Julia Ärzte Spezial Band 14

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WIE EIN HOFFNUNGSSCHIMMER IN DUNKLER WINTERNACHT von SCARLET WILSON
Wenn Weihnachten naht, fühlt sich der attraktive Arzt Brad Donovan besonders verloren. Ein Flirt mit der hübschen Cassidy scheint da die perfekte Ablenkung – bis er sich heimlich verliebt. Doch wenn er ihr sein trauriges Geheimnis gesteht, ist er wieder allein ...

WEIHNACHTSSTERN ÜBER VENEDIG von ALISON ROBERTS
Tausend Lichter auf dem Markusplatz: Die romantische Atmosphäre in Venedig verzaubert Charlotte restlos! Als ihr dann auch noch der attraktive Arzt Nico Moretti über den Weg läuft, ist es um sie geschehen. Es muss an der vorweihnachtlichen Lagunenstadt liegen. Oder an Nico?

IM FUNKELNDEN LICHT DER LIEBE von KARIN BAINE
Der Duft von Lebkuchen, ein Berg Geschenke und eine Ehefrau, so bezaubernd wie ein Engel! Eigentlich der perfekte Heiligabend für Kinderarzt Dr. Lucas Brodie. Doch er weiß genau, wenn er Freyas Leben nicht zerstören will, muss er sie noch diese Nacht verlassen …


  • Erscheinungstag 25.11.2023
  • Bandnummer 14
  • ISBN / Artikelnummer 9783751519083
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Scarlet Wilson, Alison Roberts, Karin Baine

JULIA ÄRZTE SPEZIAL BAND 14

PROLOG

30. September

Cassidy hob die Hand und klopfte an die schäbige Tür. Hinter ihr kicherte Lucy nervös. „Bist du sicher, dass das hier die richtige Adresse ist?“

Cassidy drehte sich zu ihr um. „Du hast die Sache eingefädelt. Woher soll ich es dann wissen?“ Sie warf einen Blick auf das zerknitterte Blatt Papier in ihrer Hand. „Das hier ist eindeutig die Nummer siebzehn.“ Sie lehnte sich zurück und betrachtete die Vorhänge im Sechzigerjahre-Stil vor den zweitklassigen Doppelglasfenstern, die jedes Mal rappelten, wenn ein Bus vorbeifuhr. „Vielleicht ist niemand zu Hause?“, äußerte sie hoffnungsvoll.

Es war wohl die dümmste Idee, die sie jemals gehabt hatte. Nein. Berichtigung: Es war nicht ihre Idee gewesen. In einem schwachen Moment hatte sie lediglich zugestimmt, mit ihren Kolleginnen herzukommen, um zu sehen, was all der Wirbel sollte.

„Wo hast du diese hier aufgestöbert, Lucy?“

Lucy hatte das vergangene Jahr damit zugebracht, ihre Freundinnen zu so vielen verschiedenen Wahrsagerinnen wie nur möglich zu schleppen. Nach übereinstimmenden Berichten waren einige gut, andere schlecht und wieder andere regelrecht unheimlich. Cassidy war es stets gelungen, sich aus der Affäre zu ziehen – bis jetzt.

„Das ist die Frau, die meine Cousine Fran aufgesucht hat. Sie sagt, sie sei fantastisch.“

Cassidy zog die Brauen hoch. „Cousine Fran, die in dieser Reality-TV-Show aufgetreten ist und sich dann eine Woche lang im Schrank versteckt hat?“

Lucy nickte.

„Ja, toll“, seufzte Cassidy.

„Möchte wissen, ob sie mir sagen kann, wie viele Kinder ich bekomme“, sagte Lynn verträumt. Sie stieß Cassidy ihren spitzen Ellenbogen in die Rippen. „Lizzie King hat sie Zwillinge prophezeit, und jetzt kann es jeden Tag so weit sein.“

„Ich will einfach nur wissen, ob Frank mir jemals einen Heiratsantrag macht“, seufzte Tamsin. „Wenn sie das nicht in der Zukunft sieht, mache ich Schluss mit ihm. Fünf Jahre sind genug.“

Cassidy zog die Nase kraus und schüttelte den Kopf. „Du kannst doch nicht mit Frank Schluss machen, weil eine Wahrsagerin dir irgendwas erzählt hat.“

Doch Tamsin hatte dieses Gesicht aufgesetzt, das besagte: Leg dich nicht mit mir an. „Wart’s ab.“

Hinter der Tür war ein Schlurfen zu hören, dann folgte ein Knarren, und die Tür öffnete sich. „Hallo, meine Damen, treten Sie ein.“

Cassidy blinzelte. Der Geruch von Katzen überrollte sie wie eine Dampfwalze.

Sie ließ die anderen vorgehen, nahm noch einen tiefen Atemzug von der frischen Luft und schloss dann die Tür hinter sich. Eine räudig aussehende Katze strich um ihre Beine. „Husch!“, zischelte Cassidy.

„Komm schon, Cassidy!“

Sie setzte ein Lächeln auf und folgte ihren Kolleginnen ins Wohnzimmer der Stinke-Katzen-Frau.

Ihre drei Freundinnen drängten sich auf einem braunen Sofa zusammen. Hinter ihren Köpfen kroch eine weitere Katze über die Rückenlehne. Cassidys Augen begannen zu tränen, und sie wehrte sich gegen den Drang, sie zu reiben. Wenn sie einmal damit anfing, konnte sie nicht wieder aufhören. Katzenallergien brachten so etwas mit sich.

„Nun, wer möchte zuerst?“

Cassidy warf einen Blick auf ihre Uhr. Wie hatte sie sich nur zu dieser Sache breitschlagen lassen können?

„Du zuerst, Cass“, sagte Lucy und wandte sich an die Wahrsagerin. „Sie müssen Ihre Sache gut machen, Belinda. Unsere Cassidy ist eine Ungläubige.“

Die kleine, rundliche Frau musterte Cassidy von oben bis unten. Ihre Stirn war genauso zerknittert wie ihre Kleidung. „Hier entlang, meine Liebe“, brummte sie und ging durch den Flur zu einem anderen Zimmer.

Cassidy schluckte nervös. Vielleicht war es das Beste, es einfach hinter sich zu bringen. Dann konnte sie zumindest draußen im Auto auf die anderen warten.

Das Zimmer war vollgestellt mit Gerümpel. Und es wimmelte von Katzen.

Während Belinda sich an einem Tisch niederließ und Karten mischte, betrachtete Cassidy den zerdrückten Polstersessel der Frau gegenüber. Eine riesige orangerote Katze hatte dort den Ehrenplatz eingenommen, blinzelte Cassidy an, forderte sie heraus, es zu wagen und sie zu verscheuchen.

„Weg da, Lightning!“ Belinda trat gegen den Sessel, und die Katze bedachte sie mit einem strengen Blick, bevor sie die Beine reckte, von der Sitzfläche sprang und sich zu Belindas Füßen niederließ.

Belinda fixierte sie. Wie konnte eine so mollige, rundliche Frau einen derart stahlharten Blick haben? Sie zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Sie starrte so durchdringend, dass Cass glaubte, sie würde ein Loch in ihren Schädel bohren.

„Also, wie gehen wir vor?“, fragte sie rasch.

Belindas Gesicht hatte freundlich, reizlos gewirkt, als sie die Tür öffnete. Doch in diesem Raum, wo sie allein waren, sah sie aus wie eine kalte, durchtriebene Geschäftsfrau. Cassidy fragte sich, ob Belinda die Gedanken lesen konnte, die ihr zurzeit durch den Kopf gingen. Das wäre eine Erklärung für diesen Blick, der sie zu erdolchen drohte.

Belinda mischte noch einmal die Karten. „Wie es Ihnen am liebsten ist.“ Sie breitete die Karten verdeckt auf dem Tisch aus. „Ich kann Ihnen die Karten lesen.“ Sie griff nach Cassidys Hand. „Ich kann Ihnen aus der Hand lesen. Oder …“, sie sah sich im Zimmer um, „… ich kann ein paar Geister heraufbeschwören und hören, was die zu sagen haben.“

Die Vorstellung jagte Cassidy eine Gänsehaut über den Rücken. Irgendwie glaubte sie nicht so recht an diesen Kram, wollte aber dennoch nicht das Risiko eingehen, unerwünschte Geister zu rufen.

Die Karten waren ihr auch nicht geheuer. Bestimmt hatte sie Pech und drehte die Todeskarte um oder das Gegenstück zum Joker.

„Dann lesen Sie mir bitte aus der Hand.“ Das erschien ihr als die einfachste Lösung. Was konnte man schon in den Linien einer Hand erkennen?

Belinda beugte sich über den Tisch, ergriff Cassidys schmale Hand samt Handgelenk und umspannte beides mit ihren molligen Fingern. Es war ein beinahe wohltuendes Gefühl. Belinda forschte nicht in Cassidys Handfläche, sie hielt nur ihre Hand. Strich ein paar Minuten lang schweigend mit den Fingern über ihren Handrücken, drehte ihre Hand dann um und berührte die Innenfläche.

Ein breites Lächeln trat auf ihr Gesicht.

Die Spannung war mörderisch. Cassidy mochte ausgedehntes Schweigen nicht. „Was ist?“

Belinda ließ ihre Hand los. „Sie sind ganz schön miesepetrig, nicht wahr?“

„Wie bitte?“ Cassidy war verblüfft, hatte sie doch gehört, dass Wahrsager ihren Kunden nur Gutes berichten. Und ganz bestimmt nicht ihren Charakter einschätzen.

Belinda nickte. „Oberflächlich gesehen sind Sie der Spaßvogel für Ihre Arbeitskolleginnen. Andererseits ist für Sie das Glas immer halb leer. Sie sind sehr selbstkritisch. Lauter Zeichen von Unsicherheit.“ Sie holte tief Luft. „Aber Sie nehmen es sehr genau mit der Arbeit. Wegen Ihrer Detailversessenheit ist es nicht leicht, mit Ihnen zu arbeiten. Einige Ihrer Kolleginnen wissen Sie einfach nicht zu nehmen. Und was Männer angeht …“

„Ja?“ Im Augenblick waren Männer das Letzte, woran sie dachte. Und das Wort „Unsicherheit“ hatte einen Nerv getroffen, den sie nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Es war schlimm genug, wenn die Eltern ständig um die Welt jetteten, ohne dass man einen Verlobten hatte, weil der einfach auf und davon war. Das Letzte, was sie wollte, war, dass irgendeine Zufallsbekanntschaft ihr das unter die Nase rieb.

„Sie sind ein kluges Mädchen, aber manchmal sehen Sie den Wald vor lauter Bäumen nicht.“ Belinda schüttelte den Kopf. „Sie haben ein paar äußerst fixe Ideen, und die Kunst, Kompromisse zu schließen, liegt Ihnen nicht sonderlich. Trotzdem rückt das Weihnachtsfest näher.“

Jetzt wurde Cassidy sauer. „Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Weihnachten ist erst in drei Monaten.“

Belinda verschränkte die Arme vor der Brust und machte ein selbstzufriedenes Gesicht. „Zu Weihnachten sind Sie eine Braut.“

„Wie bitte?“

Die Frau hatte eindeutig ihren Verstand verloren.

„Wie um alles in der Welt sollte ich denn zu Weihnachten eine Braut sein? Morgen fängt der Oktober an, und ich habe keinen Freund. Und es gibt auch keinen Mann, der mich nur im Entferntesten interessiert.“

Belinda klopfte sich seitlich an die Nase und zuckte auf irritierende Weise leicht mit den Schultern. „Ich sehe nur die Zukunft. Ich beschreibe Ihnen nicht den Weg dorthin.“ Sie beugte sich vor und berührte Cassidys Handteller. „Ich sehe Sie als Braut zu Weihnachten an der Seite eines sehr gut aussehenden Bräutigams, der nicht aus dieser Gegend stammt. Sie Glückliche.“

Cassidy schüttelte mit Nachdruck den Kopf. Sie hatte Monate gebraucht, um über die gelöste Verlobung mit ihrem spanischen Freund hinwegzukommen, und diese Erfahrung wollte sie nicht wiederholen. „Da sind Sie völlig auf dem Holzweg. Es ist ausgeschlossen, dass ich zu Weihnachten eine Braut bin. Und schon gar nicht mit einem Bräutigam, der nicht von hier stammt. Der nächste Mann, mit dem ich mich einlasse, wird ein waschechter Schotte sein, Schotte durch und durch, wie ich.“

Belinda fixierte sie mit diesem Blick. Dem Blick, der besagte: Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest.

„Das war’s dann.“

Cassidy war entgeistert. Das war’s für zwanzig Pfund? „Das war alles?“

Belinda nickte und wedelte mit der Hand. „Schicken Sie die Nächste herein.“

Cassidy zögerte eine Sekunde und wappnete sich für einen Streit mit der Frau. Doch dann strich die dicke orangerote Katze um ihre Beine und sprang auf den Sessel neben ihr, entschlossen, Tausende von orangeroten Katzenhaaren auf ihrer Samtjacke zu deponieren. Cassidy sprang auf. Immerhin hatte sie es hinter sich. Sie konnte draußen im Auto warten. Das allein war schon fast die zwanzig Pfund wert.

Sie durchquerte den Flur, brummte vor sich hin und versuchte, ein großes Büschel verfilzten Katzenhaars von ihrer Jacke zu wischen.

„Bist du schon fertig? Was hat sie dir gesagt?“

Cassidy verdrehte die Augen. „Es ist nicht einmal eine Wiederholung wert.“ Mit einer Kopfbewegung wies sie den Flur hinunter. „Geh schon, Tamsin. Geh und lass dir sagen, wann du deinen Antrag bekommst.“

Tamsin hatte noch immer diesen entschlossenen Gesichtsausdruck. Sie stand auf und strich ihren makellosen, von orangeroten Katzenhaaren völlig freien schwarzen Regenmantel glatt. „Ob ich meinen Antrag bekomme, wolltest du wohl sagen.“

Lucy zog die Brauen hoch. „Gnade ihr Gott, wenn Belinda nicht sagt, was Tam hören will.“ Sie wandte sich wieder an Cassidy. „Komm schon, raus mit der Sprache. Was hat sie gesagt?“

Cassidy stieß einen lang gezogenen Seufzer aus und schürzte die Lippen. Sie ärgerte sich, weil sie als miesepetrig bezeichnet worden war. Und sie war mehr als wütend, weil man ihr Unsicherheit nachgesagt hatte. „Offenbar werde ich zu Weihnachten eine Braut sein.“

„Wie bitte?“ Lucys und Lynns Stimmen entsprachen ihren schockierten Mienen.

„Nur gut, dass Tamsin das nicht gehört hat“, brummte Lucy.

„Oh, es kommt noch schlimmer. Mein Bräutigam stammt offenbar aus fremden Gefilden.“ Sie verdrehte wieder die Augen. „Wer’s glaubt, wird selig.“

Doch Lucys und Lynns Mienen veränderten sich; ein Lächeln trat auf ihre Gesichter, als ihre Blicke sich begegneten.

„Ich hab’s doch gesagt.“

„Ausgeschlossen.“

Cassidy sah bestürzt zu, wie sie einander in dem schmuddeligen Wohnzimmer abklatschten.

„Was ist los mit euch beiden? Ihr wisst selbst, wie lächerlich das ist. Als ob ich etwas mit einem ausländischen Arzt anfangen würde.“

Lynn verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum denn nicht?“ Ein merkwürdiger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Als ob sie etwas wüsste, wovon Cassidy nichts ahnte.

Lucy nahm die gleiche Haltung ein, Schulter an Schulter mit Lynn. Beinahe, als würden sie sich gegen sie verbünden.

Sie kniff die Augen zusammen. „Ich bin bereit zu wetten, dass Belinda recht behält.“

Cassidy konnte nicht fassen, was da vor sich ging. Die Krankheit der verrückten Katzenfrau war augenscheinlich ansteckend. Ein winziges Samenkorn, das in ihren Hirnen aufging. Das konnte sie zu ihrem Vorteil nutzen. „Um was?“

Lucy runzelte die Stirn. „Was meinst du?“

Cassidy lächelte. „Ich nehme die Wette an. Aber um was wetten wir?“

„Nachtschicht an Heiligabend. Oh.“ Die Worte waren ausgesprochen, bevor Lucy Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Es handelte sich um die verhassteste Schicht der Welt. Alljährlich mussten sie Hölzchen ziehen, um zu bestimmen, wer die Nachtschicht übernahm.

„Die Wette gilt.“ Cassidy streckte Lucy ihre Hand entgegen, die nickte und sie kräftig schüttelte. Es bestand kein Risiko, dass sie diese Wette verlor. Nicht das geringste Risiko.

1. KAPITEL

1. Oktober

Cassidy zog sich den marineblauen Kasack über den Kopf. Diese neumodischen Oberteile bestanden angeblich aus einem revolutionär leichten Stoff, für Bequemlichkeit und gute Passform im Berufsalltag konzipiert. In Wahrheit aber waren sie nicht für den schottischen Winter in einem zugigen alten Krankenhaus geeignet; man fror darin. Sie nahm eine Strickweste aus ihrem Spind und ging in Richtung Treppe. Ein Sprint bis in den zweiten Stock vertrieb vielleicht die Kälte aus ihren Knochen.

Zwei Minuten später kam sie auf der Station an. Sie holte tief Luft. Da war er wieder. Der Krankenhausgeruch. Manche Menschen hassten ihn und schauderten, sobald sie ein Krankenhaus betraten. Doch Cassidy liebte ihn; er war wie eine große Schmusedecke, und er hatte ihr gefehlt. Es war kurz vor sieben, und das Licht war noch gedimmt. Ruby, die Nachtschwester, lächelte ihr zu. „Schön, dass du wieder hier bist, Cassidy. Wie war die Arbeit in dem anderen Krankenhaus?“

Cassidy nickte und zog die Strickweste fester um sich. Ihre Körpertemperatur schien sich immer noch nur knapp über dem Gefrierpunkt zu bewegen. „Es war in Ordnung, aber drei Monate reichen. Ehrlich gesagt, ich bin froh, wieder hier zu sein. Das alles hier hat mir gefehlt.“

Das stimmte. Aber seinerzeit war die dreimonatige Versetzung genau das Richtige für sie gewesen. Dadurch hatte sie die Möglichkeit gehabt, all die Scherereien mit ihrer Großmutter zu regeln. Sie arbeitete zu festen Zeiten und konnte sie in dem neuen Pflegeheim unterbringen, dem zweiten in einem Jahr. Ihr Blick schweifte über das Whiteboard an der Wand, auf dem die Namen der Patienten, die Zimmernummern und zuständigen Schwestern verzeichnet waren. „Keine freien Betten?“ Sie zog die Brauen hoch.

„Doch, eines. Aber die Notaufnahme hat gerade angerufen und angekündigt, dass sie uns eine ältere Dame mit Verdacht auf Lungenentzündung schicken, deshalb habe ich ihren Namen schon auf die Tafel gesetzt. Sie müsste binnen zehn Minuten hier sein.“

Cassidy nickte. Die übrige Besetzung der Tagesschicht trudelte ein und versammelte sich zum Übergabebericht im Schwesternzimmer. Cassidy wartete geduldig und hörte sich den Überblick über die derzeit dreißig Patienten auf der Station an, bevor sie die Patienten den diensthabenden Schwestern zuwies und die Schlüssel für die Medizinschränke übernahm.

Sie hörte, wie von hinten ein Krankenbett herangerollt wurde. „Ich nehme die Patientin auf“, ließ sie ihre Belegschaft wissen. „So finde ich am besten wieder in die gewohnten Abläufe hinein.“

Sie sah Bill, einen der Pfleger, auf sich zukommen, der das Bett mit der Patientin schob. Ein Arzt lief nebenher und plauderte mit der älteren Dame. Er schickte Cassidy ein umwerfendes Zahnpastalächeln. „Das ist Elizabeth Kelly. Sie ist vierundachtzig und leidet an COPD. Die oralen Antibiotika schlagen nicht an. Der Bereitschaftsarzt hat intravenöse Antibiotika-Zufuhr angeordnet.“

Im ersten Moment brachte der starke australische Akzent sie aus dem Konzept; es kam so unerwartet. Der Himmel weiß, warum. Das Krankenhaus im Zentrum von Glasgow zog Mitarbeiter aus aller Welt an. Seine zerknitterte blaue Arztkluft und der noch stärker zerknitterte weiße Kittel sahen aus, als hätte er darin geschlafen, was, seinem blonden Haar nach zu urteilen, das in alle Himmelsrichtungen abstand, wohl tatsächlich der Fall war.

Sie kannte ihn nicht, was bedeutete, dass er einer der neuen Ärzte sein musste, die während ihrer Vertretungszeit die Arbeit aufgenommen hatten. Und er sah entschieden zu gut aus. Und das freche Glitzern in seinen Augen ärgerte sie jetzt schon.

Eine Sekunde lang glaubte sie beinahe, er schaute auf ihre Brüste, doch als sie seinem Blick abwärts folgte, erkannte sie, dass ihr Name und ihre Berufsbezeichnung vorn auf ihrer neuen Dienstkleidung aufgestickt waren.

Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Cassidy Rae. Medizinische Abteilung. Aber so, wie Sie auf meine Brüste gestarrt haben, wissen Sie das sicher längst.“

Mit seiner warmen Hand ergriff er ihre kalte, und seine Augen blitzten. „Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Drachen-Lady. Hoffentlich ist Ihr Herz nicht so kalt wie Ihre Hände.“

Sie entzog ihm ihre Hand. „Wie haben Sie mich genannt?“

„Drachen-Lady.“ Offenbar schämte er sich nicht einmal wegen der Bemerkung. „Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Ich habe mich darauf gefreut, Sie kennenzulernen, wenngleich nach allem, was ich gehört habe, gewöhnlich Sie diejenige sind, die Spitznamen vergibt.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und bemühte sich zu verhindern, dass ihre Mundwinkel sich zu einem Lächeln verzogen. „Keine Ahnung, wovon Sie reden.“ Sie griff nach dem Kleiderbeutel der Patientin, bückte sich und fing an, Mrs. Kellys Sachen in den Schrank neben dem Krankenbett zu packen.

„Wie ich hörte, haben Sie die letzten drei Assistenzärzte Needy, Greedy und Seedy getauft.“

Sie zuckte zusammen. Sie spürte seinen warmen Atem in ihrem Nacken, denn er hatte sich vorgebeugt und ihr die Worte ins Ohr geflüstert.

„Wer hat Ihnen das erzählt?“, fragte sie fassungslos. Sie sah auf ihre Uhr. Zehn nach sieben am ersten Morgen nach ihrer Rückkehr, und schon versuchte irgendein Schlaumeier von Arzt, sie kleinzukriegen.

„Oh, Augenblick mal.“ Der rätselhafte Arzt verzog sich aus dem Zimmer.

Es stimmte. Sie hatte den letzten drei Assistenzärzten Spitznamen verpasst – aus naheliegenden Gründen. Der eine, Greedy, hatte gegessen, wo er ging und stand, dem zweiten, Needy, hatte bei jedem Patientenbesuch jemand das Händchen halten müssen, und der dritte, Seedy, hatte sich während des Jahrs seines Aufenthalts an jedes einzelne weibliche Mitglied der Belegschaft herangemacht. Und auch wenn die Schwestern die Spitznamen kannten, hatte Cassidy doch keine Ahnung, wer sie einem von den neuen Ärzten verraten haben könnte. Das musste sie später noch in Erfahrung bringen. Sie stand auf und richtete Mrs. Kellys Sauerstoffmaske. Ihr fiel auf, wie dünn die Frau war, wie blass und pergamentartig ihre Haut wirkte. Auch so eine zerbrechliche ältere Patientin wie ihre Großmutter.

„Wie fühlen Sie sich?“ Sie maß in Mrs. Kellys Ohr Fieber und trug die Werte in die Krankenkarte ein. Mrs. Kelly schüttelte den Kopf.

Cassidy setzte sich neben das Bett. „Ich benötige ein paar nähere Informationen von Ihnen, Mrs. Kelly. Aber wie wär’s, wenn ich Ihnen zunächst einmal etwas zu essen und zu trinken besorge? Sie haben doch sicher Stunde um Stunde in der Notaufnahme gewartet. Möchten Sie Tee? Toast?“

„Ihr Wunsch ist mir Befehl.“ Eine dampfende Tasse Tee und ein Teller mit gebuttertem Toast wurden auf dem Nachttisch deponiert. „Sehen Sie, Mrs. Kelly? Ich halte mein Versprechen.“ Er sah Cassidy kopfschüttelnd an. „In der Notaufnahme gab es überhaupt nichts zu essen, und ich habe ihr versprochen, ihr Tee zu besorgen, sobald wir hier oben sind.“

„Danke, mein Junge“, sagte Mrs. Kelly, hob die Maske an und trank einen Schluck Tee. „Mein Hals ist so ausgetrocknet.“

Cassidy sah den jungen Arzt an. Hier hatte sich einiges verändert. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals gesehen zu haben, dass ein Arzt einem Patienten eine Tasse Tee servierte. Das war nahezu unvorstellbar.

Cassidy lächelte ihn an. „Da wünsche ich mir beinahe, wir könnten Sie hierbehalten“, sagte sie leise. „Augenscheinlich haben Sie eine gute Ausbildung genossen.“

Seine blauen Augen funkelten. „Und warum glauben Sie, Sie könnten mich nicht behalten?“

„In der Notaufnahme warten vermutlich eine ganze Menge Patienten auf Sie. Warum sind Sie überhaupt mit hierhergekommen? Etwa, um unsere Süßigkeiten zu klauen?“ Sie wies mit einer Kopfbewegung auf das Schwesternzimmer. Der medizinischen Abteilung gingen die Süßigkeiten nie aus, und es kam durchaus vor, dass die Ärzte aus anderen Abteilungen im Vorbeigehen davon mopsten.

Er schüttelte immer noch lächelnd den Kopf und streckte Cassidy die Hand entgegen. „Ich habe vorhin versäumt, mich vorzustellen. Ich bin einer von Ihren … Tja, ich will gar nicht wissen, welchen Spitznamen Sie mir verpassen. Brad Donovan, Assistenzarzt.“

Cassidy zuckte vor Überraschung zurück. Er sah zu jung aus, um Assistenzarzt zu sein. Lag es vielleicht an dem strubbeligen Haar? Oder an seiner australischen Sonnenbräune? Womöglich spielte aber auch der Ohrring eine Rolle, der an seinem Ohrläppchen blitzte, und hinzu kamen noch die strahlend weißen Zähne. Er sah völlig anders aus als jeder Assistenzarzt, der ihr je über den Weg gelaufen war.

Irgendetwas krampfte ihr den Magen zusammen. Nein, das stimmte nicht ganz. Bobby. Für den Bruchteil einer Sekunde erinnerte er sie an Bobby. Bobby hatte dunkles Haar, kein blondes, doch er hatte eine ähnliche Zottelfrisur gehabt und genauso strahlend weiße Zähne. Sie schob all diese Gedanken beiseite. Seit Monaten hatte sie nicht an Bobby gedacht. Warum jetzt?

Sie musste sich konzentrieren. Dieser Mann war ein Arbeitskollege, wenn auch ein frecher. Sie schüttelte ihm kräftig die Hand. „Nun, Dr. Donovan, wenn Sie einer von ‚meinen‘ sind, sollte ich Sie vielleicht mit den Regeln auf dieser Station vertraut machen.“

Er zog die Brauen hoch, sein Gesicht nahm einen belustigten Ausdruck an. „Sie sind tatsächlich die Drachen-Lady, wie?“

Sie überging die Frage. „Wenn es Ihnen irgendwann gelingt, sich anzuziehen, verzichten Sie bitte auf alberne Krawatten. Oder besser: auf Krawatten überhaupt und auch auf lange Ärmel. Sie stehen der Infektionskontrolle entgegen.“ Sie musterte seine zerknitterte Arztkleidung von oben bis unten. „Aber wie Sie aussehen, stellt das kein Problem dar. Und hören Sie auf das, was die Schwestern sagen. Sie verbringen die meiste Zeit mit den Patienten und kennen sie gewöhnlich zehn Mal besser als Sie.“

Er fixierte sie mit seinen blauen Augen. Ziemlich nervenaufreibend für diese Zeit am frühen Morgen. Sein Blick war offen und fest. Der Typ ließ sich in keiner Weise von ihr beeindrucken. Er wirkte zuversichtlich, selbstsicher. Sie würde abwarten müssen, ob seine Fähigkeiten als Arzt seinem Auftreten entsprachen.

„Ich arbeite seit zwei Monaten hier ohne Ihren Regelkatalog. Ihre Belegschaft wird mir mit einiger Sicherheit ein gutes Zeugnis ausstellen.“

Sie verzichtete auf eine Antwort. Natürlich würde ihre Belegschaft ihm ein gutes Zeugnis ausstellen. Er war der typische Surfer-Boy. Sie würde gutes Geld darauf verwetten, dass er ihre Belegschaft in den vergangenen zwei Monaten mit seinem lässigen Akzent, den regelmäßigen weißen Zähnen und blitzenden Augen um den Finger gewickelt hatte. Er reichte ihr Mrs. Kellys Krankenbericht und die Medikamentenliste.

Cassidy blickte auf die zerbrechliche ältere Dame auf dem Bett. Die Sauerstoffmaske baumelte jetzt auf ihrer Brust, während sie den Toast mümmelte. Ihre Lippen waren nicht mehr bläulich verfärbt, aber sogar das Kauen verstärkte ihre Atembeschwerden. Cassidy wandte sich wieder Brad zu. „Hat sie Verwandte?“

Er schüttelte den Kopf. „Ihr Mann ist vor ein paar Jahren gestorben, und zehn Jahre vorher ist ihre Tochter ausgewandert, dahin, wo ich herkomme.“ Er wies auf eine Telefonnummer im Krankenbericht. „Soll ich sie anrufen, oder wollen Sie das übernehmen?“

Cassidy tat das Herz weh. Diese arme Frau war sicher einsam. Sie hatte ihren Mann verloren, und ihre Tochter lebte Tausende von Meilen weit entfernt. Mit wem redete sie Tag für Tag? Einer der letzten älteren Patienten auf ihrer Station hatte angegeben, dass er oft tagelang mit keinem Menschen reden konnte. Einsamkeit konnte eine schreckliche Belastung sein.

Der Arzt geriet wieder in ihr Blickfeld, wollte ihre Aufmerksamkeit, und Cassidy verscheuchte die unangenehmen Gedanken aus ihrem Kopf. Dieser Mann war eindeutig zu gut, um wahr zu sein. Überstellte eine Patientin persönlich auf die Station, sorgte für Tee und Toast und bot an, die Verwandten anzurufen?

Ihr inneres Radarsystem machte Ping. Sie wandte sich an Mrs. Kelly. „Essen Sie in Ruhe auf; ich komme in ein paar Minuten zurück.“

„Was haben Sie vor?“ Sie ging durch die Tür in Richtung Schwesternzimmer.

Brad holte sie ein. „Wie meinen Sie das?“

Sie stoppte kurz auf dem Flur und musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Sie sind zu gut, um wahr zu sein. Was bei mir Alarmglocken schrillen lässt. Warum spielen Sie den lieben Jungen?“

Im Schwesternzimmer gab Sie Mrs. Kellys Daten in den Laptop ein.

„Wer sagt, dass ich spiele?“

Cassidy ließ den Blick über den Flur wandern. Der Visitenwagen mit den Krankenberichten befand sich am Ende des Flurs. Zwei weitere Ärzte in weißen Kitteln standen da und besprachen die Fälle. Cassidy blickte auf die Uhr: noch nicht einmal acht. „Und wer sind die?“

Brad lächelte. „Die anderen Assistenzärzte. Luca kommt aus Italien, Franco aus Ungarn. Anscheinend wollten sie einen Vorsprung vor der Visite.“ Er zwinkerte ihr dreist zu. „Vermutlich haben sie gehört, dass die Drachen-Lady heute Dienst hat.“

Sie schüttelte bestürzt den Kopf. „Ich lasse mich für drei Monate versetzen, komme zurück, und der Surfer-Boy serviert den Patienten Tee und Toast, und zwei weitere Assistenzärzte halten sich schon vor acht Uhr auf der Station auf. Träume ich? Bin ich überhaupt schon aufgewacht?“

„Wieso?“ Blitzschnell war er an ihrer Seite. „Bin ich der Typ, von dem Sie träumen?“

„Verschwinden Sie, Surfer-Boy.“ Sie drückte ihm Mrs. Kellys Krankenbericht in die Hand. „Sie müssen noch die Tochter einer Patientin in Australien anrufen. Machen Sie sich nützlich, und in der Zwischenzeit erkundige ich mich, welche Art von Unterstützung sie zu Hause hat.“

Er hielt kurz inne und kniff die Augen zusammen. „Ihr Bett ist noch nicht einmal warm, und Sie wollen sie schon wieder rauswerfen?“

Cassidy furchte die Stirn. „Das ist das Grundprinzip der Patientenaufnahme. Wir sind verpflichtet, als Erstes in Erfahrung zu bringen, welche Hilfssysteme unseren Patienten zur Verfügung stehen. Ob Sie es glauben oder nicht, die meisten bleiben nicht gern hier. Und wenn wir vorausplanen, ist die Gefahr einer verzögerten Entlassung geringer. Manchmal dauert es ein paar Tage, ein Hilfssystem einzurichten, damit ein Patient wieder nach Hause kann.“ Sie zeigte auf das Whiteboard mit den Patientennamen. „Theoretisch planen wir ihre Entlassung, sobald sie in der Notaufnahme eintreffen.“

Seine Miene wurde weicher. „In diesem Fall lasse ich Sie vom Haken.“ Er wies mit einer Kopfbewegung auf seine Arztkollegen. „Vielleicht haben sie die gleiche Warnung erhalten wie ich: Hütet euch vor dem Drachen!“ Er ging in Richtung Ärztezimmer, um seinen Anruf zu tätigen.

Die Drachen-Lady war entschieden interessanter, als ihr Ruf vermuten ließ. Brad hatte eine sechzig Jahre alte, grauhaarige Schulmeisterin erwartet. Stattdessen fand er eine junge Frau mit schlanker, kurvenreicher Figur vor, mit kastanienbraunen Locken und tiefbraunen Augen. Und sie war resolut. Das gefiel ihm.

Mit Cassidy Rae konnte man vielleicht Spaß haben. Da war es, dieses merkwürdige, beinahe unbekannte Gefühl. Dieser erste Hauch von Interesse an einer Frau. Der zaghafte Gedanke, dass es mit etwas Glück zwischen ihnen funken könnte. Es war so lange her, dass er so etwas empfunden hatte, dass er beinahe nicht wusste, wie er damit umgehen sollte.

Seit ein paar Monaten war er hier, und seine Kollegen waren zwar freundlich, aber nicht seine „Freunde“. Und er wollte sich nicht mit den Ärztinnen im Praktikum abgeben, die ihm derzeit schöne Augen machten. Er wusste aus Erfahrung, dass es den Ärger nicht wert war.

Zeitvertreib, Ablenkung. Die Worte hallten wieder in seinem Kopf nach, während er sich an die kalte Betonwand lehnte.

Genau das brauchte er. Etwas, was Gedanken an andere Dinge fernhielt, zum Beispiel an ein weiteres Weihnachtsfest, das zurzeit am Horizont drohte, mit einer riesigen schwarzen Gewitterwolke darüber. Er hatte sogar versucht, den Dienstplan zu ändern, damit er am Weihnachtstag arbeiten konnte. Doch er hatte kein Glück. Sein italienischer Kollege war ihm zuvorgekommen, und im Augenblick konnte Brad den Gedanken an einen öden Weihnachtstag in fremder Umgebung ohne wirkliche Freunde oder Verwandte nicht ertragen.

Ein weiteres Weihnachtsfest, überschattet von den ewig gleichen Fragen: wo sein kleines Mädchen steckte und ob sie ihren Geburtstag verbunden mit dem Weihnachtsfest genoss. Und ob sie sich überhaupt an ihn erinnerte.

Er hatte keine Ahnung, was man ihr über ihn gesagt hatte. Dass er die vergangenen achtzehn Monate unter großem Aufwand an Zeit und Geld mit der Suche nach seiner Tochter verbracht hatte, setzte ihm zu, besonders im Vorfeld ihres Geburtstags. Alle anderen in seiner Umgebung waren immer erfüllt von Festtagsstimmung und guter Laune, und ganz gleich, wie sehr er sich auch bemühte, nicht der Miesepeter vom Dienst zu sein, etwas in seinem Inneren fühlte sich doch immer an wie tot.

Weihnachten drehte sich um Familie und Kinder. Und was er sich am innigsten wünschte, war, seine kleine Tochter auf sein Knie zu setzen und ihr das größte Geburtstags- und Weihnachtsgeschenk aller Zeiten zu geben. Wenn er nur wüsste, wo sie war …

Da war wieder diese Faust, die sich fest um seinen Magen krampfte. Jedes Mal, wenn er an Melody, seine Tochter, dachte, erschien vor seinem inneren Auge das Bild von ihrer Mutter Alison, einer Ärztin im Praktikum, mit der er zusammengearbeitet hatte. Alison, die Frau, für die alles nach ihren Wünschen gehen musste oder gar nicht. Keine Verhandlungen. Keine Kompromisse.

Was noch wichtiger war: keine Verständigung.

Die Frau, die ihm in den vergangenen achtzehn Monaten das Leben zur Hölle gemacht hatte. Die jede andere Beziehung, die er hatte eingehen wollen, im Keim erstickte. Die Frau, die wegen jeder Sorgerechtsregelung haderte und ihm vorwarf, er würde in ihr Leben eingreifen. Und dann eines Tages der Schock: Er hatte die zweijährige Melody wie abgesprochen abholen wollen und stand vor einem verlassenen Haus. Keine Nachsendeanschrift. Nichts.

Die Kollegen in dem Krankenhaus, in dem Alison gearbeitet hatte, sagten, sie hätte mit dem Gedanken gespielt, nach Amerika zu gehen. Offenbar hatte sie sich Hals über Kopf in irgendeinen amerikanischen Arzt verliebt. Doch niemand wusste, wohin in Amerika. Brad hatte mittlerweile fast zwei Jahre damit verbracht, seinen Anwalt mit der Verfolgung falscher Fährten um die halbe Welt zu jagen. Das war zu seiner Welt geworden. Jede Sekunde jedes Tages kreiste um die Suche nach seiner Tochter. Bis er schließlich zusammenbrach und ein paar gute Freunde sich ihn vornahmen und ein ernstes Wort mit ihm redeten.

Erst in den letzten paar Monaten, seit seinem Umzug nach Schottland, hatte er endlich wieder angefangen, sich selbst zu spüren. Er hatte wieder zu seiner lässigen Art gefunden und endlich angefangen, sich zu entspannen und sich wohlzufühlen in seiner Haut.

Wenn er auch immer noch alles tun würde, um seine Tochter zu finden, musste er doch seine Grenzen erkennen. Er musste akzeptieren, dass er nichts falsch gemacht hatte und nach wie vor das Recht auf ein eigenes Leben hatte.

Zwar konnte die Schar von Schwestern und Ärztinnen im Praktikum ihn nicht begeistern, wohl aber Cassidy Rae. Sie stand auf einem ganz anderen Blatt. Eine leidenschaftliche, freche Frau, die ihm helfen konnte, ein paar Funken sprühen zu lassen. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Blieb nur noch das kleine Problem mit dem Dienstzimmer. Wie würde sie darauf reagieren?

Den Rest des Vormittags nutzte Cassidy, um sich wieder auf der Station zurechtzufinden. Das Computersystem hatte ein Update erfahren, was zur Folgte hatte, dass sie mit einem Tastendruck die Hälfte ihrer Patienten verlor. Und die automatische Medikamentenanlieferung war anscheinend mal wieder kaputt. Die Medikamente irgendeines armen Patienten waren in ihrer Hülse wohl irgendwo in der Röhre stecken geblieben.

Lucy kam von der benachbarten Station, eine Tasse Tee in der Hand, und tippte ihr auf die Schulter. „Was ist das für ein Gefühl, zurück zu sein?“

Cassidy lächelte ihre Freundin an. „Es ist schön.“ Sie nahm sich die Dienstfrei-Pläne vor. „Ich muss nur wieder lernen, die Dienstpläne zu verstehen.“ Ihr Blick fiel auf die Haftnotizen auf den Plänen, und sie verdrehte die Augen. „Oh, toll. Sieben Leute wollen am selben Wochenende frei haben.“

Lucy lachte. „Das ist noch gar nichts. Eines unserer Mädchen hat letztes Wochenende geheiratet, und ich musste zwei Kolleginnen von der Nachbarstation einspannen, um die Nachtschicht zu besetzen. Hast du Zeit für eine Teepause?“

Cassidy schüttelte den Kopf und wies den Flur hinunter. „Der Facharzt kommt jeden Moment zur Visite.“

Lucy verschränkte die Arme vor der Brust und folgte Cassidys Blickrichtung zu den drei Assistenzärzten am Ende des Flurs. „Und was hältst du von unseren neuen Ärzten?“

Cassidy hob nicht einmal den Kopf. „Funky, Chunky und Hunky?“

Lucy prustete Tee über ihre Schwesterntracht. Sie sah auf ihre Uhr. „Nach knapp zwei Stunden hast du schon Spitznamen für sie?“

Cassidy zog die Brauen hoch. „Das war nicht schwer. Luca sieht zwar höllisch gut aus, doch sein eigenes Spiegelbild interessiert ihn mehr als die Patienten. Und Franco hat in der vergangenen halben Stunde zwei Wurstbrötchen und eine Schachtel Pralinen verputzt.“

„Dann hat dich keiner von ihnen besonders beeindruckt?“

Der Tonfall ihrer Freundin veranlasste Cassidy, sich umzudrehen. Sie sah Lucy misstrauisch an. „Wieso? Was hast du vor?“

Lucy hatte noch immer das Ende des Flurs im Blick. „Nichts. Ich wollte nur wissen, was du von ihnen hältst.“ Sie schwenkte ihre Kehrseite, als sie sich vorbeidrängte, und trällerte ein Liedchen über ledige Frauen.

Cassidy fixierte noch einmal das Ende des Flurs. Ihr Blick ging zwangsläufig in eine bestimmte Richtung. Brads Erscheinung hatte sich nicht gebessert. Er trug immer noch sein zerknittertes Oberteil. Sein Haar war ungebändigt, und sie bemerkte einen Bartschatten auf Kinn und Wangen.

Doch er hatte fast eine halbe Stunde lang mit Mrs. Kellys Tochter telefoniert und dann noch einmal eine halbe Stunde aufgewendet, um Mrs. Kelly die Behandlung in den nächsten paar Tagen zu erklären. Und dann hatte er versucht, sie zu überreden, die Einladung ihrer Tochter nach Australien anzunehmen, sobald sie wieder auf den Beinen war.

Die meisten Ärzte, mit denen sie zusammenarbeitete, waren nicht so interessiert an der ganzheitlichen Betreuung ihrer Patienten. Sie schalteten anscheinend ab, sobald ihre Diagnose feststand.

Vom Ende des Flurs her ertönte dröhnendes Gelächter, und als Cassidy aufblickte, sah sie, wie Brad mit einem der Physiotherapeuten sprach und sich nahezu krümmte vor Lachen.

Sie schüttelte den Kopf und ließ den Blick auf der Suche nach einer der Lernschwestern durch die Station schweifen.

Neben ihr war ein dumpfer Aufprall zu hören. Brad hatte sich neben sie auf einen Stuhl gesetzt, stützte den Kopf in eine Hand und sah Cassidy wieder mit seinen blauen Augen an. „Na, und welcher bin ich?“

Cassidy blies sich eine widerspenstige braune Locke aus dem Gesicht. „Wovon reden Sie jetzt schon wieder?“

Er rückte näher. „Hunky, Chunky und Funky. Welcher bin ich?“ Bittend legte er die Handflächen zusammen. „Bitte sagen Sie, dass ich Hunky bin.“

„Wie um alles in der Welt haben Sie …?“ Sie blickte den Flur entlang, wo Pete, der Physiotherapeut, in ein Gespräch mit einem der anderen Ärzte vertieft war. Er hatte sie wohl belauscht. „Ach, vergessen Sie’s.“

Sie zog die Nase kraus, sah Brad an und beugte sich frech vor, sodass niemand sie hören konnte. „Ausgeschlossen, dass Sie Hunky sind. Der Name ist für den italienischen Gott namens Luca reserviert.“ Ihr Blick fiel auf Luca, der mit einer ihrer Krankenschwestern sprach. Sie flüsterte Brad ins Ohr: „Ist Ihnen aufgefallen, wie er immer wieder sein eigenes Spiegelbild in seinen auf Hochglanz polierten italienischen Schuhen überprüft?“

Brads Schultern begannen zu beben.

Sie stupste ihn an. „Nein. Mit dieser Parodie auf einen Haarschnitt und dem merkwürdigen Ohrring sind Sie eindeutig Funky.“ Sie deutete auf sein Ohr. „Was stellt das überhaupt dar?“

Sie rückte ihm ganz nahe und betrachtete das verdrehte Stückchen Gold an seinem Ohrläppchen. „Ein zerquetschtes Känguru? Oder ein Surfbrett?“

„Keins von beiden.“ Er grinste sie an und drehte den Kopf, sodass sich ihre Nasen berührten. „Ob Sie es glauben oder nicht, es war mal ein Bumerang. Meine Mum hat ihn mir gekauft, als ich ein Teenager war und einen Wettbewerb gewonnen hatte.“ Er berührte das Ding mit einem Finger. „Er ist inzwischen ein bisschen verbogen.“

Er sah sie an. Konnte ihr Parfüm riechen – oder ihr Shampoo. Sie duftete nach Erdbeeren. Ein Sommerduft, obwohl Glasgow mitten im Winter steckte. Er war beinahe versuchte ihre braunen Locken zu berühren, die bis knapp über ihr Schlüsselbein reichten. Doch sie blickte ihn aus diesen großen schokoladenbraunen Augen an. Und er wollte sich nicht rühren.

Wieder trat ein Lächeln auf ihr Gesicht. Interessant. Sie war nicht zurückgewichen, obwohl ihre Gesichter nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren. Seine Nähe schüchterte sie offenbar nicht ein. Unter anderen Umständen hätte er sich vorbeugen und ihr einen Kuss geben können. Das perfekte Beispiel für die Art von Ablenkung, die er brauchte …

„Aber wenn ich’s mir recht überlege …“ Sie ließ den Blick über seine zerknitterte Kleidung wandern. Wie hatte sie je meinen können, dass er sie an Bobby erinnerte? Bobby wäre lieber gestorben, als sich in zerknautschter Kleidung blicken zu lassen. Er war immer wie aus dem Ei gepellt. Brad war völlig anders. „Wenn Sie weiterhin in solch einem Aufzug auf meine Station kommen, muss ich Ihren Namen von Funky in Skunky ändern.“

Brad lehnte sich spontan auf seinem Stuhl zurück, senkte das Kinn auf die Brust und schniefte. „Wieso, stinke ich? Ich hatte letzte Nacht Bereitschaft und konnte noch nicht duschen.“ Er zupfte an seinem Oberteil.

Das gefiel ihr. Dieser besorgte Gesichtsausdruck. Die Art, wie sie ihn aufziehen konnte. Und die Tatsache, dass er so gut im Umgang mit den Patienten und dem Pflegepersonal war. Vielleicht würde es sogar ganz lustig sein, diesen Typ um sich zu haben. Auch wenn er vom anderen Ende der Welt kam.

Cassidy schüttelte den Kopf. „Keine Panik, Brad. Sie stinken nicht.“ Sie stützte sekundenlang den Kopf in die Hände und fixierte Brad. Vormittage in der Patientenaufnahme waren immer chaotisch.

Brad berührte ihre Hand. Sofort zuckte es wie ein elektrischer Schlag durch ihren Arm.

„Ich könnte Ihnen bei den Plänen helfen. Das letzte Krankenhaus, in dem ich in Australien gearbeitet habe, verfügte über ein Computerprogramm für Dienstpläne. Man gibt nur die Namen, die Schichten und die Anforderungen ein. Das klappte perfekt.“

Ihr Blick ruhte immer noch auf seiner Hand, die einfach auf ihrer liegen blieb. Sie hatte diesen Kerl doch gerade erst kennengelernt.

„Sie werden mich nicht in Ruhe lassen, wie?“ Sie sprach sehr leise. Aus unerfindlichen Gründen musste sie ihn immerzu ansehen. Dass er gut aussah, war nicht unbedingt hilfreich. Und sein widerspenstiges Haar fand sie zunehmend anziehender.

Er beugte sich wieder vor. „Wäre das ein Problem?“ Sein Blick sagte tausenderlei andere Dinge als sein Mund. Irgendetwas lag zwischen ihnen in der Luft. Cassidy spürte förmlich das Knistern um sie herum.

Das war doch lächerlich. Sie kam sich vor wie ein schwärmerischer Teenager.

„Meine Großmutter hat eine Bezeichnung für Menschen wie Sie.“

Er rückte noch näher. „Und zwar?“ Er neigte den Kopf zur Seite. „Gut aussehend? Klug? Geistreich?“

Sie schüttelte den Kopf, stand auf und strich ihren Kasack glatt. „Oh nein. Viel zutreffender. Meine Großmutter hätte Sie einen ‚Wee scunner‘ genannt.“

Er verzog die Stirn. „Was um alles in der Welt heißt das denn?“

„Wie ich schon sagte. Eine Nervensäge. Lästig. Aber es ist eine bedeutend zutreffendere Bezeichnung.“ Sie ging in Richtung Dienstzimmer, die Dienstfrei-Pläne in der Hand. Offenbar hatte sie den Verstand verloren. Sie hätte Lucys Einladung zum Tee annehmen sollen.

Brad packte sie beim Ellenbogen. „Ach, Cassidy, Ihr Dienstzimmer …“

Er brach ab, als sie die Tür öffnete, automatisch ins Zimmer treten wollte und ins Stolpern geriet.

„Wie bitte?“

2. KAPITEL

Cassidy blickte auf zu der weißen Decke ihres Dienstzimmers. Der Sturz nahm ihr den Atem. Etwas stach ihr in die Rippen, und sie wand und krümmte sich, wodurch ein Turm prekär gestapelter Pappkartons über ihrem Kopf zusammenbrach. Sie schrie erneut auf und wedelte mit den Händen vor ihrem Gesicht herum.

Starke Hände packten sie bei den Handgelenken, zogen sie hoch und stellten Cassidy auf dem einzigen sichtbaren Flecken Teppich im Raum ab – direkt an der Tür.

Brad war verlegen. „Das tut mir leid, Cassidy. Ich wollte Sie warnen …“

Er unterbrach sich mitten im Satz. Cassidy sah wütend aus. Sie sah sehr wütend aus. Ihre braunen Locken waren zerzaust, fielen ihr ins Gesicht und verbargen ihre vor Wut sprühenden Augen. „Was ist das für ein Gerümpel?“, brauste sie auf.

Brad räusperte sich. „Na ja, Gerümpel, wie Sie es nennen, ist es eigentlich nicht. Es gehört mir.“ Er bückte sich und räumte ein paar Akten zurück in einen umgekippten Karton. Ausgerechnet diese sollte kein Mensch zu Gesicht bekommen.

Cassidys Gesicht rötete sich immer stärker. Sie blickte auf ihre leere Hand und fragte sich offenbar, wo die Dienstfrei-Pläne geblieben waren, die sie gehalten hatte. Sie beugte sich vor, um zwischen die umgekippten Kartons zu spähen, richtete sich wieder auf und schüttelte empört den Kopf.

Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Hoffentlich haben Sie eine gute Erklärung dafür. Kein Wunder, dass Sie mich so behandelt haben.“

„Wie behandelt?“

Sie winkte ab. „Sie wissen schon. Dieses Lächeln. Das Geflüster. Die großen blauen Augen.“ Sie sah ihn spöttisch an. „Sie wollen mich wohl für dumm verkaufen.“

Urplötzlich verstand Brad, warum sie Drachen-Lady genannt wurde. Wenn sie wütend war, dann aber richtig. Gott stehe dem Arzt bei, der während ihrer Schicht etwas vermasselte.

Brad lehnte sich an den Türpfosten. „Ich habe Sie nicht so behandelt, wie Sie es ausdrücken, Cassidy. Ich wollte nur Kontakt zu der Stationsschwester meines Arbeitsbereichs aufnehmen. Wir werden eng zusammenarbeiten, und mir wäre es lieb, wenn wir Freunde sein könnten.“

Ihre Miene wurde eine Spur weicher. Sie musterte die Stapel von Kartons, die ihr Dienstzimmer verstopften. „Und das alles?“

Er lächelte sie an. „Tja, das alles hat eine eigene Geschichte.“

Augenscheinlich in dem Versuch, es zu bändigen, fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar. Am liebsten hätte Brad es selbst getan. „Bitte sagen Sie jetzt nicht, dass Sie hier eingezogen sind.“

Er lachte. „Nein. So verzweifelt ist meine Situation nicht. Ich bin gestern Abend erwischt worden und aus meiner Wohnung geflogen. Da habe ich meinen Kram lieber hierhergebracht, statt ihn auf der Straße stehen zu lassen.“

Cassidy kniff die Augen zusammen. „Was soll das heißen, Sie sind erwischt worden? Das hört sich verdächtig danach an, als hätten Sie bis fünf Uhr morgens eine wilde Party gefeiert, sodass der Vermieter Sie rauswerfen musste.“

Brad nickte bedächtig. „Sagen wir einfach, ich habe eine Regel meines Mietverhältnisses nicht eingehalten.“

„Welche?“

„Na, das wäre jetzt zu kompliziert.“ Er zog einen Schlüsselbund mit einem braunen Anhängeschildchen aus der Tasche. „Aber Abhilfe ist zur Hand. Ich habe eine neue Wohnung, die ich heute Abend beziehen kann. Sofern ich sie finde.“

„Was soll das heißen: sofern Sie sie finden?“ Cassidy rückte näher und las die gekritzelte Aufschrift auf dem Schildchen.

Brad zuckte die Achseln. „Dowangate Lane. Ich weiß nicht genau, wo das ist. Einer der Pfleger hat sie mir kurzfristig vermittelt. Ich brauchte schnellstens eine möblierte Wohnung. Er sagt, sie liegt nur fünf Minuten von hier entfernt, aber ich kenne die Straßen nicht.“

Cassidy sah ihn argwöhnisch an. „Vermutlich hat Ihnen niemand gesagt, dass ich ganz in der Nähe wohne.“

„Tatsächlich? Nein, ich hatte keine Ahnung. Können Sie mir den Weg beschreiben?“

Cassidy seufzte. „Klar. Verlassen Sie das Krankenhaus durch den Haupteingang, gehen Sie nach links ein paar Hundert Meter die Straße hinunter, biegen Sie rechts ab, folgen Sie der Straße bis zur Hälfte und gehen Sie dann die Wohnstraße hinunter. Dowangate Lane zweigt diagonal von ihr ab. Aber das Straßenschild ist schon vor Jahren heruntergefallen.“

Cassidy wirkte geistesabwesend und gestikulierte mit beiden Armen. Sie redete immer schneller, ihr schottischer Akzent wurde mit jeder Sekunde stärker.

„Ich habe keine Ahnung, was Sie da gerade gesagt haben.“

Cassidy sah ihn eindringlich an. „Wahrscheinlich ist es einfacher, wenn ich es Ihnen zeige.“

„Wirklich? Würden Sie das tun?“

„Wenn das bedeutet, dass Sie all das Gerümpel aus meinem Dienstzimmer räumen, wäre es die Mühe wert.“

„Na, danke.“

„Wollen Sie nun meine Hilfe oder nicht?“

Er beugte sich vor und fing ihre fuchtelnden Arme ein. „Liebend gern, Cassidy Rae. Wie wär’s mit sechs Uhr heute Abend?“ Da war er wieder, dieser Erdbeerduft aus ihrem Haar. Der konnte süchtig machen.

Sie hörte auf zu reden. Er spürte die Gänsehaut auf ihren nackten Armen. Fror sie? Oder war der Grund ein anderer?

Wie auch immer, er spürte es auch. Keine wilde Anziehung, die ihn trieb, sie an die Wand zu drängen, auch wenn er nicht abgeneigt gewesen wäre. Aber eine Art von Verbundenheit.

Vielleicht war er nicht der Einzige, der eine weihnachtliche Ablenkung suchte.

Er hörte beinahe, was sie dachte. Als würde auch sie sich fragen, was zwischen ihnen vorging.

„Sechs Uhr ist okay“, sagte sie schließlich, senkte den Blick und drängte sich an ihm vorbei.

Brad hängte den weißen Kittel hinter der Tür auf und zog sich sein Hemd über den Kopf. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Was sollte er damit machen?

Cassidy steckte den Kopf durch den Türspalt. „Sind Sie so weit?“ Ihr Blick fiel auf seinen braunen, straffen Bauch, und die Worte blieben ihr im Halse stecken. Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. „Ups, Verzeihung.“ Sie zog sich von der Tür zurück.

Plötzlich kam sie sich wieder wie ein Teenager vor. Und typisch, dass er ein zum Sterben schönes Sixpack hatte. Ausgeschlossen, dass sie sich jemals vor Mr. Bodybuilder auszog.

Wie kam sie denn darauf? Warum um alles in der Welt sollte sie sich jemals vor ihm ausziehen? Das war’s dann wohl. Sie verlor eindeutig den Verstand.

Brads Hand lag an der Türkante, als er den Kopf herausstreckte. „Seien Sie nicht albern, Cassidy. Sie sind Krankenschwester. Es ist ja nicht so, dass Sie nicht alles schon gesehen hätten. Kommen Sie rein. Ich bin gleich fertig.“

Sie schluckte den riesigen Kloß in ihrem Hals herunter. Seine Schultern waren noch nackt. Offenbar war er es gewohnt, sich in der Gegenwart von Frauen auszuziehen; er hatte keinerlei Hemmungen.

Warum wurmte dieser Gedanke sie so?

Sie atmete tief durch, trat wieder in das Zimmer und versuchte, nicht allzu offensichtlich den Blick abzuwenden. Auf keinen Fall sollte er glauben, sie wäre verlegen. Bei seiner Einstellung würde er ihr den Vorfall immer wieder unter die Nase reiben.

Er kramte in einer schwarzen Sporttasche. Jetzt konnte sie seine Rückenmuskeln begutachten. Keine Spur von Rettungsringen. Er fischte ein hellblaues T-Shirt aus der Tasche, zog es sich über den Kopf, drehte sich um und zerrte es über seinen Waschbrettbauch herab.

„Fertig. Können wir los?“

Cassidys Wangen waren leicht gerötet, passend zu dem weichen pinkfarbenen Pulli, den sie trug. Ein Pulli, der ganz reizend die Form ihrer Brüste abbildete. Pink stand ihr gut. Die Farbe hob die warmen Nuancen ihres Teints und Haars hervor. Sie hatte das Haar aus dem Gesicht gekämmt und zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden, aus dem sich ein paar widerspenstige Locken befreit hatten. Sie meinte es offenbar ernst, dass sie ihm beim Umzug helfen wollte, und verzichtete auf einen schicken Mantel und Stilettos. Was ihm nur recht sein konnte, denn etwa fünfzig Pappkartons mussten in die neue Wohnung geschleppt werden.

„Schaffen Sie es, ein paar von diesen Kartons hinunter zu meinem Auto zu tragen?“

„Ich schaffe noch viel mehr.“ Sie öffnete die Tür und gab den Blick frei auf einen der Trolleys, mit denen die Pfleger Kisten voller Ausrüstungsgegenstände durchs Krankenhaus transportierten. Der riesige Drahtkäfig fasste bestimmt die Hälfte seiner Kartons auf einen Schlag.

„Genial. Sie sind womöglich noch nützlicher, als ich dachte.“

„Sehen Sie, ich habe nicht nur ein hübsches Gesicht“, konterte sie seine freche Bemerkung. „Ihnen ist doch klar, dass es Sie was kostet, oder?“ Sie zog den Käfig in Richtung Dienstzimmer und positionierte Brad an der Tür, von wo aus er ihr die Kartons reichte, damit sie sie systematisch stapeln konnte.

„Wie viel?“ Als er ihr einen der Kartons zuwarf, öffnete er sich, und Brads Boxershorts und Socken verstreuten sich auf dem Boden.

Cassidy konnte nicht widerstehen. Sämtliche Farben des Regenbogens sprangen ihr ins Auge, und sie hob eine Unterhose auf, die auf der Vorderseite mit Elmo aus der Sesamstraße bedruckt war. „Ihre?“, fragte sie und ließ das Stück von einem Finger herabbaumeln.

Brad schnappte sich die Shorts. „Lassen Sie das.“ Er fing an, die Kleidungsstücke zurück in die Kiste zu stopfen, und blickte Cassidy mit hochgezogenen Brauen an. „Ich entscheide, wann Sie meine Unterwäsche zu sehen bekommen.“

Wann. Nicht ob. Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, und sie bemühte sich, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Die Kartons waren nicht ordentlich gepackt oder zugeklebt. Und die Art, wie Brad sie Cassidy zuwarf, ließ nicht zu, dass Cassidy sie präzise in dem Käfig stapelte.

„Langsamer“, brummte sie. „Je mehr Sie mich reizen, desto höher steigt der Preis. Im Augenblick sind wir bei einer großen Pizza oder Hühnchen süß-sauer. Wenn Sie so weitermachen, schulden Sie mir bald auch noch ein Bier.“

Im nächsten Moment grinste er sie über ihre Schulter hinweg dreist an. „Meinen Sie, ich würde Ihnen kein Bier ausgeben?“ Er betrachtete die säuberlich gestapelten Kartons. „Oha. Ich ahne eine leichte Zwangsneurose. Eine Ihrer Mitarbeiterinnen hat mich schon gewarnt, um Himmels willen nicht die ordentlich ausgerichteten Schachteln mit Handschuhen im Behandlungsraum durcheinanderzubringen. Jetzt verstehe ich den Grund.“

„Nichts spricht gegen Ordnung und Sauberkeit.“ Cassidy richtete den letzten Karton aus. „Okay, ich glaube, das reicht erst einmal. Den Rest transportieren wir mit einer zweiten Fuhre.“

Etwas blitzte in seinen Augen. Etwas Freches. „Meinen Sie?“

Er wartete ihr Nicken ab, dann stieß er sie blitzschnell in den Käfig, schloss das Türchen hinter ihr und schob den Karren den Flur hinunter.

Cassidy stieß einen Schrei aus. Zum zweiten Mal fand sie sich inmitten durcheinanderpurzelnder Kartons wieder. „Lassen Sie mich raus!“ Sie kam auf die Knie, als er vor den Aufzügen anhielt und den Knopf drückte, der die Kabine nach unten schickte.

Seine Schultern bebten vor Lachen, als er den Schlüssel für den Lastenaufzug aus der Tasche zog und die Tür aufschloss. „Was soll ich sagen? Sie fördern meine schlechten Seiten zutage. Ich konnte einfach nicht anders, ich musste Ihre strenge Ordnung stören.“

Er zog den Trolley in den Lift, öffnete das Schloss und streckte die Hände aus, um Cassidy festzuhalten. Der Lift setzte sich rüttelnd in Bewegung, und Cassidy flog mit einem Ruck geradewegs in Brads Arme. „Au!“

Die Kabine war eng. Noch enger dank des großen Transportkäfigs und der zwei Menschen, die sich hineingezwängt hatten. Und da Brad die Kabine ins Erdgeschoss geschickt hatte, als er den Käfig hineinzog, saßen sie nun gemeinsam an der Rückwand in der Falle.

Sie wurde gegen ihn gedrängt. Er spürte die üppigen Rundungen ihrer Brüste an seinem Oberkörper, ihr weicher pinkfarbener Pulli kitzelte auf seiner Haut. „Wie von selbst hatten sich seine Hände um ihre Taille gelegt, und ein Finger berührte ein Fleckchen weicher Haut. Merkte sie das?

Ihr Haar lockte sich unter seiner Nase, doch auch wenn es ihn in den Fingern juckte, er würde die Hand nicht heben. Cassidy hob den Kopf und fixierte ihn wieder mit ihren großen braunen Augen.

Das war doch verrückt. Es war Wahnsinn.

Er hatte die Frau erst an diesem Tag kennengelernt. Dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, hatte nichts zu bedeuten. Dass sie ihm ihre Hilfe angeboten hatte, auch nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass er sich aus unerfindlichen Gründen in ihrer Nähe wohlfühlte und sein Blick sich in diesem Moment auf ihre vollen Lippen heftete. Er wusste nichts über sie.

Ihr Ruf war ihr vorausgeeilt. Nach den Worten ihrer Kolleginnen war sie eine großartige Krankenschwester und leidenschaftliche Fürsprecherin ihrer Patienten, doch sie war auch berüchtigt für ihre Detailversessenheit und ihr strenges Regime auf der Station.

Wichtiger noch, sie wusste nichts über ihn. Sie hatte keine Ahnung von seiner Lebensgeschichte, von seiner Familie, seinem kleinen Mädchen irgendwo da draußen in der großen weiten Welt. Sie hatte keine Ahnung, wie nahe an den Zusammenbruch ihn diese Sache gebracht hatte. Und aus irgendeinem Grund wollte er es ihr nicht sagen.

Er wollte Leichtigkeit. Einen Flirt. Zeitvertreib. Etwas Spielerisches. Ohne Konsequenzen. Und wenn es nur ein paar Wochen anhielt.

So würde er zumindest das Weihnachtfest überstehen.

„Sie können mich jetzt loslassen.“ Ihr Ton war ruhig, ihre Hände lagen auf seinen Oberarmen und schickten in Wellen Wärme über seine nackte Haut.

Doch sekundenlang standen sie einfach nur da. Und rührten sich nicht.

Die Tür öffnete sich mit einem Ping, und sie sahen sich um. Brad nahm die Hände von ihrer Taille. Sie drehte sich um, schob den Trolley zur Lifttür hinaus, und er ging im Gleichschritt neben ihr her.

Der Tonfall und die Stimmung hatten sich verflüchtigt.

„Sind Sie sicher, dass Sie mir helfen wollen? Sie könnten mir genauso gut den Weg aufzeichnen.“

Sie stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. „Versuchen Sie nicht, sich aus der Einladung zum Essen herauszuwinden. Welche Hausnummer hat Ihre Wohnung noch gleich? Wenn ich jetzt höre, dass ich all diese Kartons vier Treppen hinaufschleppen soll, bin ich nicht sehr erfreut.“

Sie überquerten den Parkplatz und fanden sein Auto. Cassidy blinzelte. Ein Mini. Für einen Kerl von mehr als einem Meter achtzig.

„Das ist Ihr Wagen?“

„Gefällt er Ihnen?“ Er öffnete die Beifahrertür, rückte den Sitz nach vorn und fing an, Kartons auf den Rücksitz zu werfen. „Der ist größer, als Sie denken.“

„Warum um alles in der Welt haben Sie nicht einfach einen Teil von Ihrem Kram im Auto gelassen?“

Brad zuckte die Achseln. „Luca hat sich gestern Abend mein Auto ausgeliehen, nachdem er mir geholfen hatte, meine Wohnung zu räumen. Ich glaube, er hatte eine Verabredung.“ Und einige von Brads Kartons enthielten viel zu persönliche Dinge, um sie unbewacht in einem Auto zu lassen.

Cassidy schüttelte den Kopf, öffnete den Kofferraum und versuchte, so viele Kartons wie möglich darin zu verstauen. Zum Schluss standen noch zwei von den größeren auf dem Boden.

Sie sah zu, wie Brad den Beifahrersitz wieder in Position brachte, und zuckte die Schultern. „Die zwei kann ich auf den Schoß nehmen. Die Fahrt dauert ja nur fünf Minuten. Das wird schon gehen.“

Brad verzog das Gesicht. „Kann sein, dass Sie etwas anderes auf den Schoß nehmen müssen.“

Ihr war, als wollte sich ihr Magen umdrehen. Was kam jetzt?

„Warum habe ich dieses sichere Gefühl, dass Sie nie mit offenen Karten spielen?“

Er ergriff ihre Hand und zog Cassidy mit sich zum Pförtnerhäuschen am Eingang zum Krankenhausgelände. Die zwei Kartons ließ er neben seinem unverschlossenen Wagen stehen. „Kommen Sie.“

„Wohin gehen wir, um Himmels willen?“

„Ich muss noch etwas abholen.“

Er stieß die Tür zum Pförtnerhäuschen auf. Es war ein altmodisches, solide aus Stein gemauertes Bauwerk und wurde gewöhnlich für Lieferungen und als Stauraum genutzt, gelegentlich aber auch von den Pflegern, wenn sie sich für fünf Minuten unsichtbar machen wollten. Die Tür quietschte laut. „Frank? Bist du hier irgendwo?“

Frank Wallace tauchte auf. Einhundertundfünfzig Kilo schwer, ein schwarz-weißes Fellbündel in den Händen. „Da sind Sie ja, Dr. Donovan. Er war ganz brav. Überhaupt kein Problem. Sie können ihn mir jederzeit bringen.“

Frank überreichte Brad das schwarz-weiße Bündel, und es dauerte ein paar Sekunden, bis Cassidy erkannte, dass es sich bei dem zottigen Fellknäuel um einen Hund mit leuchtend rotem Halsband und ebensolcher Leine handelte.

Brad beugte sich herab und setzte den Hund auf dem Boden ab. Da schien das Tier zum Leben zu erwachen, hob ruckartig den Kopf und wedelte wild mit dem Schwänzchen. Glänzende schwarze Augen und eine hechelnde rosa Zunge.

„Cassidy, darf ich Ihnen Bert vorstellen? Er ist der Grund für den Rauswurf aus meiner Wohnung.“

Cassidy beobachtete Hund und Mann voller Staunen. Bert schien entzückt zu sein, sein Herrchen zu sehen, sprang an Brad hoch und leckte begeistert seine Hände. Sein raues Bellen hallte um das Häuschen herum.

Er war ein zerrupfter kleiner Köter, augenscheinlich ohne Stammbaum. Ein Mischling, so, wie er aussah.

„Warum um alles in der Welt halten Sie einen Hund?“, fragte sie fassungslos. „Sie leben in Australien. Sie können ihn doch unmöglich mit hierhergebracht haben.“ Mit Hunden kam sie zurecht. Auf Katzen reagierte sie allergisch. Sie hatte sich schon oft überlegt, sich ein Haustier zur Gesellschaft anzuschaffen, ein freundliches Gesicht, das sie empfing, wenn sie nach Hause kam. Aber lange Schichtarbeit war der Haustierhaltung nicht förderlich. Sie kniete sich neben Brad auf den Boden und streckte vorsichtig die Hand aus. Bert beschnupperte sie kurz, und dann schleckte er sie mit der gleichen Begeisterung ab, die er gegenüber Brad gezeigt hatte.

„Ich habe ihn gefunden. Vor ein paar Wochen, auf der Straße vor meiner Wohnung. Er war völlig abgemagert und hockte in einem Hauseingang. Ich konnte ihn unmöglich sich selbst überlassen.“ Und ehrlich gesagt, ich brauchte ihn genauso sehr, wie er mich brauchte. Brad ließ sich von dem zottigen Hund die Hände lecken. Melody hätte diesen kleinen Kerl geliebt.

„Und deswegen sind Sie aus Ihrer Wohnung geflogen?“ Ganz spontan verspürte sie Erleichterung. Er war nicht rausgeworfen worden, weil er die Miete nicht bezahlt, wilde Partys veranstaltet oder zwielichtige Frauen zu Besuch gehabt hatte. Wegen eines Hundes war er rausgeflogen. Sie sah ihm ins Gesicht, während er weiterhin mit Bert redete. Die gegenseitige Liebe war nicht zu übersehen.

Cassidy fing an zu lachen. „Bert? Sie haben Ihren Hund Bert genannt?“

Er zuckte die Achseln. „Was ist gegen Bert einzuwenden? Der Name ist völlig in Ordnung.“

„Warum nicht Rocky oder Buster oder Duke?“

Brad winkte ab. „Sehen Sie ihn doch an. Sieht er aus wie ein Rocky, Buster oder Duke?“

Er wartete ein paar Seku...

Autor

Alison Roberts
Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde.
Sie fand eine Stelle...
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Karin Baine
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