Dark Elements 6 - Funkelnde Gnade

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Trinity ist immer noch mitgenommen von der letzten Schlacht, bei der sie Zayne fast für alle Zeiten verloren hätte. Aber ihr geliebter Beschützer ist nicht mehr der, der er mal war. Er ist nicht nur plötzlich im Besitz der Gnade, sondern er erinnert sich auch nicht mehr an Trinity und an die tiefen Gefühle, die er einst für sie empfunden hat. Das besondere Band zwischen ihr und Zayne scheint für immer zerstört zu sein. Dabei braucht sie Zayne jetzt an ihrer Seite, um die düsteren Pläne des »Boten« zu vereiteln. Trinity ist entschlossen, um Zaynes Liebe zu kämpfen – und das Ende der Welt zu verhindern.

»Ein absolutes Must-read für alle, die Abenteuer, Liebesgeschichten, unerwartete Wendungen und fantastische Welten lieben!«
New-York-Times-Bestsellerautorin Kresley Cole über Dark Elements – Glühende Gefühle

»Jennifer L. Armentrouts packendes, neues Fantasywerk ist bisher ihr bestes.«
New-York-Times-Bestsellerautorin Gena Showalter über Dark Elements – Glühende Gefühle


  • Erscheinungstag 23.11.2021
  • Bandnummer 6
  • ISBN / Artikelnummer 9783745752816
  • Seitenanzahl 464
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des Gesundheitswesens, Ersthelferinnen und Ersthelfer
sowie all jene, die trotz großer Gefahr
für ihr Leben sowie das ihrer Angehörigen
unermüdlich und endlos gearbeitet haben,
um Leben zu retten und die Geschäfte offen zu halten.
Danke.

1

sig

Zayne stand kaum einen Meter von mir entfernt, und die für Juli überraschend kühle Brise wehte ihm die Spitzen seines blonden Haars von den nackten Schultern.

Beziehungsweise glaubte ich das zu sehen.

Langsam wurde ich blind. Mein Sichtfeld war schon stark eingeschränkt, an den Rändern konnte ich nur noch wenig bis gar nichts erkennen. Letztlich würde nur noch ein stecknadelkopfgroßer Ausschnitt bleiben. Um das Ganze noch komplizierter zu machen, war auf beiden Augen Grauer Star hinzugekommen, sodass meine Sehfähigkeit noch verschwommener und die Augen noch lichtempfindlicher waren. Dabei handelte es sich um die genetisch bedingte Krankheit namens Retinitis pigmentosa, und nicht mal das ganze Engelsblut, das durch meine Adern floss, konnte das Fortschreiten der Krankheit verhindern. Jedes helle Licht erschwerte es mir, etwas zu sehen, und schwaches Licht war auch nicht viel besser, weil dadurch alles nur schemenhaft wurde, und sobald es dunkel wurde, konnte ich kaum noch etwas erkennen.

Und da die Laternen im Rock Creek Park ausschließlich den Wanderweg hinter mir beleuchteten, war es mehr als wahrscheinlich, dass ich gar nicht sah, was ich zu sehen meinte.

Außerdem hatte ich erst vor wenigen Tagen ein höllisches Trauma durchlebt, als mir der psychotische Erzengel Gabriel, auch bekannt als der Bote überlanger Monologe, eine Tracht Prügel epischen Ausmaßes verpasst hatte, und Gott allein wusste, was das mit meinen Augen angerichtet hatte.

Oder mit meinem Verstand.

Zayne könnte bloß eine Halluzination sein, ausgelöst von einem Gehirnschaden oder durch Trauer. Beides kam mir logischer vor, als meinen Augen zu trauen. Denn: Wie stand er da vor mir? Zayne war … oh Gott, er war gestorben, sein Körper war mittlerweile zu Staub zerfallen, wie bei allen toten Wächtern. Unsere Bindung, die ihn zu meinem Beschützer machte und die uns beiden Stärke und Schnelligkeit verlieh, hatte sich in dem Moment gegen uns gerichtet, als ich mir aufrichtig eingestand, wie sehr ich in Zayne verliebt war. Das schwächte ihn körperlich, und Gabriel nutzte das zu seinem Vorteil. Ich hatte Zaynes letzte Worte gehört. Schon okay. Und ich hatte mitbekommen, wie er seinen letzten Atemzug tat. Ich hatte gespürt, wie das Band, das uns als Beschützer und Trueborn zusammenhielt, innerlich riss.

Er war gestorben.

Er war tot.

Aber er war hier, er stand vor mir, und ich roch frisch gefallenen Schnee und Minze – Wintermint. Stärker denn je, als wäre die Sommerluft wintergetränkt.

Wegen dieses Duftes fragte ich mich, allerdings nur kurz, ob er vielleicht ein Geist wäre – jemand, der gestorben und übergegangen war. Wenn Seelen, die ins Jenseits übergetreten waren, nach ihren Lieben schauten, rochen die Hinterbliebenen oft etwas, das sie an die Verstorbene oder den Verstorbenen erinnerte. Parfum. Zahnpasta, Zigarren. Lagerfeuer. Es konnte alles sein, denn der Himmel … Der Himmel duftete ganz besonders. Er roch nach dem, was man sich am meisten wünschte, und ich wollte mehr als alles auf der Welt, dass Zayne noch lebte.

Jetzt nahm ich den Duft des Himmels wahr.

Aber selbst mit meinem eingeschränkten Sichtfeld konnte ich erkennen, dass Zayne kein Geist war. Nein, er war aus Fleisch und Blut – strahlend lebendig. Denn seine Haut leuchtete mit einem sanften Schimmer, der zuvor nicht da gewesen war.

Schwindel überfiel mich, als ich in die Augen blickte, die nicht mehr hellblau waren. Nun besaßen sie einen intensiven, lebendigen Farbton, der mich an den kurzen Moment während der Abenddämmerung erinnerte, wenn der Himmel ein sattes Saphirblau annahm. Aber Wächter hatten weder solche Augen, noch leuchteten sie wie diese Glo-Worm-Stofftierchen, die Jada mal auf dem Dachboden gefunden hatte, als wir noch Kinder gewesen waren.

Und Wächter besaßen, verflucht noch mal, auch keine solchen Flügel, wie sie sich in diesem Moment an Zaynes kräftigen Schultern ausbreiteten. Das waren keine Wächter-Flügel, die mich oft an weiches Leder erinnerten. Oh nein, diese hier waren gefiedert – weiß und fest, durchzogen mit leuchtenden goldenen Spuren göttlichen Feuers, durchzogen mit Gnade.

Bis auf Gott selbst trugen nur zwei Geschöpfe in dieser Welt und darüber hinaus die starke und allmächtige Gnade in sich. Und ich war eines dieser Geschöpfe.

Doch anders als ich war Zayne kein Trueborn, und er war auch nicht wie einige wenige Menschen, die in ihrem Familienstammbaum einen Engel hatten, der ihnen eine schwächere und nicht sehr kraftvolle Gnade verlieh, sodass sie entweder Geister und Gespenster sehen konnten oder über irgendwelche anderen spirituellen Fähigkeiten verfügten. Mein ganzes Leben lang war mir erklärt worden, dass ich die einzige Trueborn bin, die erste Generation der Verbindung eines Engels und eines Menschen. Allerdings war das nicht ganz richtig. Denn es hatte noch Sulien gegeben, Gabriels Sohn, aber Zayne hatte ihn umgebracht, darum ging ich davon aus, wieder so einzigartig zu sein, wie ich nun mal war. Doch all das spielte keine Rolle, weil Zayne ja Wächter gewesen war.

Das einzige andere Wesen mit dieser Art von Gnade und Flügeln war ein Engel, allerdings war Zayne auch das nicht.

Trotzdem besaß er jetzt definitiv Engelsflügel – gefiederte Engelsflügel, die vor Gnade nur so strahlten.

»Trin …?«, sagte er und atmete hörbar scharf ein. Oh Gott, das war tatsächlich seine Stimme, und mein ganzer Körper schien zu beben. Vor Tagen hätte ich alles dafür gegeben, seine Stimme noch einmal zu hören, und nun war es so weit.

Auf wackligen Beinen bewegte ich mich einen Schritt vorwärts.

»Ich kann … dich spüren.« Er klang verwirrt und starrte mich an.

Meinte er damit die Bindung als mein Beschützer? Ich suchte die Spur eines Zeichens in mir, die Andeutung von Gefühlen, die nicht meine waren. Doch nichts. Da war kein Band. Keine Verbindung.

Zayne war nicht mehr mein Beschützer.

»Trinity«, wiederholte er sanft. Und da bemerkte ich es. Den Klang seiner Stimme. Er war anders. Da war mehr als nur Verwirrung. »Der Name … er bedeutet etwas.«

Mein Herz überschlug sich. »Weil’s mein Name ist.«

Er neigte den Kopf, sodass sein Gesicht im Schatten lag. Dennoch konnte ich den starren Blick fühlen. Erinnerte er … erinnerte Zayne sich nicht an mich? Sorge keimte in mir auf. Keine Ahnung, wie er zurückgekommen war oder warum er wie ein Engel aussah. Doch wenn ihm etwas zugestoßen war, was sein Gedächtnis beeinträchtigt hatte, würde ich ihm helfen. Wir würden das gemeinsam bewältigen. Alles, was zählte, war, dass er am Leben war. Ich machte einen weiteren Schritt vorwärts, hob den Arm …

In einem Augenblick stand er noch ein Stück von mir entfernt, im nächsten war er direkt vor mir – mit diesen unglaublichen Flügeln, die die Welt hinter ihm verdeckten. Zayne bewegte sich schneller als jeder Wächter – sogar schneller als ich.

Verblüfft zuckte ich zusammen und drehte ruckartig den Kopf zur Seite. Etwas sagte mir, dass Zayne, der wusste, wie es um meine Sehfähigkeit stand und wie schwer es mir fiel, Bewegungen zu verfolgen, sich mir nicht auf diese Art genähert hätte. Aber mit seinem Gedächtnis stimmte eindeutig irgendetwas nicht und …

Zayne ergriff meine Hand, senkte das Kinn und atmete tief ein. Er erschauderte und hob dann wieder den Kopf. Erstaunt riss ich die Augen auf. So nah, wie er mir nun war, konnte ich die vertrauten Linien und Umrisse seines Gesichts erkennen, doch sie waren … Ich sah sie viel deutlicher, und das alles ergab keinen Sinn. Zaynes Flügel blockierten das Mondlicht, und der Lichtschein der Laternen war nicht nah genug, als dass er eine Erklärung dafür geboten hätte, warum ich Zayne so gut sehen konnte. Seine Gesichtszüge waren allzu klar, und da … da war tatsächlich dieses Leuchten unter …

»Meinst du, du kannst es mit mir aufnehmen, kleines Nephilim?«, fragte er.

Moment mal. Was?

Sämtliche meiner Sinne gerieten in Alarmbereitschaft, während ich zu ihm aufblickte. »Kleines …?«

Meine noch nicht ganz verheilte Haut und die angeschlagenen Muskeln protestierten, loderten schmerzhaft auf, während er mich an seine Brust zog. Als wäre er aus Stahl, schloss sich sein Arm fest um meine Taille. Der Griff war erdrückend, der Körperkontakt war allerdings ein Schock für mein gesamtes System, er zerstreute alle Gedanken und ließ die Alarmglocken verstummen, die eigentlich laut hätten läuten sollen. Erneut senkte Zayne den Kopf, und mein Körper spannte sich erwartungsvoll an. Hier ging eine Menge Seltsames vor sich, aber er wollte mich offenbar küssen, und das würde ich mir niemals entgehen …

Er barg das Gesicht in meinem Haar und atmete erneut tief ein. »Dein Duft … den kenne ich. Er sagt mir was. Warum?«

»Weil du … äh … mich kennst?«, meinte ich.

»Kann sein«, murmelte Zayne, und für einen Moment hielt er mich bloß fest, und ich betrachtete das als gutes Zeichen. »Aber du … ich erkenne die Gnade. Sie ist stark. Wie bei einem Erzengel«, sagte er und spie das letzte Wort aus, als würde er über eine unheilbare Krankheit sprechen.

Was, zur Heiligen Hölle …?

Ich wandte den Kopf, immer noch unfähig, die Arme zu heben, weil sie seitlich an meinen Körper gedrückt wurden. »Zayne, ich bin’s«, meinte ich und versuchte, mir auf all das hier einen Reim zu machen. »Trinity.«

Er rührte sich kein bisschen. »Da ist etwas Wichtiges – dein Name, dein Duft«, erwiderte er, erneut erschaudernd, während sich sein Griff ein wenig lockerte. »Ich spüre zu viel. All die Gier und Unersättlichkeit, die Abscheu und den Hass. Das ist in mir, und es erfüllt mich.«

Das … das hörte sich überhaupt nicht gut an.

»Aber du riechst fantastisch. Berauschend. Vertraut«, wiederholte er. Er bewegte den Kopf, und ich spürte seinen Mund an meiner Wange.

Ich keuchte, denn meine Sinne waren überwältigt von der Explosion widersprüchlicher Gefühle. Mein Körper reagierte vertraut auf seine Nähe, doch mein Verstand und mein Herz nicht. »Lass mich los, und wir werden herausfinden, was vor sich geht.«

Doch Zayne ließ nicht los.

Er lachte.

Und dieses Lachen … es hatte nichts von dem Klang, den ich liebte und mochte. Schauer überzogen meine Haut, aber nicht auf lustige, gute Art. Zaynes Lachen war kalt, beinahe herzlos, und es gab eigentlich nichts an ihm, das herzlos war. »Lass mich runter, Zayne.«

»Hör auf, mich so zu nennen.«

Mein Herz setzte gleich mehrere Schläge aus. »Aber so heißt du.«

»Ich habe keinen Namen.«

»Doch, hast du. Er lautet Zayne …«

»Und ich werde dich runterlassen, wenn es mir passt«, unterbrach er mich. »Rate mal, kleines Nephilim. Ich habe keine Lust dazu.«

Okay. Ich liebte ihn mit jeder Faser – liebte ihn mehr als alles andere. Allerdings war ich darüber hinaus momentan superbesorgt, was seinen Geisteszustand betraf. Ich wollte ihm helfen, und das würde ich auch. Aber er fing echt an, mich zu nerven.

»Hör auf, mich kleines Nephilim zu nennen«, warnte ich ihn.

»Das bist du doch.«

»Ich bin eine Trueborn, aber das ist auch nicht mein Name. Mein Name lautet Trinity oder Trin.« Vergeblich versuchte ich, mich aus seinem Griff zu winden. Ein tiefer, animalischer Laut drang aus seiner Kehle. »Lass mich runter, oder ich schwöre bei Gott …«

»Gott? Du schwörst bei Gott?« Erneut lachte er auf. »Gott hat uns alle verlassen.«

Ich war schockiert, empfand eine wilde Mischung aus Erleichterung, Verwirrung, Irritation und etwas viel Stärkerem und Erschütternderem. Zum ersten Mal, seit ich Zayne kannte, empfand ich in seinen Armen Angst.

Mir wurde eiskalt, und mein körpereigenes Alarmsystem reagierte auf den Ansturm von Furcht. Tief in mir sprühte meine Gnade erste Funken.

Zayne fauchte. Tatsächlich! Er fauchte – wie eine wütende, ungezähmte Katze. Wie eine wütende, sehr große Wildkatze. Wegen der Gnade, die in mir pulsierte. Das war mehr als verrückt.

Mein Instinkt übernahm. Ich drehte den Körper, achtete nicht auf die Schmerzen, die von meinen noch nicht geheilten Verletzungen ausgingen, riss das Knie hoch und rammte es ihm in die Leiste.

Oder versuchte es zumindest.

Denn Zayne ahnte den Move voraus. Mein Knie traf bloß seinen Oberschenkel. Eine Woge des Zorns und rasch wachsender Panik peitschte durch mich hindurch, während meine Gnade drängte und verlangte, ans Licht zu kommen, doch ich hielt sie zurück. Zayne war verwirrt, und er war eben erst mit Engelsflügeln von den Toten zurückgekehrt, deshalb wollte ich ihm nicht allzu sehr wehtun. Und meine Gnade würde mehr als das anrichten. Sie würde ihn umbringen.

Es gelang mir, einen Arm zu befreien, und ich boxte Zayne auf den Kiefer, immerhin so fest, dass in meinen Knöcheln Schmerz aufflammte, und er lächelte. Er lächelte, als hätte ich ihn nicht mal getroffen, doch der Schwung seiner Lippen wirkte überhaupt nicht richtig, sondern eiskalt und unmenschlich.

»Autsch«, nuschelte er. »Da musst du schon noch besser werden.«

Ich holte mit der flachen Hand aus und traf ihn unterm Kinn. Vor Schmerz stöhnte er auf, während er mich zur Seite stieß – nein, zur Seite warf. Spitz aufschreiend schlug ich ein Stück entfernt auf dem Boden auf. Noch immer hatte mich der Schock fest im Griff und dämpfte so ein wenig die neuerliche Welle von stechendem Schmerz, als ich zu Zayne aufschaute und begriff.

Das war Zayne – und doch war er es nicht.

Der wahre Zayne würde mich nie wie eine Frisbeescheibe wegschleudern. Selbst wenn ich es verdient hätte, und, weiß Gott, ich konnte extrem unausstehlich sein, dennoch würde Zayne so etwas niemals tun. Ich könnte ihm mitten ins Gesicht schlagen, und er würde trotzdem nicht mal einen Finger gegen mich erheben, wenn mir das Schaden zufügen könnte.

Den Schmerz und die Bestürzung über diese Erkenntnis abschüttelnd, rappelte ich mich auf.

Verschwommen nahm ich die Bewegung von goldener Haut und Flügeln wahr. Allerdings war sie so schnell, dass ich sie nicht verfolgen konnte, und schon hatte Zayne mich am Ärmel meines Shirts gepackt. Er hob mich hoch in die Luft. So schwebte ich meterhoch über dem Boden.

Heiliger Mist.

Seine Flügel entfalteten sich und breiteten sich aus. Sie waren riesig und wunderschön. Und momentan auch echt Angst einflößend. Zayne hielt mich, als wäre ich ein Kleinkind, das einen Wutanfall hatte. Noch dazu ein winziges Kleinkind.

Und das legte meinen Bitch-Schalter um.

Ich trat um mich und traf Zayne in den Magen. Sein Griff an meinem T-Shirt lockerte sich, und urplötzlich flog ich.

Ich landete auf dem Bauch, knallte mal wieder auf den Boden. Schmerz bohrte sich in die Rippen, während mir die Luft wegblieb. Okay. So fühlte es sich also wirklich an, wenn man wie eine Frisbeescheibe weggeschleudert wurde. Jetzt kannte ich das auch. Gut zu wissen. Stöhnend kippte ich zur Seite und versuchte, mich aufzusetzen. Doch ich kam nicht weit. Schon war er wieder da, über mir, sein Gesicht direkt vor mir. Diese strahlend blauen Augen waren wie Glasscherben aus Eis. Bei seinem Blick gefror mir das Blut in den Adern, gefror meine Seele.

»Zayne, bitte …«

Er packte mein Kinn, die Finger drückten in die Haut. »Hör auf, mich so zu nennen.«

»Aber das ist dein Name …«

»Nein.«

»Wie soll ich dich denn sonst nennen?«, brüllte ich. »Idiot?«

Amüsiert zog er einen Mundwinkel nach oben. »Du darfst mich Tod nennen. Wie hört sich das an?«

Angst flutete mein System, doch das konnte ich zum Glück verbergen. »Wie sich das anhört? Ziemlich bescheuert!«

Sein Grinsen gefror.

Ich holte mit der Faust aus.

Ruckartig streckte er die Hand aus und fing meine Faust im Flug. Er hatte nicht mal den Blick von mir abgewandt, nicht einmal mein Kinn losgelassen. »Das kommt mir bekannt vor.«

»Dass ich etwas, das du gesagt hast, für bescheuert halte? Denn das sollte …«

»Nein.« Er kniff die Augen zusammen. »Das hier. Das Kämpfen.«

»Weil wir zusammen trainiert haben! Wir haben gegeneinander gekämpft«, erklärte ich schnell und versuchte, die Panik und Furcht zu unterdrücken. »Nicht, um uns zu verletzen. Nie, um uns gegenseitig zu verletzen.«

»Nie um uns gegenseitig zu verletzen«, wiederholte er behäbig, als könnte er nicht begreifen, wie die Wörter zusammenpassten. Sein Kopf wirbelte zur Seite, und er schloss die Augen. »Das ist nicht …« Seine Finger gruben sich in meine Haut und drückten so kräftig zu, dass ich mir sicher war, mein Kinn würde zersplittern. »Du kennst mich. Du bist wichtig.«

Ich schluckte die Angst hinunter. »Weil … weil wir uns kennen. Wir sind zusammen. Du würdest das nicht tun. Du würdest mir nicht wehtun.«

»Würde ich nicht?« Nun klang er noch verwirrter. »Warum nicht? Du bist ein Nephilim. Du besitzt die Gnade eines Erzengels.«

»Das ist egal. Du würdest mich nicht verletzen, weil du mich liebst«, flüsterte ich mit brüchiger Stimme. Meine Augen füllten sich mit Tränen. »Darum.«

»Liebe?« Erschrocken fuhr er zusammen, als hätte er sich verbrannt, und ließ abrupt mein Kinn los. »Ich liebe dich?«

»Ja. Ja! Wir lieben einander, Zayne, und was auch immer dir zugestoßen ist, wir bringen es wieder in Ordnung. Gemeinsam kommen wir dahinter und …«

»Wir?« Seine Hand schloss sich um meine Kehle, der Griff beinahe tödlich. »Es gibt kein Wir. Es gibt keinen Zayne«, widersprach er. »Ich bin Der Gefallene

Es blieb nicht genug Zeit, dass diese Worte Schaden anrichten oder irgendeinen Sinn ergeben konnten. Seine Hand umklammerte meinen Hals dermaßen fest, dass nur noch der dünnste Hauch von Atem durch meine Kehle passte. Keine Ahnung, ob er tatsächlich zudrücken würde oder nicht. Wenn ja, war er dann ins Leben zurückgekehrt, um mich zu töten? Das schien ironischerweise passend. Und wenn das wirklich so war, wäre ich offenbar supertot und superangepisst, aber auch wahnsinnig untröstlich. Denn wenn Zayne aus dem, was auch immer es war, erwachte, würde ihn die Erkenntnis, was er getan hatte, erneut umbringen.

Das jedoch hatte ich nicht verdient.

Genauso wenig wie er.

Schwer zu erklären, was ich als Nächstes tat. Unbewusst hob ich die Hände. Die zitternden Finger einer Hand legte ich an seine Wange und die Handfläche der anderen auf seine Brust. Haut an Haut.

Zayne blinzelte, löste den Griff um meinen Hals und wich ruckartig zurück. Einen flüchtigen, irritierenden Moment lang trübten sich seine leuchtenden Augen, während ich mich seitlich wegdrehte und herrlichen Sauerstoff einatmete. Keinen Schimmer, was ihn dazu veranlasst hatte, loszulassen, und was ihn daran gehindert hatte, noch ein bisschen mehr Druck auszuüben. Überglücklich, wieder Luft zu bekommen, war es mir im Augenblick auch echt egal.

Jetzt schloss sich seine Hand um meine Schulter, und ich verkrampfte mich sofort, aber er rollte mich bloß auf den Rücken. Fast zärtlich.

»Was …« Er schüttelte den Kopf, und Strähnen seines blonden Haars fielen ihm ins Gesicht. »Warum würdest du mich nicht angreifen? Warum berührst du mich? Ich kann die Macht in dir spüren. Du kannst gegen mich kämpfen. Du wirst nicht gewinnen, aber immer noch besser, als nur dazuliegen.«

Besser, als dich nicht zu töten, hätte ich am liebsten eingeworfen, aber selbst ich konnte erkennen, dass das sinnlos war. Mit ihm zu diskutieren würde nicht funktionieren. Ich könnte von den Dächern der Häuser schreien, dass ich ihn liebe, und es würde nichts ändern. Ich musste hier weg, an einen sicheren Ort, um herauszufinden, was, zur Hölle, eigentlich los war. Mir gefiel nicht, was ich gleich tun würde, allerdings gab es keine andere Möglichkeit.

Ich griff an meinen Oberschenkel und zog den eisernen Dolch heraus, der unter dem Saum meines Shirts verborgen war.

»Warum willst du nicht gegen mich kämpfen?«, fragte er. »Du bist der Feind. Du solltest gegen mich kämpfen.«

Dass er mich Feind nannte, konnte ich überhaupt nicht begreifen. »Ich werde nicht gegen dich kämpfen, weil ich dich liebe, du verdammter Idiot.« Meine Finger schlossen sich um den Griff des Dolches, während er einen Blick aufsetzte, den er mir immer zuwarf, wenn ich etwas tat, das er nicht verstand, was oft der Fall war. Es zerriss mir das Herz.

»Tut mir leid«, flüsterte ich.

Zayne neigte den Kopf zur Seite. »Tut mir leid, dass …«

Ich drückte mich vom schmutzigen Boden und dem Gras ab und schwang den Arm im hohen Bogen. Die scharfe Kante der Klinge erwischte ihn unterm Kinn. Ich führte den Hieb schnell und flach aus, was ihn verblüffte.

Zayne stolperte nach hinten, sein wunderschönes Gesicht wutverzerrt. Er griff sich an die Kehle und brüllte so laut, dass es mir kalt den Rücken hinunterlief. Ich sprang auf die Füße und zögerte keine Sekunde. Ich rannte los, als wäre der Teufel hinter mir her.

Ich lief und lief, kreuzte blindlings den Verkehr und rannte beinahe unzählige Menschen über den Haufen, während meine Sneakers über den Asphalt trommelten. Wie ich es hinbekam, nicht von einem Auto plattgemacht zu werden, war mir ein Rätsel. Jeder einzelne Körperteil schmerzte, aber ich wurde nicht langsamer. Ich wusste nicht mal, wohin ich lief …

Folge mir.

Ich strauchelte, als eine Stimme, die so gar nicht meine war, um mich herum widerhallte. Schwer atmend wurde ich langsamer. Grellgelbe Straßenlaternen warfen bedrohliche Schatten auf die Gehwege. Gesichter und Körper bildeten nichts weiter als formlose Unschärfen, während von der Straße Autohupen ertönten und Leute schrien.

Folge mir, Trueborn.

Entweder war ich kurz davor, den Verstand zu verlieren, was meiner bescheidenen, unvoreingenommenen Meinung nach zu diesem Zeitpunkt völlig verständlich gewesen wäre, oder ich hörte tatsächlich eine Stimme in meinem Kopf.

Doch bedeutete es nicht auch, dass man den Verstand verlor, wenn man Stimmen hörte?

Folge mir, Kind des Michael. Das ist deine einzige Hoffnung, den in den alten Stand zurückzuversetzen, der deinetwegen der Gefallene wurde.

Plötzlich entstand vor meinem geistigen Auge wieder das Bild von etwas, das wie ein Stern aussah, der auf die Erde fiel. Zayne. Das war Zayne gewesen.

Gefallen.

Er sagte ja auch, er sei der Gefallene.

Ich wusste, was das bedeutete, aber das konnte doch wohl nicht wahr sein.

Folge mir.

Die Stimme … sie klang, als würde sie große Macht ausstrahlen. Eine Stimme, unter der ich mir nichts vorstellen konnte. Ich schluckte trocken, mein Blick huschte hektisch hin und her, und ich sah nichts. Zayne war von den Toten auferstanden – er war verändert, im Stil von Friedhof der Kuscheltiere, hatte Flügel, aber er war wieder da. Er war es wirklich, und er lebte, also konnte ich sehr wohl eine echte Stimme in meinem Kopf hören.

Momentan war eben alles möglich.

Aber wenn die Stimme real war, wie, in aller Welt, sollte ich etwas folgen, das ich nicht sehen konnte?

Kaum gedacht, hörte ich: Vertrau deiner Gnade. Sie weiß, wohin sie muss. Du bist schon auf halbem Weg zu dem Ort, wohin du musst.

Meiner Gnade vertrauen? Beinahe hätte ich aufgelacht, allerdings war ich zu erschöpft. Ich war bereits auf halbem Weg zu dem Ort, wohin ich musste? Ich war doch bloß gerannt …

Und zwar kopflos.

Gerannt, ohne wirklich bewusst zu denken. Genauso wie ich Zayne berührt hatte. Beide Male hatte mein Instinkt übernommen, und Instinkt und Gnade waren ein und dasselbe.

Ich war bereit, alles zu versuchen, um herauszufinden, was mit Zayne geschehen war.

Ich nahm wieder Tempo auf, begann erneut zu rennen und lief geradeaus, bis ich nach links abbog. Dafür gab es keinen Grund. Ich kürzte nur den Weg ab und eilte dann weiter. Als Nächstes bog ich nach rechts ab. Es fing an zu regnen und schüttete dann gleichmäßig. Keine Ahnung, wohin ich laufen sollte. Das Herz pochte gegen meine Rippen, als ich eine verkehrsreiche Ecke überquerte. Ich hatte die Stimme eine Weile nicht mehr gehört, und schon als ich befürchtete, sie mir doch nur eingebildet zu haben, sah ich die … die Kirche auf der anderen Straßenseite, die nach und nach deutlicher zu sehen war. Aus Sandstein errichtet und mit vielen Erkern und Türmchen, wirkte sie wie aus grauen Vorzeiten. Mir war sofort klar, dass ich genau dorthin geführt werden sollte. Wie oder warum? Keine Ahnung!

Ich glaubte, die Kirche wiederzuerkennen, als ich die breiten Stufen hinaufstieg und zwischen zwei erleuchteten Laternen hindurchging. Saint Patricks oder so ähnlich? Der Mondschein fiel auf das Kreuz über dem Eingang, und einen Moment lang schien es so, als würde es in himmlischem Licht erstrahlen.

Kaum dass ich unter das Vordach trat, atmete ich flach ein. Regentropfen liefen seitlich an meinem Gesicht und meiner Kleidung hinunter. Blut klebte unter meinem Mund. War es überhaupt meins? Oder Zaynes? Keinen Schimmer. Ich hatte den leisen Verdacht, mir eine Rippe gebrochen zu haben, die wahrscheinlich erst verheilt war, aber es tat nicht weh. Vielleicht hatte mein Körper, weil ich so viel gleichzeitig fühlte, keine Gelegenheit, um eine Auszeit zu betteln.

»Wird schon schiefgehen«, murmelte ich, näherte mich dem Kirchenportal und blieb dann stehen.

Jedes einzelne Härchen meines Körpers stellte sich auf, und das Unbehagen wuchs, sodass es mir schwerfiel zu schlucken. Ohne zu wissen, was mich erwartete, öffnete ich die massiven Türen und betrat das Gebäude, das vor über zwei Jahrhunderten erbaut worden war. Umgehend tanzte ein elektrisierender Reiz auf meiner Haut, wie eine Warnung, dass ich … dass ich an einem Ort war, an den ich eigentlich nicht gehörte.

Das Kind eines Engels, geschweige denn eines Erzengels, war ein großes Tabu, auch wenn ich im Grunde dafür geschaffen wurde zu kämpfen. Darum sollte es mich eigentlich nicht allzu überraschen, dass mein Instinkt verlangte, mich gleich wieder umzudrehen und zu gehen.

Doch das tat ich nicht.

Meine Muskeln spannten sich an, als sich knarrend eine kleine Tür zu meiner Rechten öffnete. Ein junger Geistlicher in weißem Gewand mit rotem Saum trat heraus.

Er nickte mir zu. »Hier entlang, bitte.«

Unsicher, ob ich dankbar sein sollte, dass man mich zu erwarten schien, oder ob ich echt ausflippen sollte, setzte ich meine Füße in Bewegung. Leise folgte ich dem Priester einen schmalen Korridor entlang. Während wir voranschritten, hielt er alle paar Meter an, um Kerzen anzuzünden. Hätte er das nicht getan, wäre ich wahrscheinlich gegen eine der Wände gelaufen.

Die Statue des Heiligen Brendan des Seefahrers bewachte den Eingang des Kirchenschiffs. In der einen Hand hielt er ein Boot, in der anderen einen langen Stab. Die Heilige Brigid stand ihm gegenüber, eine Hand auf dem Herzen.

Ich hatte das unheimliche Gefühl, dass mich die Statuen beäugten, während mich der Geistliche weiter in Richtung Altar führte. Meine Schritte gerieten ins Stocken, als meine Augen langsam das Bild von dem zusammensetzten, was ich da sah.

Vier in Stein gemeißelte Engel knieten auf dem Boden, die Flügel nach hinten gestreckt. In ihren Händen hielten sie Becken mit etwas, das ich für Weihwasser hielt, denn ich bezweifelte, dass sie Regenwasser oder so etwas sammelten.

Der Priester trat zur Seite und winkte mich nach vorn. Mir schlug das Herz bis zum Hals, während ich den Altarraum betrat. Geradeaus hing ein wohl vier Meter hohes Kreuz über dem Hauptaltar, das sowohl den gekreuzigten als auch den auferstandenen Jesus trug.

Ein eisiger Luftzug umwehte mich, und der nächste Atemzug, den ich ausstieß, bildete neblige Wölkchen. Das war … seltsam. Genauso wie der deutliche Duft von Sandelholz, der in der kalten Luft hing. Ich drehte mich um, und der Priester war weg. Verschwunden.

Na toll.

Ich wollte nicht frevelhaft oder so erscheinen, aber das hier war kein Ort, an dem ich allein sein wollte. Langsam ging ich an den steinernen Engeln vorbei – unisono hoben sie die gesenkten Köpfe und streckten die Becken aus.

Oh mein Gott, ein ganzer Eimer voller Albträume. Mein Magen revoltierte, aber ich widerstand dem Drang, schnell den Mittelgang zurückzulaufen, weil Stein über Stein schliff. Einer der Engelsarme löste sich von seinem Wasserbecken und bewegte sich bedächtig, um auf die rechte Seite des Altars zu zeigen. Ich erschauderte und drehte mich vorsichtig um.

Dann rang ich nach Luft.

Er stand vor dem Altar, gekleidet in eine Art weißer Tunika und Hose, die man nicht online kaufen konnte. Die Umrisse seines Körpers schienen zu schimmern, während er seine vollständige Gestalt annahm. Von den Spitzen der weißblonden Locken bis zu den nackten Füßen war er das Schönste, das ich je gesehen hatte.

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann entfalteten sich seine Flügel, erstreckten sich mindestens drei Meter in beide Richtungen. Sie waren dermaßen leuchtend und weiß, dass sie in diesem schwachen Licht geradezu glühten. Geräuschlos bewegten sie sich, aber ihre Kraft wirbelte die Luft auf, und mein Haar wehte zurück, obwohl wir ein ganzes Stück voneinander entfernt waren. Schielend beugte ich mich vor. Was war da an der Spitze jedes Flügels? Irgendetwas, das …

Oh Gott.

Da waren Augen an den Spitzen seiner Flügel. Hunderte von Augen!

Mit kribbelnder Haut ließ ich den Blick zurück zu seinem Gesicht wandern, musste aber schnell wieder wegschauen. Der Anblick war schmerzhaft – die Reinheit seiner Schönheit schnitt mir ins Fleisch und warf ein grelles Licht auf jeden dunklen Gedanken, den ich je gehabt hatte.

Ich wusste jetzt, was er war – welche Art von Engel.

Ein Thronender.

Einen Thronenden anzuschauen bedeutete, jedes Geheimnis preiszugeben, das man je gehütet hatte, und für jedes einzelne verurteilt zu werden. Und ich wurde jetzt verurteilt. Sein ganzes Benehmen – angefangen bei der Art, wie er den Kopf zur Seite neigte, bis zu der Art, wie sich seine blassblauen Augen durch Haut und Muskeln bohrten – sagte mir, dass er alles sah.

Und er war nicht beeindruckt.

In diesen kristallenen Augen war der Tod zu lesen. Nicht die Form von Tod, die »begib dich auf die nächste Stufe des Lebens« oder »kurz vor der Himmelspforte« heißt, sondern die große Leere des endgültigen Todes – der Tod der Seele.

Ich holte tief Luft, denn ich wollte etwas sagen.

Gleichzeitig öffnete der Engel den Mund.

Ein ohrenbetäubender Schrei erschütterte die Bleiglasfenster und die Kirchenbänke und schlug einen Ton an, den kein Mensch erreichen oder aushalten konnte. Ich drehte mich um und hielt mir die Ohren zu. Es war, als würden tausend Trompeten auf einmal schmettern und mich im Innersten erschüttern. Die Töne hallten durch den Altarraum, tanzten um meinen Schädel, bis ich sicher war, dass mein Kopf gleich explodieren würde. Warme Feuchtigkeit tropfte aus meinen Ohren und an meinen Händen hinunter.

Als ich dachte, ich könnte es keine Sekunde mehr aushalten, erstarb der Lärm.

Zitternd nahm ich meine blutbefleckten Hände herunter und hob den Kopf. Der Engel schaute mich mitleidlos an, während sich seine Flügel immer noch leise bewegten.

»Das war nicht schlecht«, krächzte ich.

Er antwortete nicht, und die sich ausbreitende Stille war unerträglich.

»Du hast mich hierhergerufen«, sagte ich und machte mich auf ein weiteres unirdisches Heulen gefasst. Das blieb aber aus. Genauso wie eine Antwort. »Du meintest, das sei die einzige Möglichkeit, Zayne zu helfen.«

Immer noch nichts.

Schließlich verlor ich echt die Geduld. All der Schmerz, die Angst, die Trauer und sogar die Freude, Zayne wiederzusehen, brachen über mir zusammen. »Du hast in meinem Kopf gesprochen, nicht wahr? Du hast gesagt, ich soll zu dir kommen.«

Schweigen.

»Kannst du mich nicht hören? Hat dein Schrei dein Trommelfell zerstört? Oder findest du das lustig? Ist es das? Ist Gabriels Versuch, diese Welt und den Himmel zu vernichten, nicht genug Unterhaltung für dich? Verdammt noch mal!«, brüllte ich mich fast heiser. »Na schön. Du willst nur dastehen und mich anstarren? Das kann ich auch. Oder noch besser: Wie wär’s, wenn ich rausgehe und jedem, der mir begegnet, erzähle, dass es Engel gibt? Ich kann’s beweisen. Ich zeige einfach meine Gnade. Dann kann ich die Leute mit ein paar Dämonen bekannt machen, und wenn ich damit fertig bin …«

»Das wird nicht nötig sein.« Er sprach mit einer sehr melodischen Stimme, die unendlich freundlich klang, aber ohne jede Spur von Menschlichkeit. Das war derart widersprüchlich, dass ich zusammenzuckte. »Du bist wegen ihm hier, wegen dem, der starb, als er dich beschützte.«

Erschrocken wich ich zurück. »Ja. Aber er lebt.«

»Ich weiß.«

»Er ist nicht ganz in Ordnung.«

»Natürlich nicht.«

Ich schüttelte mich – jeder einzelne Teil meines Körpers zitterte. »Was ist ihm zugestoßen? Wie hat er es hierhergeschafft?«

Der Thronende neigte den Kopf zur Seite. »Er hat einen Akt der Selbstlosigkeit und des Opfers begangen, um dir zu Hilfe zu kommen. Er tat dies aus der reinsten Form der Liebe. Er wurde in seiner Alten Herrlichkeit wiederhergestellt.«

»Alte Herrlichkeit?« Keine Ahnung, wovon er da sprach.

Der Thronende nickte. »Aber er entschied sich für dich. Er hat sich dafür entschieden, ein Gefallener zu sein.«

2

sig

Der Raum schien sich zu drehen, während ich langsam begriff, was der Thronende gesagt hatte. Es ergab zwar keinen Sinn, aber ich wusste, was der Engel mit »Zayne sei gefallen« gemeint hatte. Ich wusste, was Zayne gemeint hatte, als er sagte, er sei der Gefallene.

Was ich nicht verstand, war: Wie war das bloß möglich?

Ich musste mehrmals tief durchatmen, um mich zu beruhigen, bevor ich etwas erwiderte. »Zayne war Wächter und mein Beschützer. Wie konnte er fallen, obwohl er kein Engel war?«

Die Flügel des Thronenden hoben und neigten sich dann wieder. »Was glaubst du, was Wächter waren, bevor sie in Stein verwandelt wurden? Hast du geglaubt, der Schöpfer habe sie aus Langeweile in diese Existenzform verwandelt?«

Ich runzelte die Stirn. Ja, genau das hatte ich bisher angenommen.

»Nein. Gott war nicht einfach gelangweilt. Die, die du Wächter nennst, waren einst Hüter der Menschheit, bedeutende Persönlichkeiten, aber haben versagt. Sie erlagen den Verlockungen von Sünde und Laster. Sie fielen in Ungnade.«

»Das verstehe ich nicht. Ich habe gelernt …«

»Dass die Wächter die Gefallenen von der Erde getilgt haben?« Er lächelte schwach. »Man hat die Geschichte neu geschrieben. Kannst du’s ihnen verübeln, dass sie ihre Schande verbergen wollten?« Er trat die Stufen vom Altar herunter, sodass ich mich erneut verspannte. »Sie haben ihre Taten so tief vergraben, dass viele Generationen geboren wurden und in den Himmel fuhren, ohne die wahre Geschichte zu kennen. Manche Gefallene wurden von Erzengeln und Alphas ihrer Flügel und ihrer Gnade beraubt. Andere entkamen in die Hölle. Doch jene, die nicht flohen und ihre Sünde anerkannten, nahmen die Strafe auf sich. Sie wurden in Stein begraben.«

»Lebendig?«, wisperte ich.

»Zur Warnung, dass das Böse allgegenwärtig und niemand, nicht einmal Gottes Engel, davor gefeit war.«

»Das waren die ersten steinernen Gargoyles.« Ich nahm nur einen kurzen Atemzug, denn der Gedanke, dass jemand in Stein gefangen war, entsetzte mich. »Wie lange?«

»Jahrhunderte«, antwortete der Thronende schulterzuckend.

Mir fiel die Kinnlade herunter. Jahrhunderte in Stein gefangen? Wie konnte man da mit gesundem Verstand wieder herauskommen?

»Doch als die Dämonen-Population zunahm, griff Gott ein, und die Alphas stellten einige der Eingeschlossenen vor die Wahl: entweder freikommen, um die Dämonen zu bekämpfen und die Menschen zu beschützen, oder eingeschlossen bleiben.«

Das klang für mich nicht nach Freiheit oder einer echten Option, aber was wusste ich schon?

»Die, die sich für die Freiheit entschieden, wurden die ersten Wächter, deren Ur-Steinform als warnende Erinnerung dienen sollte und denen die menschliche Gestalt zurückgegeben wurde, damit sie sich unter die Menschen mischen konnten. Ihre Gnade blieb ihnen dennoch verwehrt, sodass keine Rebellion drohte und sie imstande waren, eine Abstammungslinie zu erschaffen, die weiterhin dazu diente, Menschen zu beschützen und dem Willen Gottes zu gehorchen«, erklärte er. »Das ist die Wahrheit über die Wächter.«

Plötzlich schoss mir in den Sinn, was der Dämonen-Prinz damals zu mir gesagt hatte, als wir zum Hexenzirkel gegangen waren, um Bambi, seine Vertraute, zurückzuholen. Gut, dass die Wächter die Gefallenen vor Äonen ausgelöscht haben, was? Daraufhin hatte Roth gelacht, als hätte er etwas gewusst, von dem ich keine Ahnung hatte. Roth wusste Bescheid! Das war auch der Grund, warum er ständig abfällige Bemerkungen über Wächter machte.

»Moment mal. Und diejenigen, die die Wahl nicht akzeptiert haben? Oder die keine hatten?«, fragte ich. »Was geschah mit denen?«

»Du kennst die Antwort.«

Scharf atmete ich ein. Ja, ich kannte die Antwort. Ich wollte bloß nicht, dass es stimmte. »Sie sind also immer noch begraben.«

»So ist es.«

Du lieber Gott.

Der Thronende beobachtete mich aufmerksam. »Wenn ein Wächter stirbt, tritt er oder sie vor Gericht. Sie werden entweder in den ewigen Frieden geführt oder erhalten die versprochene göttliche Herrlichkeit zurück. Um wiedergeboren zu werden, wie sie einst waren.«

Zu erfahren, wie die Wächter zu dem geworden waren, was sie waren, überwältigte mich, und ich hatte Fragen. Zum Beispiel wie, in aller Welt, es den Dämonen gelungen war, das geheim zu halten. Wenn Roth die Wahrheit kannte, und ich wette, das tat er, dann mussten noch mehr Dämonen Bescheid wissen. Doch im Moment zählte nur Zayne. »Du sagst, er wurde wiederhergestellt – wurde er zu einem … einem Engel?«

Er nickte.

»Zayne hatte Flügel – große, flauschige Engelsflügel –, und er besaß die Gnade. Eine Menge davon. Ich wusste nicht, dass Gefallene Flügel oder die Gnade besitzen.« So hatte man mir das immer erklärt, und sogar Roth hatte das gesagt. Nur Luzifer hatte seine Flügel und seine Gnade behalten, weil er rausgeschmissen worden war, bevor Gott erkannt hatte, dass das nötig war.

»Nicht allen wird die Erlösung zuteil. Nur diejenigen, die es wirklich verdienen oder die als nützlich befunden werden, bekommen ihre göttliche Herrlichkeit zurück, erhalten ihre Gnade und Flügel. Er wurde auserwählt«, wiederholte der Thronende. »Er wurde wiederhergestellt.«

Ich öffnete den Mund, aber als ich schließlich richtig verstand, was er da sagte, fehlten mir die Worte. Zayne war ein Engel, ein echter Engel, und nun ein Gefallener …

Wie hatte das geschehen können?

Ich wollte hier raus, ihn finden und ihm eine reinhauen. Nicht weil ich undankbar war. Ich wollte Zayne zurück. Ich war bereit gewesen, zum Sensenmann zu gehen, um zu sehen, was ich erreichen konnte, aber er war in der Zwischenzeit ein verdammter Engel im Himmel geworden. Engel waren häufig ziemlich nutzlos im großen Plan der Dinge, dennoch waren sie Engel. Keinen Schimmer, wie sich das anfühlte, ein Vollblut-Engel zu sein, doch es musste unglaublich sein. Wie … wieder nach Hause zu kommen.

Ich hätte Zayne dieses Gefühl niemals nehmen wollen. Meine Emotionen schnürten mir die Kehle zu, und Tränen brannten in meinen Augen. Ich schaute weg und presste die Lippen aufeinander. Wie konnten überhaupt noch Tränen da sein, obwohl ich schon so viel geweint hatte? Warum machte er das? Ihn heute zu sehen war wie ein wahr gewordener Traum, aber zu welchem Preis? Er … er war meinetwegen zum Gefallenen geworden, allerdings schien er nicht zu wissen, wer ich war.

»Du solltest weinen wollen«, sagte der Engel leise.

Ruckartig wandte ich mich in seine Richtung. Sein Tonfall und sein Lächeln wirkten so traurig, dass ich schockiert war. Bisher hatte ich immer geglaubt, dass Engel keine Gefühle besaßen, doch was ich seinen Worten entnahm, war echt.

»Zayne hat vollendet, was nur wenige jemals geschafft haben«, erklärte er. »An seiner Stelle wäre ich im Himmel geblieben. Ich hätte dazu beigetragen, dass der Himmel nicht mehr betreten werden kann und die Tore verriegelt werden, bevor auch nur eine verdorbene Seele eintritt.«

»Die Tore verriegeln?« Ich blinzelte die Tränen fort.

Wieder nickte der Thronende. »Viele von uns haben das Gefühl«, erklärte er und breitete die Arme aus, »dass diese Welt hoffnungslos geworden ist. Dass Gabriel nicht aufzuhalten ist und wir nur noch verhindern können, dass uns sein Fluch erreicht.«

Fassungslos starrte ich ihn an. »Du willst im Grunde den Himmel von der Erde trennen und ihn so was wie unter Quarantäne stellen?«

»Doch stattdessen bin ich hier«, erwiderte er, als ob das tatsächlich entschuldigte, dass es Engel namens Gabriel gab, die trotz allem ihre Hände in Unschuld waschen wollten.

Das Einzige, was mich davon ablenken konnte, wie sehr mich Engel doch auf die Palme brachten, war, was er als Nächstes sagte.

»Zayne wurden viele Möglichkeiten eröffnet. Er hätte den ewigen Frieden erlangen können. Wiedergeboren hätte er im Himmel bleiben und die Pforten bewachen können. Er hätte sich entscheiden können, mit unseren Heeren für das letzte Gefecht zu trainieren, das kommen wird, egal, was Gabriel zustande bringt. Er hätte sich entscheiden können, im rechten Moment auf die Erde zurückzukehren, zu dem Zeitpunkt, an dem er am meisten gebraucht wird. Aber er ist zu dir zurückgekehrt, um jetzt und für immer an deiner Seite zu kämpfen, obwohl wir ihn gewarnt haben, dass er ein Gefallener wäre, wenn er sofort zurückkehren würde.« Ein kurzes Lachen ertönte, das wie der Wind in den Bergen klang. »Selbst wenn er nicht so lautstark gestanden hätte, was er wirklich wollte, oder wir ihn nicht vor eine solche Wahl gestellt hätten, war uns klar, dass er einen Weg gefunden hätte, zu dir zurückzukehren.«

Und hatte er mir nicht genau das versprochen? Dass er, egal, was passierte, einen Weg zu mir zurückfinden würde?

»Also ist er gefallen, und ein Gefallener kann nur seiner Flügel und seiner Gnade beraubt werden, sobald man irdisch ist«, erklärte der Thronende. »Doch kein machtvoller Engel wird so etwas in diesen Zeiten versuchen.« Er hielt kurz inne. »Außerdem hatten wir gehofft, dass er selbst als Gefallener noch … nützlich für unsere Sache sein würde. Dass er tief im Herzen wissen würde, wer er war, und in der Lage wäre zu helfen, Gabriel zu besiegen. Wir haben ihn vor der Verbrennung beim Wiedereintritt gewarnt.«

»Was soll das heißen? Verbrennung beim Wiedereintritt?«

»Als er zurück auf die Erde fiel, verlor er seine göttliche Herrlichkeit und war dem Schlimmsten der menschlichen Seele ausgesetzt. Habgier. Wollust. Maßlosigkeit. Trägheit. Stolz …«

»Zorn. Neid. Ich hab’s kapiert«, schnitt ich dem Thronenden das Wort ab, und wenn ich nicht schon Gabriel gegenübergestanden hätte und mein Vater nicht der Erzengel Michael wäre, hätte mich der Blick, den mir der Thronende daraufhin zuwarf, vielleicht eingeschüchtert. »Er sagte etwas über zu viel Gefühl. So was wie – keine Ahnung. Er schien manches an mir vertraut zu finden, aber das, was er fühlte, hat ihn blockiert oder so ähnlich. Er schien die Gnade in mir zu spüren. Er griff mich an.«

»Das liegt daran, dass er, als er fiel, nicht nur Zeuge der Sünde der Menschheit war, sondern auch der Wut und Bitterkeit derer ausgesetzt war, die vor ihm fielen.«

Ich öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. Ich … ich konnte das nicht nachvollziehen, nicht mal ansatzweise verstehen, was Zayne fühlen musste.

»Wir haben ihn gewarnt, dass der Sündenfall seine Sinne überfordern und ihn befallen könnte, was möglicherweise auslöschen würde, wer er war, aber für dich war er bereit, zu riskieren, etwas so Abscheuliches und Böses zu werden wie ein gewöhnlicher Dämon.«

Seine Worte wirkten wie ein Stich ins Herz.

»Bei eurer Begegnung heute hat er deine Gnade gespürt. Selbst dein schmutziges Blut rief ihn«, erklärte der Thronende, und ich konnte nicht mal die Energie aufbringen, mich über das mit dem schmutzigen Blut aufzuregen. »In seinem zwiespältigen Zustand und mit der Wut und der Bitterkeit all derer, die vor ihm gefallen sind, hat er dich höchstwahrscheinlich als einen der Glaubensbrüder angesehen, die ihn aus dem Himmel vertrieben haben. Wächter wird er ebenfalls so betrachten. Je länger er in diesem Zustand bleibt, desto wahrscheinlicher wird er die Gewalt, die ihm aus jeder Pore dringt, ausleben wollen. Er wird zu einer Gefahr nicht nur für dich oder Wächter werden, sondern auch für die Menschen – für unschuldige Leute.« Der Thronende seufzte. »Ein Gefallener im Besitz seiner Gnade ist ein sehr gefährlicher Feind, egal, wie klar sein Herz und sein Verstand funktionieren. Wir hatten gehofft, er würde unversehrt wiederkommen. Wir haben uns geirrt. Das ist die Lage.«

Diese vier Wörter klangen sehr endgültig.

Eine unerträgliche Last drückte auf meine Brust. Wie dumm von mir, geglaubt zu haben, dass mein Herz mit all dem Schmerz fertig geworden war. Auch ich hatte mich geirrt. Er war immer noch da und brach von Neuem auf. Zayne hatte alles aufgegeben, um mit mir zusammen zu sein, und als schreckliche Wendung des Schicksals wirkte es fast so, als wäre er zu etwas geworden, das er selbst verabscheut hätte.

»Gibt es denn keine Hoffnung?«, fragte ich leise und müde. »Wird er nicht wieder der werden, der er mal war? Aus der Sache rauskommen?«

Der Thronende wich zurück, und das Licht um ihn herum verblasste nach und nach. »Für den, der glaubt, gibt es immer Hoffnung.«

Glaube. Beinahe hätte ich aufgelacht, aber wenn ich erst mal lachen würde, könnte ich vermutlich nie mehr aufhören. Und der junge Geistliche würde jemanden zu Hilfe rufen müssen.

Wenn der junge Priester überhaupt noch hier war. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

Der Thronende begann zu flackern, erstarrte dann aber irgendwie. »Du hast dich trotz deiner Unzulänglichkeiten gut geschlagen. Nicht wenige haben angenommen, dass du deinen ersten Kampf mit Gabriel nicht überleben würdest.«

Wow. Jetzt fühlte ich mich gleich viel besser.

»Aber dein Vater hat an dich geglaubt.«

»Ach, echt?« Skepsis schwang wie eine Kirchenglocke in meiner Stimme mit.

Ich meinte, den Thronenden wieder lächeln zu sehen, da aber sein Glanz verblasste, waren seine Gesichtszüge nur noch verschwommen zu erkennen. »Deshalb hat er dir ein Geschenk gemacht.«

»Ein Geschenk?«, fragte ich argwöhnisch. Ich wollte kein Geschenk. Ich wollte Zayne zurück – den Zayne, den ich kannte und liebte. Nicht den gestörten Psycho da draußen, der weiß Gott was anstellte.

Dinge, die jeden Bereich von Zayne zerstören würden, weil er durch und durch gut war.

»Du hast das Geschenk bereits erhalten.« Der Engel streckte die Hand aus und strich über meine Wange. Eine Art Stromschlag durchfuhr mich, weckte meine Gnade und ließ die Ränder meines Sichtfelds weiß erscheinen. »Das in dir ist das Geschenk. Es ist sowohl Gnade als auch Herrlichkeit, eine Macht, die jenseits dessen liegt, was dein Verstand begreifen kann, und dennoch eine Macht, die nur dir gehört. Nutze sie, um das von Chaos umgebene Herz zu durchstoßen.«

Ich starrte ihn an, und so langsam dämmerte es mir. »Das Schwert des Michael.«

Der Thronende trat zurück, die Augen auf seinen Flügeln blinzelten alle gleichzeitig.

»Du meinst, ich soll das Schwert des Michael gegen Zayne einsetzen?« Meine Stimme war ganz schrill. »Ihm damit ins Herz stoßen? Das würde ihn umbringen!«

»Deine Gnade kann niemals dem schaden, den du liebst. Sie kann nur wiederherstellen.«

Das klang jetzt aber echt nach irgendwelchem Jedi-Blödsinn. »Und das soll ich dir einfach so glauben?«, wollte ich wissen. Sobald die Gnade ans Licht trat, zerstörte sie. Dämonen. Menschen. Wächter. Sogar Engel. Weil ich Zayne liebte, sollte ich glauben, dass das Schwert des Michael ihn nicht verletzen würde, obwohl es durch die Haut eines Wächters schneiden konnte, als wäre sie aus Butter? Mein Herz schlug auch für Misha, doch meine Gnade hatte sein Leben beendet.

»Besitzt du keinen Glauben?«

Ich öffnete den Mund, um zu antworten.

»Die Antwort ist mir schon bekannt.« Die Flügel breiteten sich aus, und diese Augen starrten direkt in mich hinein. »Das war bloß eine rhetorische Frage, Trueborn. Dir, dem Kind eines der mächtigsten Erzengel, hat es immer an Glauben gemangelt.« Der Thronende lächelte mich an. »Gut, dass es weder Gott noch deinem Vater jemals an Vertrauen in dich gefehlt hat.«

Ich zuckte zusammen, war komplett sprachlos.

»Enttäusch ihn nicht, Trueborn. Du wirst ihn brauchen, um Gabriel zu besiegen. Du wirst alles brauchen, um den Boten zu besiegen«, sagte der Thronende, und ich fragte mich, ob er wohl wusste, wo Roth und Layla waren. Klugerweise beschloss ich, das gar nicht erst anzusprechen, während der intensive goldene Strahl über ihn hinwegzog. Meine Augen tränten und taten weh. »Es könnte bereits zu spät für ihn sein. Viele Gefallene waren nach ihrer Versteinerung viel zu verstört, als dass ihnen die Wahl der Erlösung geblieben wäre. Ich hoffe um deinetwillen, dass das hier nicht der Fall ist. Gabriel wird sonst die kleinste deiner Sorgen sein. Denn in seinem jetzigen Zustand wird dich dein Gefallener töten. Sei also vorsichtig. Es wäre höchst unangenehm, durch die Hand desjenigen zu sterben, der gefallen ist, um bei dir zu sein.«

Unangenehm?

Mir kamen da noch viel anschaulichere Begriffe in den Sinn. Verheerend. Herzzerreißend. Vernichtend. Qualvoll. Tragisch.

Stockend atmete ich aus. »Und wenn es funktioniert hat«, begann ich und korrigierte mich dann selbst. »Wenn ich erfolgreich bin, wird Zayne dann wieder ein Engel?«, fragte ich, wobei sich mein Herz aus einem ganz anderen Grund zusammenzog.

Engel empfanden keine Emotionen. Zumindest hatte ich das immer angenommen, und Gabriel hat das so ziemlich bestätigt. Wenn Zayne wiederhergestellt wurde, würde ich ihn nicht zurückbekommen. Nicht so, wie er früher war. Aber es würde ihm gut gehen. Er würde leben, und das … das musste eben reichen.

Schweigend betrachtete der Thronende mich ein paar Sekunden lang. »Viele meinen, dass Dämonen unfähig zur Liebe sind, nicht wahr? Weil sie keine menschliche Seele haben.«

Ein unbehaglicher Schauer durchfuhr mich. Konnte er meine Gedanken gelesen?

Oh Gott, hoffentlich nicht.

Allerdings konnten Dämonen lieben. Roth liebte Layla, und er war schließlich der Kronprinz der Hölle.

Der Engel neigte den Kopf zur Seite. »Im Gegensatz zu dem, was allgemein bekannt ist und was einige unserer Glaubensbrüder sogar behaupten, sind Engel nicht unfähig, Gefühle zu empfinden, Trueborn. Wir fühlen die Dinge nur … anders. Für die Ältesten unter uns ist es schwierig, aber wir sind nicht unfähig zur Liebe oder zu Lust oder Hass«, fuhr er fort. »Die Gefallenen sind der beste Beweis dafür. Gabriel ist ein Beweis dafür.«

Während ich ihn anstarrte, wurde mir klar, dass er recht hatte. Die Gefallenen hatten einer ganzen Reihe menschlicher Regungen nachgegeben und Gabriel … einem verrückten Umstand von Eifersucht und Verbitterung. Erleichterung machte sich in mir breit …

»Aber Zayne wird kein Engel werden. Und auch kein Wächter. Er wird bleiben, was er ist«, fuhr der Thronende fort. »Ein Gefallener, der irdisch ist. Mit einem Fuß im Himmel und dem anderen in der Hölle. Es gibt nur einen anderen, der vom Himmel verstoßen wurde und seine Gnade behalten hat.«

Mir stockte der Atem. »Luzifer.«

»Und man sieht ja, worauf das für ihn hinausgelaufen ist.«

Mit dieser kleinen, äußerst beunruhigenden Nachricht und der wahrscheinlich demotivierendsten Aufmunterungsrede verschwand der Thronende und nahm die kühle Luft sowie den Sandelholzduft mit.

Keine Ahnung, wie lange ich dort noch stand und auf das Heilige Sakrament blickte, schwankend zwischen dem Unglauben an das, was der Thronende gesagt hatte, dass ich tun sollte, und der Erkenntnis, dass ich gar keine andere Wahl hatte.

Letzteres stimmte einfach, ob der Thronende nun recht hatte oder nicht.

Langsam drehte ich mich um. Die steinernen Engel beugten sich wieder über ihre Becken. Ich ließ den Blick zu den Kirchenbänken wandern. Auf keinen Fall durfte ich zulassen, dass Zayne zu etwas wurde, das ihn entsetzt hätte: ein Monster, das schließlich alles Gute seines bisherigen Charakters trüben und zerstören würde. Das konnte ich unter keinen Umständen erlauben, denn das war ein Schicksal, das für Zayne schlimmer wäre als der Tod.

Es gab wirklich gar keine andere Wahl.

Ich seufzte schwer, aber mit dem nächsten Atemzug erfüllte mich eine stählerne Entschlossenheit, die den Schmerz dämpfte und die markerschütternde Erschöpfung ersetzte. Ein winziger Funke Hoffnung, der die Energie nährte, die mich nun erfüllte. Dennoch wusste ich, was mir bevorstand.

Entweder rettete ich Zayne, oder ich tötete ihn.

Oder … er tötete mich.

3

sig

Es gab eine Menge, auf das ich mich im Moment konzentrieren musste. Bei der bevorstehenden Verklärung Gottes, die in wenigen Wochen stattfinden sollte, plante Gabriel, einen Keil zwischen Erde und Himmel zu treiben, damit der Dämon Bael und Seelen, die eigentlich in die Hölle gehörten, in den Himmel gelangen konnten. Ich musste einen Weg finden, ihn aufzuhalten. Das war meine Aufgabe als Trueborn – das, worauf ich gewartet hatte –, aber mir war klar, mir allein würde es nicht gelingen, Gabriel zu besiegen. Darum hatten Roth und Layla versucht, Luzifer an die Erdoberfläche zu bewegen. Deshalb hatte der Thronende gesagt, ich bräuchte Zayne, um Gabriel zu besiegen. Ich hätte eigentlich einen Plan schmieden sollen, falls Roth und Layla nichts erreichten, aber Zayne … er hatte jetzt oberste Priorität für mich.

Meine Aufgabe würde warten müssen, und es war mir egal, ob Gott das nervte.

Das Erste, was ich tat, als ich aus der Kirche trat, war, mein Handy aus der hinteren Hosentasche zu holen. Zum Glück hatte das Ding überlebt, obwohl ich wie eine Stoffpuppe herumgeschleudert worden war.

Die Displaybeleuchtung ließ mich blinzeln, und ich öffnete meine Kontakte. Irgendwann hatte Zayne Nicolais Nummer in meinem Smartphone abgespeichert. Für den Notfall, hatte er eines Abends gesagt, als wir dem Boten und dem Dämon Bael nachgejagt waren.

Und wenn das jetzt kein Notfall war, wusste ich nicht, was sonst.

Ich musste Nicolai und den Clan über Zayne vorwarnen, falls sie mit ihm in Kontakt treten würden. Wenn er sich schon nicht an mich erinnerte, bezweifelte ich, dass er sie erkannte.

Schweren Herzens schlossen sich meine Finger um das Handy. Nicolai, Führer des Wächter-Clans von D. C., nahm beim zweiten Läuten ab. »Hallo?«

»Nicolai? Ich bin’s, Trinity«, sagte ich und hielt die Augen weit offen, falls Zayne beschloss, dass es nicht ganz oben auf seiner Prioritätenliste stand, sich von Menschen fernzuhalten. »Wir müssen uns treffen. Es handelt sich um einen Notfall.«

»Alles okay?«, fragte er besorgt. Während meiner Genesung hatte er mich mehrmals besucht, gemeinsam mit Danika. Er und Danika … dateten einander? Wächter hatten keine wirklichen Dates. Normalerweise trafen sie sich und gingen schlicht eine Bindung ein, aber Nicolai und Danika brachen mit dieser Tradition. »Zur Hölle«, sagte er kurz darauf. »Was für eine dumme Frage. Ist alles so weit in Ordnung?«

»Naa jaaa.« Ich zog meine Worte in die Länge und betrachtete die unscharfen Gesichter der vorbeigehenden Menschen, die ihre Regenschirme derart fest umklammerten, als hofften sie, so den Regen aufzuhalten, der jetzt von der Seite kam. Was ich Nicolai sagen musste, war nichts, was man am Telefon besprechen konnte. »Irgendwie schon. Und irgendwie auch nicht. Ich muss persönlich mit dir reden.«

»Bist du im Apartment? Ich kann in zwanzig Minuten da sein.«

»Nein, ich bin nicht in der Wohnung«, antwortete ich. »Sondern an der St. Patricks Kirche, glaube ich.«

Daraufhin schwieg er einen Augenblick. »Möchte ich überhaupt wissen, was du da machst?«

»Wahrscheinlich nicht, aber ich werde dir alles erzählen.«

»Okay. Einen Moment.« Daraufhin war das Rascheln von Papier zu hören, und dann sagte Nicolai: »Dez müsste in der Nähe sein. Ich besorge ihm ein Auto, mit dem er dich abholt.« Es entstand eine kurze Pause, während der ich mich fragte, ob er sämtliche Zeitpläne der Wächter auf Papier dokumentierte. »Bist du allein?«

»Dämonenfrei«, sagte ich möglichst leise.

»Ist es schlau, allein da draußen zu sein?«, fragte er.

Mein Hirn war viel zu beschäftigt. Daher ließ ich mich nicht von der Frage irritieren und sagte bloß: »Vermutlich nicht. Sag Dez, ich warte auf ihn.«

Ich beendete das Gespräch, drückte mich wieder unter das Vordach der Kirche und dachte darüber nach, wie ich Nicolai erklären sollte, dass Zayne am Leben war und was alles damit zusammenhing. Ich bezweifelte, dass er Bescheid wusste, was los war, aber der Thronende hatte nicht gesagt, dass es ein Geheimnis bleiben musste.

Gegen die Kirchenmauer gelehnt, breitete sich ein Schmerz in meinen Schläfen aus, während ich einfach nur geradeaus schaute. Wachsam ließ ich den Blick über den steten Strom von Menschen und Autos huschen und hoffte, dass Dez noch wusste, dass ich nicht die besten Augen besaß. Ich hatte wirklich keine Lust, ins falsche Auto einzusteigen.

Ungefähr zehn Minuten später fuhr ein dunkler SUV an den Bordstein heran, und nur einen Moment später wurde das Beifahrerfenster heruntergelassen. Ich konnte nicht ins Wageninnere sehen, aber ich erkannte die Stimme.

»Trinity?«, rief Dez.

Danke, Grundgütiger! Dez erinnerte sich also. Ich eilte los, wurde dann aber wieder langsamer, weil ich bei dem schlechten Licht den Abstand zwischen den Treppenstufen nicht einschätzen konnte. Ich schaffte es, die Treppe hinunterzukommen, ohne zu stürzen und mir was zu brechen. Es war schwierig genug, auf dem überfüllten Gehweg allen auszuweichen, zumal ich mich so daran gewöhnt hatte, mit Zayne durch die Straßen zu streifen, der die Gehwege wie eine Art »Hot Moses« für mich räumte. Irgendwie führte er mich, obwohl er neben mir ging statt vor mir.

Mein Herz zog sich zusammen, als ich die Tür des SUVs öffnete und hineinkletterte. Ich werde ihn zurückholen. Genau das werde ich tun, versprach ich mir und quetschte mich auf den Ledersitz. »Sorry.« Ich zuckte zusammen und schloss die Autotür. »Ich bin klatschnass.«

»Mach dir keine Gedanken«, antwortete Dez, und ich blickte zu dem Wächter hinüber. Er war jung, nur wenig älter als Zayne. Und er war Vater der süßesten Zwillinge, die ich je gesehen hatte. Eine der beiden, Izzy, lernte erst, sich zu verwandeln. Darüber hinaus hatte sie die Angewohnheit, in Zehen zu beißen, was seltsamerweise ganz bezaubernd war. »Nicolai meinte, du musst mit ihm sprechen. Und dass es ein Notfall sei.«

Ich nickte und schnallte mich an. »Danke, dass du mich aufgelesen hast …« Mitten im Satz brach ich ab, während ich aus dem Beifahrerfenster sah.

Ein älterer Mann stand am Bordstein. Auf den ersten Blick wirkte er normal. In der dunklen Hose und mit dem weißen Oberhemd sah er aus wie alle anderen Geschäftsmänner, die um ihn herumstanden und darauf warteten, die Straße überqueren zu können. Nur dass er keinen Schirm trug und der Regen ihn nicht zu treffen schien, während er nur so dastand und mich anstarrte. Die eine Hälfte seines Kopfes sah … ausgehöhlt aus, ein blutiges Chaos aus Knochen und Gehirn. Mit der Seite seines Gesichts, die nicht zerstört war, blickte er mich völlig entsetzt an.

Ich erkannte ihn wieder.

Das war Josh Fisher – der Senator, der Gabriel und Bael geholfen hatte, indem er die Highschool Heights on the Hill unter dem Vorwand gekauft hatte, dass die Schule zu einer Einrichtung für chronisch kranke Kinder umgebaut werden sollte. In Wirklichkeit war das Grundstück, auf dem die Schule stand, ein Höllenschlund wie aus Buffy, inmitten eines Zentrums spiritueller Macht, wo sich mehrere starke Ley-Linien kreuzten. Gabriel benötigte den Zugang zur Schule, um an das heranzukommen, was im Erdreich unter ihr ruhte. Denn dort hatte er bereits das Portal erschaffen, das letztlich der Zugang zum Himmel werden sollte.

Und Gabriel und Bael hatten den perfekten Helfer gefunden. In dem verzweifelten Wunsch, mit seiner verstorbenen Frau wiedervereint zu werden, hatte Senator Fisher sich sofort bereit erklärt, sie zu unterstützen. Ein Mann, für den ich eigentlich kein Mitleid empfinden wollte, doch jetzt tat ich es mehr denn je. Ich verstand mittlerweile, dass Verlust und Trauer einen dazu bringen konnten, Undenkbares zu unternehmen.

Aber nun war Senator Fisher tot. Entweder weil er aus dem Fenster seines Penthauses gesprungen oder weil er gestoßen worden war.

»Shit«, flüsterte ich.

»Was ist?« Dez fuhr los. »Was siehst du?«

Ich reckte den Hals, wollte sagen, er solle noch mal anhalten, aber einen Wimpernschlag später war Senator Fisher verschwunden. Verdammt. Ich lehnte mich in den Sitz. Nach nur ein paar Minuten des »Gesprächs« mit Zayne hatte er damals alles über den Boten und Bael ausgeplaudert, aber möglicherweise besaß er noch weitere Informationen – Informationen, die er jetzt, da er super-duper-tot war, vielleicht eher rausrücken würde.

»Das war Senator Fisher«, antwortete ich Dez.

Nur wenige Wächter wussten, was ich war – Dez und Nicolai gehörten dazu. Gideon, auch Wächter, wusste bloß, dass ich Geister sehen konnte, aber da mit Zayne alles verloren gegangen war, war ich sicher, dass der Trueborn für den gesamten Clan kein Thema mehr war.

»Ist der nicht tot – Moment mal.« Dez schaute mich an, als wir an einer Ampel hielten. »Du meinst, du hast seinen Geist gesehen?«

»Ja, er … sah nicht so toll aus.« Ich fragte mich, ob der Senator wohl nach mir gesucht hatte, und blickte weiterhin stur aus dem Seitenfenster, um nur ja kein Anzeichen eines möglicherweise verrückten gefallenen Engels zu verpassen. Nicht, dass ich ihn hätte kommen sehen können, bevor es zu spät war, aber egal.

»Geist zu sein bedeutet, noch nicht übergegangen zu sein, richtig? Und Seelen sind diejenigen, die ins Jenseits übergegangen sind«, vermutete Dez ganz richtig.

»Yep.« Ich drückte mit meinen verfrorenen Fingern auf die Knie. »Kann nicht behaupten, überrascht zu sein, dass Fisher nicht übergegangen ist.«

»Wahrscheinlich hat er Angst, wo’s hingeht.«

»Zweifellos.«

Danach machte sich Schweigen zwischen uns breit. Dez fuhr, und die funkelnden Lichter der Stadt wichen der Dunkelheit, während wir den Potomac überquerten. »Hältst du dich immer noch tapfer?«, fragte er schließlich.

Ich nickte.

»Und wie geht’s dir gesundheitlich?«

»Gut«, sagte ich, und meine Hände schlossen sich um meine Knie, um einen Anfall von Verärgerung zu unterdrücken. Dez war nicht einfach nur irgendwie nett. Er war tatsächlich nett, genau wie Zayne. Seine Besorgnis sollte mich eigentlich nicht so reizen. »Sieht schlimmer aus, als es sich anfühlt.«

»Das beruhigt mich, denn ich muss ehrlich sagen: Es sieht schmerzhaft aus.«

»Zuerst war es nicht sehr … witzig.« Tatsächlich war es die Hölle gewesen. Nicht nur die aufgerissenen Stellen auf der Haut, die wieder heilen würden, oder die zerschmetterten Knochen, die sich wieder zusammenfügten, sondern zu Bewusstsein zu kommen und immer wieder daran zu denken, dass Zayne wirklich tot war, war das Schlimmste gewesen. Ich würde lieber tausend Stunden durchleben, in denen mein Körper immer wieder schmerzvoll heilte, um nur ja nicht die kalte, herzzerreißende Realität von Zaynes Tod zu spüren.

Doch es bestand die Möglichkeit, dass ich das noch einmal durchmachen musste.

Ich holte scharf Luft und lockerte den Griff um meine Knie.

»Ich weiß … ich weiß, dass Zayne dir viel bedeutet hat«, meinte Dez daraufhin, und ich kniff die Augen zu. Das verursachte ein Ziehen in der zarten, noch nicht ganz geheilten Haut. »Ich weiß, dass du ihm viel bedeutet hast. Er hat uns allen viel bedeutet.« Dez atmete stockend ein, und es kostete mich alle Kraft, um nicht sofort damit herauszuplatzen, was los war, doch ich wollte alles nur einmal erklären. »Er war …«

Zayne war einfach alles.

Dez räusperte sich. »Er war der Beste unter uns. Ich glaube nicht, dass er das jemals wirklich realisiert hat, und bin mir sicher, er hat nicht gewusst, dass wir alle hinter ihm gestanden hätten, wenn er die Nachfolge seines Vaters angetreten hätte. Uns war gleichgültig, was in der Vergangenheit vorgefallen ist. Ihm mag ein Teil seiner Seele gefehlt haben, trotzdem besaß er mehr Seele als die meisten von uns.«

Ich schaute zu Dez und wünschte, Zayne wäre hier und hätte das gehört, aber Dez würde noch die Gelegenheit bekommen, es Zayne zu sagen. Ich musste ihn nur einfach… mit dem Schwert des Michael mitten ins Herz treffen.

Oh Gott.

Ich wandte den Blick von Dez ab und holte tief Luft. »Eine Weile hat Zayne das gestört – diese Sache mit der nicht übernommenen Position als Clanführer –, aber irgendwann hat er sich damit abgefunden. Er … er hat erkannt, dass seine persönliche Entwicklung nicht unbedingt mit dem übereinstimmt, was andere Wächter glaubten. Doch er kam damit zurecht. Echt.«

»Das hat er dir erzählt?«

»Ja.«

»Hat er dir von der Grundhaltung Töte alle Dämonen bei Sichtkontakt der meisten Wächter berichtet?«, fragte er. »Nicht alle sind so. Ich nicht. Und Nicolai auch nicht.«

Das hatte ich mir schon gedacht, weil sie ja früher mit Roth und Cayman zusammengearbeitet hatten.

»Aber ich kann Zayne verstehen«, fuhr Dez fort. »Vor allem nach dem, was mit Layla war. Danach gab es kein Zurück mehr.«

Nein, gab’s nicht. Nicht als Zaynes Vater und nahezu der gesamte Clan bereit gewesen waren, sie zu töten, da sie versehentlich einen Teil von Zaynes Seele geraubt hatte. Der Clan hatte Layla großgezogen, und alle hätten wissen sollen, dass hinter ihren Handlungen keine böse Absicht steckte, sondern bloß Dummheit, sowohl ihrerseits als auch auf Zaynes Seite.

Meine Eifersucht auf Zaynes und Laylas damalige Beziehung war längst verflogen. Genauso wie die merkwürdige Mixtur von Verbitterung über die Tatsache, dass es eigentlich ich hätte sein sollen, die mit Zayne aufgewachsen war.

Doch mittlerweile spielte das alles keine Rolle mehr, und es ärgerte mich, dass ich damit überhaupt je Zeit verschwendet hatte.

»Übrigens«, sagte Dez. »Du blutest.«

»Was?« Ich hob die Hand und berührte mein Kinn. Meine Finger waren blutbefleckt. Also war es mein Blut. Schnell wischte ich mir die Finger an der Jeans ab. »Das ist nichts.«

»Soso«, nuschelte Dez bloß.

Zum Glück schwieg er danach wieder, aber die Fahrt zur Wächter-Siedlung schien ewig zu dauern. Als er endlich vor dem riesigen Gebäude anhielt, stürzte ich mich fast aus dem SUV. Dez folgte mir auf den Fersen. Ich eilte los.

Und stolperte prompt über die erste Stufe, weil ich sie nicht gesehen hatte.

Ich sammelte mich wieder, seufzte und bewegte mich dann vorsichtiger vorwärts. Dez griff um mich herum, öffnete die Eingangstür, und wir traten ein. Es dauerte ein Weilchen, bis sich meine Augen an das helle Licht in der Halle gewöhnt hatten, dann folgte ich Dez in Richtung Nicolais Büro. Unterwegs begegneten wir ein paar Wächtern, die entweder Feierabend hatten oder sich auf den Weg zur Arbeit machten. Weil sie einen großen Bogen um mich schlugen, ging ich davon aus, dass sie mittlerweile die Wahrheit über mich erfahren hatten.

Das sollte mich beunruhigen. Denn es gab Wächter, denen die Vorstellung, dass ein Trueborn in der Nähe war, nicht besonders angenehm war. Das hatte größtenteils mit einer Geschichte aus tiefster Vergangenheit zu tun, die fast in Vergessenheit geraten war, eine, von der nicht einmal ich gewusst hatte, bis Thierry mir davon erzählte, der Clanführer der Potomac Highlands, der für mich mehr Vater war als Michael. Anscheinend hatte die Geschichte etwas mit einer Verbindung zu tun, die zu einer Rebellion geführt hatte. Dabei waren viele Wächter umgekommen, die Verbindungen gekappt worden, und in der Folge waren die Trueborns ausgestorben.

Bis auf mich.

Und Sulien.

Aber der war tot, also bis auf mich.

Dez stieß die Bürotür auf, und ich sah Nicolai sofort. Der jüngste Clanführer überhaupt thronte hinter einer Art Schreibtisch, hinter dem auch Thierry häufig saß. Nicolai hatte eine ziemlich beeindruckende Narbe im Gesicht, was die Ausstrahlung als knallharter Kerl noch verstärkte. Die Wächterin mit den dunklen, glänzenden Haaren, die neben ihm stand, hob ihn sozusagen noch eine Stufe höher. Danika war anders als jeder weibliche Wächter, den ich kannte. Nicht einmal mit Jada, die auch sehr mutig war, konnte man sie vergleichen. Danika spielte einfach nicht nach den althergebrachten Regeln, die für Frauen vorgesehen waren, und die Tatsache, dass Nicolai nicht versuchte, sie in den für sie vorgesehenen goldenen Käfig zu sperren, führte dazu, dass ich ihn noch mehr mochte.

Gideon war ebenfalls anwesend, stand auf der anderen Seite von Nicolai und hielt sein Smartphone in der Hand. Zayne bezeichnete ihn immer als den claneigenen IT-Experten, während ich ihn eher als Hacker und Tausendsassa betrachtete.

Er beäugte mich, während ich vorwärtsschritt, und ich fragte mich, ob er an die Situation zurückdachte, als er mit Nicolai und Zayne hier im Büro gewesen war und erfahren hatte, dass ich Geister sehen konnte. Damals dachte er, ich hätte verwässertes Engelsblut in mir. Aufgrund des winzigen Schritts, den er jetzt vor mir zurückwich, war ich mir sicher, dass er mittlerweile wusste, dass ich eine ganze Menge davon in mir besaß.

Als Nicolai den Kopf hob, fiel sein schulterlanges braunes Haar nach hinten. Er wollte etwas sagen, aber Danika kam ihm zuvor.

Sie richtete sich kerzengerade auf und meinte besorgt: »Bist du verletzt, Trinity?«

Kopfschüttelnd wünschte ich, ich hätte mir auf dem Weg hierher das Blut aus dem Gesicht gewischt. »Bloß ’ne Kleinigkeit, nicht schlimm.«

»Ich kann meine Schwester holen«, bot sie an und bewegte sich vom Schreibtisch weg. »Du blutest aus den Ohren. Ich bin keine Ärztin, aber das scheint mir keine Kleinigkeit zu sein.«

Mist.

Auch daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.

»Nicht nötig.« Ich blickte zu dem Stuhl vor dem Schreibtisch und wollte mich setzen, da fiel mir ein, dass ich ja immer noch klatschnass war. Und für heute hatte ich schon genug Polster ruiniert. »Mir geht’s gut.«

Danika sah aus, als wollte sie entschieden widersprechen. »Wenn du meinst.« Sie schaute zu Gideon. »Wir wollten sowieso eben gehen …«

»Schon gut. Ihr müsst nicht gehen.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Wahrscheinlich ist es am besten, wenn ihr alle die Neuigkeiten aus erster Hand erfahrt.«

»Erklärt das, was du uns zu sagen hast, warum du noch schlechter aussiehst als beim letzten Mal, als wir uns trafen?«, fragte Nicolai.

Ich schürzte die Lippen, denn ich fand, dass ich viel besser aussah als zuletzt. Andererseits hatte ich mein Spiegelbild natürlich lange nicht gesehen. »Ja.«

»Okay.« Er nickte in Richtung Stuhl. »Setz dich wenigstens. Macht nichts, wenn du den Stuhl durchnässt.«

Ein Dankeschön murmelnd, nahm ich Platz. Sofort spürte ich Linderung im gesamten Körper, was ein Zeichen dafür war, dass Nicolais Bemerkung über mein Aussehen vermutlich genau ins Schwarze getroffen hatte. »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, außer dass ich es einfach sage«, meinte ich, während sich Dez an die Wand lehnte. »Zayne lebt.«

4

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Alle erstarrten. Ich glaubte, dass sie nicht mal mehr atmeten. Auf jeden Fall schwiegen sie so lange, dass ich den Satz schon fast wiederholen wollte, da meldete sich Dez zu Wort.

»Trinity, das ist unmöglich«, sagte er leise und etwas zu sanft.

»Glaub mir, ich weiß, wie sich das anhört, aber er lebt. Ich hab ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Ich hab ihn gespürt. Er ist aus Fleisch und Blut und besitzt Flügel«, erklärte ich. »Er lebt, allerdings ist er nicht mehr ganz der Alte. Er ist ein gefallener Engel, doch trotzdem im Besitz seiner Flügel und einer ganzen Menge himmlischen Feuers. Der Gnade.«

Verständnislos starrten Nicolai und Danika mich an, und ich ging davon aus, dass Dez und Gideon das ebenfalls taten.

»Und teilweise hat er das hier zu verantworten.« Ich zeigte auf mich. »Und der Thronende, mit dem ich schließlich gesprochen habe, nachdem ich Zayne begegnet war, ist verantwortlich für die blutenden Ohren.«

Gideon rutschte das Handy aus der Hand, und es krachte mit einem dumpfen Geräusch zu Boden.

»Vielleicht möchtest du es lieber liegen lassen, weil ich noch nicht fertig bin«, sagte ich zu ihm.

»Okay«, flüsterte Gideon.

»Zayne hat mich im Rock Creek Park gefunden, aber er hat mich nicht wirklich erkannt. Zunächst wirkte es zwar so, aber dann wieder nicht, und er hat sich benommen wie in Fight Club. Ich hab’s geschafft, da wegzukommen – na ja, irgendwie hab ich ihm einen Hieb mit dem Dolch verpasst und bin davongerannt, und während ich lief, hörte ich diese Stimme im Kopf, die meinte, ich sollte in diese Kirche gehen.«

Nicolai saß mir gegenüber und blinzelte bedächtig.

Mir war bewusst, wie absurd das alles klang, trotzdem fuhr ich fort: »Da bin ich dann dem Thronenden und einem Haufen gruseliger Steinengel begegnet, aber die sind unwichtig, obwohl mich der Anblick ihrer Bewegungen wohl für den Rest meines Lebens verfolgen wird. Der Thronende erklärte mir, was geschehen war.« Ich erzählte alles, was der Thronende mir anvertraut hatte und was ich zu tun hatte. Dass Zayne die Wahl gehabt hatte. Die Verbrennung beim Wiedereintritt. Und dass er in seinem jetzigen Zustand Wächter und all jene, die die Gnade in sich trugen, als Feinde betrachtete. Ich berichtete, dass der Thronende davor gewarnt hatte, Zayne … könnte zu einem Risiko für unschuldige Menschen werden. Als ich fertig war, wollte ich sofort zurück und ihn suchen.

Ihn finden, bevor er zu dem wurde, vor dem der Thronende gewarnt hatte – bevor er etwas tat, das er sich niemals würde verzeihen können.

»Er … er hat sich seine göttliche Herrlichkeit zurückverdient, aber … ich bin mir nicht ganz sicher, was das eigentlich bedeutet, und er ist nun ein Gefallener, also könnte er …« Meine Stimme wurde brüchig, und alles in mir verkrampfte sich. Ich atmete langsam durch die Nase, während mir die Augen brannten. »Um zurückzukommen und an meiner Seite zu kämpfen, wurde er zum Gefallenen – für mich.«

»Die Seele«, sagte Gideon heiser und zog die Aufmerksamkeit auf sich. »Die Herrlichkeit ist für Engel eigentlich das Gegenstück zur menschlichen Seele.«

Oh.

Klang logisch.

Und gleichzeitig machte es alles so viel schlimmer, denn bedeutete das, dass Zayne seine Seele verloren hatte?

»Die göttliche Herrlichkeit ist der Grund, warum wir – warum Wächter – eine reine Seele besitzen«, fuhr Gideon fort und wirkte, als müsste er sich setzen. »Ohne wäre er nur …«

Ich dachte daran, was der Thronende gemeint hatte, und hätte mich am liebsten übergeben. »Nur ein Gespenst?«

Gideon nickte, und hätte ich nicht gesessen, wäre ich vermutlich umgekippt. Gespenster waren Leute, denen nach dem Tod die Seele genommen wurde. Manche Dämonen waren dazu in der Lage. Das passierte manchmal, wenn ein Geist zu lange blieb und sich weigerte, ins Jenseits überzugehen. Im Grunde gab es keine zeitliche Begrenzung dafür. Für jeden Geist galt etwas anderes. Es konnte einfach so passieren. Wie auch immer, Gespenster waren unglaublich gefährlich, nachtragend und boshaft. Die personifizierte Gehässigkeit und Verbitterung. Die reine Missgunst.

»Aber das kann doch nicht das Einzige sein, was einen Gefallenen erwartet«, widersprach ich. »Der Thronende sagte, man hätte gehofft, dass Zayne den Fall unversehrt überstehen würde. Dass man gehofft hätte, er würde im Kampf gegen Gabriel noch von Nutzen sein, auch wenn er sich dafür entschieden hatte, ein Gefallener zu sein. Die fehlende Herrlichkeit oder Seele oder was auch immer darf doch nicht entscheidend für das Verhalten eines Gefallenen sein.« Alle starrten mich an. »Ich hoffe echt, ihr glaubt mir.«

»Was du sagst, muss einfach stimmen. Die einzige Möglichkeit, wie du wissen kannst, woher wir stammen.« Gideon wandte sich Nicolai zu. »Die einzige Möglichkeit.«

Nicolai nickte langsam, lehnte sich dann im Stuhl zurück, strich sich über den Kopf und griff sich in den Nacken. »Er ist tatsächlich zurück.«

»Ja. Tatsächlich.« Nachdenklich runzelte ich die Stirn. »Wusstet ihr, dass Wächter ursprünglich gefallene Engel sind?«

»Ich hab’s erfahren, als ich diese Position hier übernommen habe. Die Alphas haben es mir erzählt«, antwortete Nicolai und bezog sich auf die Klasse von Engeln, die mit den Wächtern redeten.

»Was?« Danika wandte sich Nicolai zu. »Du wusstest davon?« Sie sah aus, als wollte sie ihn gleich boxen. »Und du hast es mir nicht erzählt?«

»Es gibt eine Menge Dinge, die ich dir nicht gesagt habe.« Danikas Gesichtsausdruck veranlasste ihn dazu, sich erneut zurückzulehnen. »Dinge, die ich dir nicht sagen kann.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Echt jetzt?«

»Warum bist du denn nicht wütend auf ihn?« Nicolai deutete auf Gideon.

»Weil er nicht im gleichen Bett schläft wie ich«, schoss sie zurück.

Treffer – versenkt.

Höchste Zeit, ein weniger unangenehmes Gesprächsthema anzuschneiden.

»Woher wusstest du’s?«, fragte ich Gideon. »Eigentlich gehe ich davon aus, dass es etwas ist, was Clanführer mit ins Grab nehmen.«

»Richtig, aber ich … ich habe Zugang zu vielen alten Büchern – zu Briefen und Aufzeichnungen von, na ja, von vor sehr langer Zeit. Ich bin über die Tagebücher eines Wächters der zweiten oder dritten Generation gestolpert. Dort habe ich davon gelesen und bin deshalb zu Abbot gegangen«, erklärte er und meinte damit Zaynes Vater. »Der hat das dann bestätigt.«

»Also ist Zayne …« Danika schlug die Hand vor den Mund, und das war vermutlich genau der Augenblick, in dem sie wirklich begriff, dass Zayne lebte. »Wie sieht er … wie sieht er aus?«

»Wie Zayne – bis auf die Flügel. Die sind weiß und von Gnade durchzogen. Auch seine Augen haben das tiefe, tiefe Blau. Eine fast künstliche Farbe.« Ich schaute auf meine beschmutzten Hände. »Er sah gut aus. Tatsächlich perfekt.« Ich schluckte schwer. »Und er ist sehr stark – sogar stärker als ich.«

»Weil er ein gefallener Engel ist, der trotzdem seine Gnade besitzt«, warf Dez ein, und seine rotbraunen Locken sahen mittlerweile aus, als wäre er das ganze Gespräch über nervös mit den Fingern hindurchgefahren. »Eigentlich ist er ein Engel.«

»Nicht irgendein Engel.« Gideon starrte mich an. »Soweit ich das beurteilen kann, stammen die meisten Gefallenen aus der zweiten Sphäre. Sie waren Mächtige – die erste von Gott geschaffene Abfolge von Engeln. Eine Art Elite-Krieger-Truppe zum Schutz menschlicher und himmlischer Gefilde. Davon stammen wir ab. Zayne ist ein Mächtiger, und darum war auch die Gnade in seinen Flügeln sichtbar. Er trägt genauso viel Energie in sich wie ein Erzengel.«

Na toll.

Warum konnten sie denn nicht von – ach, keine Ahnung –, von Schutzengeln abstammen oder von denen, die nur von Gott sangen oder so? Aber nein, es mussten Elite-Krieger sein.

»Ein gefallener Mächtiger also«, meinte Nicolai leise, der sich mit der Hand übers Gesicht fuhr. »Herrje. Damit wäre er praktisch nicht aufzuhalten. Der Clan ist sowieso schon in höchster Alarmbereitschaft wegen des ganzen Der-Bote-Slash-Gabriel-Chaos, doch nun müssen wir klarstellen, dass alle über Zayne Bescheid wissen und sich bewusst sind, dass er … momentan unberechenbar ist.«

»Ich werde dafür sorgen, dass alle Bescheid wissen«, sagte Gideon.

Der Gedanke, dass die Wächter gewarnt werden mussten, sich von Zayne fernzuhalten, wühlte mich auf. Das war zwar der Grund, weshalb ich hergekommen war, aber … »Noch ist er nicht gänzlich böse. Teilweise hat er mich auch erkannt. Das war kein Wunschdenken, denn er hätte mir ernsthaft Schaden zufügen können. Er hätte mich umbringen können, hat er aber nicht. Er ist immer noch da, und der Thronende erklärte mir, was ich zu tun hätte, um ihn ganz zurückzuholen, bevor es zu spät ist. Ich muss nur …«

»Was?«, fragte Dez.

»Ich muss bloß … Ich weiß nur nicht, wie das, was ich zu tun habe, ihn nicht doch umbringen wird.«

»Einzelheiten, Trinity«, forderte Nicolai.

Ich rieb mir die Handflächen an den Knien. »Der Thronende sagte, meine Gnade würde niemals jemanden verletzen, der mir etwas bedeutet. Dass ich sie einsetzen musste, um ein Herz zu treffen, das im Chaos gefangen ist.«

»Das Schwert des Michael.« Nicolai hob die Augenbrauen. »Ich nehme an, das heißt, du sollst ihn mit dem Schwert des Michael mitten ins Herz treffen.«

»So in etwa.«

»Und warum sollte ihn das nicht umbringen?« Danika riss die Augen auf.

»Das frage ich mich auch, aber der Thronende hat mir signalisiert, dass ich nur fest daran glauben muss«, erklärte ich.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Thronende dich angelogen hat«, sagte Gideon.

»Ach ja?«, reagierte Dez. »Engel lügen meist nicht offensichtlich, aber sie lassen verdammt viel Wahres weg.«

»Thronende sind aber anders. Sie sind die Verkünder der Wahrheit und Weissager der Lüge«, argumentierte Gideon, und mir fielen wieder all diese gruseligen Augen ein. »Wenn der Thronende ihr das gesagt hat, muss es auch stimmen.«

»Wahr oder nicht, ich muss es tun«, erklärte ich ruhig. »Zayne ist im Augenblick da draußen, und ich habe keinen Schimmer, was er tut. Ich hoffe, er macht ein Nickerchen oder er isst ungesundes Zeug. Wahrscheinlich aber nicht, und der Thronende … er hat gewarnt, dass es schon zu spät sein könnte. Dass all das, was Zayne fühlte, als er zum Gefallenen wurde, und das, was er jetzt spürt, ihn bereits … infiziert haben könnte.«

Danika wandte den Kopf ab, und mir war klar, dass sie, genau wie ich, den Gedanken daran einfach nicht ertragen konnte.

Stockend atmete ich ein. »Wenn ich das Risiko nicht eingehe und nicht versuche, ihn zurückzubringen, wird Zayne böse. Und dann wird er Dinge tun, die er zuvor niemals gemacht hätte.«

»Hat er schon, so wie’s aussieht«, meinte Nicolai leise, blickte mich eingehend an, und ich wusste, was er sah. Neue Wunden.

Die Wahrheit tat eben weh. »Ich darf nicht zulassen, dass er zu einem Monster wird. Das werde ich ihm nicht antun. Das werde ich nicht zulassen. Niemals.«

»Einverstanden«, sagte Dez, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

»Und wie lautet der Plan?« Nicolai legte die Hände auf den Schreibtisch. »Was passiert als Nächstes?«

Dusche? Schlamm und Dreck klebte an mir. Und Blut. Doch ich bezweifelte, dass Nicolai das meinte, genauso wie ich bezweifelte, dass dafür Zeit war. »Ich zieh gleich los und suche Zayne. Er hat mich einmal gefunden, und ich schätze, er findet mich auch ein zweites Mal. Der Thronende drückte es in etwa so aus, dass Zayne von meiner Gnade angezogen würde. Dann werde ich … ich werde ihn zurückbringen.«

»Okay, gut.« Nicolai wandte sich an Dez. »Lass uns ausschwärmen.«

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was das hieß. »Leute, ihr könnt da nicht raus und nach ihm suchen. Ich hab doch erklärt, dass er zurück ist und ihr euch alle von ihm fernhalten sollt.«

Nicolai blickte mich an. »Wir stehen dir bei. Du gehst los und suchst Zayne, und wir sind an deiner Seite.«

Autor

Jennifer L Armentrout

Die 1980 geborene Jennifer L. Armentrout lebt mit ihrem Mann und Jack-Russell-Terrier Loki im amerikanischen West Virginia. Bereits als Schülerin schrieb sie die ersten Kurzgeschichten und versüßte sich damit den Mathematikunterricht. Dass ihre Mathematiknoten unter ihren ersten schriftstellerischen Versuchen litten, zahlte sich langfristig für Jennifer Armentrout aus: Mit ihren Jugendbüchern...

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