich bitte Mondmann, dass er

einen meiner Krieger dazu abstellt, an Leifs Seite zu bleiben, schaltete Mondmann sich ein.

Überrascht zuckte ich zusammen. Ich hatte gar nicht gespürt, dass er die Kraftquelle angezapft hatte, um sich mit uns in Verbindung zu setzen.

Was kannst du sonst noch tun? wollte ich wissen.

Das verrate ich dir nicht. Es würde meine geheimnisvolle Aura als Geschichtenweber zerstören.

Am nächsten Morgen sattelten wir die Pferde und machten uns auf den Weg in den Süden des Plateaus. Selbst unter dem Gewicht von zwei Reitern kam Kiki mühelos voran. Wir machten nur einmal Rast, um ein warmes Abendessen zu uns zu nehmen und zu schlafen. Nach zwei Tagen hatten wir die Grenze erreicht. Bei Sonnenuntergang des zweiten Tages legten wir am Rand der Ebene eine Pause ein, damit sich die Pferde ausruhen konnten.

Bis weit zum Horizont erstreckte sich das Plateau. Ein paar verdorrte Grasbüschel wuchsen hier und dort aus der von der Sonne vertrockneten Erde. In der Ebene gab es ein paar einsame Bäume, sanft geschwungene Hügel, Felsen und Ausbuchtungen aus Sandstein, auf dem Plateau dagegen lediglich dorniges Gebüsch und knorrige Baumstümpfe, gegen die der Wind grobkörnigen Sand blies.

Wir hatten das kalte Wetter und den wolkenverhangenen Himmel hinter uns gelassen. In der Nachmittagssonne war es so warm geworden, dass ich meinen Mantel abgelegt hatte, aber als das Tageslicht allmählich schwächer wurde, kam eine kühle Brise auf. Mondmann machte sich auf den Weg, um seinen Anführer zu finden. Sogar auf diese Entfernung zum Lager der Würmer war es zu riskant, ein Feuer zu entfachen. Fröstelnd aß ich mein Abendessen, das aus Hartkäse und trockenem Brot bestand.

Mondmann kehrte mit einem anderen Sandseed zurück.

„Das ist Tauno“, stellte Mondmann ihn vor. „Er wird uns den Weg über das Plateau zeigen.“

Verstohlen musterte ich den kleinen Mann, der mit Pfeil und Bogen bewaffnet und nicht einmal drei Zentimeter größer war als ich. Trotz der kühlen Witterung trug er kurze Hosen. Seine Haut hatte er angemalt, aber im schwachen Licht konnte ich die Farbe nicht erkennen.

„Wir brechen auf, wenn der Mond ein Viertel seiner Strecke zurückgelegt hat“, erklärte Tauno.

Während der Nacht zu reisen war eine gute Idee, aber ich überlegte, was die Krieger wohl tagsüber taten. „Wie schaffen es die Sandseeds, sich auf dem Plateau zu verstecken?“, erkundigte ich mich.

Tauno deutete auf seine Haut. „Wir passen uns der Umgebung an. Und unsere Gedanken verstecken wir hinter dem Leerschild der Geschichtenweber.“

Fragend schaute ich Mondmann an.

„Ein Leerschild blockiert den Zauber“, klärte Mondmann mich auf. „Wenn du das Plateau mit deiner Magie absuchst, würdest du hinter einem Leerschild kein lebendes Wesen entdecken können.“

„Bekommen es die Würmer denn nicht mit, wenn man den Zauber anwendet, um den Schild zu errichten?“

„Nicht, wenn es richtig gemacht wird. Der Schild wurde fertiggestellt, ehe die Geschichtenweber die Ebene verlassen hatten.“

„Und was ist mit den Geschichtenwebern hinter dem Schild? Können sie Magie benutzen?“, hakte ich nach.

„Nein, der Zauber kann den Schild nicht durchdringen. Er blockiert allerdings weder unsere Sicht noch unser Gehör, sondern schützt uns lediglich vor der Entdeckung durch magische Mittel.“

Während wir uns auf unsere Weiterreise vorbereiteten, dachte ich über Mondmanns Worte nach, und mir wurde bewusst, dass es noch vieles auf dem Gebiet der Zauberei gab, von dem ich überhaupt keine Ahnung hatte. Viel zu viel. Aber die Aussicht, mit Roze lernen zu müssen, ließ meine Neugier rasch versiegen.

Als der Mond ein Viertel seiner Strecke am Himmel zurückgelegt hatte, bemerkte Tauno: „Es ist Zeit zu gehen.“

Mondmann nahm hinter mir auf Kiki Platz, und eine böse Vorahnung sorgte dafür, dass sich meine Rückenmuskeln verspannten. Was würde geschehen, wenn ich unsere Mission wegen meiner geringen Kenntnisse auf dem Gebiet der Magie in Gefahr brächte?

Doch es führte zu nichts, sich in diesem Moment darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich holte tief Luft, versuchte mich zu beruhigen und warf meinen Mitreisenden verstohlene Blicke zu. Tauno saß mit Marrok auf Garnet. An seinem gequälten Gesichtsausdruck erkannte ich, dass er alles andere als glücklich darüber war, sein Pferd mit einem Krieger der Sandseeds teilen zu müssen. Und um die ganze Sache noch zu verschlimmern, bestand Tauno darauf, vorn zu sitzen und Garnets Zügel zu halten.

Um unter dem Schutz des Leerschilds zu bleiben, mussten wir uns peinlich genau an den vorgegebenen Weg über das Plateau halten. Tauno führte uns. Das leise Knirschen der Pferdehufe auf grobem Sand war das einzige Geräusch.

Der Mond schlich am Himmel entlang. Einmal hätte ich beinahe laut aufgeschrien und Kiki zum Galoppieren gebracht, weil ich die Anspannung kaum noch ertragen konnte.

Als der Himmel im Osten sich leicht aufhellte, hielt Tauno an und stieg ab. Wir nahmen ein rasches Frühstück zu uns und fütterten die Pferde. Der Tag brach an, und ich stellte fest, dass Tauno auf dem Plateau so gut wie unsichtbar war. Er hatte sich mit den Farben der Umgebung, Grau und Braun, perfekt getarnt.

„Von hier aus laufen wir“, ordnete Tauno an. „Die Pferde lassen wir zurück. Nehmt nur mit, was ihr braucht.“

Der klare Himmel verhieß einen warmen Tag. Deshalb nahm ich meinen Mantel ab und verstaute ihn in meinem Rucksack. Die trockene Luft blies mir feinkörnigen Sand ins Gesicht, und ich verspürte ein Kratzen im Rachen. Ich beschloss, mein Schnappmesser mitzunehmen. Die Halterung band ich um meinen rechten Schenkel. Dann zog ich das Messer heraus und ließ die Klinge herausspringen. Auf die Messerspitze träufelte ich ein wenig Curare. Das muskellähmende Gift würde ich gut gebrauchen können, falls Cahil sich weigerte zu kooperieren. Nachdem ich die Klinge wieder eingeklappt hatte, schob ich die Waffe durch ein Loch in der Tasche meines Hosenrocks zurück in die Halterung. Mein langes schwarzes Haar band ich zu einem Knoten, den ich mit den dünnen Eisenpickeln zusammensteckte, die mir auch als Dietrich dienten. Zum Schluss griff ich nach meinem Streitkolben.

Dass ich wie für einen Kampf ausgestattet war, hieß nicht, dass ich auch kampfbereit war. Ich hoffte, Cahil und Ferde finden zu können und mit mir zu nehmen, ohne jemanden umbringen zu müssen. Trotzdem spürte ich einen Kloß in der Kehle, als ich mir klarmachte, dass ich möglicherweise doch töten musste, um mich selbst zu retten. Keine schöne Aussicht!

Tauno musterte unsere Kleidung und unsere Waffen. Leifs Machete baumelte an seiner Seite. Seine Tunika und Hosen waren grün. Marrok hatte sein Schwert am Gürtel befestigt. Die dunkelbraune Scheide passte zur Farbe seiner Hose. Mir wurde bewusst, dass wir alle in den Farben der Erde gekleidet waren, und wenn wir auch nicht so perfekt mit der Umgebung verschmolzen wie Tauno, fielen wir jedenfalls auch nicht auf.

Unsere Rucksäcke und Vorräte schnallten wir an die Pferdesättel und ließen die Tiere zum Grasen zurück, obwohl in dieser Gegend nicht viel Gras wuchs. Dann machten wir uns auf nach Süden. Das Plateau wirkte verlassen. Mein Bedürfnis, die Umgebung mithilfe meiner Zauberkraft abzusuchen, wurde immer dringender, aber ich unterdrückte den Drang so gut es ging. Beinahe schon instinktiv versuchte ich stets, eine Verbindung zu den Lebewesen rings um mich herum herzustellen, und ich fühlte mich schutzlos und verloren, wenn ich nicht wusste, wer oder was in meiner Nähe atmete.

Nachdem wir einen ziemlichen Umweg genommen hatten, blieb Tauno schließlich stehen und deutete auf eine Gruppe von Dornenbäumen. „Genau hinter diesem Gebüsch befindet sich das Lager“, flüsterte er.

Ich ließ meinen Blick über das Plateau schweifen. Wo war die Armee der Sandseeds? Der Boden war wellig, als ob der Sand sich verflüssigt hätte. Die Wellen wurden höher, und ich schlug mir die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Reihenweise erhoben sich die Krieger der Sandseeds. Dank ihrer Tarnung waren sie vom Sand nicht zu unterscheiden. Die ganze Zeit über hatten sie vor uns gelegen, und ich hatte sie nicht bemerkt.

Mondmann lächelte, als er meine Bestürzung bemerkte. „Du hast dich auf deine magischen Sinne verlassen und deine körperlichen Sinne vollkommen vergessen.“

Ehe ich etwas erwidern konnte, standen vier Sandseeds vor uns. Obwohl sie genauso gekleidet waren wie die Krieger, verriet ihre Körperhaltung Autorität. Sie gaben Befehle, und ihre Macht war förmlich spürbar. Es waren Geschichtenweber.

Ein männlicher Geschichtenweber überreichte Mondmann einen Krummsäbel. Ich spürte seine Blicke wie Pfeile auf mir. „Das ist die Seelenfinderin?“ Seine Stimme klang zweifelnd, aber nicht unfreundlich. „Sie ist nicht das, womit ich gerechnet habe.“

„Was hast du denn erwartet?“, fragte ich.

„Eine große, dunkelhäutige Frau. Du siehst nicht aus, als könntest du einem Sandsturm standhalten, geschweige eine Seele finden und befreien.“

„Gut, dass du nicht mein Geschichtenweber bist. Du lässt dich von der Kleidung täuschen und bist nicht in der Lage, die Qualität des Stoffes zu erkennen.“

„Gut geantwortet“, lobte Mondmann mich. „Reed, zeige uns das Lager.“

Der Geschichtenweber führte uns zu den Bäumen. Durch die spitzen Blätter an den Zweigen entdeckte ich das Lager der Daviianer.

Die Luft rund um den Platz schimmerte, als ob er unter einer Hitzeblase lag. Das große Feuer einer Kochstelle brannte in der Mitte. Viele Leute liefen umher, halfen bei der Zubereitung des Frühstücks oder aßen gerade. Zelte erstreckten sich über das gesamte Plateau, so weit das Auge reichte.

Ich blinzelte gegen das Sonnenlicht an, während ich versuchte, die Umgebung hinter dem Lager zu erkennen. Vom Dschungel in Illiais waren nur die Baumkronen zu erkennen. Sie erinnerten mich an die Zeit, als ich auf einer Plattform stand, die in den Wipfel des höchsten Baumes gebaut war, und zum ersten Mal die hügellose Weite des Plateaus mit eigenen Augen sah. Die jäh zum Dschungel hin abstürzenden Felswände schienen ein unüberwindbares Hindernis zu sein. Warum schlagen sie ausgerechnet hier ein Lager auf, überlegte ich.

Mondmann beugte sich zu mir hinüber. „Das Lager ist eine Illusion.“

„Habt ihr genügend Soldaten für einen Angriff?“, erkundigte ich mich. Vermutlich versteckten sich in dieser Illusion noch sehr viel mehr Würmer.

„Gewiss.“

„Angriff!“ Die Sandseeds stießen einen gellenden Kampfschrei aus und rannten zum Lager.

Mondmann packte meinen Arm und zog mich mit sich. „Bleib in meiner Nähe.“

Wir liefen hinter den Sandseeds her, dicht gefolgt von Leif und Marrok. Als die ersten Krieger in die Illusion hineinrannten, wurden sie für einen kurzen Moment unsichtbar. Das Geräusch von fließendem Wasser drang an meine Ohren, als sich das Trugbild auflöste.

Autor

Maria V Snyder
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