Bianca Arztroman Band 62

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Dir gehört mein Herz von Roberts, Alison
Schwester Jessica lebt nur für ihren kleinen Sohn Ricky - sie hat keine Augen für ihren verliebten Kollegen Joe. Erst als der Rettungssanitäter sein Leben riskiert, um ihren Jungen aus den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes zu befreien, merkt sie, wie viel auch er ihr bedeutet... Zu spät?

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  • Erscheinungstag 01.06.2011
  • Bandnummer 62
  • ISBN / Artikelnummer 9783864944338
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

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Alison Roberts

Dir gehört mein Herz

1. KAPITEL

„Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!“

„Sie können mich nicht daran hindern. Das lasse ich nicht zu.“ Jessica McPhail richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter fünfundsechzig auf. Die Absätze ihrer schweren Stiefel und der Sicherheitshelm verliehen ihr noch einige Zentimeter zusätzlich. Böse sah sie den Mann vor ihr an.

„Da passen Sie mal auf, Lady“, gab der Polizist, der zu dem Sondereinsatzkommando gehörte, ungerührt zurück. „Sie sind wohl kaum in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen.“

Jessica spürte den eisernen Griff, mit dem er sie am Oberarm gepackt hielt. Sie versuchte sich zu befreien, woraufhin sich der Druck seiner Finger so verstärkte, dass es schmerzte.

„Sie gehen jetzt“, befahl der Mann, „sonst lasse ich Sie verhaften.“

„Das werden Sie nicht tun.“

Die tiefe Stimme, die unerwartet hinter Jessica ertönte, löste in ihr eine ganze Reihe von Emotionen aus – Dankbarkeit, Erleichterung, sogar Hoffnung. Joe Barrington war hier, und mit ihm auf ihrer Seite hatte sie eine viel größere Chance, diesen Streit zu gewinnen.

„Wenn Sie Jessica verhaften, müssen Sie auch mich verhaften. Dann haben Sie ein Rettungsteam ohne medizinisches Personal.“

Der Polizist sah ihn ungeduldig an. „Wir verschwenden unsere Zeit. Wo ist Ihr Einsatzleiter?“

„Hier.“ Tony Calder, der Rettungsspezialist, war bereits herbeigekommen. „Was ist los?“

„Ihre Kollegin hier geht nicht zurück an den Einsatzort. Ich will, dass sie sich vom Schauplatz entfernt.“

Tony warf erst Jessica und dann dem hoch gewachsenen Sanitäter neben ihr einen erstaunten Blick zu. Mit einem Kopfschütteln zeigte Joe ihm, dass auch er noch nicht wusste, worum es ging.

„Was ist das Problem?“ fragte Tony daher.

„Sieht so aus, als ob ihr Kind irgendwo da drin wäre.“

Ein kurzes Schweigen entstand. Seit mehr als zwölf Stunden arbeiteten sie jetzt hier am Ort des größten Unglücks, das jemals in Neuseeland geschehen war. Die Explosion und der Einsturz des größten Teils eines Einkaufszentrums hatte schon mindestens sechsundzwanzig Todesopfer gefordert, davon acht Kinder, dazu Dutzende von Verletzten. Bis zu dreißig Personen wurden noch vermisst, und darunter ein fünfjähriger Junge.

„Stimmt das, Jessica?“

Sie nickte knapp. „Ich kann das, Tony. Ich muss.“

Tony schüttelte den Kopf. „Kommt nicht infrage. Ich verstehe, wie du dich fühlst, Jessica, und es tut mir schrecklich Leid, aber du kannst auf gar keinen Fall wieder zurück an die Einsatzfront. Diese Arbeit ist schon gefährlich genug, ohne dass man persönlich beteiligt ist.“

„Aber ich habe es doch schon getan. Nur weil ihr es jetzt herausgefunden habt, macht das doch keinen Unterschied.“

„Was?“ Tony blieb der Mund offen stehen. „Hast du die ganze Zeit davon gewusst?“

„Anscheinend war ihre Mutter das letzte Todesopfer, das wir bei unserer ersten Schicht gefunden haben“, sagte Joe ruhig, da Jessica die Antwort schuldig blieb.

„Du hast es gewusst?“ fuhr Tony ihn an. „Du bist Sanitäter, Joe. Du weißt genauso gut wie ich, dass so etwas das rationale Verhalten eines Menschen beeinflussen kann. Das könnte das gesamte Team in Gefahr bringen. Du bist der Chef des medizinischen Personals in unserer Einheit. Es lag in deiner Verantwortung, Jessica aus dem Team zu nehmen.“

„Da wusste ich es ja noch nicht. Sie hat es mir nicht gesagt. Und ganz sicher habe ich nicht gewusst, dass ihre Mutter das Kind bei sich hatte.“ Joe war gekränkt. Auch wenn Jessica und er zuvor lediglich Kurskameraden gewesen waren, so hatten sie in den vergangenen zwölf Stunden doch unter Bedingungen zusammengearbeitet, die Kooperation und Vertrauen voraussetzten.

„Ich habe es niemandem gesagt.“ Jessica bemühte sich, die Erinnerung daran beiseite zu schieben, als der leblose Körper ihrer Mutter unter dem Schutt hervorgezogen worden war. Der Schock hatte genügt, um sie zu betäuben. Trauer konnte sie sich jetzt aber nicht leisten, denn sie musste sich darauf konzentrieren, ihren Sohn zu finden, und zwar lebend. „Ich wusste, was ihr sagen würdet“, verteidigte sie sich. „Und ich wollte mich von niemandem davon abhalten lassen, wieder da reinzugehen.“

„Wir haben die Verwandtschaft gerade erst festgestellt.“ Der weiße Helm des Polizisten zeigte eine höhere Position an. „Der Aufruf, die nächsten Verwandten zu benachrichtigen, führte das Polizeiteam zum USAR-Notfallrettungskurs. Wir haben Jessica ausfindig gemacht, in der Annahme, dass sie nichts davon wusste. Und dann hat sich herausgestellt, dass sie sehr wohl Bescheid wusste. Und sie hat wieder da drin gearbeitet.“ Ungläubig starrte der Mann sie an. „Sie haben geholfen, Ihre eigene Mutter zu bergen, und sind trotzdem wieder reingegangen.“

„Mein Sohn ist noch da drin. Er ist fünf Jahre alt, und … er lebt vielleicht noch.“

Diesmal dauerte das Schweigen länger. Jessica merkte, wie die Männer um sie herum die geringe Wahrscheinlichkeit berechneten, dass dies der Fall sein könnte. Sie sah Joe an.

Ob er mich jetzt weniger schätzt, weil ich diese schreckliche Information für mich behalten habe? fragte sie sich. Hat er erraten, dass ich in der Pause nach unserem ersten Einsatz im leeren Bus des Rettungsteams gesessen und versucht habe, meine Trauer und meine Angst in den Griff zu bekommen? Jessica hielt Joes Blick fest, damit er ihre Stärke sah, eine Stärke, gepaart mit äußerster Entschlossenheit und mehr Mut, als sie jemals zuvor hatte aufbringen müssen.

Joe konnte nicht wegschauen. Das lag nicht daran, dass die körperliche Anziehung, die er Jessica gegenüber schon häufiger gespürt hatte, sich wieder regte. Im Augenblick trug sie einen formlosen, schmutzigen Overall, und die dichten, kastanienbraunen Locken waren unter dem orangefarbenen Helm verborgen. Eine Staubmaske hing unter ihrem verschmierten Gesicht, und die Sicherheitsbrille hatte einen roten Rand um ihre Augen hinterlassen. Das, was Joe bis ins tiefste Innere traf, hatte nicht das Geringste mit körperlicher Anziehung zu tun. In Jessicas dunklen Augen lag ein Ausdruck, der ihn auf einer wesentlich tieferen Ebene berührte. Das Interesse an ihr hatte er recht schnell verloren gehabt, sobald er erfahren hatte, dass sie eine allein erziehende Mutter war. Aber niemand konnte sich diesem flehentlichen Appell entziehen, der ihrer verzweifelten Entschlossenheit zu Grunde lag, ihr Kind zu finden und zu beschützen. Jessica würde sich nicht unterkriegen lassen.

Falls Joe jemanden gebraucht hätte, der an seiner Seite kämpfte, hätte er sich jemanden mit genau dieser Haltung gewünscht. Joe sah eine Stärke in ihr, die er dieser schüchternen, stillen Krankenschwester gar nicht zugetraut hätte. Schließlich wandte er den Blick ab, um den Zivilschutzbeamten anzusehen. Bei seiner Größe von einem Meter neunzig konnte er problemlos auf den Mann hinunterschauen.

„Jessica hat längst bewiesen, dass sie in der Lage ist, ihre Arbeit fortzusetzen. Wir haben uns gerade gemeinsam um ein Multitrauma-Opfer gekümmert, das aus unserem Sektor geborgen wurde. Die Frau hatte innere Blutungen und eine durchbohrte Lunge mit einem Pneumothorax, was eine qualifizierte medizinische Intervention erforderte. Ich kann dafür bürgen, dass Jessicas klinische Fähigkeiten nicht beeinträchtigt waren. Tatsächlich hätte ich ohne ihre Hilfe meinen Job nicht machen können.“

Jessica senkte den Blick. Das unerwartete Lob lenkte sie vorübergehend von ihrem Ziel ab. War ihre Unterstützung für Joe wirklich so wichtig gewesen?

„Wir haben ohnehin zu wenig medizinisches Personal hier“, fuhr er fort. „Ich denke, wir sollten es ihr gestatten, wieder mit reinzukommen.“

„Auf gar keinen Fall“, lehnte der Mann mit dem weißen Helm entschieden ab.

Tony Calder blickte ebenfalls zweifelnd drein. „Es ist zu riskant, Joe.“

„Ich übernehme die Verantwortung für das Risiko“, erklärte Joe. „Wie du schon sagtest, Tony, ich bin der medizinische Chef in unserem Team. Jessica schafft das. Und falls irgendjemand gefährdet werden sollte, ziehe ich sofort die Notbremse. Lass sie wenigstens diese Schicht noch zu Ende machen! Das gibt uns die Zeit, einen Ersatz für sie zu finden. Danach kann Jessica aufhören. Dann brauchen wir sowieso alle eine Pause.“

Das folgende Schweigen war angespannt. Hier wurde kostbare Zeit verschwendet.

„Bitte!“ sagte Jessica leise und eindringlich. „Bitte, lass mich das tun … Tony?“

„Wir können nicht einfach die anderen Einsatzkräfte ignorieren, die hier mit beteiligt sind. Geoff?“ Tony wandte sich an den Polizeibeamten: „Wir haben schon häufiger zusammengearbeitet. Können wir diese Sache unter uns klären, oder müssen wir uns an die Kommandozentrale wenden?“

„Das möchte ich nicht. Die haben mehr als genug zu tun.“ Müde schüttelte Geoff den Kopf. „Und ich auch. Ich überlasse dir die Entscheidung, Tony. Ich denke, ich kenne dich gut genug, um deinem Urteil zu vertrauen.“

Tony suchte Joes Blick, und die beiden Männer entfernten sich außer Hörweite von der kleinen Gruppe. Sie mussten nicht weit gehen, denn der Lärmpegel war unglaublich hoch. Ein riesiger Container in der Nähe des Haupteingangs wurde von einem Schaufelbagger mit Schutt gefüllt. Das Geräusch der Betonschneider und Presslufthämmer verschmolz mit dem dumpfen Lärm von anderem schweren Gerät. Ein paar Meter weiter wurde eine Kettensäge getestet.

Tony musste die Stimme erheben, um den aufheulenden Motor zu übertönen. „Joe, bist du dir sicher, dass du dich mit dieser zusätzlichen Verantwortung belasten willst? Glaubst du wirklich, dass sie es schafft?“

Da die Kettensäge gerade still war, brauchte Joe nicht zu schreien. „Sie ist absolut kompetent, Tony. Sie ist eine verdammt gute Krankenschwester, und ich würde jederzeit in einer Notfallsituation mit ihr zusammenarbeiten.“

„Ihre klinischen Fähigkeiten stelle ich ja gar nicht infrage. Ich war von Kursbeginn an von ihren Leistungen beeindruckt, und das hat sich bestätigt, seit wir zu diesem Einsatz gerufen wurden. Aber ich weiß nicht, wie gut sie damit fertig wird, wenn sie nach ihrem eigenen Sohn sucht.“ Tony sprach schnell, da die Zeit drängte.

„Aber genau das hat sie doch seit Beginn dieser Schicht schon getan. Und es hat sie nicht daran gehindert, ein Opfer zu behandeln, auch wenn es nicht ihr Sohn war.“

„Aber was ist, wenn sie ihn selbst findet? Bereits tot?“

„Dann wird sie vermutlich einen Zusammenbruch erleiden“, gab Joe zu. „Wir bringen sie raus, und ich mache allein weiter. Aber falls er nicht tot ist, wäre es vielleicht gut, Jessica dabeizuhaben. Sie kann am besten mit ihm umgehen.“

„Was weißt du über den Jungen?“

Achselzuckend erwiderte Joe: „Ich glaube, Jessica spricht nicht viel über ihn.“ Und Joe hatte sich keine Mühe gegeben, weiter nachzufragen. Die Existenz eines Kindes war ohnehin eine Enttäuschung für ihn gewesen. Es hatte ihn davon abgehalten, sich auf eine Affäre mit ihr einzulassen.

„Er ist nicht ganz normal, oder?“

„Ich glaube, er ist auf irgendeine Weise behindert“, bestätigte Joe.

„Körperlich?“

„Es scheint eher eine intellektuelle oder eine Verhaltensstörung zu sein.“

„Das Kind könnte da drin also eine Zeitbombe sein.“ Tony seufzte. „Wenn er lebt und sich bewegen kann, könnte er sich und andere gefährden.“

„Mit Sicherheit mehr, als es bei Jessica der Fall wäre.“

„Meinst du, du kannst damit umgehen?“ Tony wollte eine Entscheidung.

Joe schmunzelte. „Mit Jessica oder dem Kind?“

„Mit beiden, falls nötig.“

Joes Schmunzeln schwand, als er an das verzweifelte Flehen in Jessicas Augen dachte. Ein Flehen, durch das sich jeder Mann verpflichtet gefühlt hätte, ihr alle erdenkliche Unterstützung zukommen zu lassen. Er nickte. Seine Miene war ernst.

„Ich kann damit umgehen, Tony. Und ich möchte es auch.“

Tonys Nicken war knapp. „Dann lass uns weitermachen und sehen, was wir noch tun können!“

Jessica ging hinter Joe her.

„Wir sind jetzt woanders zugeteilt worden“, hatte Tony ihnen erklärt. „Ein Teil von Sektor 5 ist inzwischen freigeräumt worden, so dass es einen Zugang zu einem vorher verschütteten Gebäudeteil gibt. Die Ingenieure haben ihn gerade als sicher eingestuft.“

Jessica folgte ihrem Team und versuchte, sich dabei den Lageplan ins Gedächtnis zurückzurufen, der ihnen bei der anfänglichen Einsatzbesprechung gezeigt worden war.

„Kannst du dich noch an den Plan erinnern, June?“ Jessica wandte sich an eine ältere Kollegin, die neben ihr ging. „Wo genau ist Sektor 5?“

„Ich glaube, entweder an der Sutherland oder an der Desmond Street“, antwortete June.

Jessica nickte düster. Auf jeden Fall war dieser Eingang weit weg von der Stelle, wo man ihre Mutter gefunden hatte. Dennoch war es ihr sehr viel lieber, an der Unglücksstelle zu sein, anstatt von der Suche ausgeschlossen zu werden. Einfach nur herumzusitzen und zu warten wäre für sie unerträglich gewesen.

„Bist du dir sicher, dass du mit dabei sein willst?“

Jessica nickte stumm.

„Mir würde es genauso gehen.“ June tätschelte mitfühlend Jessicas Schulter und lächelte ihr aufmunternd zu. Mit Mitte fünfzig war June, die seit über dreißig Jahren für das Rote Kreuz arbeitete, die älteste Teilnehmerin an dem Kurs für Notfalleinsätze gewesen. Sie hatte vier Kinder großgezogen und war inzwischen sogar Großmutter. Sie konnte Jessica verstehen.

Das Team ging rasch an einem Parkplatz vorbei, von dem alle Privatfahrzeuge geräumt worden waren, damit er als Operationsbasis für alle Einsatzkräfte dienen konnte, die mobilisiert worden waren. Für eine neuseeländische Stadt war dies ein nie zuvor da gewesenes Geschehen, und obwohl der grelle Schein der starken Stromgeneratoren nun wieder durch helles Tageslicht abgelöst worden war, wirkte der Unglücksort noch immer so unwirklich wie eine Filmkulisse.

Jessica hatte jedes Zeitgefühl verloren. Die massive Explosion hatte offenbar in dem großen Supermarkt des Einkaufszentrums kurz nach halb vier am Freitagnachmittag stattgefunden – gerade als Jessica und die übrigen Teilnehmer ihres Kurses das dreiwöchige Training beendet und die Ergebnisse ihrer Abschlussprüfung über ihre neu erworbenen Kenntnisse in einem Such- und Rettungstrupp bekommen hatten. Sie hatten alle angenommen, der Ruf, sich an der Rettungsaktion zu beteiligen, sei lediglich eine letzte praktische Übung.

Freitagnachmittag war ein Zeitpunkt, an dem sich zahlreiche Kunden in dem beliebten Einkaufszentrum befanden, um ihre Wochenendeinkäufe zu erledigen. Hunderte von Menschen waren von der Explosion überrascht worden, von der vermutet wurde, dass sie durch eine undichte Gasleitung ausgelöst worden war. Das Unglück zog selbst internationale Aufmerksamkeit auf sich, wie man an den Fernsehteams sehen konnte, die über die Katastrophe berichteten.

Die Rettungskräfte, die in dem eingestürzten Gebäude gearbeitet hatten, waren leicht zu erkennen. Sie waren alle staubbedeckt, trugen verschmierte Sichtbrillen und Atemmasken und besaßen alle denselben Gesichtsausdruck der Entschlossenheit, trotz ihrer Erschöpfung weiterzumachen.

Jessica sah, wie die Hundeführer ihre hoch qualifizierten Suchhunde für den Einsatz vorbereiteten. Die Wahrscheinlichkeit, noch weitere Überlebende zu finden, sank ständig, doch es war nicht unmöglich. An diesem Gedanken hielt Jessica sich eisern fest, als ihr Team vor einem Seiteneingang stehen blieb. Das Bedürfnis danach, einfach in das Gebäude hineinzustürzen und nach ihrem Sohn zu rufen, musste sie ebenso unterdrücken wie die Trauer um ihre Mutter.

Ich kann das, dachte sie. Es mochte sie zwar ihre gesamte Willenskraft kosten, doch Jessica wusste, dass sie es schaffen würde. Allein das war schon eine Offenbarung. Wie war es möglich, dass sie eine solche innere Stärke besaß und in den dreißig Jahren ihres Lebens bisher nichts davon gewusst hatte? Ihr hatte es immer an Selbstvertrauen und Selbstachtung gemangelt. Sie war immer schnell bereit, sich selbst klein zu machen, ehe andere es tun konnten.

Sie blickte sich um, während sie die Anweisungen befolgte, die Staubmaske und die Sichtbrille aufzusetzen, ihr Funkgerät zu überprüfen und die Lampe an ihrem Helm einzuschalten. Jessica hatte ein hervorragendes Team mit einem erfahrenen Einsatzleiter um sich. Die beiden Feuerwehrmänner Bryan und Gerry gehörten ebenfalls zu der sechsköpfigen Rettungseinheit USAR 3.

„Alle bereit?“ Nach einem prüfenden Blick über sein Team nickte Tony. „Gut, gehen wir!“

Die Sicherheitsschranke wurde gehoben, um sie durchzulassen. Dies schien ein von der Explosion relativ unberührter Teil des Einkaufszentrums zu sein. Abgesehen von zersplitterten Schaufenstern und zerstörten Auslagen wirkte die Gebäudestruktur normal. Die Teammitglieder drehten die Köpfe hin und her, um mit dem Strahl der Kopflampe die Umgebung abzuleuchten. Sie versuchten, verborgene Gefahren einzuschätzen, so viele Informationen wie möglich aufzunehmen und sich zu orientieren.

Glasscherben knirschten unter ihren Stiefeln, als sie an mehreren kleineren Geschäften vorbeigingen, ehe sie ein offenes Restaurant betraten. Der Geruch nach gekochtem Essen bildete eine willkommene Abwechslung zu dem unangenehmen Staubgeruch. Aber der menschenleere Raum, die umgestürzten Stühle und halb aufgegessenen Gerichte auf den Tischen verliehen der Szene eine unheimliche Atmosphäre.

In einem Halter auf einer Theke steckten Eiswaffeln, deren Inhalt längst geschmolzen war. Jessica schluckte einen schmerzhaften Kloß in ihrem Hals hinunter. Wie oft hatte sie schon ein Eis aus einem solchen Halter genommen und es Ricky in die begierig ausgestreckten Hände gegeben?

Das Restaurant lag längst hinter ihnen, als es ihr endlich gelang, ihre Gedanken wieder unter Kontrolle zu bringen.

Warum sind die beiden schon so früh hergekommen? Jessica hatte sich zwar mit ihrer Mutter und Ricky hier verabredet, aber erst für fünf Uhr, nach dem Ende ihres Kurstages. Als sie alle zum Katastrophenort gerufen wurden, war Jessica eher besorgt gewesen, dass ihre Mutter sich wesentlich länger um Ricky kümmern musste als ursprünglich vereinbart.

Selbst als sie telefonisch niemanden im Motel erreicht hatte, hatte Jessica sich keine unnötigen Sorgen gemacht. Sobald das Team den Einsatzort erreicht hatte, war keine Zeit mehr für persönliche Dinge gewesen. Es war der erste offizielle Einsatz für das Team, und Jessica war selbst erstaunt darüber, wie gut sie mit der Situation fertig wurde. Sie war an der Bergung und Behandlung der beiden Überlebenden beteiligt gewesen, die ihr Team gefunden hatte. Selbst die Bergung der Leichen aus dem Tunnel, der zu der Tiefgarage führte, hatte sie bewältigt. So lange, bis sie eines der Opfer erkannt hatte.

Ihre eigene Mutter.

Die Frau, die sie ohne jede Hilfe aufgezogen hatte, die Jessica als Mittelpunkt ihres Lebens betrachtet und für sie gesorgt und sie beschützt hatte. Und die für ihre Tochter da gewesen war, als auch diese schwanger und verlassen wurde.

Der Schock des Wiedererkennens hatte Jessica den Boden unter den Füßen weggezogen. In diesem Moment wäre sie beinahe ohnmächtig geworden. Dennoch war es ihr mit größter Mühe gelungen, ihren Schock zu überwinden und sich aufrecht zu halten, als andere ihre Mutter fortgebracht hatten. Die Sorge um ihren Sohn hatte sie an der Frontlinie ausharren lassen, bis der Bereich offiziell als geräumt erklärt wurde. Beim Zusammenbruch dieses Gebäudeteils hatte es keine weiteren Opfer gegeben.

Wo also war Ricky?

Für ihn gab es nichts Schöneres, als sich Autos anzuschauen. Aber warum hatten sie sich nicht auf einem Parkplatz draußen aufgehalten? Und was war während des Einsturzes passiert? War Ricky schnell genug gewesen, um fortzulaufen, als die Decke des Tunnels nachgegeben hatte?

„Jessica? Bist du okay?“

„Klar.“ Dankbar für die Unterbrechung ihrer Gedankengänge, lächelte sie Joe flüchtig zu.

„Pass auf, wenn wir anfangen zu klettern! Achte darauf, dass du immer drei Kontaktpunkte mit dem Schutt hast!“

Jessica nickte. Fast hätte sie sich von ihren Gefühlen überwältigen lassen. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass ihr Team im Begriff war, einen Schuttberg zu durchsuchen, der den Weg vor ihnen blockierte.

„Stellt euch im Abstand von jeweils einem Meter auf!“ befahl Tony. „Hoffentlich kommen wir hier schnell durch, aber wir machen eine Rufsuche beim Durchkämmen des Gebietes.“

Die schweren Maschinen in der Nähe waren ausgestellt. Jessica trat probeweise auf ein Stück Holz, das vor ihr aus dem Durcheinander ragte, und nutzte es dann als Tritt, um sich so dicht wie möglich an den Schuttberg zu lehnen. Sie lauschte aufmerksam, während die anderen in der Reihe mit ihren Rufen begannen.

„Hier ist das Rettungsteam. Können Sie uns hören?“

Die Stille wurde vom Geräusch eines Presslufthammers unterbrochen, gefolgt von Schreien, die den Lärm unterbinden sollten. Bryan musste seinen Ruf wiederholen und dann noch einmal auf eine mögliche Antwort warten.

„Nichts gehört“, berichtete er.

June war die Nächste. „Hier ist das Rettungsteam. Können Sie mich hören?“

Erneute Stille. „Nichts gehört.“

Bei Jessica war es dasselbe, und danach bewegte sich das Team wieder weiter vorwärts. Joe rutschte ab, als er weiter nach oben wollte, und ein Metallstück fiel herab.

„Alles okay bei dir?“

„Ja.“ Joe hatte rasch das Gleichgewicht wiedergefunden. „Und bei dir?“

Jessica nickte. Die Rufkette hatte erneut begonnen.

„Hier ist das Rettungsteam. Können Sie mich hören?“

Als Jessica weiter emporkletterte, verfing sich ihr Handschuh in einem Stück Stoff.

„O Gott!“ murmelte sie.

Joe wandte sich ihr zu. „Zieh dran!“ riet er.

Jessica zog, und der leere Ärmel eines Kleidungsstückes erschien in einer Staubwolke.

Joe nickte. „Hier drin befindet sich der Teil eines Bekleidungsgeschäftes. Da sind überall Stofffetzen.“

Bei der nächsten Vorwärtsbewegung überquerten sie die Spitze des relativ kleinen Schuttberges. Sobald sie ihre Rufkette erfolglos beendet hatten, meldete Tony dies über sein Funkgerät, woraufhin die schweren Maschinen ihre Arbeit wieder aufnahmen. Die folgende Mannschaft würde nun den Schutt eimerweise beiseite räumen, bis man absolut sicher sein konnte, dass keine Opfer darunter verschüttet lagen. Danach würde vermutlich ein Bagger kommen, um den nächsten Bereich freizumachen.

Das Team musste warten, während Tony sich mit den Ingenieuren und Sicherheitsbeamten besprach, die den Bereich hinter dem Schuttberg erkundet hatten. Sie hatten nach Anzeichen für mögliche weitere Risse in der Decke gesucht und die Luft auf ihren Gasgehalt untersucht. Beides hätte es zu gefährlich für das USAR-Team gemacht, weiter vorzudringen.

Jessica blickte sich um, wobei sie ihre Kopflampe benutzte, um selbst eine Einschätzung der Einsturzmuster in der näheren Umgebung vorzunehmen. Die Innenwände eines Geschäftes waren umgefallen, doch die Decke hielt noch. Man konnte die Risse in dem Beton sehen, auf dem sicherlich das Gewicht eines Geschäftes im zweiten Stockwerk lastete. Von unten gab es nicht mehr viel Halt.

Deshalb wurden Holzbalken aufgerichtet, um die Decke abzustützen. Jessica schaute zu und bemühte sich, ihre Gedanken nicht abschweifen zu lassen. Doch das war schwierig. Sie war völlig erschöpft und ertappte sich bei dem Wunsch, dass ihre Schicht hoffentlich bald zu Ende sei. Es war nicht leicht abzuschätzen, wie lange sie bereits hier drinnen waren – vielleicht drei Stunden?

Sobald die Bauarbeiter den Gebäuderahmen abgesichert hatten, wurden große Stücke an Schutt aus dem Raum entfernt, bei dem es sich offenbar um einen Laden mit Partyzubehör handelte. Alle erschraken ein wenig, als plötzlich mehrere bunte Heliumballons aufstiegen. Aber die Ballons waren schnell vergessen, als sie ein Loch fanden.

„Hier ist das Rettungsteam. Können Sie mich hören?“ Tony steckte den Kopf durch die Öffnung.

Das Schweigen schien länger zu dauern als die üblichen fünfzehn bis zwanzig Sekunden. Jessica sah, wie Tony seine Position veränderte und den Arm in die Öffnung streckte. Sein Kopf und seine Schultern verschwanden. Die Spannung stieg, und Jessicas Erschöpfung war auf einmal wie weggeblasen. Hatte Tony jemanden gefunden? Einen Erwachsenen … oder ein Kind?

Tony kam wieder aus dem Loch zum Vorschein. Er winkte die Soldaten herbei, die nicht weit entfernt standen. Auch das Team von USAR 3 trat näher heran.

„Da drin ist jemand, und ich glaube, die Person lebt. Ich kann nur den Kopf und einen Arm erreichen. Wir müssen das Zeug wegräumen, damit unsere beiden Sanitäter einen Zugang bekommen.“

Alle arbeiteten schnell, motiviert davon, dass sie möglicherweise einen Überlebenden gefunden hatten. Drahtkörbe wurden mit kleinen Steinen und Schutt gefüllt und über die von der Armee gebildete Menschenkette hinausbefördert. Das Team vom Zivilschutz übernahm die größeren Trümmer, die ohne maschinelle Hilfe beseitigt werden konnten. Die Betonplatte, die das Dach über der Öffnung bildete, wurde mit hydraulischem Gerät in Stücke geschnitten. Nicht alles konnte entfernt werden, ohne das Opfer darunter zu gefährden, aber sie versuchten, genügend Raum für die Bergung zu schaffen. Der Krach war ohrenbetäubend, und der Platz wurde ständig knapper, weil immer mehr Einsatzkräfte sowie weitere Ausrüstung eintrafen.

Jessica und Joe standen neben einem Bergungskorb, der mit medizinischer Ausrüstung beladen war. Der stabile Korb mit der Plastikliege fasste eine Menge Material, wofür die beiden dankbar waren, sobald sie nahe genug an ihren Patienten herankamen. Um diese Aufgabe erfolgreich zu bewältigen, mussten sie all ihre Fähigkeiten und alles medizinische Gerät einsetzen, das ihnen zur Verfügung stand.

Das Opfer war ein Mann Anfang vierzig, der in tiefer Bewusstlosigkeit lag.

„Halt seine Atemwege frei, Jessica, und gib ihm hoch konzentrierten Sauerstoff. Fünfzehn Liter mit der Maske!“

Der Schutt, unter dem die Beine des Patienten vergraben waren, wurde fortgeräumt, während die beiden Sanitäter mit ihrer Arbeit begannen. Joe überprüfte Brust und Unterleib, und Jessica schob dem Mann einen harten Tubus in den Mund, um seine Atemwege freizuhalten. Sie legte ihm eine Sauerstoffmaske an und befestigte sie an einem tragbaren Sauerstoffzylinder, ehe sie das Ventil öffnete.

„June, könntest du mir bitte eine Halsmanschette aus dem Korb holen?“

„Und auch die Rolle mit den IV-Utensilien“, ergänzte Joe. Er schaute zu Jessica auf. „Keinerlei schweres Trauma hier zu erkennen. Er ist erstaunlich gut geschützt gewesen. Aber er ist noch immer platt wie ein Pfannkuchen. Der Puls ist kaum zu tasten. Wie siehts mit der Karotis aus?“

„Schnell und schwach.“ Jessica nahm die Halsmanschette von June entgegen.

„Ich lege hier einen IV-Zugang. Kannst du einen auf der anderen Seite machen?“

„Natürlich.“ Jessica befestigte die Halsmanschette mittels Klettverschlüssen, ehe sie nach den IV-Utensilien griff – Schlauchbinde, Alkoholtupfer, Kanüle und Verbindungsstecker.

Die Klarheit, mit der ihr Verstand unter diesen Bedingungen funktionierte, war erstaunlich. Die Art und Weise, wie sie auf eine kritische Situation reagierte, war immer dieselbe, ob es sich dabei um einen Herzstillstand bei einem ihrer Patienten zu Hause handelte, um einen Verkehrsunfall oder wie hier in einem winzigen Loch innerhalb eines eingestürzten Einkaufszentrums. Es war, als ob während eines Notfalls eine andere Person an ihre Stelle trete.

Die Venen des Mannes waren vollkommen flach, weil er sich in einem Schockzustand befand. Selbst die normalerweise leicht zu treffende Vene im Ellenbogen musste sie blind finden, und erleichtert sah Jessica das Aufleuchten in der Kanülenkammer, die anzeigte, dass der Einstich erfolgreich verlaufen war. Sie nahm einen Beutel mit Salzlösung und wollte mit der Infusion beginnen, doch Joe schüttelte den Kopf.

„Warte noch! Wir legen ihn zuerst in den Korb, damit wir schneller arbeiten können.“

Mit Mühe gelang es ihnen, dem Patienten ein Brett unter den Rücken zu schieben. Dann zogen sie ihn mit Hilfe des gesamten Teams aus dem Loch.

„Stopp!“ rief Joe. „Sein Fuß ist eingeklemmt.“

Er versuchte, das Hindernis zu beseitigen, und beugte sich vor, um besser mit seiner Kopflampe zu sehen. Dann fluchte er vernehmlich.

„Der Fuß steckt fest“, erklärte er grimmig. „Er ist von der Kante der Betonplatte zerquetscht. Am Knöchel ist er halb abgetrennt, und der Mann blutet jetzt wieder wie verrückt.“

Sofort riss Jessica ein großes Verbandspäckchen auf und kroch näher. Sie drückte den Verbandsstoff auf die Wunde und presste sie fest zu. „Daher kommt also der starke Blutverlust. Anscheinend hat die Blutung irgendwann von selbst aufgehört, sonst wäre der Mann schon tot.“

„Bei dem Versuch, ihn rauszuziehen, haben wir die Wunde wieder geöffnet.“ Joe stocherte in den Trümmerstücken herum, unter denen der Fuß eingeklemmt war. Dann winkte er Tony herbei. „Das Zeug kriegen wir keinesfalls mit bloßen Händen weg. Wir brauchen den Betonschneider. Wer weiß, was noch alles oben auf dieser Platte drauf ist. Ich will nicht, dass irgendwas davon auf unseren Patienten fällt. Sein Zustand ist so schon schlimm genug.“

Tonys Miene war ebenso grimmig wie die von Joe. „Das wird weder leicht noch schnell gehen.“

„Es muss aber schnell gehen. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit, wenn wir ihn nicht bald irgendwohin bringen, wo es bessere Wiederbelebungsmaßnahmen gibt.“

Jessica überwachte die Atmung des Patienten, und was sie da sah, gefiel ihr ganz und gar nicht. „Seine Atmung wird schwächer.“ Sie griff nach einer Beutelmaske und befestigte den Atmungsschlauch daran. Dann legte sie dem Mann die Maske an und unterstützte seine Atmung, indem sie in regelmäßigen Abständen den Beutel drückte, der mit der Maske verbunden war.

In der Nähe ertönten laute Schreie. Drei scharfe Pfeiftöne durchdrangen die staubige Luft. Aus irgendeinem Grund wurde das Signal zum Rückzug gegeben, und plötzlich stieg die allgemeine Anspannung bis ins Unerträgliche. Die Drahtkorb-Brigade löste sich auf. Der Betonschneider wurde abgesetzt, und alle Einsatzkräfte zogen sich rasch zurück. Der Einsatzleiter der Zivilschutzeinheit eilte herbei.

„Es bilden sich neue Risse. Dieser Sektor ist instabil. Ihr müsst hier raus, und zwar sofort!“

Joe nickte nur und griff nach der Metallschere an seinem Gürtel. Jessica blieb der Mund offen stehen, als sie sah, was er vorhatte.

„Er hätte den Fuß sowieso verloren“, meinte Joe knapp. „Auf diese Weise bleibt er vielleicht wenigstens am Leben.“

Der Geräuschpegel um sie herum sank drastisch, da alles Gerät zurückgelassen wurde und die Rettungskräfte sich so schnell wie möglich in Sicherheit brachten. In den wenigen Sekunden der Stille, in denen Joe den rechten Fuß des Patienten amputierte, vernahm Jessica einen neuen Laut – ein Furcht einflößendes, unmenschliches Ächzen. Es war nicht laut, reichte jedoch, dass ihr die Haare zu Berge standen und ihr der kalte Schweiß ausbrach. Irgendetwas, etwas Riesiges bewegte sich. Nur ein bisschen, aber wie lange brauchte es, bis dieses Etwas seinen Halt endgültig verlöre? Wie viele Minuten oder gar Sekunden hatten sie noch Zeit, ehe dieser kritische Punkt erreicht war und der Raum, in dem sie sich befanden, von solch gewaltigen Kräften verschluckt wurde, dass sie nicht die geringste Chance hatten, jemals zu entkommen?

Hastig legte Joe einen Druckverband um das Bein des Mannes an. „Los, raus hier!“ brüllte er dann.

Andere packten das Brett und legten den Verletzten vorsichtig in den Bergungskorb. Zum Festbinden war keine Zeit mehr. Die medizinische Ausrüstung ließen sie zurück. Die Männer, die den Korb trugen, schlugen einen raschen Gang an. Als sie den Eingang zu dem Restaurant erreichten, hörte man erneut das ächzende Geräusch. Dieses Mal war es lauter und endete in einem Knall wie Gewehrfeuer. Tony stieß einen Fluch aus. Das Hamburger-Restaurant war nicht mehr da. Ein Teil des Fußbodens war in den Raum darunter gestürzt, so dass nur noch ein riesiges bedrohliches Loch zu sehen war. Die Rettungskräfte, die vor ihnen waren, hatten bereits einen Pfad gesucht, um dieses neue Risiko zu umgehen. Manche hatten es schon bis zum Tageslicht geschafft, das den dichten Staub durchdrang und Sicherheit bedeutete. Plötzlich hielt jemand neben den beiden, die den Verletzten trugen, inne und schrie etwas.

Die Träger setzten ihren Weg unbeirrt fort. Jessica konnte nun über den Rand des Bodenloches schauen. Ein Stahlträger ging quer durch die Mitte des Loches. An dem einen Ende hing er noch oben fest, doch das andere Ende lag auf der zerschmetterten Kühlerhaube eines Wagens. Und auch die Betonplatte, die das Loch umgab, löste sich aus den sie verstärkenden Eisenstangen. Doch trotz des herabfallenden Trümmerregens und der aufgewirbelten Staubwolke hatte sich ein kleines Sichtfenster in die Tiefgarage hinunter geöffnet.

Wieder hörte man den lauten Ruf. „Da unten ist jemand, und er bewegt sich!“

Alle blieben wie erstarrt stehen.

Der Ruf hatte eine ähnliche Wirkung auf die Gestalt unten in der Tiefgarage. Die Bewegung hörte auf, und dann spähte ein kleines Gesicht hinauf, dorthin, wo der Laut herkam. Ein kleines Gesichtchen mit einem Schopf widerspenstiger schwarzer Haare.

„Ricky…y…y!“

Ich kann da runterkommen, dachte Jessica verzweifelt. Ich kann an dem Stahlträger hinunterrutschen, und dann wäre ich unten. Dann kann ich die Arme ausstrecken und Ricky auffangen, wenn er auf mich zugelaufen kommt. Und ich werde ihn nie wieder loslassen.

Sie musste nur einen Fuß über den bröckelnden Rand setzen, sich an dem Stahlträger festhalten und daran entlangrutschen. Mehr als ein oder zwei Schritte wären nicht nötig, und Jessica hatte tatsächlich bereits ihren Fuß über dem Loch, als sie merkte, dass jemand sie zurückhielt. Wie eine wütende Löwin fuhr sie herum.

„Lass mich los, Joe!“

„Auf gar keinen Fall.“ Joe verstärkte seinen Griff um ihren Arm noch und zerrte sie von dem Loch zurück. „Was zum Teufel tust du da?“

„Ricky ist da unten.“ Jessica starrte Joe durch die schmutzverschmierte Sichtbrille an, völlig fassungslos, dass er nicht begriff, was sie tun wollte. „Ich hole ihn da raus.“

„Das wirst du nicht.“ Tony hielt nun ihren anderen Arm fest. Die beiden Männer zogen die widerstrebende Jessica energisch von dem Loch fort.

„Das ist meine Sache. Ihr könnt mich nicht davon abhalten!“

„Beruhige dich, Jessica!“ sagte Tony warnend.

Sein Blick zu Joe sprach Bände. Genau das hatten sie befürchtet. Jessica gefährdete sich und andere Mitglieder des Teams. Das unheimliche Rumpeln hörte nicht auf, und hier zählten die Sekunden. Noch während die beiden Männer einen Blick wechselten, bildete sich an der Wand vor ihnen ein neuer Riss.

„Wir werden einen anderen Weg in die Tiefgarage finden, Jessica.“ Joe zog sie noch immer hinter sich her. „Hier ist es zu gefährlich, für uns alle.“

Die durchdringende Evakuierungssirene ertönte jetzt auch von anderen Sektoren des Einkaufszentrums. Die beiden Männer schleppten Jessica weiterhin mit, um sie in Sicherheit zu bringen. Die übrigen Teammitglieder waren ihnen schon weit voraus. Sobald sie den Seiteneingang hinter sich gelassen hatten, suchten sie draußen Schutz.

„Neeeiiiin!“ schluchzte Jessica voller Verzweiflung.

Da sie sich noch immer mit Händen und Füßen sträubte, mussten die Männer stehen bleiben, gerade als sie das Tageslicht erreicht hatten. Joe schaute zurück und betrachtete die sich senkende Decke. Er blickte auf das Netz der zahllosen neuen Risse im Mauerwerk und lauschte auf das Ächzen und Stöhnen, das einen weiteren Einsturz ankündigte. Vielleicht würde dieser gesamte Bereich innerhalb der nächsten Sekunden in sich zusammenbrechen.

Vielleicht aber auch nicht.

Vielleicht war ja doch noch Zeit für einen starken, durchtrainierten Mann, um zurückzulaufen und das Leben eines kleinen, verängstigten Kindes zu retten.

Dann sah Joe Jessica an, und er hatte keine andere Wahl.

„Bring sie hier raus, Tony!“ befahl er. „Ich gehe noch mal zurück.“

„Sei kein Dummkopf, Joe! Das ist viel zu gefährlich.“

Aber Joe lief bereits wieder in das Gebäude hinein. Jessica sah, wie er kurz innehielt, um das Loch abzuschätzen, das in die Tiefgarage führte, und ihr schlug das Herz bis zum Hals. Joe ließ sich gerade vorsichtig über den Rand hinunter, als ein krachendes Geräusch die Luft zerriss. Es war jetzt mehr als nur ein Riss in der Wand. Noch während Tony sie ins Freie zerrte, konnte Jessica sehen, dass die gesamte Decke oberhalb des Loches, in dem Joe in dieser Sekunde verschwand, herabstürzte. Kleine Betonteile fielen inmitten von Staub herunter, gefolgt von größeren Stücken. Das Geräusch wurde zu ohrenbetäubendem Lärm, und das Letzte, was Jessica mitbekam, war die völlige Zerstörung des Bereichs, den sie eben erst durchquert hatten.

Dort, wo sich das Loch befunden hatte, war nur noch ein Haufen Trümmer. Eine dicke Staubwolke drang hinter ihnen aus dem Gebäude, selbst als sie den Fußweg draußen erreicht hatten. Entsetzte Rettungskräfte beobachteten sie bei ihrer Flucht. Sobald Tony und Jessica an die Sicherheitsschranke kamen, brach das USAR 3-Team in lauten Jubel aus, doch aller Augen hingen wie gebannt an dem Eingang des Gebäudes, denn sie warteten auf das letzte Mitglied des Teams, auf Joe.

Aber es bestand nicht die geringste Chance, dass noch irgendjemand lebend durch diese Tür käme.

Überhaupt keine Chance.

2. KAPITEL

Es war der reinste Wahnsinn.

Was in aller Welt hat mich dazu bewogen, wieder an einen so gefährlichen Ort zurückzugehen? Schon vor dem USAR-Kurs hatte sich Joe die wichtigsten Sicherheitsregeln durch seine Arbeit als Rettungssanitäter längst tief eingeprägt. Die persönliche Sicherheit stand immer an erster Stelle. Wie konnte man denn sonst irgendjemandem nützen, wenn man selbst verletzt oder gar getötet wurde? Aber zur Umkehr war es bereits in dem Augenblick zu spät gewesen, als er seinen impulsiven Entschluss gefasst hatte.

Als er in das Loch im Boden geschaut hatte, war sich Joe des unmittelbar bevorstehenden Einsturzes um ihn herum bewusst gewesen. An dem Stahlträger herunterzurutschen und dann in die Tiefgarage hineinzuspringen war seine einzige Möglichkeit gewesen. Und nun rannte er um sein Leben durch fallende Betontrümmer, von denen einige groß genug waren, dass sie seinen Schutzhelm ohne weiteres hätten zerschmettern können.

Etwas Großes, Schweres krachte lärmend auf das Dach eines Wagens neben ihm. Joe hechtete nach links, rollte sich über die Kühlerhaube eines anderen Fahrzeugs und landete im Hocksitz zwischen einem Lieferwagen und einem Geländewagen mit Dachgepäckträger. Die Höhe des Lieferwagens war Joes Rettung. Sonst wäre er von dem Ende einer Längsstrebe aus Stahl getroffen worden, die gerade von der Decke fiel. Der Lieferwagen war zerstört, und falls Joe sich nicht flach auf den Boden geworfen hätte, wäre er von der Stahlstrebe erwischt worden. Joe merkte, dass sein Stiefel eingeklemmt war. Er drehte sich seitwärts und hielt schützend die Arme über den Kopf, während er versuchte, den Stiefel zu befreien. Das, was da oben vor sich ging, war noch nicht zu Ende. Joe hörte das grauenvolle Getöse einer Lawine der Zerstörung, das immer lauter wurde.

Das wars also. Das ist das Ende meines Lebens, schoss es ihm durch den Kopf. Wieso habe ich mir bloß einen derartig gefährlichen Beruf ausgesucht? Mit fünfunddreißig ist man doch noch viel zu jung zum Sterben. Doch statt dass sein Leben blitzschnell an seinem inneren Auge vorbeizog, tauchte lediglich Jessica McPhail vor ihm auf. Und Joe erinnerte sich wieder daran, weshalb er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Niemand hatte ihn jemals so geliebt. Seine Mutter hätte niemals seinetwegen irgendetwas riskiert. Joe konnte sich nicht einmal vorstellen, wie es sein könnte, so geliebt zu werden. Und das würde er auch nie erfahren. Frauen blieben nicht lange bei ihm, sobald sie erfuhren, dass er weder an einer Ehe noch an Kindern interessiert war.

Der Lärm hatte aufgehört. Die dichte Staubwolke verhinderte jegliche Sicht, doch die Stille dauerte an. Keine unheimlichen Ächzgeräusche mehr, die vermuten ließen, dass das gesamte Gebäude auf die Tiefgarage herabstürzen würde. Offensichtlich hatte es sich um einen sekundären Einsturz eines kleinen Teils des Einkaufszentrums gehandelt, der nun vorüber zu sein schien. Und Joe war noch am Leben – eingeklemmt, aber am Leben.

Er konnte seinen Fuß in dem schweren Stiefel bewegen. Wenn ich den Reißverschluss aufkriege, kann ich meinen Fuß vielleicht befreien, dachte er bei sich. Mit seinen ein Meter neunzig und der kräftigen Statur eignete sich Joe allerdings nicht für akrobatische Verrenkungen dieser Art. Schwer atmend gelang es ihm dennoch schließlich, den Reißverschluss zu erreichen. Er zog ihn hinunter und öffnete den dicken Lederstiefel, so weit es irgend ging. Die Stahlkappe war zerquetscht, aber aus irgendeinem wundersamen Grund hatten seine Zehen nichts abbekommen. Doch selbst bei geöffnetem Reißverschluss war es keine leichte Aufgabe, den Fuß zu befreien. Als Joe es endlich schaffte, ihn herauszuziehen, fehlte ihm zwar auch seine Socke, aber es war ein tolles Gefühl, die Zehen zu bewegen. Er war frei.

Joe schob sich rückwärts, bis er genügend Raum hatte, sich auf die Knie zu setzen. Um ihn herum war es pechschwarz, der Staub war erstickend, und die einzigen Geräusche, die man hörte, waren gedämpft und zu weit entfernt, als dass sie eine Bedrohung darstellten. Joe hielt inne und dachte nach. Er hatte den Einsturz überlebt, war jedoch von jeder Hilfe abgeschnitten. Hoffnungsvoll tastete er nach dem Funkgerät, doch es hing nicht mehr an seinem Gürtel.

Und auch wenn er es noch gehabt hätte, wäre er nicht in der Lage gewesen zu sagen, wo er sich befand. Die Tiefgarage nahm fast das gesamte Untergeschoss des Einkaufszentrums ein. Er wusste, dass einer der Fußgängertunnel verschüttet war, denn dort hatte man Jessicas Mutter tot geborgen. Da fiel Joe auch wieder der Grund dafür ein, dass er sich dieser gefährlichen Situation ausgesetzt hatte. Er zog sich an der Stoßstange des Geländewagens empor, bis er stand.

„Ricky!“ Seine Stimme klang seltsam, ein isolierter Laut in einer düsteren, fremden Umgebung. „Ricky! Hörst du mich? Wo bist du?“

Lastende Stille umgab ihn. Der riesige Raum war von Staub erfüllt, und sonst nichts. Irgendwelche Aktivitäten der Rettungskräfte wären sicherlich zu hören gewesen, doch das Gebäude war vermutlich weiträumig evakuiert worden. Wie lange würde es wohl dauern, bis wieder jemand nahe genug herankäme, dass Joe sich bemerkbar machen könnte?

„Ricky!“ Dieses Mal wirkte Joes Ruf ein wenig halbherzig.

Selbst ein normales Kind hätte wahrscheinlich zu viel Angst, um sich auf den Ruf eines Unbekannten zu melden, und Jessicas Sohn war kein normales Kind. Es wäre hilfreich, wenn ich genauer wüsste, was für ein Problem er hat, dachte Joe. Vielleicht hätte ich nicht so sehr darauf achten sollen, jedes persönliche Gespräch mit Jessica im Kurs zu vermeiden.

Außerdem wäre es auch hilfreich, wenn ich etwas sehen könnte. Er konnte kaum die Umrisse des Fahrzeugs erkennen, an dem er sich noch immer abstützte. Seine Kopflampe hatte in dem Moment ihren Geist aufgegeben, als er Deckung gesucht hatte. Oder habe ich sie womöglich auch verloren? fragte sich Joe. Er zog den rechten Lederhandschuh aus und fasste an seinen Helm. Doch, die Lampe war noch da, aber der Schalter funktionierte nicht. Also zog Joe auch den anderen Handschuh aus, legte beide über den Dachgepäckträger neben sich und nahm den Helm ab. Kein Wunder, dass die Lampe nicht funktionierte. Die gesamte Konstruktion hatte sich gelockert.

Halb sehend, halb tastend schraubte Joe alles wieder fest. Mit angehaltenem Atem betätigte er dann den Schalter und atmete erleichtert auf, als der Lichtstrahl einen Kreis auf dem Boden erhellte.

Joe setzte den Helm wieder auf. Jetzt fühlte er sich schon wesentlich zuversichtlicher. Er konnte losgehen und versuchen, einen Ausweg zu finden. Vielleicht würde es ihm sogar gelingen, das Kind zu finden, damit dieser schlecht beratene Alleingang sich zumindest gelohnt hatte.

„Ricky!“ Joe wandte den Kopf hin und her, um mit dem Lichtstrahl einen Halbkreis zu beschreiben. „Wo bist du, Kumpel? Lass uns zusammen einen Weg hier raus finden, okay?“

Dass außer ihm noch jemand anderes hier unten eingeschlossen war, war irgendwie tröstlich. Und der Klang seiner eigenen Stimme war immer noch besser als die unheimliche, stickige Stille. Deshalb rief Joe immer wieder, während er sich an einer Autoreihe entlang voranbewegte. Irgendwann würde er so auf eine Wand stoßen, und wenn er dieser folgte, würde er sicher einen Ausgang finden. Es musste Ausgänge geben, die nicht verschüttet waren, sonst wären eine Menge Leute hier unten eingeschlossen. Leider flackerte Joes Kopflampe so häufig, dass es ihm Sorgen bereitete.

„Hey, Ricky!“ Allmählich gewöhnte sich Joe daran, mit seinem stummen, unsichtbaren Leidensgenossen zu reden. „Ich nähere mich jetzt hier einer Wand. Ich wette, wenn ich in diese Richtung weitergehe, finde ich die Rampe, wo die Autos rausfahren, und dann kommen wir hier auch raus. Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, Kumpel, aber ich habe einen Bärenhunger!“

Das Kind musste mittlerweile hungrig sein, und vor allem sehr durstig. Das Unglück hatte vor über zwölf Stunden stattgefunden. Der Gedanke, dass Ricky sich schon so lange hier in der Tiefgarage aufhielt und trotzdem noch keinen Ausgang gefunden hatte, war beunruhigend. Joe blieb stehen und versuchte, mit seiner Kopflampe die Dunkelheit weiter vorne zu durchdringen, um einen möglichen Ausgang ausfindig zu machen. Sobald er in seinen Bewegungen nachließ, breitete sich erneut tiefe Stille aus. Und da hörte Joe es.

Jemand hatte gehustet.

Ein kleiner Jemand. Und das Husten war nicht weit entfernt.

„Ricky!“ Joe grinste breit unter seiner Staubmaske. „Wo bist du, mein Freund? Ich kann dich nicht sehen. Ist mit dir alles in Ordnung?“

Keine Antwort. Joe seufzte. Er musste das Kind finden, und wenn der Kleine es darauf anlegte, nicht gefunden zu werden, könnte das schwierig werden. Das neuerliche Husten, das Joe hörte, wurde abgeschnitten durch das Geräusch von etwas Herabfallendem – möglicherweise ein Betonstück. Es war zwar weit genug entfernt, um keine Gefahr darzustellen, aber doch so nahe, dass es Joe an die Lage erinnerte, in der er und der Junge sich befanden. Ricky hatte noch nicht einmal den Schutz eines Helms. Ich muss ihn finden, sagte Joe sich, und zwar schnell.

„Deine Mum hat mich geschickt, um dich zu suchen, Ricky. Was hältst du davon, wenn wir beide zusehen, dass wir hier rauskommen und ich dich zu deiner Mum zurückbringe?“

Noch immer keine Reaktion. Verflixt, vielleicht kann der Kleine nicht mal sprechen. Oder er versteht nicht, was ich sage, dachte Joe. Nach dem Husten zu urteilen, musste der Junge ganz in der Nähe sein. Aber es gab viele Möglichkeiten, wo er sich verstecken konnte. Hier waren jede Menge Fahrzeuge, hinter denen man Zuflucht suchen konnte. Oder darunter, schoss es Joe in einer plötzlichen Eingebung durch den Kopf, und er ließ sich in die Hocke herunter.

Bingo!

Unter der Achse eines Möbelwagens schaute ein kleines Gesicht hervor. Mit weit aufgerissenen braunen Augen starrte das Kind Joe an. Es war versteinert vor Angst.

„Es ist alles in Ordnung, Ricky. Ich bin Joe. Ich bin ein Freund deiner Mum.“

Doch seine beruhigenden Worte schienen keinerlei Wirkung zu haben. Unwillkürlich versetzte sich Joe in die Lage des Jungen. Allein, verängstigt und womöglich verletzt, sah er sich einem Fremden in merkwürdiger Kleidung gegenüber, dessen Gesicht von einer Schutzbrille und einer Staubmaske verdeckt war.

Also zog Joe die Maske herunter. „Vor mir brauchst du keine Angst zu haben“, sagte er ruhig. „Siehst du?“

Die großen braunen Augen starrten ihn weiterhin aus dem regungslosen kleinen Gesicht an.

„Wir müssen hier raus, Ricky“, fuhr Joe fort. „Hast du das da gehört?“ Wieder war irgendwo ein Schauer an Trümmern über der Tiefgarage niedergegangen. „Es ist gefährlich, wenn ständig irgendwelches Zeug von der Decke fällt, und ich bin zu groß, um mich unter dem Laster zu verstecken. Ist aber ein gutes Versteck. Du bist ziemlich schlau, stimmts?“

Er versuchte einzuschätzen, ob eine Chance bestand, den Jungen zu fassen zu bekommen und hervorzuziehen. Langsam kroch Joe näher heran. Er wollte den Kleinen nicht noch mehr verängstigen. Beinah wäre der Versuch fehlgeschlagen. Wenn es Joe nicht gelungen wäre, seine Hand unter Rickys Achsel einzuhaken, hätte der Junge sich noch weiter unter den Lastwagen geflüchtet.

„Tut mir Leid, Kleiner.“ Joe zog ihn heraus. „Aber ich muss dich hier rausbringen.“

Merkwürdigerweise sträubte sich Ricky nicht, sobald er merkte, dass es vorbei war. Er schrie oder weinte auch nicht. Joe hielt ein recht kleines und lebloses Kind im Arm. Vielleicht war der Junge verletzt, aber es war keine Zeit, seinen Zustand zu beurteilen. Joe vernahm ein Geräusch, das sich verdächtig nach dem Ächzen einer instabilen Gebäudestruktur anhörte.

Vielleicht war es das Beste, erst einmal Schutz zu suchen, oder zumindest einen sicheren Zufluchtsort, wo Ricky bleiben konnte, während Joe auf die Suche ging. Das Auto neben ihnen war verschlossen, genauso wie das dahinter. Joes Kopflampe streifte den Möbelwagen, unter dem Ricky sich versteckt hatte und der vermutlich zu einem der Läden oben gehörte. Den Jungen auf dem Arm, bewegte sich Joe rasch, als das ächzende Geräusch erneut ertönte.

Ja! Die Ladefläche des Lastwagens war offen. Joe machte die Tür auf und setzte Ricky hinein. Als er danach selbst hineinkletterte, rutschte Ricky eilig seitwärts wie eine Krabbe bis in die entfernteste Ecke des Laderaums. Dort zog er die Knie an und begann, hin und her zu schaukeln, wobei er Joe nicht aus den Augen ließ.

Der Möbelwagen war groß und machte einen angenehm soliden Eindruck. Vermutlich würde er keinen absoluten Schutz bieten, und die Luftblase würde vielleicht nicht lange vorhalten, falls die Decke einstürzte und sie unter sich begrub. Aber es war verdammt viel besser, als draußen so ungeschützt zu sein wie zuvor. Und Ricky war in Sicherheit. Selbst wenn Joe fortginge, um seine Suche nach einem Ausgang fortzusetzen, wäre der Kleine nicht imstande, die schweren inneren Türriegel zu betätigen. Im Augenblick waren sie sicher.

Mehrere Polizeibeamte achteten darauf, dass Jessica dort blieb, wo sie war. Und Jessica konnte es ihnen nicht verdenken. Ihretwegen hatte das Unglück womöglich noch ein weiteres Todesopfer gefordert.

Zahlreiche Rettungskräfte liefen über den Parkplatz, wo Jessica hinbeordert worden war, oder eilten zu ihren Einsatzzentralen oder zu dem kirchlichen Gemeindehaus, wo es Essen und Trinken sowie Wasch- und Ruhemöglichkeiten gab.

Da kam ihre Freundin Kelly auf Jessica zu und umarmte sie.

„Ich habe das von deiner Mutter gehört“, sagte Kelly. „Und auch das mit Ricky. Du liebe Güte, jemand hat gesagt, er hätte gesehen, wie du zur Tiefgarage gerannt bist und dass du jetzt eingeschlossen seist.“ Ihre Umarmung wurde noch fester. „Ich bin ja so froh, dass es nicht stimmt.“

„Doch, es stimmt.“ Jessica brach in Tränen aus. „Ricky ist da drin“, brachte sie schluchzend hervor. „In der Tiefgarage.“ Dann konnte sie nicht mehr weitersprechen.

Doch Tony stand in der Nähe. „Joe hat sie daran gehindert, wieder reinzugehen“, erklärte er an Kelly gewandt. „Er wusste, wie gefährlich das ist.“

„Stattdessen ist er selbst zurückgegangen.“ Jessica spürte nun auch Junes tröstende Hände an ihrem Rücken. „Ihn hat niemand zurückgehalten.“

„Und dann war es zu spät“, sagte Tony grimmig. „Die Decke ist genau hinter uns eingestürzt. Wir mussten um unser Leben rennen.“

Verzweifelt bemühte sich Jessica, ihre Fassung wiederzugewinnen. Sie schaffte es, ihr Schluchzen zu unterdrücken, zitterte jedoch am ganzen Leib. Kellys Umarmung vermittelte ihr Kraft, und damit kehrte auch ihre Fähigkeit zu klarem Denken zurück. Jessica löste sich aus Kellys Armen. Es wurde Zeit herauszufinden, ob die Dinge wirklich so hoffnungslos waren, wie es schien.

„Wir müssen wieder rein“, sagte sie zu ihren Kollegen. „Wir müssen sie finden.“

„Wir gehen rein, sobald dieser Teil als sicher genug erklärt wird“, antwortete Tony. „Aber du kommst nicht mit, Jessica. Diesmal musst du die Suche uns überlassen.“

Unglücklich schüttelte sie den Kopf. „Es ist meine Schuld, dass Joe in Schwierigkeiten ist. Ich muss etwas tun, um zu helfen.“

„Am besten hilfst du uns jetzt damit, wenn du dich um dich selbst kümmerst. Du musst eine Weile von hier weg. Kelly oder June können dich zum Gemeindehaus begleiten.“

„Nein, ich will hier bleiben.“ Jessica versuchte es ein letztes Mal. „Mein Sohn ist da drin, Tony. Er …“ Sie brach ab, weil die Tränen sie erneut zu überwältigen drohten. „Vielleicht lebt er noch“, meinte sie mit gebrochener Stimme.

„Du kannst in der Nähe bleiben“, sagte Tony zu ihr. „Aber du darfst nicht mit rein.“

„Aber …“ Jessica schluckte ihre Worte hinunter. Tony tat nur das, was er tun musste. An seiner Stelle hätte sie ganz genauso reagiert.

„Schon gut.“ Kellys Stimme klang beruhigend und zuversichtlich zugleich. „Du kannst dich auf uns verlassen.“

Jessica nickte. Kelly hatte Recht. Die meisten Teilnehmer an dem Kurs für Notfalleinsätze waren großartige Leute. Mit Kelly, die Sanitäterin war, und einer anderen Krankenschwester namens Wendy war Jessica mittlerweile eng befreundet, und auch June war wunderbar. Die beiden Ärzte Fletch und Ross und die Jungs von der Feuerwehr waren starke und umsichtige Männer. Keiner von ihnen würde sich oder andere aus Dummheit gefährden. Mit gesenktem Kopf ließ sich Jessica von Kelly zu dem Gemeindehaus in der Sutherland Street führen, wo sich das USAR-Team eine Pause gönnen wollte.

Kelly merkte, wie still ihre Freundin geworden war. „Joe hat Ricky bestimmt schon gefunden“, meinte sie aufmunternd. „Da bin ich mir ganz sicher. Und wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, dass er sich und Ricky retten kann, wird er es tun. Joe ist nicht umsonst Hubschraubersanitäter. Er hat schon einige schwierige Situationen durchgestanden, einmal sogar einen Helikopterabsturz.“

„Ich darf sie nicht beide verlieren. Nicht Mum und Ricky“, sagte Jessica niedergeschlagen. „Vor allem nicht Ricky. Er ist mein Leben.“

„Ich weiß.“ Kelly, die ihr den Arm um die Taille gelegt hatte, drückte sie an sich.

„Gibt es irgendjemanden, dem wir Bescheid sagen sollen, Jessica?“ erkundigte sich Fletch fürsorglich. „Irgendwelche Angehörige oder Freunde zu Hause?“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Die einzigen Menschen, die mir etwas bedeuten, sind hier. Mum … und Ricky.“

Und Joe. Auch wenn die Anziehung offenbar nicht auf Gegenseitigkeit beruhte, würde Jessica die Begegnung mit ihm nicht vergessen. Ja, Joe Barrington bedeutete ihr etwas, sogar ziemlich viel. Jetzt umso mehr, da sie ihre Mutter verloren hatte.

Die Betäubung, die der Tod ihrer Mutter ausgelöst hatte, ließ allmählich nach. Jessica war zu Mute, als würde sie gerade aus einem Albtraum aufwachen. Vielleicht kam dies daher, dass ihre Gruppe an dem großen Zelt vorbeiging, in dem die provisorische Leichenhalle untergebracht war. Jessica beschloss, ihrer Trauer nun endlich Raum zu geben.

„Ich möchte dort reingehen“, sagte sie leise. „Ich will Mum noch einmal sehen.“

„Bist du dir sicher?“ fragte Kelly zweifelnd.

Jessica nickte, wobei sie sich bemühte, die in ihr aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Sie räusperte sich. „Würdest du bitte mitkommen, Kelly?“

Der Anblick der Reihen zugedeckter Leichen in dem stark bewachten Zelt war furchtbar. Für die Beamten, die diesen schrecklichen Bereich beaufsichtigten, war es eine traurige Aufgabe, sich um verzweifelte Angehörige zu kümmern, die hereinkamen, um ihre Lieben zu identifizieren und zu betrauern.

Die bereits identifizierten und vom gerichtsmedizinischen Gutachter freigegebenen Leichen wurden fortgebracht. Hinter dem Zelt parkte diskret ein Leichenwagen. Jessica und Kelly bekamen durch Stellwände so viel Privatsphäre wie möglich, und irgendjemand hatte Jessicas Mutter wunderbar gesäubert und ihre Wunden so gut es ging abgedeckt.

Jessica wusste nicht, wie lange sie sich in dem Zelt aufhielt. Doch als sie es verließ, war sie sich sicher, dass sie das Richtige getan hatte. Sie hatte mit ihrem Trauerprozess begonnen, und ihr war jetzt klar, dass sie all dies hier überleben würde.

„Danke!“ sagte sie einfach, als sie und Kelly auf das Gemeindehaus zugingen. „Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.“

„Dafür sind Freunde ja da.“ Kelly lächelte. „Ich bin für dich da, genau wie Wendy, Ross, Fletch und June. Und Joe.“

Jessica nickte, und ihr gelang sogar ein schwaches Lächeln. In nächster Zeit würde sie all ihre Freunde brauchen. Aber ob Joe unter ihnen sein würde?

3. KAPITEL

Ricky war noch immer völlig verängstigt.

Der Kleine hatte sich in seine Ecke des Möbelwagens gekauert, der bis auf etwas Verpackungsmaterial leer war. Als Joe auf Ricky zukam, schrak das Kind zurück und wirkte dadurch noch viel kleiner als ein Fünfjähriger. Er sah ängstlich und äußerst verletzlich aus, was etwas in Joes Herzen anrührte. Wie alt war er selbst gewesen, als John damals vorübergehend in sein Leben getreten war – einer der weniger angenehmen zahlreichen „Onkel“? Vielleicht drei oder vier? Joe war ein unerwünschtes Anhängsel gewesen, und falls er sich nicht freiwillig rar gemacht hätte, wäre John immer schnell mit einer Ohrfeige oder dem Gürtel bei der Hand gewesen.

Joe seufzte. Als Sanitäter hatte er gelernt, dass er weniger einschüchternd wirkte, wenn er in die Hocke ging. Wenn es sein musste, konnte er sogar recht gut mit Kindern umgehen. Er setzte seinen Helm ab und legte ihn vorsichtig auf den Boden, um Rickys Ecke damit zu beleuchten. Dann nahm er auch seine Sichtbrille, die Staubmaske und die Handschuhe ab. „Siehst du“, versuchte er Ricky mit einem Lächeln zu vermitteln, „ich bin ganz normal.“ Außerdem sprach er dabei ständig in beruhigendem Tonfall weiter.

„Ich heiße Joe, und ich bin Rettungssanitäter. Das heißt, es ist mein Job, mich um Menschen zu kümmern, die krank sind. Oder die sich verletzt haben. Das ist doch cool, oder? Dieser Möbelwagen ist wie ein besonderer Raum, der uns vor all den Betonstücken schützt, die von der Decke fallen. – Sie werden bald kommen, um uns zu suchen. Du glaubst ja gar nicht, wie viele Leute da draußen sind, mit allem möglichen Gerät, das ihnen hilft. Da gibt es Maschinen, mit denen man Beton schneiden und schwere Sachen heben kann. Da ist sogar ein Bulldozer, und sie haben Kräne.“

Joes besänftigender Ton schien zu wirken. Der Kleine versuchte jedenfalls nicht zu flüchten, und sein Schaukeln half Joe dabei, seinen Zustand zu beurteilen. Ricky war blass. Wegen der schwarzen Haare und den großen braunen Augen erschien sein Gesicht weiß wie eine Wand. Er lehnte sich ein wenig zur Seite, vermutlich, um schmerzende Rippen zu schonen. Außerdem hielt er einen Ellbogen fest, was auf einen gebrochenen Arm hindeutete. Der Junge hustete zwar noch, aber seine Atmung wirkte normal. Joe musste mittlerweile selbst häufig husten, was an dem alles durchdringenden Betonstaub lag.

Rickys Knie waren stark aufgeschürft, und der kleine Körper war von zahllosen weiteren Prellungen und Wunden übersät. Doch der Arm machte Joe am meisten Sorgen.

„Du hast dir den Arm verletzt, Ricky. Das tut bestimmt weh, oder?“

Da der Kleine bisher auf keine seiner Fragen geantwortet hatte, wusste Joe nicht recht, wie er weiter vorgehen sollte. Normalerweise hatte er eher mit laut kreischenden oder schreienden Kindern zu tun.

„Kannst du denn überhaupt sprechen, Ricky?“ Wenn der Junge ihn nicht so aufmerksam beobachtet hätte, hätte Joe ihn für geistig behindert gehalten. Aber der Blick aus diesen Augen war eindeutig höchst intelligent. Es waren schokoladenbraune Augen wie die von Jessica. Vielleicht war der Kleine ja ebenso scheu wie seine Mutter. „Du musst nicht sprechen“, meinte Joe daher. „Aber es würde vielleicht helfen, wenn du nickst oder so. Kannst du nicken?“ Mit aufmunternder Miene machte Joe es ihm vor.

Die Kopfbewegung des Jungen war zögernd und kaum wahrnehmbar, aber sie war da. Joe hatte das Gefühl, einen großen Durchbruch erzielt zu haben.

„Sehr gut“, erklärte er. „Tut dein Arm weh?“

Dieses Mal war das Nicken ein klein wenig deutlicher.

„Kannst du deine Finger bewegen? So?“ Joe zeigte es ihm.

Er sah den schmerzlichen Ausdruck auf Rickys Miene, als dieser versuchte, die Bewegung nachzumachen. Doch ihm entschlüpfte kein Laut. Der Kleine schien ein tapferes Kerlchen zu sein.

„Ich werde jetzt ein kleines Bett für deinen kranken Arm machen, Ricky, damit er wieder gesund wird.“ Joe schaute in den Schatten, den der Lichtkreis seiner Kopflampe umgab. „Siehst du den Karton da drüben? Ich werde ein Stück davon als Unterlage abschneiden und dann noch einen Teil von der Decke da, um daraus ein Kissen zu machen. Ist das in Ordnung, Kumpel?“

Er nahm das Schweigen als Einverständnis und zog seine Metallschere sowie eine Kreppbandage aus seiner Notfalltasche. Hoffentlich waren weder die Blutzufuhr noch die Nerven in Rickys Hand beeinträchtigt. Es wäre sehr viel leichter gewesen, wenn Joe den Arm lediglich hätte bandagieren können, ohne ihn vorher richten zu müssen. Sein Eindruck, dass der kleine Ricky McPhail kein Feigling war, verstärkte sich im Laufe der folgenden zwanzig Minuten beträchtlich. Joe war so sanft wie nur irgend möglich, aber es tat mit Sicherheit höllisch weh. Mehr als einmal wünschte sich Joe, dass er nicht alle schmerzstillenden Mittel aus seinem Beutel für den Patienten mit dem zerquetschten Fuß verbraucht hätte.

Es war ein böser Armbruch, an dem sowohl Elle als auch Speiche beteiligt waren. Ein weiterer Grund, außer der reinen Schmerzlinderung, den Arm zu schienen. Bei einer falschen Bewegung könnten die scharfen Knochenenden die Haut durchbohren und somit ein erhöhtes Infektionsrisiko und eine längere Heilungsdauer nach sich ziehen.

Sobald Joe Rickys Unterarm an der Kartonunterlage fest bandagiert hatte, überprüfte er die kleinen Finger erneut. Der einzige Laut, den der Junge während der gesamten Prozedur geäußert hatte, war ein leises Wimmern gewesen, als Joe die Bandage um den Verbandsmull gewickelt hatte, mit dem er besonders die Stelle abpolstern wollte, an der die Knochenenden unter der Haut sichtbar waren.

„Spürst du es, wenn ich deine Finger anfasse, Ricky?“ Joe wartete auf das kurze Nicken. Der Junge war offenbar stumm, und Joe hatte sich mittlerweile an die einzige Form der Kommunikation gewöhnt, zu der das Kind anscheinend fähig war: ein intensives Starren sowie ein gelegentliches Nicken oder Kopfschütteln.

„Super“, erklärte Joe. Rickys Finger fühlten sich kühl an. Der Kapillardruck war gerade noch akzeptabel. Aber man musste ihn im Auge behalten.

„So … und was jetzt?“ Besorgt registrierte er das zunehmende Flackern seiner Kopflampe. Inwieweit konnte er Ricky noch weiter medizinisch versorgen, bevor sie beide von Dunkelheit umgeben waren?

Beunruhigt betrachtete er die Knie des Jungen. Eine Menge Dreck klebte zwischen den Hautfetzen und dem getrockneten Blut. Joe hatte noch ein Stück Verbandsmull in seiner Tasche und einen kleinen Beutel mit Salzlösung, um es zu befeuchten. Er teilte das Stück Stoff und träufelte die Flüssigkeit auf beide Hälften.

„Die sind für deine Knie. Es könnte ein bisschen wehtun, wenn ich sie drauftue“, warnte er Ricky, „aber damit können wir sie sauber halten, bis wir einen richtigen Verband bekommen.“

Es tat wirklich weh. Ricky sog scharf die Luft ein, und langsam liefen ihm die Tränen über die Wangen. Rasch klebte Joe den provisorischen Verband fest.

„Tut mir Leid, Kumpel“, sagte er. „Aber jetzt ist schon alles vorbei.“

Das Ganze hatte relativ lange gedauert, aber es war gut, etwas zu tun zu haben. Joe hatte das unerfreuliche Gefühl, dass sie noch lange in diesem Möbelwagen ausharren mussten, ehe jemand nach ihnen suchte.

„Komm, jetzt machen wir es uns gemütlich!“ schlug er vor. „Wir können diese Decken zusammenlegen und uns darauf setzen. Das ist schöner als auf dem blanken Fußboden.“

Das Licht an seinem Helm gab seinen Kampf gegen das Flackern just in dem Moment auf, als Joe die letzte Decke neben das Lager legte, das er geschaffen hatte, damit sie sich später damit zudecken konnten.

„Wow, jetzt ist es ganz schön dunkel, stimmt’s?“ Er hoffte, dass Ricky keine Angst vor der Dunkelheit hatte. „Ich kann dich nicht mehr sehen. Kannst du mich sehen?“

Durch das folgende Schweigen merkte Joe erst, wie sehr er sich darauf verlassen hatte, Rickys Kopfbewegungen zu beobachten, um mit ihm zu kommunizieren. Also schob er sich mit ausgestreckter Hand auf den Knien behutsam vorwärts, bis er einen kleinen Fuß berührte.

„Hey, da bist du ja! Komm her zu mir und setz dich auch mit auf das Bett, das ich für uns gemacht habe!“ Als keine Reaktion kam, ließ sich Joe davon nicht abschrecken. Er kroch noch etwas näher heran und nahm Ricky in die Arme, wobei er sorgsam darauf achtete, nicht an die improvisierte Schiene zu stoßen. „Ich helfe dir lieber“, meinte er. „Ich weiß nämlich, wo es ist.“

Während er sich auf dem Deckenlager zurechtrückte, mit dem Rücken an die Wand des Lastwagens gelehnt, hielt er das Kind weiterhin fest. Ricky machte keinerlei Anstalten, sich dagegen zu sträuben, und als Joe seinen Griff ein wenig lockerte, blieb der Junge sitzen. Joe wollte ihn nicht verscheuchen. Und obwohl es ungewohnt für ihn war, dass ein Kind auf seinem Schoß saß, empfand er es keineswegs als unangenehm. Es war sogar ganz schön, einen warmen kleinen Körper so dicht bei sich zu haben. Joe lächelte vor sich hin. Vielleicht brauche ich den Trost ja genauso wie Ricky.

„Alles in Ordnung, Kumpel? Ist dir warm genug?“ Er legte dem Jungen die Hand auf den Kopf, um das erwartete Nicken zu spüren.

Rickys dichter Haarschopf war schmutzig und fühlte sich rau an, aber es war irgendwie nett, darüber zu streichen. Es ist ein bisschen so, als würde man einen Welpen streicheln, dachte Joe. Tatsächlich wirkte Ricky eher wie ein kleiner Hund als ein durchschnittliches Kind. Der Vergleich gefiel Joe. Er mochte Hunde. Kinder mochte er nicht. Sie waren anspruchsvoll, laut und anstrengend. Und sie brachten eine Last der Verantwortung mit sich, die er nicht auf sich nehmen wollte. Seine Kindheit war so freudlos gewesen, dass er sich schon vor langer Zeit geschworen hatte, niemals dazu beizutragen, dass dies auch einem anderen Kind zustoßen könnte. Selbst eine Ehe war keine Garantie für das glückliche Leben eines Kindes. Joe hatte schon zu oft gesehen, wie Beziehungen auseinander gingen, und die Kinder kamen immer unweigerlich zur Mutter. Und dann bekamen sie Stiefväter … oder „Onkel“.

Ob Ricky auch Pseudo-Vaterfiguren in seinem Leben hatte? Diese Vorstellung missfiel Joe. Nicht, dass Jessica keine Anziehungskraft auf das männliche Geschlecht ausübte. Als er sie das erste Mal gesehen hatte, war er ziemlich überwältigt gewesen. Diese herrlichen, schulterlangen kastanienbraunen Locken, die schokoladenbraunen Augen und die feinen, intelligenten Gesichtszüge, gepaart mit schüchterner Bescheidenheit. Und dann waren da noch ihre schmalen Hüften, die durch eng anliegende Jeans betont wurden, und die schlichten Tops, unter denen sich ein üppiger Busen abzeichnete.

Ja, Jessica war zweifellos eine attraktive Frau. Normalerweise hätte sich Joe diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, wenn sie während der Vorstellungsrunde im Kurs nicht erzählt hätte, dass sie allein erziehende Mutter sei. Joes oberste Regel lautete, dass er niemals ein „Onkel“ werden würde oder Vater. Deshalb war auch seine Ehe damals in die Brüche gegangen. Lisa war so davon überzeugt gewesen, dass sie ihn umstimmen könnte, und mit der Zeit waren die Auseinandersetzungen immer unerfreulicher geworden. Nie wieder wollte sich Joe auf eine derartige Beziehung einlassen. Unter gar keinen Umständen!

Das Streicheln schien eine beruhigende Wirkung auf Ricky zu haben. Er schmiegte sich enger an Joe und legte den Kopf an seine Schulter. Wahrscheinlich ist der Kleine müde, dachte Joe. Gerne hätte auch er die Zeit mit Schlafen verbracht. Doch das könnte gefährlich werden. Deshalb versuchte er, sich abzulenken.

„Eigentlich müsste ich jetzt zu Hause sein“, erzählte er Ricky. „In meinem Haus. Ich wollte dieses Wochenende Wäsche waschen, Geschirr spülen und den Rasen mähen. Und danach wollte ich einen ganzen Tag in der Garage an meinem Auto arbeiten.“

Joe veränderte leicht seine Stellung, und Ricky drückte sich noch dichter an die Höhlung unterhalb seiner Schulter. Das Kind fühlte sich weich und entspannt an. Es war ein vertrauensvolles Gefühl, ganz anders, als wenn man einen verängstigten kleinen Patienten festhalten musste.

„Mein Auto ist das allerbeste“, fuhr Joe nach einer kurzen Pause fort. „Früher hatte ich mal einen frisierten Wagen, mit dem ich Rennen gefahren bin. Aber irgendwann hatte ich keine Lust mehr dazu und beschloss, mir ein ganz besonderes Auto zu kaufen. Eins, von dem ich schon mit sechzehn geträumt hatte.“ Die Erinnerung daran entlockte ihm ein Lächeln. „Ich habe mich so gefreut, als ich diesen Wagen gefunden habe – ein 1966er Ford Mustang Cabrio. Obwohl es ein Wrack war, war ich total begeistert. Ich habe meine Freizeit in den letzten zwei Jahren damit verbracht, den Wagen wieder zu restaurieren, und jetzt ist er fast fertig.“ Joe seufzte glücklich. „Ich habe mir sogar original Zehnspeichen-Felgen von 1966 für die Räder aus den USA kommen lassen. Sie haben mich ein Vermögen gekostet, aber sie sind es wirklich wert!“

Die Ablenkung funktionierte hervorragend. Joe war dermaßen in die Beschreibung seines Traumautos vertieft, dass er beinahe vergessen hätte, wo sie sich befanden.

„Bald kann ich mit der Karosserie und dem Lackieren anfangen“, erzählte er weiter. „Es sind nur noch ein paar mechanische Teile zu reparieren, und das Cabriodach muss geflickt werden. Aber dann werde ich das Auto lackieren, und ich muss überlegen, in welcher Farbe und ob ich es noch irgendwie verziere, mit Streifen oder vielleicht ein paar Flammen an den Seiten. Hm!“ Joe gefiel die Idee mit den Flammen. „Allerdings, wenn ich Flammen haben will, muss ich genau darauf achten, welche Grundfarbe ich nehme. Rot wäre dann nicht so gut, oder? Vielleicht Dunkelgrün. Oder Blau. Was meinst du, Kumpel?“

„Blau“, sagte Ricky deutlich.

Joe hielt den Atem an. Der Junge konnte also doch sprechen.

„Hm!“ Joe bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall. „Blau könnte gut passen. Vielleicht ein richtig dunkles Blau. Ich habe einmal einen Chevy gesehen, der so lackiert war.“

„Chevrolet“, erklärte Ricky.

Joe blinzelte. „Da hast du Recht. Ein Chevy ist ein Chevrolet.“ Er lächelte. „Wie viele Autos kennst du denn, Ricky?“

„VW-Käfer“, sagte Ricky nach einer langen Pause. „Cadillacs“, fügte er schüchtern nach einer weiteren Pause hinzu. „Mustangs und Jaguars.“ Jetzt wirkte er schon ein wenig mutiger. „Mummy wollte mir heute einen Porsche kaufen. Ich will einen roten.“

„Wollen wir das nicht alle, Kumpel?“ Joes Lächeln schwand. Wer in aller Welt hatte behauptet, dass dieses Kind behindert sei?

Joe hatte ganz und gar nichts dafür übrig, wenn Kinder in irgendwelche Schubladen gesteckt wurden. Das war ihm selber allzu oft passiert. Zu Hause war er ein „Ärgernis“ gewesen, in der Schule ein „Kind aus einer zerrütteten Familie“ und später sogar „verhaltensgestört“. Im Rückblick war leicht zu erkennen, dass seine Umwelt diese Etikettierungen verursacht hatte.

Ärger regte sich in ihm. War Rickys Etikett womöglich das Ergebnis seiner Umwelt? Joe hoffte, dass der Junge noch jemanden außer seiner schüchternen Mutter hatte, der für ihn kämpfte. Jessica sah nicht aus wie eine Kämpferin, und dennoch hatte ihn ihre wilde Entschlossenheit erstaunt, mit der sie ihr Kind hatte schützen wollen. Sie liebte Ricky, daran bestand kein Zweifel, aber hatte sie sich vielleicht im Hinblick auf seine intellektuellen Fähigkeiten in eine falsche Richtung leiten lassen?

„Als ich so alt war wie du, da hatte ich ein Spielzeugauto“, sagte Joe zu Ricky. „Ich habe es überallhin mitgenommen. Manchmal, wenn die Schulglocke geläutet hat, habe ich mich versteckt und hatte dann den Sandkasten ganz für mich allein, in dem ich Straßen gebaut habe. Manchmal hat es lange gedauert, bis sie mich gefunden haben.“ Und manchmal hatten sie sich nicht einmal darum bemüht. Nicht gesehen und nicht gehört werden, nur dadurch hatte er sich beliebt machen können.

„Echte Autos machen aber noch viel mehr Spaß“, meinte er. „Wenn du groß bist, wirst du dein eigenes richtiges Auto haben, so wie ich. Was für eins würde dir denn gefallen?“

„Ein Mustang“, erklärte Ricky. „Genau wie Joes.“ Dann gähnte er, und sein Köpfchen sank tiefer an Joes Brust.

Unwillkürlich stiegen Joe die Tränen in die Augen. Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr geweint, und er würde auch jetzt nicht damit anfangen. Doch weshalb war ihm so seltsam zu Mute? Er fühlte sich beinahe demütig und zugleich auch stolz.

„Ich sage dir was, Kumpel. Wenn wir hier rauskommen, kannst du mich mal besuchen kommen. Dann zeige ich dir mein Auto.“

„Okay!“ Die nächsten Worte klangen schon sehr schläfrig. „Danke, Joe!“

In der folgenden Stille merkte auch Joe, wie ihm der Kopf schwer wurde. Behutsam ließ er sich auf das Deckenlager rutschen und breitete mit der freien Hand die übrige Decke über sich und den Jungen. Dann fiel auch er in den Schlaf.

Joe wurde von einem Geräusch geweckt. Es musste wohl schon eine ganze Weile da gewesen sein – ein Brummen im Hintergrund, das sich mit seinen Traumfetzen verbunden hatte. Vorsichtig streckte er sich. Anscheinend hatte er lange geschlafen, wenn seine Gliedmaßen so steif waren und schmerzten. Oder hatte er sich bei seinem Hechtsprung zwischen die Fahrzeuge doch verletzt? Ricky schlief noch völlig regungslos und ohne einen Laut von sich zu geben. Einen schrecklichen Moment lang dachte Joe, es könnte etwas anderes als Schlaf sein. Deshalb schüttelte er den Jungen sanft an der Schulter. „Ricky. Ricky! Bist du okay, Kumpel?“

Der Kleine bewegte sich, schlug kurz die Augen auf, nickte und schlief wieder ein. Aufmerksam beobachtete Joe seine Atmung, fühlte seinen Puls und stieß dann einen Seufzer der Erleichterung aus. Dann kroch er von dem Lager am Rand des Lastwagens entlang, bis er die schwere Tür spürte und sie öffnen konnte. Sofort wurde das Brummen sehr viel lauter, und Joe wusste gleich, worum es sich handelte. Es war ein Schaufelbagger, der den Schutt von der gegenüberliegenden Seite der Tiefgarage räumte. In diesem Augenblick hörte das Brummen jedoch auf. Ein scharfes Pfeifsignal ertönte, und Joe starrte in die Dunkelheit, in dem Versuch zu orten, woher der Ton kam.

„Hier ist das Rettungsteam. Können Sie mich hören?“

„Hier!“ schrie Joe. „Wir sind hier drüben.“ Seine Stimme war heiser vom Staub und vom Husten. Sie war einfach nicht laut genug, als dass jemand ihn hätte hören können. Das Warten auf den nächsten Ruf zog sich quälend in die Länge, doch dann kam er.

Autor

Alison Roberts
Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde.
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Fiona McArthur

Fiona MacArthur ist Hebamme und Lehrerin. Sie ist Mutter von fünf Söhnen und ist mit ihrem persönlichen Helden, einem pensionierten Rettungssanitäter, verheiratet. Die australische Schriftstellerin schreibt medizinische Liebesromane, meistens über Geburt und Geburtshilfe.

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Maggie Kingsley
Maggie Kingsley ist in Edinburgh, Schottland geboren. Als mittlere von 3 Mädchen wuchs sie mit einem schottischen Vater und einer englischen Mutter auf. Als sie 11 Jahre alt war, hatte sie bereits 5 unterschiedliche Grundschulen besucht. Nicht weil sie von ihnen verwiesen wurde, sondern der Job ihres Vaters sie durch...
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