Julia Saison Band 54

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SONNE MEINES LEBENS von LUCY GORDON
Als Briony von ihrem Chef Carl Brackman einen Heiratsantrag bekommt, weiß sie, dass sie nicht von Liebe träumen darf: Ihm geht es nur darum, dass seine kranke Tochter Emma noch einmal echtes Familienglück genießt. Trotzdem stimmt Briony zu - denn schon lange hat sie ihr Herz an ihn verloren!

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ER LIEBT DICH, TESS von JESSICA HART
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  • Erscheinungstag 28.02.2020
  • Bandnummer 54
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715687
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lucy Gordon, Sharon Sala, Jessica Hart

JULIA SAISON BAND 54

1. KAPITEL

Briony hörte das Telefon schon auf dem Flur. Die letzten Schritte rannte sie. Wie sie befürchtet hatte, war das Büro leer. Das hieß, dass Jenny sich wieder einmal verspätet hatte und Ärger mit dem Chef bekommen würde, wenn Briony nicht für sie einsprang. Sie stürzte durch den Raum und hob gerade noch rechtzeitig den Hörer ab. „Brackman Handelsgesellschaft“, sagte sie mit ihrer freundlichsten Stimme. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Hier ist Cosway. Mr. Brackman erwartet meinen Anruf.“

Briony schluckte. Sie arbeitete erst seit zwei Monaten hier, doch sie wusste, dass Max Cosway einer der wichtigsten Kunden war. Carl Brackman stand gerade in wichtigen Verhandlungen mit ihm, und jetzt wäre beinahe niemand hier gewesen, um seinen Anruf entgegenzunehmen. Sie drückte auf den Knopf und stellte das Gespräch in Mr. Brackmans Büro durch. „Ich habe Mr. Cosway am Apparat“, erklärte sie.

„Gut. Bringen Sie rasch die Daten herein“, kam die knappe Antwort.

„Äh … Daten?“

„Die Daten, die Sie zusammentragen sollten! Ich habe Ihnen gesagt, dass wir sie brauchen, wenn er anruft.“ Mr. Brackman dachte offenbar, dass er mit Jenny sprach, und er klang sehr ungeduldig.

Briony sah sich hastig um. Was für Daten? Dann fiel ihr Blick auf einen Aktendeckel neben Jennys Computer. „Kommt sofort“, versprach sie erleichtert.

Sie eilte ins Chefzimmer und fand Mr. Brackman dort bereits am Telefon. Er streckte die Hand nach den Unterlagen aus, ohne Briony dabei anzusehen. Erleichtert zog sie sich zurück und betete, dass Jenny bald eintreffen möge.

Als Sekretärin von Carl Brackman hatte Jenny morgens um halb neun im Büro zu sein, doch seit sie sich vor zwei Wochen von ihrem Freund getrennt hatte, war sie nur noch ein nervöses Wrack. Briony, deren Arbeitszeit eigentlich erst um neun begann, hatte sich angewöhnt, ein wenig früher zu kommen, um notfalls für Jenny einspringen zu können. Sie mochte Jenny, die bestimmt bald wieder gewohnt zuverlässig sein würde, wenn sie erst ihren Kummer überwunden hatte.

Mit Carl Brackman kam sie weniger gut zurecht. Sie konnte den Mann bewundern, der mit fünfunddreißig aus eigener Kraft eine dynamische, erfolgreiche Firma gegründet hatte. Doch sie konnte den Kerl nicht leiden, der mit seinen Angestellten sprach, ohne sie anzusehen, und der einen geradezu roboterhaften Einsatz erwartete. Seine dunklen Augen beherrschten ein Gesicht, das gut aussehen könnte, würde es jemals von einem warmen Lächeln erhellt. Seine große, schlanke Gestalt schien besser in ein Stadion zu passen als in ein Büro.

„Er geht zwei Mal in der Woche ins Fitnessstudio“, hatte Jenny erklärt. „Er sagt, dass er dann effizienter arbeiten könne. Effizienz ist sein Gott.“

Das hatte Briony bereits selbst herausgefunden. Ihr gutes Gedächtnis und ihr wacher Verstand halfen ihr, alle Aufgaben zu meistern und zusätzlich auch noch in dieser schwierigen Phase auszuhelfen, doch ihre Stelle als Assistentin war ein anstrengender Arbeitsplatz. Sie sah nervös auf die Uhr. Es war fast neun. Jenny hatte wahrscheinlich wieder die ganze Nacht geweint und dann verschlafen, doch ihr Chef würde dafür kein Verständnis haben. Sie musterte gerade Jennys Schreibtisch und versuchte zu erraten, was als Nächstes kommen würde, als auch schon der Summer ertönte. „Kommen Sie herein!“, erklang die barsche Stimme.

Briony holte tief Luft, ehe sie das Chefzimmer betrat. Sein dunkler Kopf war über die Papiere gebeugt, in denen er hastig Notizen machte. „Ich habe die Daten etwas geändert und Paragraph 8 aus dem Vertrag gestrichen. Drucken Sie die neue Fassung dreifach aus, und schicken Sie eine Kopie an die Leute auf dieser Liste. Außerdem machen Sie …“ So ging es weiter wie aus einem Maschinengewehr. „Wenn Sie das erledigt haben, kommen Sie wieder herein, damit ich Ihnen ein paar Briefe … Wer, zum Teufel, sind Sie?“

Erst jetzt hatte er den Kopf gehoben und sie angesehen.

„Ich bin Briony Fielding“, erklärte sie. „Ich bin seit zwei Monaten Jennys Assistentin.“

„Habe ich Sie hier schon gesehen?“

„Offenbar nicht“, entgegnete sie. „Aber ich bin acht Stunden täglich hier gewesen.“

Er zog scharf die Luft ein. „Wo ist Jenny?“

„Sie ist … im Moment nicht an ihrem Platz. Ich kann die Aufträge erledigen.“

„Aber Sie haben sich keine Notizen gemacht“, sagte er vorwurfsvoll.

„Das brauche ich auch nicht. Ich habe ein gutes Gedächtnis.“

Er sah sie argwöhnisch an. „Ich hoffe, das ist keine leere Prahlerei, Miss Fielding. Ich wiederhole mich nicht gern.“

„Das werden Sie auch nicht tun müssen.“ Sie nahm die Unterlagen aus seiner Hand und verschwand, bevor sie die Beherrschung verlor.

Als Erstes schaltete sie Jennys Computer ein, damit es aussah, als ob sie schon hier gewesen wäre, doch die Fürsorge war vergeblich. Mr. Brackman betrat das Vorzimmer, gerade als Jenny zur Tür hereingestürzt kam. Wie Briony befürchtet hatte, war ihr Gesicht verheult.

„Sie hätten schon seit mehr als einer halben Stunde hier sein sollen“, fuhr Brackman sie an.

„Es tut mir leid, Mr. Brackman“, keuchte Jenny. „Ich hatte ein paar Probleme …“

„Lassen Sie Ihre persönlichen Probleme zu Hause“, fuhr er sie an. „Das mache ich auch, und das erwarte ich von meinen Mitarbeiterinnen. Lassen Sie es nicht wieder vorkommen!“ Er kehrte in sein Büro zurück, und krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Briony warf ihm halblaut eine Verwünschung hinterher.

„Psst!“, flehte Jenny. „Er wird dich hören!“

„Soll er doch!“, entgegnete Briony wütend. „Natürlich bringt er seine persönlichen Probleme nicht mit ins Büro, weil er nämlich keine hat. Und weißt du, warum? Weil er überhaupt kein Privatleben führt. Weil er kein Mensch ist. Er ist eine Maschine, und nichts würde mir mehr Vergnügen machen, als Sand in sein Getriebe zu streuen.“ Ihr Telefon klingelte. „Ja?“, fragte sie kurz.

„Haben Sie die Aufträge schon erledigt?“, fragte Brackman, „oder muss ich Sie an die Einzelheiten erinnern?“

„Das ist nicht nötig, vielen Dank. Ich bin gleich bei Ihnen.“

Keine fünf Minuten später stand sie wieder vor seinem Schreibtisch und legte ihm den neuen Vertrag vor. Er las ihn sorgfältig durch, studierte die Zahlen und nickte schließlich widerwillig. „Sie haben anscheinend wirklich ein gutes Gedächtnis.“ Dann blickte er plötzlich auf und musterte sie eindringlich. „Wofür sind Sie eingestellt?“

„Ich bin Jennys Assistentin.“

„Wieso sind Sie ihre Assistentin statt umgekehrt? Sie sind kein junges Mädchen in der ersten Anstellung. Wie alt sind Sie?“

„Sechsundzwanzig.“

„Warum sind Sie dann noch nicht weiter oben auf der Karriereleiter?“

„Ich habe spät begonnen. Ich hatte … familiäre Verpflichtungen.“

„Von welcher Art?“

Sie zögerte. „Tut mir leid, Mr. Brackman, aber darüber möchte ich nicht reden.“

„Sie sind nicht verheiratet, oder?“

„Nein.“

„Verlobt?“

„Nein.“

„Müssen Sie für alte Eltern sorgen?“

„Ich habe keine Angehörigen mehr“, erklärte Briony angespannt.

„Wenn ich Ihnen also Jennys Job anböte, gäbe es diese … familiären Verpflichtungen nicht mehr, und Sie könnten ihn übernehmen?“

„Das stimmt, aber ich würde ihn nicht wollen.“

„Wie bitte?“, fragte er ungeduldig.

„Man nennt das Ehre oder Loyalität. Jenny war sehr freundlich zu mir, und ich werde ihr nicht in den Rücken fallen, nur weil sie gerade eine schwierige Zeit durchmacht.“

„Jeder hat mal eine schwierige Zeit …“

„Lassen Sie mich bitte ausreden? Sie war eine erstklassige Sekretärin, bevor ihr das passiert ist, und wenn Sie ein wenig Geduld mit ihr haben, wird sie bald wieder erstklassig sein. Es wäre unmenschlich, ihr zu kündigen, nur weil sie gerade …“

„Das reicht jetzt, Miss Fielding. Gehen Sie wieder an die Arbeit … solange Sie noch Arbeit haben.“

Briony verließ hastig sein Büro, bevor sie sich zu einer unbedachten Antwort hinreißen ließ. Sie verlor nicht leicht die Fassung, doch die bohrenden Fragen nach ihrer Familie hatten einen schmerzenden Nerv getroffen.

Es stimmte, dass sie keine lebenden Verwandten hatte, doch bis vor ein paar Monaten hatte sie eine kleine Schwester gehabt, einen fröhlichen, mutwilligen kleinen Schalk namens Sally. Beim Tod ihrer Eltern war Sally in ihrer Obhut geblieben, und Briony hatte sich auf ein Leben mit Teilzeitarbeit eingerichtet, um für Sally sorgen zu können. Das war nicht die brillante Karriere, von der sie einmal geträumt hatte, doch sie beklagte sich nicht. Sallys sonnige Natur hatte sie tausendfach entschädigt.

Eines Tages war die Kleine nach Hause gekommen und hatte über Unwohlsein geklagt. Briony hatte auf Erkältung getippt und sie ins Bett gesteckt. Doch die „Erkältung“ hatte sich als Hirnhautentzündung erwiesen, und nach zwei Tagen war Sally tot. Briony war am Boden zerstört gewesen und hatte sich seither mit Schuldgefühlen gequält.

Wäre Sally zu retten gewesen, wenn sie die Krankheit rechtzeitig ernst genommen hätte? Die Ärzte hatten ihr erklärt, dass sie sich keine Vorwürfe machen dürfe. Meningitis war schwer festzustellen. Doch ihre freundlichen Worte hatten Briony nicht getröstet.

Bis jetzt war ihr nie bewusst geworden, dass ihr Leben in recht eigenartigen Bahnen verlaufen war. Sie besaß ein ausgesprochenes Organisationstalent, doch mit sechsundzwanzig arbeitete sie immer noch als Aushilfssekretärin. Sie war eine attraktive, junge Frau mit einer hochgewachsenen, schlanken Figur, langem honigfarbenem Haar und blauen Augen, doch es gab keinen Mann in ihrem Leben. Es hatte ein paar kurze Bekanntschaften gegeben, die jedoch alle daran zerschellt waren, dass sie einen Babysitter finden musste, bevor sie ausgehen konnte.

Briony und Jenny arbeiteten eifrig an ihren Schreibtischen. Zur Mittagszeit bestellten sie Sandwiches und fuhren mit ihrer Arbeit fort, ohne das Büro zu verlassen. Der Chef schien auf Hochtouren zu laufen. Er überhäufte sie mit Arbeit und verlangte, dass alles bis zwei Uhr erledigt sein musste, weil er dann aus dem Haus gehen müsse.

„Das ist doch eine ermutigende Aussicht“, meinte Briony, während ihre Finger unentwegt über die Tastatur flogen. Im Stillen wünschte sie ihm die Pest an den Hals.

Schließlich waren alle Aufträge abgearbeitet und lagen auf seinem Schreibtisch. Jenny ging hinaus, um ein wenig frische Luft zu schnappen, und Briony lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und reckte die verkrampften Glieder. Als sie herzhaft gähnte, ging die Tür auf, und ein Kind betrat das Büro.

Es war ein kleines Mädchen mit hellem lockigem Haar. Briony spürte einen Stich im Herzen. Das Kind war etwa acht, wie Sally bei ihrem Tod gewesen war, und ihr vergnügtes Lächeln besaß denselben frechen Charme wie Sallys.

Andere Ähnlichkeiten gab es nicht. Sally war ein robuster Wirbelwind mit eher etwas derben Gesichtszügen gewesen. Dieses Mädchen wirkte zart und zerbrechlich. Eigentlich waren sie sich überhaupt nicht ähnlich, doch im ersten Moment konnte Briony den Schmerz kaum ertragen.

„Hallo“, sagte das kleine Mädchen.

Briony riss sich zusammen. „Hallo.“

„Ich bin Emma. Kann ich hereinkommen?“ Sie schloss schon die Tür hinter sich, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie schien sich sicher, dass sie hier willkommen war.

Briony warf einen nervösen Seitenblick auf die Tür zum Chefzimmer. „Ich bin Briony“, erklärte sie.

„Ich habe dich hier noch nie gesehen“, stellte Emma fest. „Bist du neu?“

„Ja, ich bin erst seit ein paar Monaten hier.“

„Wo ist Jenny?“

„Oh, du kennst Jenny? Dann bist du ihre Nichte … oder?“

„Oh, nein! Sie ist meine Freundin. Sie hat mir Sticken beigebracht.“

„Ich fürchte, du hast sie gerade verpasst. Sie wollte ein wenig Luft schnappen und nicht mehr …“ Briony deutete mit einer Kopfbewegung auf das Chefzimmer. Emma kicherte verständnisvoll. „Ist er heute sehr schlimm?“, flüsterte sie.

„Wie ein Teufel“, erwiderte Briony ebenso leise. „Ich bin froh, dass ich nicht mehr lange für ihn arbeiten werde. Ich weiß nicht, wie Jenny es aushält.“ Vielleicht sollte sie nicht mit Fremden über ihren Chef reden, doch Emma schien über ihn Bescheid zu wissen. Außerdem war Briony nicht in der Stimmung, Mr. Brackman zu schonen.

„Ich wusste gar nicht, dass kleine Mädchen heute noch sticken“, stellte sie fest. „Ich dachte, es gäbe nur noch Popmusik und Computerspiele. Meine … ein Mädchen, das ich einmal kannte, hat sich nie mit etwas beschäftigt, bei dem sie lange stillsitzen musste.“

„Mir ist es eine Zeit lang nicht so gut gegangen“, erklärte Emma, und der Blick, mit dem sie diese Worte begleitete, war zu alt für ihre jungen Jahre. „Der Arzt hat mir ‚ruhige Beschäftigungen‘ verordnet. Aber jetzt geht es mir wieder gut.“

Briony konnte sehen, dass das Mädchen nicht gesund gewesen war. Sie wirkte noch immer geschwächt, doch in ihren Augen strahlte unbändige Kraft, als sie sagte: „Ich gehe heute Nachmittag auf den Jahrmarkt und werde auf allen Karussells fahren.“

Das schien ihr besonders wichtig zu sein. „Alle Karussells?“, fragte Briony zurück.

„Alle!“, entgegnete Emma entschieden. „Nicht nur die Kinderkarussells, die mich ‚nicht überanstrengen‘, sondern die Achterbahn und den fliegenden Teppich und das Ding, das einen bis in den Himmel schleudert und dann plötzlich zur Seite abkippt, dass es einem den Magen umdreht. Magst du solche Karussells nicht?“ Sie sah Briony besorgt an, die bleich geworden war und die Augen geschlossen hatte.

„Leider nicht“, antwortete Briony zaghaft. „Der Autoscooter ist das Äußerste, was ich schaffe.“

„Magst du denn keine Jahrmärkte?“

„Ich liebe Jahrmärkte“, widersprach Briony. „Ich finde nur nie die Zeit dafür. Zu viel Arbeit.“ Sie deutete auf ihren Schreibtisch.

Emma runzelte die Stirn. „Störe ich dich?“

„Aber nein.“

„Bestimmt nicht? Daddy sagt immer, ich soll den Leuten nicht auf die Nerven gehen, weil nicht jeder kleine Mädchen gern mag.“

Briony rang sich ein Lächeln ab. „Ich mag kleine Mädchen.“

„Hast du selbst eins?“

„Jetzt nicht mehr“, erwiderte Briony nach kurzem Zögern. Sie fürchtete, dass Emma weiter fragen würde, doch die Kleine schwieg. Sie musterte Briony ernst aus ihren dunklen Augen, die einer weisen alten Dame zu gehören schienen. Dies war kein gewöhnliches Kind. Sie schien zu verstehen, dass es Dinge gab, die besser nicht ausgesprochen wurden.

Im nächsten Moment war Emma wieder das aufgeregte kleine Mädchen. „Wenn doch nur die Zeit schneller vergehen würde!“, klagte sie. „Ich will jetzt schon zum Jahrmarkt.“

„Er wird noch da sein, wenn du kommst“, versprach Briony.

Emma sah sie verschwörerisch an. „Vielleicht läuft er davon“, flüsterte sie.

„Heute nicht“, flüsterte Briony im gleichen Tonfall zurück. „Er wartet, bis du mit allen Karussells gefahren bist. Dann löst er sich in Luft auf.“

Emma lachte laut auf.

„Psst!“, bat Briony. „Mach nicht solchen Krach.“ Der Chef war schon wütend genug. Wenn er herauskam und Jennys kleine Freundin im Büro fand, würde es das Fass zum Überlaufen bringen.

„Warum nicht?“, fragte Emma plötzlich wieder im Flüsterton.

„Weil ein Ungeheuer hinter dieser Tür lebt“, erklärte Briony. „Wenn du so laut bist, wirst du es aufwecken.“

„Oh! Ist es ein schreckliches Ungeheuer?“

„Furcht erregend und boshaft!“

„Ist es das schlimmste Ungeheuer auf der ganzen Welt?“

„Das schlimmste des ganzen Universums“, entschied Briony.

Das hätte sie nicht sagen sollen. Wieder lachte Emma laut auf. Zu Brionys Entsetzen ging die Tür zum Chefzimmer auf, und Carl Brackman erschien. Sie stöhnte auf. Nun waren sie in Schwierigkeiten.

Aber bevor sie etwas unternehmen konnte, um Emma vor dem Zorn ihres Chefs zu bewahren, stieß das Kind einen Freudenschrei aus und rannte auf ihn zu. „Daddy!“, rief sie, sprang in seine Arme und hielt ihn fest umschlungen.

„Es ist kein Ungeheuer, es ist Daddy!“, quietschte Emma vergnügt.

„Ich bin also heute kein Ungeheuer?“, fragte er lächelnd. „Als ich dich gestern Abend ins Bett schicken wollte, war ich ein ‚gemeines Monster‘. Und das, junge Dame, war noch der freundlichste Ausdruck.“

Emma kicherte und schmiegte sich an ihn. Die beiden boten ein Bild vollendeten Glücks. Briony sah sie ungläubig an. War dieser selig lächelnde Mann wirklich Carl Brackman? Die äußere Erscheinung war dieselbe, doch eine unglaubliche Verwandlung war mit ihm vorgegangen. Dies war ein menschliches Wesen, das erfreut dreinschaute, als das kleine Mädchen sein Haar zerzauste und sein Hemd zerknautschte. Das war ein Mann, den ein Kind anhimmelte. Es konnte unmöglich Carl Brackman sein.

„Was hast du hier draußen gemacht?“, fragte er. „Bist du wieder allen Leuten auf die Nerven gegangen?“

„Nein, bin ich nicht“, protestierte Emma. „Ich habe mich mit Briony unterhalten. Sie mag kleine Mädchen, und sie hat gesagt, du bist das größte Ungeheuer im ganzen Universum.“

Es entstand ein kurzes Schweigen, während Briony darauf wartete, gefeuert zu werden. Schließlich runzelte er nur die Stirn. „Sie sind Miss …?“

„Fielding“, ergänzte Briony.

„Ach ja, ich erinnere mich. Ihre Arbeit ist ausgezeichnet.“

Er erinnerte sich also an Leistungen, nicht an Namen. Es war klar, dass Personen auf diesen Mann keinen Eindruck machten … außer seiner kleinen Tochter. Er setzte sie jetzt behutsam ab, und als Emma den Kopf wandte, meinte Briony, einen merkwürdigen Ausdruck in seiner Miene zu lesen. Seine Freude an diesem Kind war echt, doch es schien ein unsichtbarer Schatten darüber zu liegen.

„Können wir gehen?“, fragte Emma.

„Nein“, erwiderte er. „Ich muss noch tausend Dinge …“

„Daddy!“

Er lachte verschmitzt. „Na gut, die müssen dann wohl bis morgen warten. Komm, machen wir uns einen schönen Tag.“

„Und Briony?“, sagte Emma. „Kann sie nicht mitkommen?“

„Ich muss wirklich tausend Dinge erledigen“, protestierte Briony.

„Nein, das müssen Sie nicht“, widersprach Mr. Brackman zu ihrer Überraschung.

„Aber Sie haben doch gesagt …“

„Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Meine Anweisung für diesen Nachmittag ist, uns auf den Jahrmarkt zu begleiten.“

Als sie ihn ungläubig ansah, lächelte er. „Nein, ich bin nicht verrückt geworden. Emma möchte, dass Sie mitkommen, und damit ist es entschieden.“

„Aber das Büro …“

„Na ja, es wäre besser, wenn Jenny wieder hier wäre. Aber macht nichts. Holen Sie jemanden aus der Buchhaltung, und sagen Sie …“ Doch in diesem Moment betrat Jenny das Büro. „Das Problem hat sich also erledigt“, stellte er fest, während seine Tochter Jenny überschwänglich begrüßte.

„Tom wartet auf uns“, stellte Emma schließlich fest.

„Dann sollten wir ihn nicht warten lassen“, stimmte ihr Vater zu. Er nahm ihre Hand und bedeutete Briony voranzugehen. „Tom arbeitet gelegentlich für mich“, erklärte er. „Heute ist er der Fahrer. Er hat diesen kleinen Kobold hier hergebracht, und während wir uns auf dem Jahrmarkt vergnügen, wird er den Wagen irgendwo parken.“

Tom entpuppte sich als ein Riese mit breitem gutmütigem Gesicht. „Dies ist Miss Fielding“, stellte Mr. Brackman sie vor. „Emma hat sie genötigt, mit uns zu kommen, doch sie ist nur unter Protest hier, nicht wahr, Miss Fielding?“

Wäre er nicht Carl Brackman, hätte Briony das für einen Scherz gehalten. Als sie dann seinen Blick bemerkte, musste sie feststellen, dass das Unmögliche geschehen war. Er hatte tatsächlich einen Witz gemacht.

„Ganz und gar nicht“, erwiderte sie. „Ich liebe Jahrmärkte.“

„Siehst du?“ Emma stieß ihren Vater mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Steig ein“, befahl er gespielt streng. „Sonst verpassen wir noch alles.“

„Oh nein!“, widersprach Emma. „Briony hat gesagt, dass er erst verschwindet, wenn wir da gewesen sind.“

„Und wenn Briony das sagt, muss es ja wohl stimmen.“ Carl schmunzelte. „Wirst du nun endlich einsteigen?“

Emma sprang auf den Beifahrersitz neben Tom und überließ den Erwachsenen großzügig den Rücksitz.

„Tut mir leid, dass ich Sie damit behelligen muss“, entschuldigte er sich, nachdem Tom den Wagen gestartet hatte.

„Aber das braucht es nicht. Es ist besser, als den ganzen Tag im Büro eingesperrt zu sein.“

„Mit einem Ungeheuer“, fügte er hinzu.

Briony errötete. „Hören Sie, ich habe nicht …“

„Haben Sie doch“, widersprach er.

„Ich hätte so etwas nie gesagt, wenn ich gewusst hätte, dass sie Ihre Tochter ist“, begehrte Briony auf.

„Natürlich nicht, und es wäre ein Jammer gewesen. So habe ich wenigstens zum ersten Mal jemanden die Wahrheit über mich sagen hören.“

„Das glaube ich nicht“, entgegnete sie. „Sie wissen doch sicher, was Ihre Angestellten von Ihnen halten.“

„Das weiß ich wohl. Aber gewöhnlich sagt man mir es nicht ins Gesicht. Es ist eine interessante Erfahrung. Stimmen Sie mir wenigstens zu, dass ich im Moment nicht wie ein Ungeheuer wirke?“

„Im Augenblick kommen Sie mir wie ausgewechselt vor“, stimmte sie zu.

„Wie ein Mensch, meinen Sie?“, forderte er sie heraus.

„Nun … wenn Sie es selbst so ausdrücken.“

„Im Gegensatz zum Ungeheuer im Büro?“

„Roboter würde es besser treffen“, korrigierte sie ihn.

Ein Lächeln erhellte seine Miene. Seine Augen leuchteten, und unter seinem eindringlichen Blick fiel ihr plötzlich das Atmen schwer.

Glücklicherweise wandte sich in diesem Augenblick Emma um und sagte: „Ich freue mich so!“

Carl lachte und wies seine Tochter an, sich gerade hinzusetzen. Briony atmete tief durch und schüttelte den Bann ab, unter den sie beinahe geraten wäre.

2. KAPITEL

Der Jahrmarkt war, wie ein Jahrmarkt sein soll: ein Durcheinander von grellen Farben und blitzenden Lichtern, durchdrungen von ohrenbetäubendem Lärm. Tom ließ sie am Eingang aussteigen und fuhr dann weiter, um einen Platz für den Wagen zu finden. „Wo fangen wir an?“, fragte Carl.

„Überall“, seufzte Emma selig. „Die große Achterbahn und …“

„Keine Achterbahn“, bestimmte er zu Brionys Erleichterung. „Nichts, was dich überanstrengen könnte, hat der Arzt gesagt.“

„Aber die Achterbahn ist überhaupt nicht anstrengend“, versicherte ihm Emma mit großen Augen. „Man sitzt einfach nur darin. Man muss überhaupt nichts tun, was einen anstrengen könnte.“

Dies war eine ungewöhnliche Sicht der Dinge. Carl und Briony tauschten einen hilflosen Blick aus. Emma spürte, dass sie im Vorteil war, und fuhr hastig fort: „Man muss nicht aufstehen oder herumrennen, man muss nicht springen …“

„Du wirst nicht mit der Achterbahn fahren“, unterbrach ihr Vater sie.

„Man muss keinen Handstand machen oder Rad schlagen …“

„Emma!“

„Man muss nicht einmal singen oder tanzen. Gar nichts. Man muss nur einfach dasitzen, und sitzen ist überhaupt nicht anstrengend“, endete Emma triumphierend. Sich selbst hatte sie jedenfalls mit ihrer Argumentation überzeugt.

Briony wandte den Kopf, und für einen Moment war ihr Blick verschleiert. Auch darin war Emma Sally ähnlich. Sie besaßen beide diese erbarmungslose kindliche Logik, mit der sie die Erwachsenen unnachgiebig in die Enge trieben. Briony war in manchem Streit unterlegen.

Doch dann verdrängte sie die Erinnerung. Dies sollte Emmas Vergnügen sein, und sie wollte es ihr nicht verderben. Sie lächelte Carl an und sagte: „Warum geben Sie nicht nach und fahren mit ihr Achterbahn?“

„Sie fahren mit ihr!“, erwiderte er so hastig, dass Emma auflachte.

„Daddy hat Angst“, flüsterte sie Briony verschwörerisch zu, doch sie sprach laut genug, dass Carl es hören musste.

„Todesangst“, gab er zu. „Du wirst nicht mit diesem Ding fahren, ob mit mir oder ohne mich. Also gib Ruhe und lass uns ein Eis essen.“

Emma erkannte die Stimme der Autorität. Sie gab auf und wandte ihre Aufmerksamkeit den Vor- und Nachteilen von Schokolade und Vanille zu. „Und ein Eis für Briony“, sagte sie, nachdem sie sich für Schokolade entschieden hatte.

„Ich glaube nicht …“, begann Briony, doch sie verstummte sogleich unter Emmas enttäuschtem Blick.

„Magst du etwa kein Eis?“, fragte die Kleine.

„Aber ja“, erwiderte Briony. „Ich mag Eis sehr gern. Ich möchte bitte Vanille.“

Sie zogen vergnügt von einem Stand zum anderen. Unterwegs spürte Briony eine kleine Hand in ihre schlüpfen. Sie blickte hinab, doch Emma blickte gerade fasziniert auf eine Schrecken erregende Maschine, deren Sitze hoch in die Luft geschleudert wurden und sich dabei auch noch um die eigene Achse drehten. Vermutlich unbewusst klammerte sie sich an die Erwachsenenhand. Briony war gerührt.

Plötzlich rief Emma aus: „Daddy, sieh mal!“ Sie streckte den Arm aus und verspritzte dabei Eiscreme in alle Richtungen. Sie deutete auf eine Schießbude, an der ein großes Schild den Hauptgewinn für drei Treffer ins Schwarze versprach. Neben dem Schild baumelte eine Reihe dicker, flauschiger Pinguine. „Sind die nicht süß?“, hauchte Emma.

„Bist du nicht schon ein bisschen zu alt für so etwas?“, fragte Carl.

Seine Tochter warf ihm einen vernichtenden Blick zu, und für einen Moment sah Briony, wie ähnlich sie sich waren. Es waren nicht so sehr die Gesichtszüge, sondern der Ausdruck der Entschlossenheit, den sie beide im Blick hatten. „Tut mir leid, Daddy“, seufzte Emma scheinheilig. „Es war nicht fair von mir, dich darum zu bitten.“

„Warum nicht?“, tappte er in die Falle.

„Man muss immerhin drei Mal ins Schwarze treffen“, erklärte sie. „Das ist unmöglich, oder?“

„Was kostet es?“, fragte Carl den jungen Mann hinter der Barriere. Als er in der Tasche nach Geld griff, hörte er Brionys unterdrücktes Lachen. „Miss Fielding, wenn Sie nicht sofort damit aufhören, sind Sie entlassen.“

„Nun, Sie sind gerade nach allen Regeln der Kunst hereingelegt worden, oder?“, verteidigte sie sich.

„Ich bin mir dessen sehr bewusst“, gestand er grimmig.

„Sie sollten sich darüber freuen. Denken Sie nur, wie erfolgreich Emma später sein wird, wenn sie Sie jetzt schon so über den Tisch ziehen kann. In ein paar Jahren werden Sie ihr leichten Herzens die Geschäfte übergeben können.“

Eine unerklärliche Veränderung ging in ihm vor. Die Sommersonne schien so hell wie zuvor, doch in seinem Inneren schien ein Licht ausgegangen zu sein. Schlagartig wurde seine Miene leer und düster. Er wandte sich ab und hob das Gewehr. Briony sah ihn erstaunt an und fragte sich, womit sie diese Reaktion hervorgerufen hatte.

Er traf das erste Mal ins Schwarze und auch beim zweiten Schuss, doch der dritte Versuch schlug fehl. „Noch einmal“, knurrte er und griff nach seinem Portemonnaie. „Ich bitte mir äußerste Ruhe aus.“

Emma und Briony verstummten, doch mit ihren Blicken tauschten sie ein lautloses Lachen aus, bis Carls wütender Blick sie stoppte. Er hob das Gewehr und schoss, doch diesmal traf er nur einmal.

Emma zupfte an seinem Ärmel. „Ist schon gut, Daddy. Ich weiß, dass es wirklich zu schwer ist“, sagte sie in verdächtig unschuldigem Ton.

„Du gehst zu weit, junge Dame!“, knurrte er und legte das Geld für einen dritten Versuch auf den Tisch.

Wieder traf er zwei Mal, doch vor dem dritten Schuss versagten seine Nerven. „Kann ich dir nicht einfach einen Pinguin kaufen?“, bat er.

„Das wäre nicht dasselbe“, entgegnete Emma unerbittlich.

„Natürlich nicht“, sagte er. „Wie konnte ich auch nur daran denken?“

Er brauchte fünf Anläufe, bis er es schließlich schaffte. Begeistert schloss Emma den dicken Pinguin in ihre Arme. „Du bist richtig gut, Daddy“, belohnte sie ihn, und der große Carl Brackman strahlte wie ein Kind. Doch Emma war noch nicht zufrieden.

„Und jetzt Briony“, sagte sie.

Carls Strahlen erstarrte abrupt. „Briony was?“

„Du musst auch für sie einen schießen.“

„Nein, vielen Dank“, wehrte Briony hastig ab.

„Aber du musst auch etwas haben“, beharrte Emma. „Sonst ist es nicht fair.“

„Dann möchte ich gern einen Wal“, sagte Briony schnell. „Sie haben ganz süße Wale dort drüben an dem Stand. Einen kleinen Wal.“

Auf dem Weg zur benachbarten Schießbude murmelte Carl: „Das ist doch nicht etwa auch der Hauptgewinn?“

„Nein, der Trostpreis. Sie können ganz beruhigt sein.“ Die Worte waren heraus, bevor sie darüber nachgedacht hatte. Verlegen sah sie ihn an, doch er lachte. „Das haben Sie nett gesagt“, stellte er fest.

Er schoss ihr den kleinen Wal mit einem Schuss. „Nun haben wir beide etwas“, sagte Emma vergnügt. „Wie wirst du ihn nennen?“

Briony tat, als denke sie ernsthaft darüber nach. „Oswald“, sagte sie schließlich.

„Das ist ein schöner Name.“

„Und wie nennst du deinen Pinguin? Percy?“

„Nein. Oswald.“

„Aber Brionys Wal ist doch schon Oswald“, sagte Carl.

„Ich weiß.“

„Aber sie können doch nicht beide Oswald heißen“, wandte er ein.

„Können sie wohl“, stellte Emma in einem Tonfall fest, der keinen Widerspruch duldete.

„Natürlich können sie das“, sagte Briony ernsthaft zu Carl. „Das hätten Sie wissen können.“

„Das hätte ich wohl“, lenkte er ein.

Tom hatte inzwischen den Wagen geparkt und gesellte sich zu ihnen. Er knabberte an einem leuchtend roten Liebesapfel. Prompt bettelte Emma, dass sie auch einen wolle.

„Aber du hattest doch gerade erst ein Eis“, protestierte Carl.

„Ich habe seit dem Frühstück nichts gegessen“, entgegnete Emma vorwurfsvoll.

„Dafür war es ein riesiges Frühstück.“

Sie seufzte und sah aus, als sei sie kurz vor dem Verhungern. „So riesig war es auch wieder nicht.“

„Tom.“ Carl griff nach seinem Geld. „Liebesäpfel.“

„Für mich bitte nicht“, wehrte Briony schnell ab. „Es ist schon Jahre her, dass mein Magen mit Liebesäpfeln und Eiscreme in rascher Folge fertig wurde. Ich glaube, dazu darf man nicht älter als zehn Jahre sein.“

„Dem stimme ich zu“, erwiderte Carl verständnisvoll.

Im Laufe des Nachmittags wurde klar, dass Emma von ungewöhnlicher Energie war. Wäre ihr Vater nicht hart geblieben, hätte sie sich in die haarsträubendsten Karussells gestürzt und dazu noch in die Geisterbahn. Nur durch energisches Eingreifen konnte Carl sie zu einem harmlosen Karussell steuern. Dort wurde sein Vorschlag, dass sie auf einem der Pferde der inneren Reihe sicherer sei, mit der Verachtung behandelt, die er verdiente. Emma sprang in der äußeren Reihe auf und deutete mit einem einladenden Lächeln zu Briony auf den Sattel hinter sich. Die beiden Männer wurden zurückgelassen, jeder mit einem Oswald im Arm.

„Nächstes Mal nimmst du ihn aber mit“, sagte Carl zu seiner Tochter, als er ihr den Pinguin zurückgab. „Er möchte es lieber so“, fügte er rasch hinzu.

Emma sah ihn glücklich an, doch es war Briony, nach deren Hand sie griff und die sie eifrig zum Spiegelkabinett zerrte. Drinnen erzeugten die Zerrspiegel monströse Bilder, die alle lauthals zum Lachen brachten. Doch Briony entdeckte in Carls Lachen einen falschen Ton. Seine Liebe zu seiner Tochter war offensichtlich, aber Briony wurde das Gefühl nicht los, dass er nicht so entspannt und vergnügt war, wie er sich gab.

Als sie das Spiegelkabinett verließen, ließ das grelle Sonnenlicht sie blinzeln. Briony schlug eine Teepause vor. „Dort drüben ist ein Café mit vielen freien Stühlen. Wir werden viel Platz brauchen.“

Carl wurde rasch klar, wie klug Brionys Rat war. Emma bestand natürlich darauf, dass ihr Pinguin wie ein richtiger Gast behandelt wurde und einen eigenen Stuhl bekam. Sie wollte dasselbe für den kleinen Wal durchsetzen, doch geistesgegenwärtig versicherte Briony ihr, dass die beiden Oswalds viel lieber zusammensitzen würden.

„Sie haben gewusst, dass das geschehen würde, nicht wahr?“, fragte Carl leise und sah sie anerkennend an.

„Es war leicht zu erraten. Bestimmt hat sie ihren Pinguin inzwischen mit einer kompletten Persönlichkeit ausgestattet.“

Emma war sogar noch weiter gegangen. In ihrer Fantasie waren der Pinguin und der Wal Individuen mit Vorlieben und Abneigungen und sogar gelegentlichem Anlass zum Streit. „Sie mögen beide schrecklich gern Krabben, und wenn man nicht aufpasst, essen sie sich die gegenseitig weg“, erklärte sie vertraulich. „Dann werden sie sehr wütend.“

Carl und Briony waren sprachlos, doch glücklicherweise sprang Tom in die Bresche. Er stellte kluge Fragen über Emmas pelzige Kumpane, die diese ausführlich und mit Freude beantwortete. Sie verspeiste Berliner und Limonade und wandte dann ihre Aufmerksamkeit dem kleinen künstlichen See neben dem Café zu, auf dem bunte Boote umherfuhren.

„Ich fahre mit ihr“, erbot sich Tom.

Emma rutschte vom Stuhl und nahm die beiden Oswalds in die Arme.

„Die wirst du nicht mit ins Boot nehmen“, protestierte Carl.

„Aber sie möchten auch gern mitfahren“, klagte Emma mit großen Augen. Carl sah Briony hilflos an.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, erklärte Tom. „Ich passe auf sie auf.“

„Aber wer passt auf ihn auf?“, fragte Briony, während sie den beiden auf dem Weg zum See nachblickte. „Wollen wir wetten, dass sie versucht, ihn zu einer Fahrt in der großen Achterbahn zu überreden?“

„Versuchen wird sie es“, stimmte Carl zu. „Aber das wird sie nicht schaffen. Tom weiß seinen Job zu schätzen.“

Sie sahen zu, wie die beiden ein Boot bestiegen und langsam auf dem See umherfuhren. Der Pinguin saß aufrecht zwischen ihnen. Den kleinen Wal hatte Emma in der Hand. Sie hielt ihn über Bord und ließ ihn in schlängelnden Bewegungen über die Wasseroberfläche gleiten.

„Lieber Himmel!“, stöhnte Carl. „Sie wird das Ding ins Wasser fallen lassen, und ich muss dann einen neuen schießen. Aber was soll’s? Es war ein schöner Tag.“

„Ja, es hat ihr richtig Spaß gemacht“, stimmte Briony zu. „Schön, dass Sie selbst mitgekommen sind. Viele Männer mit Ihren Verpflichtungen hätten es Tom überlassen.“

„Es überrascht Sie, dass ich das nicht getan habe?“

„Nun … ja.“

„Emma ist das Wichtigste in meinem Leben.“

„Hat sie keine Mutter?“, fragte Briony ein wenig neugierig.

„Meine Frau starb, als Emma eine Woche alt war.“

„Arme Kleine. Das heißt, sie hat nie eine Mutter gehabt?“

„Nie. Alle Frauen in meiner Verwandtschaft haben sich rührend um sie gekümmert. Ihre Tanten und Großmütter lieben sie, aber das ist nicht dasselbe. Ich habe versucht, ihr Vater und Mutter gleichzeitig zu sein, aber manchmal fürchte ich, dass ich in beidem nicht besonders gut bin.“

„Aber sie liebt Sie! Einiges müssen Sie richtig gemacht haben.“

„Das hoffe ich. Dennoch weiß ich manchmal nicht, was ich machen soll.“ Er musterte Briony. „Ich wage gar nicht zu denken, was ohne Sie aus dem Tag geworden wäre. Die Sache mit Oswald haben Sie meilenweit kommen sehen.“

Briony lächelte. „Als ich in Emmas Alter war, hatte ich vier Puppen namens Rumpel.“

„Rumpel?“

„Der Name hat mir einfach gefallen.“ Die Erinnerung ließ Briony leise auflachen. „Meine Eltern wären fast verrückt geworden. Ich weiß noch, wie ich einmal mit meinem Vater fahren sollte und im letzten Moment darauf bestanden habe, dass Rumpel mitkommt. Dad sagte: ‚Welcher?‘ Ich antwortete: ‚Rumpel‘, und er sagte: ‚Ja, aber welcher von den vieren?‘ Ich wusste nicht, was er meinte, denn für mich bedeutete Rumpel, dass ich alle vier meinte. Meine Mutter musste es ihm erklären. Sie hatte das bereits verstanden.“

„Es ist wirklich nicht leicht für einen Vater, herauszufinden, was im Kopf eines kleinen Mädchens vorgeht“, stellte Carl seufzend fest.

„Geht es Ihnen oft so?“, fragte Briony mitfühlend.

Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. „Manchmal ist es, als redete ich zu jemandem von einem anderen Planeten.“ Er lehnte sich plötzlich zurück und musterte Briony anerkennend. „Sie scheinen wirklich genau zu wissen, wovon Sie sprechen. Ich kann kaum glauben, dass Sie keine Familie haben. Sie müssen wenigstens ein Dutzend Nichten haben.“

„Ich sagte doch, ich war selbst einmal ein kleines Mädchen“, wehrte Briony ab. „Es ist nichts Geheimnisvolles dabei.“

„Jetzt machen Sie mir aber etwas vor. Warum eigentlich?“

Briony versteifte sich. „Ich möchte nicht darüber reden“, wehrte sie ab. „Wenn ich Ihnen mit Emma behilflich sein kann, freut mich das, aber ich werde nicht meine Privatangelegenheiten besprechen.“

Für einen Moment verfinsterte sich seine Miene. „Miss Fielding …“ Er verstummte, und seine Miene hellte sich wieder auf. „Tut mir leid. Es ist schon so lange her, dass mir jemand die Meinung gesagt hat, dass ich kaum noch damit umzugehen weiß. Ich hatte kein Recht, Sie zu bedrängen. Bitte verzeihen Sie mir.“

Sein Lächeln war warm und einnehmend. Briony holte tief Luft. Dieser Mann verwirrte sie. Was er auch tat – lieben, hassen oder leiden –, schien er mit großer Intensität zu tun. Außerdem besaß er einen überwältigenden Charme.

„Miss Fielding?“

„Briony“, korrigierte sie ihn automatisch.

„Briony, ich habe Sie um Verzeihung gebeten … und Sie fangen an zu träumen.“

„Entschuldigung.“ Sie riss sich zusammen. „Es ist schon in Ordnung. Ehrlich.“ Sie konnte nur hoffen, dass er ihre Gefühlsregung nicht bemerkt hatte. „Emma ist ein prachtvolles Kind“, sagte sie. Das schien ihr ein sicheres Thema zu sein.

„Ja, ich weiß“, erwiderte er einfach.

Briony ärgerte sich. Sie tat ihr Bestes, um ein bisschen Konversation zu machen, und er ließ sie damit allein. Nicht einmal ihr Kompliment über sein Kind brachte ihn zum Lächeln. Der Schatten auf seiner Miene schien sich sogar noch zu vertiefen.

„Ich frage mich, ob Sie sie nicht ein wenig zu sehr behüten“, fuhr sie entschlossen fort. „Dass Sie sie nicht in die große Loopingbahn lassen, kann ich verstehen, aber einige der Karussells, die Sie ihr verboten haben, sind doch wirklich harmlos. Das mit den Drachenwagen dort drüben sieht mir ziemlich sicher aus.“ Die Versuchung war zu groß, sie musste einfach fortfahren: „Ich werde mit ihr fahren, falls Sie Angst haben.“

Seine Miene verriet, dass sie ihn damit getroffen hatte. „Wollen Sie mich ärgern, Miss … Briony?“

„Ein wenig necken, vielleicht. Dies ist ein Jahrmarkt. Sie sollten vergnügt aussehen!“

„Ich werde vergnügt aussehen, wenn Emma zurückkommt.“

„Sie meinen, Sie schalten das Lächeln für sie ein? In Wirklichkeit lässt Ihnen der Gedanke keine Ruhe, wie Ihr Büro ohne Sie auskommt. Ich bin erstaunt, dass Sie Ihr Handy nicht mitgebracht haben.“

„Das hätte Emma den Spaß verdorben“, erwiderte er ernst.

„Den verderben Sie ihr, indem Sie sie in Watte packen.“

„Sie wissen ja gar nicht, wovon Sie reden“, sagte er. Dann seufzte er ungeduldig auf. „Es tut mir leid … schon wieder. Versuchen Sie, meine schlechten Manieren zu ignorieren. Ich habe den Kopf mit so vielen Dingen voll, aber es ist nicht das, was Sie denken.“

Bevor Briony antworten konnte, kehrte Emma zurück. Glücklich strahlend plumpste sie auf ihren Stuhl. Briony bemerkte, wie sich Carls Miene schlagartig erhellte, als sei er plötzlich wieder im Dienst.

„Daddy, dort drüben gibt es einen Autoscooter“, rief Emma aus. „Können wir damit fahren?“

„Darling, ich glaube nicht …“

„Oh, bitte, Daddy! Du lässt mich mit nichts fahren, was wirklich spannend ist.“

„Aber wir waren doch gerade mit dem Boot unterwegs“, protestierte Tom.

„Aber das ist nicht wirklich spannend“, erwiderte Emma. „Höchstens, wenn das Boot ein Loch hat und sinkt. Und das hat es nicht getan“, fügte sie enttäuscht hinzu.

„Armer Tom“, Briony lachte. „Er wäre bestimmt nicht mit dir gegangen, hätte er gewusst, was du unter Vergnügen verstehst.“

„Aber du würdest gern mit dem Autoscooter fahren, nicht wahr?“, wandte sich Emma zu ihr. „Dir würde es bestimmt Spaß machen!“

„Ja, das glaube ich auch.“ Briony warf Carl einen trotzigen Blick zu.

„Bitte, Daddy!“ Emma bedachte ihren Vater mit einem Mitleid erregenden Blick.

„Also gut“, erwiderte er zögernd. „Aber …“

Der Rest seiner Worte wurde nicht mehr gehört. Emma rannte bereits los, den gutmütigen Tom im Schlepptau. Bis Carl und Briony beim Autoscooter ankamen, hatten die beiden bereits einen Wagen besetzt, und Emma schrie: „Daddy, du fährst mit Briony. Tom und ich werden euch über den Haufen fahren.“

„Vielen Dank, Darling!“, rief er zurück. Dann sah er Briony an. „Ich hoffe, Sie wissen, worauf Sie sich einlassen.“

Briony wusste, dass es in Autoscootern eng war. Wie eng, wurde ihr erst klar, nachdem sie sich neben Carl in den winzigen Wagen gezwängt hatte. Verzweifelt bemühte sie sich, die Nähe seines Körpers zu ignorieren. Von der Schulter bis zur Hüfte war sie eng an ihn gepresst. Sie glaubte zu träumen. Erst heute Morgen hatte sie ihn als herzloses Monstrum beschimpft, jetzt war sie wie elektrisiert von seiner Nähe. Der erzwungene Körperkontakt sandte einen heißen Schauer über ihre Haut. Sie versuchte, gleichmäßig zu atmen und sich auf das bevorstehende Abenteuer zu konzentrieren.

„Wollen Sie fahren oder soll ich?“, fragte Carl.

„Sie! Ich halte nach Angreifern Ausschau. Ich glaube, da kommen Sie schon.“

Mit vor Aufregung geweiteten Augen kam Emma geradewegs auf sie zugeschossen. „Das ist nicht fair!“, schrie Briony. „Lass uns wenigstens erst losfahren.“ Das letzte Wort endete in einem spitzen Schrei, als die Wagen zusammenstießen. Ihre Peinigerin sauste davon, um nach einer scharfen Kurve erneut zum Angriff anzusetzen. Es gelang Carl, den Wagen in die Mitte des Ringes zu manövrieren und ein paar Ausweichmanöver zu fahren, doch dann stürzte sich Emma erneut auf sie. „Jetzt habe ich euch!“, schrie sie.

„Hören Sie, in diesem Ding ist nicht genug Platz für zwei Paar Schultern“, bemerkte Carl. „Steuern Sie, dann kann ich meinen Arm außen herumlegen.“

Gleich darauf fand sich Briony von ihm umarmt. Einen Moment war sie unsicher, ob sie das Gefühl genießen oder peinlich berührt sein sollte, doch dann musste sie sich wieder ganz auf Emma konzentrieren. Sie wich mit einer scharfen Kurve aus und steuerte dann geradewegs auf den anderen Wagen zu, doch Carl sagte hastig: „Sie dürfen Emma nicht treffen! Und versuchen Sie zu verhindern, dass sie uns trifft.“

Das war leichter gesagt als getan. Emma schien die Zurückhaltung ihres Vaters nicht zu teilen und rammte sie, wann immer sie konnte. Briony versuchte jedes nur erdenkliche Manöver, doch meistens konnte sie den Zusammenprall nicht verhindern. Als sie endlich aussteigen konnte, schien jeder Knochen in ihrem Körper durchgerüttelt.

„Ich glaube, jetzt wird es Zeit für den Heimweg“, sagte Carl.

„Oh, nein, Daddy! Bitte lass uns noch ein bisschen bleiben“, bettelte Emma. „Bitte!“ Sie drückte Brionys Hand, als erwarte sie Unterstützung von ihr.

Carl ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder. „Hör mal, Darling, du kannst …“ Er verstummte plötzlich, als Emma die Augen schloss. Sie zwang sich sogleich, sie wieder zu öffnen, doch sie fielen ihr wie von selbst erneut zu, und sie begann zu schwanken. „Daddy“, flüsterte sie.

„Tom, hol den Wagen“, befahl Carl. Im nächsten Moment hob er das Kind auf seine Arme und machte sich auf den Weg. Briony musste ihm zwangsläufig folgen, da Emma noch immer ihre Hand umklammert hielt.

Tom war vorausgeeilt und kam ihnen mit dem Wagen entgegen. Briony stieg zu Carl und Emma auf den Rücksitz. Während der ganzen Fahrt hielt er Emma in seinen Armen. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, ihre Augen waren geschlossen, und sie sah erschreckend blass aus.

„Was ist mit ihr?“, fragte Briony beunruhigt. „Ist sie krank?“

Er antwortete nicht darauf. „Das Autotelefon ist auf Ihrer Seite“, sagte er stattdessen. „Würden Sie bitte die Nummer wählen, die ich Ihnen gebe?“

Das tat sie, doch als sie ihm den Hörer reichen wollte, schloss er die Arme noch fester um seine Tochter und bedeutete Briony, ihm den Hörer ans Ohr zu halten. Seine Worte machten klar, dass er mit der Sekretärin eines Arztes sprach. „Sie ist gerade umgekippt“, erklärte er. „Es ist nur Erschöpfung … glaube ich. Aber ich möchte Dr. Carson bitten … Vielen Dank. Wir werden in zehn Minuten zu Hause sein.“

Er lehnte sich zurück und schloss die Augen, während Briony den Hörer auflegte. Er war aschfahl, und seine Stirn war von Sorgenfalten zerfurcht. Ein schrecklicher Verdacht wuchs in Briony. So sahen Eltern nur aus, wenn …

Es kam ihr vor, als müsse sie ersticken. Nicht schon wieder! Sie war durch das Tal der Schatten gegangen und hatte die Dunkelheit ein kleines Mädchen zu sich holen sehen. Der Schmerz und das Entsetzen hatten sie fast zerbrochen, doch irgendwie hatte sie es überstanden. Nun war es, als würde die Vergangenheit sie einholen. Das konnte sie nicht ertragen.

„Gott sei Dank sind wir endlich da“, stellte Carl fest, als Tom den Wagen in die geschwungene Einfahrt zu einem großen Anwesen lenkte.

„Mr. Brackman … ich.“

„Helfen Sie mir, Emma herauszuheben?“

Briony hatte keine Wahl. Emma klammerte sich an ihre Hand, als wisse sie selbst in ihrer Bewusstlosigkeit, wie wichtig dieser Kontakt für sie war.

„Kommen Sie, und helfen Sie mir, sie zu Bett zu bringen“, bat Carl.

Schweigend folgte sie ihm ins Haus und die Treppen hinauf in Emmas Zimmer. Eine Frau mittleren Alters mit freundlichem Gesicht kam nach ihnen herein. „Tom sagt, dass sie wieder umgekippt ist“, sagte sie.

„Auf dem Jahrmarkt“, erklärte Carl. „Der Arzt muss jeden Moment hier sein. Empfangen Sie ihn bitte unten, und bringen Sie ihn gleich herauf.“

„Ich glaube, ich höre ihn schon“, sagte sie und verschwand.

Augenblicke später kam sie mit einem älteren Mann zurück. Emma hatte endlich ihren Griff gelöst, sodass Briony sich zurückziehen konnte. Carl schien sie gar nicht zu bemerken, doch als sie fast die Tür erreicht hatte, sagte er plötzlich: „Warten Sie unten auf mich.“

Zögernd gehorchte sie. Ein Teil von ihr wollte fliehen, doch den anderen, stärkeren Teil drängte es zu bleiben, um zu hören, wie es Emma ging. Kurz nach ihr kam Toms Frau, die sich als Nora vorstellte, herab und brachte ihr eine Tasse Kaffee. Briony trank ihn allein in einem großen Raum neben der Eingangshalle.

Schließlich hörte sie, wie der Arzt herabkam und Carl ihn hinausgeleitete. Nachdem sich die Haustür geschlossen hatte, herrschte für einen Moment totale Stille. Dann erklangen Schritte, und Carl kam in den Raum. Er ging geradewegs zum Barschrank, goss sich einen großen Brandy ein und kippte ihn in einem Zug hinunter. Er schien sich sofort nachschenken zu wollen, doch dann setzte er das Glas heftig ab. Im nächsten Augenblick schlug er heftig mit der Faust gegen die Wand. Dann ließ er die Schultern sinken und lehnte den Kopf gegen die Wand, als habe ihn alle Kraft verlassen.

Briony sah ihn entsetzt an. Er sah aus wie ein Mann, den der Schmerz überwältigt hatte. Langsam ging sie zu ihm und berührte ihn an der Schulter. Er wandte sich um und sah sie mit blicklosen Augen an. „Kommen Sie“, sagte sie leise. „Setzen Sie sich.“

Er ließ sich von ihr zum Sofa ziehen. Er schien kaum zu merken, was er tat.

„Ihre Hand blutet“, stellte Briony fest. „Soll ich Nora rufen?“

„Nein“, wehrte er hastig ab. „Ich will nicht, dass sie mich so sieht.“ Er zog ein Taschentuch hervor und schlang es sich um die Hand. „Gießen Sie mir nur einen weiteren Brandy ein, einen großen.“

„Was ist mit Emma los?“, fragte sie leise, nachdem sie ihm das Glas gebracht hatte.

Sie wusste die Antwort, bevor er den Kopf hob und tonlos erklärte: „Sie wird sterben.“

3. KAPITEL

„Sie wird sterben“, wiederholte Carl, als Briony ihn fassungslos ansah.

Sie hatte es geahnt, doch es so brutal ausgesprochen zu hören verschlug ihr die Sprache. „Sie hat mir erzählt, dass sie krank gewesen sei“, brachte sie schließlich hervor, „doch es klang, als sei das längst Vergangenheit.“

„Das glaubt sie, und so soll es auch bleiben. Doch es ist nicht vorbei. Es wird erst vorbei sein, wenn …“ Er verstummte, und Briony sah seine Schultern zucken. „Es wird nie vorbei sein.“

„Aber … warum?“

„Ihr Herz. Das Herz ihrer Mutter war auch nicht sehr stark. Als wir heirateten, wussten wir nichts davon, aber während der Schwangerschaft bekam sie einen Herzanfall. Nicht im Traum hatten wir mit so etwas gerechnet. Sie hat den Anfall überlebt, doch der Arzt warnte uns, dass die Schwangerschaft vielleicht zu viel für sie sein würde. Während des ganzen letzten Monats war uns klar, was passieren würde. Um es ihr zu erleichtern, wurde ein Kaiserschnitt gemacht, doch …“

Carl konnte nicht weitersprechen. Er machte eine hilflose Geste. Unwillkürlich folgte Briony ihrem Instinkt und griff nach seinen Händen. Stockend sprach er weiter: „Sie lebte noch lange genug, um Emma im Arm halten zu können. Dann fiel sie in ein tiefes Koma und ist nicht wieder aufgewacht.“ Plötzlich schien er zu bemerken, dass Briony seine Hände hielt. Sichtlich verlegen entzog er sie ihr. Es schien ihm peinlich, dass er sie diesen Moment der Schwäche hatte erleben lassen. „Es tut mir leid“, stieß er hervor. „Ich hätte Sie damit nicht belästigen dürfen. Gewöhnlich habe ich mich besser im Griff.“

„Das macht doch nichts“, erwiderte Briony sanft. „Reden Sie einfach weiter, wenn Ihnen danach ist.“

„Die Ärzte haben mich gewarnt, dass Emma das gleiche Problem wie ihre Mutter haben könnte, doch jahrelang konnte ich glauben, dass alles gut gehen würde und dann … plötzlich …“

„Aber kann denn niemand etwas für sie tun?“, fragte Briony. „Man macht doch heutzutage fantastische Herzoperationen.“

„Nur, wenn sie stark genug wäre, aber es ist zu spät“, erklärte Carl niedergeschlagen. „Sie ist zu schwach, um die Belastung einer Operation auszuhalten. Es würde lediglich bedeuten, dass sie jetzt sofort stirbt, statt in ein paar Monaten.“

Er sah sie an. „Verstehen Sie? Ich versuche, alles in diese wenigen, verbliebenen Monate zu packen. Ich versuche, ihr den Vater zu geben, der zu sein ich mir früher nie die Zeit genommen habe. Ich habe sie immer geliebt, doch die Firma aufzubauen hat mich sehr in Anspruch genommen.“ Seine Stimme erstarb.

Briony war erschüttert. „Ich wollte ihr immer ein besserer Vater sein“, fuhr er fort, als er sich wieder gefasst hatte, „doch ich glaubte, ich hätte noch viel Zeit. Wissen Sie, was sie sich am meisten auf der Welt wünscht?“

„Sie?“

„Nein, eine Mutter. Das ist alles, was sie sich je gewünscht hat. Eine Mutter zu haben, wie andere kleine Mädchen auch. Ich habe ihr immer versprochen, dass ich eines Tages eine geeignete Frau finden würde, aber nun habe ich zu lange gewartet. Ich kann nur noch versuchen, ihr in der kurzen Zeit wenigstens alles andere zu geben.“

Er trank seinen Brandy und fuhr stockend fort: „Sie hat mich angefleht, auf den Jahrmarkt gehen zu dürfen. Ich hätte nicht zustimmen sollen. Ich hätte wissen müssen, dass es zu anstrengend für sie ist … und jetzt ist sie zusammengebrochen.“

„Aber sie stirbt doch nicht jetzt?“, fragte Briony entsetzt.

„Nein. Der Doktor sagt, sie wird sich wieder erholen. Aber jedes Mal, wenn sie sich überanstrengt, nimmt es etwas von ihrer Kraft … und sie hat nur noch so wenig davon. Wie soll ich nur wissen, was richtig und was falsch ist?“ Er ließ ratlos den Kopf sinken.

Briony spürte tiefes Mitleid mit ihm. Sie kannte diese Phasen der Zweifel und Selbstvorwürfe nur zu gut. Ohne darüber nachzudenken, legte sie den Arm um seine Schultern. Nach einer Weile sah er zu ihr auf. Seine Augen waren feucht.

„Hören Sie“, sagte sie leise. „Sie können nie wissen, ob Ihre Handlungen richtig oder falsch sind. So leicht macht es uns das Leben leider nicht. Doch wenn Sie sie lieben und sie das spüren lassen, dann genügt das bereits. Quälen Sie sich nicht mit Ihren Schuldgefühlen, denn …“ Die Stimme drohte ihr zu versagen. „Nutzlose Schuldgefühle sind zerstörerisch. Sie können ihr nur Ihre Liebe geben und das tun, was Sie im jeweiligen Augenblick für richtig halten.“

Er sah sie lange an. „Sie verstehen mich, nicht wahr?“, sagte er dann.

„Ja, ich verstehe.“

„Dann fällt es mir leichter, Sie um etwas zu bitten. Nicht für mich, sondern Emma zuliebe. Sie mag Sie. Ich habe sie noch nie jemanden so schnell ins Herz schließen sehen.“

„Was soll ich denn tun?“, fragte Briony.

„Seien Sie ihre Freundin, bis … solange sie eine braucht. Erlauben Sie uns, Zeit mit Ihnen zu verbringen. Lassen Sie uns so tun, als seien Sie ihre Mutter.“

Briony fuhr zurück. „Nein, tut mir leid, das kann ich nicht.“

Carl sah sie drängend an. „Ich weiß, es ist viel verlangt, aber Sie mögen sie doch auch, nicht wahr?“

„Ja“, gestand Briony mit erstickter Stimme. „Viel zu sehr.“

„Bitte! Es wird ihr so viel bedeuten, und es wird nicht für lange sein, können Sie das nicht sehen?“

„Doch, das kann ich. Es ist nur, dass ich … Es tut mir leid, es ist unmöglich.“

„Aber warum?“ Er stand auf und trat vor sie. „Ich zahle Ihnen, so viel Sie wollen. Sie werden von allen Aufgaben im Büro befreit, und ich schreibe Ihnen einen Blankogehaltsscheck aus. Sie müssen es einfach tun.“

„Ich muss überhaupt nicht“, wehrte Briony heftig ab, „und Ihr Geld will ich schon gar nicht. Emma braucht Sie, nicht mich. Ich kann ihr nicht mehr bedeuten als ihr Vater.“

„Aber sie sieht so etwas wie eine Mutter in Ihnen“, widersprach er. „Vielleicht ist das ein weiteres Zeichen für mein Versagen, doch so ist es nun einmal. Bitte tun Sie es, Briony.“

Briony sprang auf. Wenn sie dieses Haus nicht auf der Stelle verließ, würde sie den Verstand verlieren. „Es tut mir leid, ich kann einfach nicht! Bitte bedrängen Sie mich nicht. Es ist unmöglich.“

„Briony …“ Er packte sie am Arm.

„Nein!“, schrie sie auf. „Lassen Sie mich gehen. Ich kann nicht hier bleiben.“ Sie riss sich los. Carls verzweifelte Miene war das Letzte, was sie von ihm sah. Die Haustür fiel krachend hinter ihr ins Schloss, und dann rannte sie die lange Einfahrt hinab bis zur Straße. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Sie rannte einfach immer weiter, bis sie schließlich zu einer U-Bahnstation kam.

Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde, und die ganze Zeit hielt sie sich krampfhaft gefasst. Sie schaffte es bis zu ihrer Wohnung. Als sie den Schlüssel aus der Tasche ziehen wollte, fiel ihr der kleine Wal entgegen. Vielleicht war es dieser Anblick, der ihr den Rest gab. Sie brach auf dem Sofa zusammen, barg ihr Gesicht in dem flauschigen Pelz und schluchzte hilflos. „Oh Sally! Sally!“

In dieser Nacht fand Briony kaum Schlaf. Sobald sie eindöste, wurde sie von Träumen gequält, in denen Emma in den Armen ihres Vaters zusammenbrach. Carl hielt ihr seine Tochter entgegen und sagte vorwurfsvoll: „Sie stirbt.“ Keuchend fuhr Briony auf. Dann ging sie ins Bad, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und beschloss, lieber nicht wieder einzuschlafen.

Wach zu liegen war fast noch schlimmer. Sie konnte den Moment nicht vergessen, als Carl ihr in die Augen geblickt hatte. Sie hatte seinen Schmerz gesehen und hatte ihn gefühlt, als sei es ihr eigener. Einen Moment lang war sie fast bereit gewesen, alles für ihn zu tun.

Es war nicht nur die Erinnerung an Sally, die es ihr unmöglich machte, seinen Wunsch zu erfüllen. An diesem Nachmittag hatte sie die Anziehungskraft zu spüren bekommen, die Carl Brackman wie eine Aura umgab. Selbst auf dem Jahrmarkt, als er an nichts anderes dachte als daran, Vater zu sein, hatte sie diese erregende Kraft gespürt. Es war gefährlich, ihm zu nahe zu sein.

Von sich selbst hatte Briony keine gute Meinung. Sie war von schlanker Gestalt, doch es war eher die Figur einer Athletin als die eines Models. Ihre Schultern waren zu breit, und wenn sie vor dem Spiegel stand, kam sie sich eckig und unbeholfen vor. Sie wusste, dass sie mit dem blonden Haar und den blauen Augen nicht schlecht aussah, doch sie würde sich allenfalls als „ganz passabel“ bezeichnen. Nichts wäre absurder, als sich in einen Mann wie Carl Brackman zu verlieben, der jede Frau haben konnte.

Das durfte sie nicht zulassen. Dass sie sich einmal tief in die Augen gesehen hatten, hieß noch lange nicht, dass sie ihm etwas bedeutete. Sie war eine erwachsene Frau mit eigenem Willen, und den musste sie einsetzen, um diese Verirrung zu beenden.

Ihre Hände begannen zu zittern. Noch vor wenigen Stunden hatte er sie umfasst gehalten, und sie hatte seinen Schmerz gespürt. Sie wollte ihm Trost und Geborgenheit schenken, doch ihre Vernunft gewann die Oberhand. Sich zu sehr auf Carl Brackman einzulassen würde nur noch mehr Schmerz bedeuten. Davon hatte sie in der letzten Zeit genug gehabt.

Als der Morgen graute, war ihr Entschluss gefasst. Sie würde kündigen und bei der Agentur nach etwas Neuem suchen. Sie steckte den kleinen Wal in die Tasche, sodass Carl ihn Emma zurückgeben konnte. Wie gelähmt schleppte sie sich zur Bushaltestelle. Sie wollte nicht ins Büro. Sie wollte Carl nicht sehen, und sie wollte nicht wieder mit ihrem eigenen Schmerz konfrontiert werden.

Diesmal war Jenny vor ihr da. „Keine Sorge“, begrüßte sie Briony fröhlich. „Er ist noch nicht da.“

„Um diese Zeit?“

„Unglaublich, nicht wahr? Oh Briony, ich habe tolle Neuigkeiten.“ Ihr Strahlen verriet bereits genug.

„Du hast dich mit Michael versöhnt?“, fragte Briony.

„Er hat mich gestern mit einer roten Rose abgeholt. Nur gut, dass Mr. Brackman nicht da war. Wir haben lange miteinander geredet, und nun ist wieder alles in Ordnung. Wir werden nächsten Monat heiraten.“

Briony spürte, wie ihr Schmerz nachließ. Es war gut zu wissen, dass es auch noch glückliche Menschen auf dieser Welt gab. Dennoch hatte sie ständig Carls verzweifelte Miene vor Augen.

„Und was habt Ihr gestern Nachmittag gemacht?“, fragte Jenny.

„Wir sind auf den Jahrmarkt gegangen“, erklärte Briony.

„Mit Emma? Ist sie nicht ein Schatz? Weißt du, mit dem Kind ist es merkwürdig. Ich arbeite schon seit drei Jahren für Brackman, und bis vor ein paar Monaten wusste ich nicht einmal, dass er überhaupt eine Tochter hat. Dann ist sie plötzlich hier aufgetaucht, und jedes Mal hat er die Arbeit liegen lassen und ist mir ihr ausgegangen. Sie ist süß, nicht wahr? Sie wird bestimmt einmal eine richtige Schönheit.“

Briony gab eine ausweichende Antwort und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Bedeutete Carls Verspätung etwa, dass es Emma schlechter ging? Sie wusste, wie herzlos ihm ihre Weigerung erschienen sein musste. Es stimmte, dass sie Emma gern mochte. Es würde leicht sein, dieses fröhliche Kind zu lieben, dessen Lebensmut trotz der Krankheit ungebrochen war. Briony würde es nicht ertragen können, erneut ein kleines Mädchen zu lieben und es sterben zu sehen.

Als Carl später am Vormittag erschien, ging er geradewegs in sein Büro, ohne nach links und rechts zu blicken. Doch kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, summte das Sprechgerät auf Brionys Schreibtisch. „Kommen Sie bitte herein“, hörte sie ihn sagen.

Er sah aus, als hätte er eine schreckliche Nacht hinter sich. Sein Gesicht war bleich, und unter den Augen hatte er dunkle Schatten. Vermutlich sah sie nicht besser aus, denn als er zu ihr aufblickte, las sie so etwas wie Verständnis in seinen Augen.

„Wie geht es Emma?“, fragte Briony.

„Einigermaßen. Ich habe den größten Teil der Nacht an ihrem Bett verbracht.“

„Es tut mir leid, dass ich Ihrer Bitte nicht nachkommen kann. Unter diesen Umständen kann ich nicht einmal weiter für Sie arbeiten, Mr. Brackman.“ Sie hielt ihm den kleinen Wal hin. „Bitte geben Sie dies Emma, und richten Sie ihr meine Grüße aus.“

Er sah sie bestürzt an. „Sie lassen uns also wirklich im Stich?“

„Sie haben kein Recht, so etwas zu sagen“, fuhr Briony auf. „Ich habe gute Gründe.“

„Gibt es denn gute Gründe dafür, ein krankes Kind zu enttäuschen?“

Briony zuckte zusammen, doch sie ließ sich nicht umstimmen. „Sie müssen mir einfach glauben, dass es so ist“, erwiderte sie.

Er gab ihr keine Antwort, sondern zog stattdessen einen rosa Umschlag aus seiner Brieftasche. „Emma hat Ihnen einen Brief geschrieben“, erklärte er. „Werden Sie ihn annehmen, oder muss ich ihr sagen, dass Sie ihn nicht einmal lesen wollten?“

„Das ist Erpressung“, entgegnete Briony wütend.

Er zuckte unbeeindruckt die Schultern. „Meine Tochter liegt im Sterben, da habe ich nicht die geringsten Skrupel, alles zu tun, was ihr nützt.“

Briony riss ihm den Umschlag fast aus der Hand. Emma hatte ein Bild von sich selbst, Carl und Briony auf dem Jahrmarkt gemalt. Darunter stand: „Bitte komm mich zum Tee besuchen.“

Briony spürte Carls scharfen Blick auf sich, während sie mit sich rang. „Also gut“, entschied sie schließlich. „Dieses eine Mal. Sie können Emma sagen, dass ich kommen werde.“

„Vielen Dank“, entgegnete er. „Ich weiß, wie viel es ihr bedeutet.“

„Sobald es ihr besser …“

„Kommen Sie doch einfach schon heute Nachmittag“, unterbrach er sie.

„Also gut. Heute Nachmittag. Dieses eine Mal! Danach …“

„Das können wir auf der Fahrt besprechen“, beendete er das Gespräch. „Können wir uns nun wieder an die Arbeit machen?“

Noch vor kurzem hätte das nach dem herzlosen Roboter geklungen, als den sie ihn gesehen hatte, doch nun kannte sie Carl Brackman besser. Sie schämte sich, dass sie behauptet hatte, er könne kein Privatleben und deshalb auch keine persönlichen Probleme haben. Tatsächlich versuchte er lediglich, seinen Schmerz vor der Welt zu verbergen. Nur durch Zufall hatte sie erfahren können, wie es um ihn stand. Sein Verhalten verriet, dass ihm das nicht recht war. Er hatte sie um Emmas willen eingeladen, doch es störte ihn, dass sie seine Wunden gesehen hatte. Es würde besser für sie beide sein, wenn sich ihre Wege so bald wie möglich trennten.

Am frühen Nachmittag trat Carl aus seinem Büro und nickte Briony wortlos zu. Auf dem Weg zu seinem Wagen erklärte er: „Ich habe Emma angerufen und ihr erzählt, dass Sie kommen. Sie ist schon ganz aus dem Häuschen.“

Briony schwieg. Sie hatte das Gefühl, gegen ihren Willen in etwas hineingezogen zu werden, das allzu leicht ihrer Kontrolle entgleiten konnte. Das durfte nicht geschehen! Während Carl den Wagen aus der Tiefgarage fuhr, beschloss sie, ihm von Sally zu erzählen. Bisher war sie davor zurückgeschreckt, doch es war besser, wenn er ihre Gründe verstand.

„Es tut mir leid, dass ich gestern einfach davongerannt bin“, begann sie.

„Schon in Ordnung. Ich habe mir nur Sorgen gemacht, wie Sie nach Hause kommen würden. Tom hätte Sie nach Hause fahren können.“

„Das war kein Problem. Aber ich wollte Ihnen sagen …“

„Einen Moment. Da vorne ist etwas im Weg.“ Er beugte sich aus dem Fenster und rief etwas zu einem anderen Fahrer hinüber. „Der Verkehr ist auf dieser Straße immer besonders schlimm“, erklärte er. „Was wollten Sie sagen?“

„Ich muss Ihnen etwas erklären, damit Sie …“ Sie verstummte, als Carl den Wagen rasant in eine Nebenstraße lenkte, um dem Stau zu entgehen. „Vielleicht warte ich besser“, beschloss sie.

Nach etwa einer Viertelstunde fuhren sie in eine elegant geschwungene Auffahrt. Am Tag zuvor hatte Briony nicht darauf geachtet. Jetzt konnte sie sehen, dass Carls Villa abseits der Straße, fast hinter Bäumen versteckt, inmitten eines prachtvollen Gartens stand. Wie sein Wagen war das Anwesen von unscheinbarer Eleganz. Es war der Besitz eines Mannes, der ein Vermögen gemacht hatte, sich dessen aber nicht ständig zu rühmen brauchte … oder vielleicht eines Mannes, dem Reichtum nichts bedeutete, weil er auch damit nicht die retten konnte, die er liebte.

Beim Aussteigen fragte Carl: „Was wollten Sie mir vorhin sagen? Oh nein, was macht sie denn da?“ Brionys Blick folgte der angedeuteten Richtung zu einem Fenster über der Einfahrt. Dort oben stand Emma. „Sie sollte doch im Bett sein!“, sagte Carl.

Während sie noch hinaufblickten, erschien Nora und zog Emma vom Fenster fort. Briony folgte Carl die Treppen hinauf. Nora kam gerade aus Emmas Zimmer. „Ich habe sie ins Bett zurückgeschickt“, sagte sie. „Ehrlich, ich habe alles versucht …“

„Schon gut, es ist nicht Ihre Schuld“, besänftigte Carl sie. „Ich weiß, wie schwierig sie sein kann. Lassen wir sie nicht länger warten.“ Er öffnete die Tür zu Emmas Zimmer. „Sieh mal, wen ich mitgebracht habe!“, rief er aus und trat zur Seite, um Briony einzulassen.

Bis zu diesem Moment hatte Briony sich fest vorgenommen, sich nicht herumkriegen zu lassen, doch als sie das glückliche Strahlen im Gesicht des Kindes sah, war es um ihre Beherrschung geschehen. Sie eilte quer durch das Zimmer und warf sich in die einladend ausgestreckten Arme.

„Ich wusste, dass du kommen würdest! Ich wusste es“, flüsterte ihr Emma ins Ohr. „Daddy hat es nicht geglaubt, aber ich habe es gewusst.“

„Natürlich bin ich gekommen“, erwiderte Briony. Sie war froh, dass sie Emmas Vertrauen nicht enttäuscht hatte.

„Wir haben schon alles vorbereitet“, erklärte Emma.

„Wir?“

„Oswald hat darauf bestanden, auch zum Tee zu kommen.“

Neben dem Bett war ein kleiner Tisch gedeckt. Auf einem Stuhl daneben saß Oswald und schien die Szene eindringlich zu mustern. Briony griff in ihre Tasche. „Sieh mal, wer noch mitgekommen ist“, sagte sie und zog den kleinen Wal hervor.

Emma strahlte. „Du hast ihn mitgebracht“, jubelte sie. „Du hast gewusst, dass ich dich einladen würde.“

„Ja, das habe ich wohl“, erwiderte Briony vorsichtig. Sie spürte Carls kühlen Blick auf sich gerichtet. Er wusste, dass sie das Stofftier aus ganz anderen Motiven mit zur Arbeit gebracht hatte.

„Wir haben Tee und Toast und Honig“, verkündete Emma.

„Das ist gut.“ Briony legte den kleinen Wal in die ausgebreitete Flosse des Pinguins. „Oswald mag nämlich Honig schrecklich gern. Soll ich einschenken?“

„Ja, bitte. Daddy nimmt seinen Tee ohne Zucker.“

„Oh, bin ich auch eingeladen?“, fragte Carl. „Ich dachte, der Tee sei nur für euch beide … und Oswald und Oswald natürlich.“

Emma kicherte, und Briony sah anerkennend zu Carl auf. Es war nur ein kleiner Scherz, aber erstaunlich gut für einen Mann, dem das Herz brach. Ihr Respekt wuchs noch, als er sich am Tisch niederließ und sich mit sichtlicher Freude an der kleinen Teeparty beteiligte. Emma schien im siebten Himmel. Es war klar, dass die Anwesenheit ihres Vaters dem Fest die Krone aufsetzte.

„Gefällt dir mein Zimmer?“, fragte Emma nach einer Weile.

Es war ein prächtiger Raum, groß und luftig mit hellen Möbeln und einem großen Fenster zum Garten hinaus. Auf dem Nachttisch stand das Foto einer jungen Frau, deren verblüffende Ähnlichkeit mit Emma keinen Zweifel daran ließ, dass dies ihre Mutter war. An den Wänden hingen Bilder von Tänzerinnen, und über dem Bett baumelte ein Paar Ballettschuhe.

„Ich werde Tänzerin“, erklärte Emma. „Wenn ich älter bin, sagt Daddy, kann ich Ballettunterricht nehmen.“

„Ganz recht, Darling“, bestätigte Carl. „In ein paar Jahren.“

„Oh nein!“, protestierte die Kleine. „Schon bald!“

„Nun, vielleicht in einem Jahr. Wenn du wieder bei Kräften bist.“

Emma verzog das Gesicht. „Das sagst du immer. Ich wünschte, es wäre jetzt schon nächstes Jahr.“

„Ich nicht“, entfuhr es Carl unwillkürlich. Dann fügte er hastig hinzu: „Ich will nur nicht, dass du so schnell groß wirst.“

„Und ich will noch viel schneller groß werden. Ich will, dass jetzt nächstes Jahr ist und dann übernächstes und dann …“

„Ich glaube, Oswald möchte noch etwas Tee“, mischte sich Briony ein. Sie hatte die Anspannung in Carls Miene entdeckt.

Im selben Moment trat Nora ins Zimmer. „Telefon für Sie“, wandte sie sich an Carl.

Er küsste seine Tochter und ging, nicht ohne vorher zu versprechen, dass er gleich zurückkommen werde. Zufällig hatte Briony Emma im Blick, als er ging, und sie sah, wie sie sich erleichtert entspannte, sobald sich die Tür hinter ihm schloss. Spielten sie etwa beide das gleiche Spiel miteinander? Ahnte Emma, wie es um sie stand?

Jetzt setzte sich Emma im Bett auf und versuchte, ihr Kissen aufzuschütteln. Briony trat hinzu und half ihr. „Besser so?“

„Ja, vielen Dank.“ Emma lehnte sich zurück, und instinktiv legte Briony den Arm um sie. So hatte sie oft an Sallys Bett gesessen. Plötzlich schämte sie sich dafür, dass sie Emma die Hilfe verweigert hatte. Als ob irgendetwas wichtiger wäre als das Glück eines Kindes.

„Gehst du manchmal ins Ballett?“, fragte Emma.

„Oh ja, ich liebe das Ballett.“

Autor

Sharon Sala
Es war ein Job, den sie hasste, der sie dazu brachte, ihre ersten Zeilen auf einer alten Schreibmaschine zu verfassen und es war ihre Liebe zu diesem Handwerk, die sie schreiben ließ. Ihre ersten Schreibversuche landeten 1980 noch unter ihrem Bett. Ein zweiter Versuch folgte 1981 und erlitt ein ähnliches...
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