Heimliches Verlangen nach dir

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An Männer verschwendet Jenna keinen Gedanken mehr! Nach einer schmerzhaften Scheidung ist sie entschlossen, noch einmal ganz von vorne anzufangen, weit weg von London und ihrem betrügerischen Ex. Auf einer wild-romantischen Insel vor Schottland findet sie mit ihrer Tochter ein neues Zuhause und eine neue Aufgabe als Krankenschwester. Der attraktive und charmante Arzt Ryan McKinley lässt ihr Herz unvermutet höherschlagen. Doch Ryan verbirgt ein Geheimnis. Kann Jenna ihm wirklich vertrauen?


  • Erscheinungstag 28.07.2020
  • Bandnummer 152020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733714307
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Ich kann nicht glauben, dass du mich in diese gottverlassene Einöde schleppst! Du musst mich wirklich hassen.“

Das Mädchen ließ sich mit mürrischem Gesichtsausdruck gegen die Reling der Fähre fallen. Jeder Muskel ihres schlanken Teenagerkörpers vibrierte vor Wut und Rebellion gegen das Ungeheuerliche, was man ihr gerade antat.

Jenna löste den Blick von dem magisch-schönen Nebel, der die Insel vor ihnen einhüllte, und sah ihre Tochter an. „Ich hasse dich nicht, Lexi“, sagte sie ruhig. „Ich liebe dich sehr, und das weißt du auch.“

„Wenn du mich lieben würdest, wären wir noch in London.“

Schuldgefühle mischten sich mit Stress und Anspannung zu einer steinharten Kugel in Jennas Magen.

„Es ist ein Neubeginn. Der Start in ein neues Leben.“ Weit weg von allem, was mich an meine Ehe und das falsche Mitleid meiner angeblichen Freunde erinnert …

„Mir hat unser altes Leben aber sehr gut gefallen!“

Das hatte es Jenna auch. Bis sie herausgefunden hatte, dass es eine einzige Lüge gewesen war. Energisch blinzelte sie gegen das Brennen in ihren Augen an und fragte sich, wie lange sie die Fassade wohl noch aufrechterhalten konnte. Die Zeit heilt alle Wunden, hieß es, aber von wie viel Zeit war dabei die Rede? Ein Jahr lag jetzt hinter ihr, und sie fühlte sich kein bisschen besser als an dem Tag, als ihre heile Welt wie eine Seifenblase zerplatzt war. Vielleicht stimmte es ja nicht. Vielleicht würde die Wunde nie heilen, und sie musste ihr tapferes „Es ist alles okay“-Lächeln für den Rest ihres Lebens zur Schau tragen.

„Warum sind wir nicht in London geblieben?“, fragte Lexi sie zum hundertsten Mal. „Du hattest doch einen tollen Job dort.“

„London ist teuer.“

„Und wenn schon. Dann muss Dad eben Unterhalt für uns zahlen. Schließlich war er es, der gegangen ist.“

„Ich möchte nicht vom Geld deines Vaters leben. Ich bin lieber unabhängig.“

Und das musste Jenna auch sein. Denn Clives Widerstreben, sich an den Unterhaltskosten seiner Tochter zu beteiligen, stand ihr noch sehr deutlich vor Augen.

„Wie kannst du nur so kalt und unberührt darüber reden?“ Lexi funkelte sie aufgebracht an. „Du solltest stinkwütend sein! Falls mich je ein Mann so mies behandeln sollte wie Dad dich, würde ich ihm sämtliche Zähne ausschlagen und ihm anschließend ein Messer …“

„Alexandra!“

„Ja, was denn? Genau das würde ich tun, das schwöre ich!“

Jenna atmete tief durch. „Natürlich war ich wütend“, gab sie zu. „Und verletzt. Aber was geschehen ist, ist nun mal geschehen. Wir müssen lernen, damit zu leben.“

„Dann macht Dad sich jetzt also mit seiner Neuen ein schönes Leben in London, während wir auf einer öden Insel im Exil sitzen. Super.“

„Glenmore ist ein wunderbarer Ort, Liebes. Lass dich einfach auf die neuen Eindrücke ein, und du wirst die Insel genauso lieben, wie ich es in deinem Alter getan habe.“ Wehmütige Erinnerungen an die Sommer, die sie mit ihren Großeltern hier verbracht hatte, zogen an Jennas innerem Auge vorbei. Vielleicht war dies der einzige Ort, an dem sie sich so geliebt gefühlt hatte, wie sie war. „Wir haben Sandburgen gebaut und stundenlang am Strand nach Muscheln gesucht …“

„Wow! Ein Wunder, dass du nicht vor Aufregung gestorben bist.“

Der beißende Sarkasmus ihrer pubertierenden Tochter zerrte an Jennas ohnehin schon blank liegenden Nerven. Plötzlich wünschte sie sich, wieder ein Kind zu sein. Sorglos und frei von der Verantwortung für einen anderen Menschen.

Am liebsten hätte sie losgeweint, doch das tat sie natürlich nicht.

„Ob du es glaubst oder nicht, aber die Insel hat tatsächlich Aufregendes zu bieten.“ Jenna setzte ein aufmunterndes Lächeln auf. „Sie war früher von Kelten und Wikingern besetzt, und diesen Sommer findet hier wieder eine archäologische Ausgrabung statt. Die Teenager, die hier leben, haben sich förmlich um die wenigen Helferplätze gerissen, aber ich konnte noch einen für dich ergattern.“

„Du hast mich für eine blöde Ausgrabung angemeldet?“ Lexi bedachte ihre Mutter mit einem vernichtenden Blick und verschränkte die Arme vor der Brust. „Vergiss es, Mum. Ich habe kein Interesse. Also kannst du mich gleich wieder abmelden.“

„Probier es doch wenigstens“, bat Jenna sie. Was sollte sie tun, wenn Lexi sich weigerte zu kooperieren? „Du warst früher ganz begeistert von Geschichte und …“

„Das ist ewig her! Jetzt bin ich fünfzehn und habe Sommerferien. Ich will eine Pause von der Schule und keinen Geschichtsunterricht!“

Jenna beschloss, das Thema für den Moment ruhen zu lassen. „Wir könnten in den nächsten Tagen zusammen zum Angeln gehen“, schlug sie vor. „Es gibt nichts Besseres, als einen Fisch zu essen, den man selbst gefangen hat.“

Lexi verdrehte die Augen. „Bitte, Mum! Hör auf, dir ständig einen abzubrechen, um mich aufzuheitern, und gib endlich zu, dass unsere Lage verdammt beschissen ist!“

„Du sollst nicht fluchen, Alexandra!“

„Und warum nicht? Grandma ist nicht hier, um es zu hören, und unsere Lage ist beschissen. Ich hoffe, Dad und seine neue Flamme ertrinken in ihrem dämlichen Whirlpool!“

Jenna rieb sich mit den Fingern über die dumpf pochenden Schläfen. Jetzt bloß keinen Streit, dachte sie. „Lass uns doch bitte kurz über uns reden und nicht über Dad“, bat sie. „Du hast noch sechs Wochen Ferien. Ich muss arbeiten, und da ich dich nicht den ganzen Tag dir selbst überlassen kann, habe ich dich bei dem archäologischen Camp angemeldet. Ich dachte, es würde dir Spaß machen.“

„Ungefähr so viel, wie sich die Fußnägel einzeln herauszuziehen“, erwiderte Lexi sarkastisch. „Ich brauche keinen Babysitter. Ich bin fünfzehn!“

Und immer noch ein Kind, dachte Jenna wehmütig. Hinter der aufsässigen Fassade steckte ein verängstigtes Mädchen, das sich verzweifelt nach Halt und Geborgenheit sehnte.

„Es wird uns hier gut gehen, mein Schatz. Und du wirst Spaß haben, das verspreche ich dir.“ Jenna strich über die magere, angespannte Schulter ihrer Tochter und war froh, dass sie nicht vor der Berührung zurückzuckte.

„Spaß wäre es, meine Freunde zu sehen. Oder wenigstens mit ihnen reden zu können …“ Lexi zog ihr Handy aus der Jackentasche und starrte finster aufs Display. „Kein Empfang.“ Sie hielt das Gerät in verschiedene Richtungen, um ein Signal einzufangen, doch ihre Bemühungen waren umsonst. „Ich schwör dir, wenn es hier kein Netz gibt, schwimme ich nach Hause.“

„Das liegt sicher an der Felsenküste“, beruhigte Jenna sie. „Sobald wir an Land sind, wird es bestimmt klappen.“

„Das wird es nicht, wollen wir wetten?“ Lexi stopfte ihr Handy zurück in die Tasche. „Warum durfte ich den Sommer über nicht bei Dad in London bleiben? Wenigstens hätte ich dann meine Freunde sehen können.“

„Er muss arbeiten und hat befürchtet, dass er sich nicht genug um dich kümmern kann“, antwortete Jenna diplomatisch. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? Sorry, Lexi, aber dein Vater ist ein Egoist und zurzeit nur an ungestörtem Sex mit seiner neuen Freundin interessiert?

„Es hätte mir nichts ausgemacht, dass Dad arbeiten muss. Und mit Suzie komme ich klar, solange ich die Tatsache ausblende, dass sie kaum älter ist als ich.“ Angewidert verzog Lexi das Gesicht. „Offenbar erlebt Dad gerade seine zweite Jugend mit ihr, aber ich finde es einfach nur ekelhaft. Zum Glück bist wenigstens du über solchen Schwachsinn hinweg.“

Bin ich das? fragte Jenna sich unwillkürlich. Ist man mit dreiunddreißig bereits jenseits von Gut und Böse? Resolut verdrängte sie das Bild von Clive bei heißem Sex auf seinem Schreibtisch. Kein Mann war je so wild darauf gewesen, mit ihr zu schlafen, dass er sich nicht einmal die Zeit genommen hätte, sie vorher auszuziehen.

Vor allem nicht ihr eigener.

Wenn Clive abends von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatten sie über das Haushaltsbudget oder den kaputten Wasserhahn geredet, der dringend repariert werden musste. Oder sie hatten die Frage diskutiert, ob sie seine Mutter übers Wochenende einladen sollten oder nicht. Nie war er durch die Tür gestürmt, um sich voller Verlangen auf sie zu stürzen, was Jenna – wie sie fairerweise zugeben musste – auch gar nicht gewollt hätte. Es hätte sie nur von all den Dingen abgehalten, die noch zu erledigen waren, bevor sie endlich todmüde ins Bett fallen konnte.

Lexi, die zum Glück keine Ahnung von den Gedanken ihrer Mutter hatte, scharrte schlecht gelaunt mit der Spitze ihres Laufschuhs über den Boden. „In London hätte ich tausend coolere Dinge tun können, als Tonscherben aus dem Matsch zu graben.“

„Es wird noch viele andere Dinge geben, die du tun kannst.“

„Ja, allein. Toll.“

„Unsinn, Lex. Du wirst hier schnell jede Menge Freunde haben.“

„Und wenn nicht? Was, wenn alle mich hassen?“

Jenna sah die Unsicherheit in den Augen ihrer Tochter und zog sie in die Arme. „Niemand wird dich hassen, Liebes. Du schließt leicht Freundschaften, und die Menschen auf der Insel sind sehr freundlich.“

Über die Schulter ihrer Mutter hinweg starrte Lexi aufs Meer hinaus. „Ich hasse Veränderungen.“

„Veränderungen fühlen sich oft schwierig an, aber sie können auch aufregend sein.“ Jenna gelang es, überzeugter zu klingen, als sie sich fühlte. „Das Leben steckt voller Möglichkeiten.“

„Nicht, wenn man in so einer Einöde festsitzt. Sieh den Tatsachen ins Auge, Mum: Unsere Lage ist beschissen.“

Ryan McKinleys Augen brannten vor Müdigkeit. Er hatte weder die Zeit gehabt zu duschen noch sich zu rasieren, und seine Gedanken kreisten ständig um das kleine Mädchen, bei dem er in der letzten Nacht einen Hausbesuch gemacht hatte.

Warum, zum Teufel, hatte Evanna so hartnäckig darauf bestanden, dass ausgerechnet er die neue Praxisschwester abholte?

Zuerst hatte er vermutet, dass sie wieder einmal versuchte, die Kupplerin zu spielen, doch Logan hatte seinen Verdacht zerstreut.

„Jennifer Richards hat eine Tochter im Teenageralter, wodurch sie schon rein altersmäßig nicht infrage kommt“, hatte er Ryan informiert. „Außerdem hätte Evanna es mir erzählt, wenn sie etwas in der Richtung vorgehabt hätte.“

Und Logan McNeil musste es wissen, denn er war nicht nur Ryans Kollege und Seniorpartner im Glenmore Medical Centre, sondern auch Evannas Ehemann.

In den zwei Jahren, die Ryan jetzt auf der Insel lebte, hatte sie alles Menschenmögliche versucht, um seine eremitenhafte Existenz zu beenden. Evanna war es auch gewesen, die ihn ursprünglich hierhergelockt hatte. Und als der zweite Arzt der Insel vor einem Jahr zurück aufs Festland gezogen war, hatte sie ihn überredet, als Vertretung einzuspringen. Ryan war ihrer Bitte nur widerwillig gefolgt, doch dann hatte sich der Job als das perfekte Mittel erwiesen, um ihn aus seinen selbstquälerischen Grübeleien zu reißen. Was die kluge Evanna vermutlich von Anfang an gewusst hatte.

Die Arbeit auf Glenmore unterschied sich ausreichend von seinem alten Job, um keine gefährlichen Erinnerungen auszulösen, und der ständige Zeitdruck war genau das, was er brauchte. Doch so gern er Evanna hatte und so dankbar er ihr auch war: Den Wunsch, ihn in einer festen Beziehung zu sehen, würde er ihr nicht erfüllen. Manche Dinge waren nun einmal, wie sie waren.

„Hi, Dr. McKinley! Sie sind aber früh auf den Beinen.“

Mit strahlendem Lächeln kam ein junges Mädchen auf ihn zu. Das lange Haar schwang ihr bei jedem Schritt um die Schultern. In ihrem Blick lagen Erwartung und offene Bewunderung. „Es war ein toller Abend gestern, nicht wahr?“

„Ja, es war wirklich nett, Zoe.“ Ryan wählte seine Worte mit Bedacht. Als Zoes Arzt wusste er von ihren Depressionen und ihrem Kampf, wieder in ein normales Leben zurückzukehren. „Es war schön, dich so entspannt und fröhlich zu sehen. Offenbar tut es dir gut, wieder unter Menschen zu gehen.“

„Ja, es hat Spaß gemacht.“ Sie schob die Daumen in die Gürtelschlaufen ihrer Jeans und schenkte ihm ein unsicheres Lächeln. „Also, falls Sie mal Lust haben sollten auszugehen …“ Sie verstummte mitten im Satz und wurde knallrot. „Tut mir leid. Ich … ich hätte das nicht sagen sollen. Ich weiß, dass Millionen Mädchen mit Ihnen ausgehen wollen. Warum sollte sich jemand wie Sie mit einer Spinnerin wie mir abgeben?“

Einen ungeeigneteren Moment für ein so heikles Gespräch hätte es kaum geben können. Die Fähre legte gerade an, und Ryan musste mitten auf dem vor Menschen wimmelnden Kai angemessen auf eine Patientin reagieren, die soeben eindeutig eine Grenze überschritten hatte.

„Du bist keine Spinnerin, Zoe“, sagte er. „Du leidest an Depressionen. Das ist eine Krankheit wie jede andere, und zum Glück kann man sie behandeln.“

„Ja, ich weiß. Sie haben mir das klargemacht.“ Zoe blickte verlegen auf ihre Turnschuhe. „Ich komme jetzt viel besser klar, und da habe mich gefragt, ob …“

Bevor sie fortfahren konnte, unterbrach Ryan sie. „Wenn ich auf das einginge, was du mir vorschlagen willst, würde ich meine Zulassung als Arzt verlieren, Zoe. Außerdem bin ich viel zu alt für dich. Aber es freut mich, dass du wieder Lust hast, dich zu verabreden. Und so, wie die Jungs dich gestern umschwärmt haben“, fügte er lächelnd hinzu, „scheinst du jede Menge Auswahl zu haben. Also such dir einen aus, der dir gefällt, und amüsier dich, okay?“

Einen Moment lang hielt Zoe seinen Blick fest, dann lachte sie kurz auf. „Sie haben mir gerade einen Korb gegeben, oder?“

„Ja“, bestätigte Ryan. Er wollte diesen Punkt ganz klar machen. „Aber einen möglichst netten, wie ich hoffe. Du hast mir Dinge anvertraut, die du wahrscheinlich noch nie jemandem erzählt hast. Das schafft eine Nähe, die es schwierig machen kann, die eigenen Gefühle richtig einzuschätzen. Wenn es dir hilft, kannst du gern zu Dr. McNeil wechseln.“

Zoe schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, ich bleibe bei Ihnen, Dr. McKinley. Sie wissen, wie man mit mir reden muss, und können besser zuhören als jeder andere, den ich kenne. Darum bin ich wahrscheinlich auch … ach, egal. Vielleicht treffe ich mich wirklich mit einem der Jungs.“ Sie blickte mit einem zögernden Lächeln zu ihm auf. „Der Archäologe, der diesen Sommer hier ist, wirkt ziemlich cool.“

„Ja, er ist ein interessanter Typ“, bekräftigte Ryan erleichtert. Wie es aussah, hatte seine Zurückweisung ihr nicht das Herz gebrochen.

„Und was ist mit Ihnen?“, erkundigte Zoe sich mit unverhohlener Neugier. „Sind Sie hier, um eine Frau zu treffen?“

„In gewisser Weise ja. Unsere neue Krankenschwester kommt heute an, um unser Team zu verstärken.“

Diese Nachricht schien Zoe mit gemischten Gefühlen aufzunehmen. „Na ja, Schwester Evanna braucht wirklich dringend Hilfe. Wie ist sie denn so? Ist sie jung?“

Ryan hob die Schultern. „Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie eine Tochter im Teenageralter hat.“

Schlagartig hellte sich Zoes Miene wieder auf. „Dann muss sie mindestens vierzig sein“, stellte sie fröhlich fest. „Vielleicht sogar älter. Aber bestimmt ist sie sehr nett.“

Ryan versuchte, die bleierne Müdigkeit abzuschütteln, und ging lächelnd auf die leicht übergewichtige Frau mittleren Alters zu, die sich mit ihrem Rollkoffer durch das Menschengedränge in seine Richtung vorarbeitete.

Er wusste nicht recht, ob er erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Das Gute war, dass Evanna bestimmt nicht versuchen würde, ihn mit dieser Frau zu verkuppeln. Andererseits wirkte sie kaum fit genug, um auf Dauer der harten Arbeit in der Praxis gewachsen zu sein.

„Willkommen auf Glenmore, Jennifer“, begrüßte er sie. „Ich bin Dr. Ryan McKinley.“

Die Frau sah ihn verblüfft an. „Danke, aber ich heiße Caroline, nicht Jennifer. Und das da ist mein Mann. Wir wollen hier eine Woche Ferien machen.“ Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf einen verschwitzten Mann mit Halbglatze, der mit diversen Gepäckstücken und einem sperrigen Sonnenschirm beladen war. Er versuchte gerade, eine Tasche festzuhalten, die ihm durch die Finger gerutscht war, und schaffte es im letzten Moment auch. Doch durch den plötzlichen Ruck riss der Verschluss auf, und der gesamte Inhalt ergoss sich über die Pier.

„Oje! Warten Sie, ich helfe Ihnen …“ Ein schlankes, junges Mädchen sprang herbei und begann, die verstreuten Sachen einzusammeln. Im Nu hatte sie alles in die Tasche zurückbefördert. Als sie den Verschluss wieder zudrückte, schenkte sie dem Mann ein freundliches Lächeln.

Ryans Blick ruhte volle fünf Sekunden auf ihrem Mund, bevor er zu ihren glänzenden schwarzen Locken glitt. Die Spange am Hinterkopf sollte sie vermutlich zusammenhalten, doch die kräftige Brise hatte sie daraus befreit, sodass ihr die üppige Mähne nun ungebändigt um die schmalen Schultern fiel. Ihr Gesicht war blass, und die dunklen Schatten unter ihren Augen ließen vermuten, dass sie schon länger nicht mehr richtig geschlafen hatte.

Als hätte das Leben seine Zähne in sie geschlagen und ein Stück aus ihr herausgerissen … Ryan kannte diesen Blick. Es war derselbe, den er jeden Morgen sah, wenn er in den Spiegel schaute.

Aber wahrscheinlich war es nur Einbildung. Viele Menschen waren blass und erschöpft, wenn sie auf der Insel ankamen. Wenn die Fähre sie dann nach ein oder zwei Wochen wieder aufs Festland zurückbrachte, sahen sie aus wie das blühende Leben. Genauso würde es auch bei diesem Mädchen sein. Es hatte das ganze Jahr in einer grauen, versmogten Stadt gearbeitet und wollte nun auf einer entlegenen schottischen Insel frische Kräfte tanken.

Ihre spontane Hilfsbereitschaft einem Fremden gegenüber hatte Ryan berührt. Ohne großes Aufsehen hatte sie die Habseligkeiten des Mannes so eingepackt, dass er sie deutlich leichter als zuvor tragen konnte. Nun scherzte sie mit ihm und seiner Frau über die Schwierigkeit, bei einem Reiseziel mit so unberechenbarem Wetter die richtigen Sachen mitzunehmen.

Als das Paar kurz darauf an ihm vorbeiging, hörte er, wie Caroline zu ihrem Mann sagte: „Die Broschüre hat ja versprochen, dass Gäste auf Glenmore stets willkommen sind, aber mit so viel Zuvorkommenheit hatte ich nicht gerechnet. Dieser gut aussehende Arzt, der mich vorhin angesprochen hat, stellt sich sogar jedem persönlich vor. Das nenne ich erstklassigen Service.“

Amüsiert beobachtete Ryan, wie sich die beiden samt Gepäck in eins der zwei am Kai wartenden Inseltaxis zwängten. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Fähre zu, wobei er der Versuchung widerstand, noch einen Blick auf das Mädchen zu werfen. Wo nur die neue Schwester blieb! Hoffentlich hatten sie und ihre Tochter die Fähre nicht verpasst.

Eine Hand berührte seinen Arm. „Ich glaube, ich hörte Sie vorhin sagen, dass Sie Dr. McKinley sind …“

Das Mädchen mit den wilden schwarzen Locken stand vor ihm und musterte ihn mit wachem, intelligentem Blick.

„Ich bin Jenna“, fügte sie hinzu, als er keine Anstalten machte zu reagieren. Ihre Stimme war weich, mit einer leicht rauchigen Note.

Ryan sah ihr in die Augen und glaubte, im Meer zu versinken. Alle möglichen Schattierungen von Blau, Grün und Türkis verbanden sich zu einer einzigartigen faszinierenden Mischung. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne einen Ton hervorgebracht zu haben. Er versuchte, den Blick von ihr zu lösen, und stellte fest, dass er es nicht konnte. Also starrte er weiter in diese unglaublichen Augen, bis er tief in ihnen etwas aufschimmern sah.

Interesse?

Das Wahrnehmen einer Verbindung?

Hatte auch sie etwas in ihm erkannt, was mit Worten nicht zu beschreiben war?

Geschockt über die überwältigende Chemie zwischen ihnen, atmete Ryan scharf ein. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er Panik in ihren Augen, dann wich sie rasch einen Schritt zurück. Damit sagte sie deutlich Nein zu dem, was gerade zwischen ihnen geschehen war.

Gut so, dachte Ryan, denn ich sage ebenfalls Nein dazu.

Er wollte eine beiläufige Bemerkung machen, um die Spannung zwischen ihnen aufzulösen, doch seine Zunge schien am Gaumen festgeklebt zu sein. Inzwischen hatte er festgestellt, dass sie kein Mädchen mehr war. Sie war noch jung, aber bereits erwachsen. Vielleicht Mitte zwanzig. Und sie sah todmüde aus. Als wäre sie reif, in ein bequemes Bett zu fallen und mindestens vierundzwanzig Stunden am Stück zu schlafen.

„Tut mir leid. Ich muss mich wohl verhört haben.“ Sie rückte den Trageriemen ihrer Schultertasche zurecht und griff nach den beiden Reisetaschen zu ihren Füßen. „Mir war so, als hätten Sie gesagt, Sie seien Dr. McKinley.“

„Das habe ich auch“, bestätigte Ryan, der plötzlich die Sprache wiedergefunden hatte.

„Oh …“ Ihr Tonfall ließ darauf schließen, dass die Nachricht sie nicht gerade entzückte. Nach kurzem Zögern streckte sie die Hand aus. „Ja also … ich bin Jennifer Richards. Jenna.“

Die Nachricht ließ Ryan erneut verstummen.

„Stimmt etwas nicht?“, erkundigte sie sich verunsichert. „Bin ich am falschen Tag gekommen? Sie scheinen etwas … überrascht zu sein, mich zu sehen.“

Überrascht beschrieb Ryans Reaktion nicht annähernd.

Das sollte Jennifer Richards sein?

Unmöglich!

Doch wie es aussah, war sie es tatsächlich!

Er riss sich zusammen und schüttelte ihre schmale, kühle Hand. „Es ist der richtige Tag“, bestätigte er. „Es ist nur so, dass mein Kollege mich offenbar falsch informiert hat. Ich habe eine Frau mit einer Tochter, die bereits im Teenageralter ist, erwartet.“

Jemanden, der ungefähr zwanzig Jahre älter war und seinen Hormonspiegel nicht schlagartig in die Höhe schießen ließ.

„Ach so, ich verstehe …“ Sie blickte mit einem müden Lächeln zur Fähre. „Nun, ich bin diese Frau, und die Tochter im Teenageralter ist noch auf dem Schiff und weigert sich, an Land zu gehen. Sie haben nicht zufällig Erfahrung mit launischen Halbwüchsigen?“

„Nein, leider nicht.“

„Wie schade.“ Ihr Tonfall war eine Mischung aus Galgenhumor und resignierter Akzeptanz. „Auf jeden Fall entschuldige ich mich für ihre schlechten Manieren.“ Dann errötete sie leicht und wandte den Blick ab. „Sie starren mich an, Dr. McKinley. Bestimmt denken Sie jetzt, ich sollte mein Kind besser unter Kontrolle haben, nicht wahr?“

Stimmt, ich starre sie an. Natürlich tue ich das. Jeder Mann mit Augen im Kopf würde das tun.

„Ich denke eher, dass Sie nicht alt genug sein können, um die Mutter eines Teenagers zu sein“, entgegnete er, als ihm klar wurde, dass sie immer noch auf eine Antwort wartete. „Ist sie adoptiert?“

Verdammt, das war überhaupt nicht das, was er hatte sagen wollen!

„Nein. Sie ist wirklich meine Tochter. Und somit trage ich die alleinige Verantwortung für ihr Benehmen. Aber es tut gut zu hören, dass ich nicht alt genug dafür aussehe. Nach Lexis Meinung gehöre ich einer aussterbenden Generation an, und genau so fühle ich mich jedes Mal, wenn ich streng mit ihr sein muss.“ Mit einer anmutigen Bewegung strich sie eine Haarsträhne zurück, die ihr der Wind ins Gesicht geweht hatte. „Wie auch immer, es tut mir leid, dass ich Ihren Erwartungen nicht entspreche.“

Das tat sie allerdings nicht.

Und Ryan war nicht bereit für das, was sie in ihm auslöste.

„Ah, da kommt sie ja endlich …“ Erleichtert winkte sie dem langbeinigen jungen Mädchen zu, das gerade mit beleidigter Miene von der Fähre stolzierte. „Komm her, Lexi. Ich möchte dir Dr. McKinley vorstellen.“

Ryan lächelte ihr freundlich zu. „Hi, Lexi. Nett, dich kennenzulernen.“

Ausdrucksvolle Augen, die exakt denen ihrer Mutter glichen, erwiderten seinen Blick. „Sind Sie der, der meiner Mum diesen Job gegeben hat? Sie sehen nicht aus wie ein Arzt.“

Ryan rieb sich über den dunklen Bartschatten auf seinem Kinn. „Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich keine Zeit mehr hatte, mich zu rasieren, bevor ich hergekommen bin. Aber ich bin Arzt, auch wenn ich deine Mutter nicht eingestellt habe. Das war mein Kollege, Dr. McNeil.“

„Dann sollten Sie ihm raten, sie auf keinen Fall im Bereich Familienplanung einzusetzen. Wie Sie meiner Existenz entnehmen können, ist Verhütung nicht gerade ihre Spezialität.“

„Alexandra!“, rief Jenna schockiert, worauf das Mädchen schuldbewusst errötete.

„Sorry, Mum. Es ist nur … ach, ich weiß auch nicht! Es macht mich einfach fertig, dass ich hier sein muss.“ Den Tränen nahe, warf Lexi ihr Haar zurück und blickte über den Hafendamm. „Gibt es hier irgendwo ein Internetcafé, oder benutzt man hier Morsezeichen und Rauchsignale, um mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen?“

Ryan sah den Schmerz in Jennas Augen, ihren Frust und ihre mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung. Er hätte gern etwas gesagt, um sie aus ihrer offensichtlichen Verlegenheit zu befreien, aber da er keinerlei Erfahrung im Umgang mit bockigen Teenagern hatte, hielt er es für besser, den Mund zu halten.

„Wir haben ein Cottage an der Westseite des Strandes gemietet.“ Jenna blickte Ryan fragend auf. „Gibt es einen Bus, der dorthin fährt?“

„Nein, leider nicht. Aber bevor Sie weiter darüber nachdenken, muss ich Ihnen etwas gestehen. Ich bin nämlich nicht nur hier, um Sie abzuholen, sondern wollte Sie auch um einen großen Gefallen bitten.“

Jenna hob überrascht die Brauen. „Was für einen Gefallen sollte ich Ihnen denn tun können?“

Autor

Sarah Morgan

Sarah Morgan ist eine gefeierte Bestsellerautorin mit mehr als 18 Millionen verkauften Büchern weltweit. Ihre humorvollen, warmherzigen Liebes- und Frauenromane haben Fans auf der ganzen Welt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London, wo der Regen sie regelmäßig davon abhält, ihren Schreibplatz zu verlassen. Manchmal sitzt Sie...

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Sarah Morgan

Sarah Morgan ist eine gefeierte Bestsellerautorin mit mehr als 18 Millionen verkauften Büchern weltweit. Ihre humorvollen, warmherzigen Liebes- und Frauenromane haben Fans auf der ganzen Welt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London, wo der Regen sie regelmäßig davon abhält, ihren Schreibplatz zu verlassen. Manchmal sitzt Sie...

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