Julia Ärzte zum Verlieben Band 135

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DR. STAPLETONS DUNKLES GEHEIMNIS von TINA BECKETT
Früher war er Neurochirurg, bis ein Unfall seine sensiblen Hände verletzte. Viel mehr weiß Adelina nicht über Garret Stapleton, den attraktiven Verwaltungschef des Miami’s Grace Hospital. Aber sie weiß, dass er der erste Mann seit ihrer Scheidung ist, der sie in Unruhe versetzt …

HÖR AUF DEIN HERZ, ALICE! von CAROLINE ANDERSON
Auf der Krankenhaus-Gala macht die aparte Chirurgin Alice etwas Ungeheuerliches: Aus einer Champagnerlaune heraus gibt sie sich ihrem italienischen Kollegen Marco Ricci hin. Seit dem ersten Arbeitstag flirtet er heiß mit ihr, dabei ist sie seine Chefin! Ein Skandal droht …

BEREIT FÜR DAS RISIKO NAMENS LIEBE? von ALISON ROBERTS
Ein Auto ist über die Klippen ins Meer gestürzt: Todesmutig klettert Rettungsärztin Fizz zu den Insassen ins Wrack. Ein breitschultriger Mann folgt ihr. Kein Zweifel, er hält sie für verrückt! Aber da ist noch etwas anderes in seinem Blick. Bewunderung - Verlangen?


  • Erscheinungstag 07.02.2020
  • Bandnummer 135
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715526
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tina Beckett, Caroline Anderson, Alison Roberts

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 135

TINA BECKETT

Dr. Stapletons dunkles Geheimnis

Nie wieder werde ich lieben! Das hat sich Dr. Garret Stapleton nach einem dramatischen Verlust in seinem Leben geschworen. Doch die schöne Ärztin der Notaufnahme im Miami’s Grace Hospital bringt seinen Schwur in Gefahr: Adelina ist so verwundbar, dass er sie beschützen, halten und zärtlich küssen will. Was zu mehr führt, als er ertragen kann …

CAROLINE ANDERSON

Hör auf dein Herz, Alice!

Im OP arbeiten Dr. Marco Ricci und die fähige Chirurgin Alice Hand in Hand: Es geht schließlich um das Leben ihrer kleinen Patienten! Aber sonst vergeht kein Tag, an dem sie nicht streiten. Marco weiß, woran das liegt: an erotischer Spannung. Die sie unterdrücken – bis sie gemeinsam während einer Krankenhaus- Gala in einem verschwiegenen Zimmer landen …

ALISON ROBERTS

Bereit für das Risiko namens Liebe?

Die schöne Rettungsärztin Fizz Wilson ist die erstaunlichste Frau, der Cooper jemals begegnet ist! Um Menschen zu retten, begibt sie sich ohne Zögern in gefährliche Situationen. Aber ihr Wagemut erinnert Cooper schmerzlich daran, dass er selbst den Tod seines Bruders verschuldet hat. Soll er trotzdem mit Fizz das größte Risiko seines Lebens eingehen – Liebe?

1. KAPITEL

Sie mochte keine Perlen. Nicht mehr.

Adelina Santini legte die Kette in das samtbezogene Schmuckkästchen, klappte den Deckel zu und stellte die Schatulle auf den wachsenden Stapel der Dinge, die sie bei der Wohltätigkeitsauktion ihres Krankenhauses spenden wollte. Fünf Jahre Ehe, und diese Kette und ihr verletzter Stolz waren alles, was ihr geblieben war.

Das Bett war abgezogen und wirkte nackt. Die Kissen und Decken hatte sie in den Müll geworfen, zusammen mit den Hochzeitsbildern. Doch selbst mit nagelneuem Bettzeug konnte sie nicht in diesem Zimmer schlafen. In den letzten sechs Wochen hatte sie die Nächte auf dem Sofa verbracht, und so würde sie es auch halten, bis sie entschieden hatte, was sie mit dem Bett machen sollte, mit dem Haus … mit allem. Die Scheidung war eingereicht, und ihr baldiger Exmann wohnte bereits bei der Frau, mit der er sie betrogen hatte. Diese Perlenkette war sein Hochzeitsgeschenk für sie gewesen, und sie loszuwerden, trug hoffentlich dazu bei, den hässlichen Teil ihrer Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Am liebsten wollte Addy ihn nie wiedersehen. Doch als Rettungssanitäter brachte Leo regelmäßig Patienten in ihr Krankenhaus, und bis jetzt waren diese Begegnungen alles andere als witzig verlaufen. Aber sie würde sich nicht von ihm aus ihrem Job vertreiben lassen.

Sie ging ins Bad, um zu duschen und sich für die Arbeit umzuziehen. Im Moment war ihr Job ihre einzige Rettung. Dass sie noch vor Schichtbeginn kam und länger blieb als nötig, ging nur sie allein etwas an. Mit diesem Gedanken trat sie unter den heißen Wasserstrahl und wartete darauf, dass er all ihre Sorgen mit fortspülte.

Eine halbe Stunde später betrat sie die Notaufnahme im Miami’s Grace Hospital. Auf den Armen balancierte sie fünf Kartons mit Spenden für die Auktion. Sie ging zum Personalraum, um ihre Last loszuwerden. Wenige Schritte vor der Tür hielt eine vertraute Stimme sie auf.

„Dr. Santini, könnten Sie bitte kurz in mein Büro kommen?“

Sie spähte über den Rand der Kartons und stellte fest, dass sie sich nicht geirrt hatte. Garret Stapleton, der Verwaltungschef des Krankenhauses, stand vor ihr – locker an die Wand gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Die Andeutung seines Bizeps schickte einen kurzen Wärmeschauer durch ihren Bauch.

Was ist denn mit mir los?

Als er auf sie zukam, wich sie zurück, und die Kartons gerieten bedrohlich ins Schwanken. Aus der Wärme wurde ein Hitzegefühl, das ihre Wangen erröten ließ.

„Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“

„Es geht schon. Das sind nur ein paar Sachen für die Auktion.“

Warum wollte er mit ihr sprechen? Hatte sie etwas falsch gemacht? Sie war seit mehreren Jahren in diesem Krankenhaus, sogar länger als er. Verstohlen musterte sie ihren gutaussehenden Chef und zuckte verlegen zusammen.

Die Kartons gerieten ins Schlingern, die Schmuckschatulle rutschte herunter und fiel auf den Boden. Der Deckel sprang auf, und die Perlenkette landete auf den Fliesen.

Dr. Stapleton bückte sich, hob die Kette auf und ließ sie am Zeigefinger hin- und herschaukeln. Stirnrunzelnd betrachtete er die Perlen.

„Sind das echte Perlen?“

Addy schluckte. „Ja.“

„Und die wollen Sie spenden?“

„Ja. Ich muss die Trümmer der letzten fünf Jahre loswerden.“ Die Worte kamen schneller heraus als beabsichtigt, und er sah sie skeptisch an.

Nickend deutete er auf die restlichen Kartons. „Haben Sie noch weitere wertvolle Trümmer?“

„Nein.“

„Ich schlage vor, ich schließe das hier zur Sicherheit im Safe in meinem Büro ein.“ Er zögerte. „Und Sie sollten die Kette lieber schätzen lassen. Möglicherweise überlegen Sie es sich noch einmal.“

„Ich werde meine Meinung nicht ändern.“ Sie sagte ihm nicht, warum, aber hoffentlich hörte er die Entschlossenheit in ihrer Stimme.

Er öffnete die Tür zum Personalraum und wartete, bis sie die restlichen Kartons zu den anderen Spenden gestellt hatte. Inzwischen zitterten ihre Knie. Sie hatte gehofft, die Sachen hier abzuladen, ohne dass jemand sie dabei sah. Aber er hatte recht, vermutlich war es besser, die Perlen sicher wegzuschließen, anstatt sie hier herumliegen zu lassen. Wenigstens das Krankenhaus würde von ihrem Fehler profitieren.

Apropos Fehler. Sie drehte sich zu ihm um. „Worüber wollten Sie mit mir reden?“

„Lassen Sie uns in mein Büro gehen.“

Das klang ernst. Etwas, das sie im Moment gar nicht gebrauchen konnte.

Garret Stapleton streckte die Finger seiner linken Hand und zuckte zusammen. Die Sehnen und Bänder waren durch die fehlende Beanspruchung ganz steif geworden. Er war klug genug, gar nicht erst mit den verkrümmten Fingern nach dem Schloss des Safes zu greifen. Oder nach einem Skalpell.

Er wusste genau, warum seine Gedanken in diese Richtung wanderten. Auf gar keinen Fall würde er zulassen, dass jemand denselben Fehler machte wie er. Obwohl er sich Mühe gab, die Gerüchte zu ignorieren, hatte er gehört, was Addy passiert war.

Ihr Kommentar über die Trümmer der letzten fünf Jahre legte nahe, dass diese Spenden etwas mit ihrer Ehe zu tun hatten. Er klemmte sich die längliche Schmuckschachtel unter den linken Arm, drehte den Zahlenknopf des Safes nach links und nach rechts. Dann nahm er die Schachtel und legte sie auf einen Aktenstapel.

„Bitte setzen Sie sich.“

Addy ging zu einem der Ledersessel und nahm Platz.

War sie dünner als vor drei Jahren, als er nach South Beach gekommen war? Oder bildete er sich das nur ein?

„Worum geht’s?“

Sie legte den Kopf schräg. Ein paar dunkle Locken fielen ihr über die Schulter.

Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sie für dieses Gespräch in sein Büro zu bitten. Aber wo sollte er sonst mit ihr reden? Wohl kaum im Personalraum.

Der Daumen seiner lädierten Hand rieb über den kleinen Finger. Wie sollte er die Sache ansprechen? Doch wenn er darüber hinwegsah und etwas passierte …

„Unser Zeiterfassungssystem registriert genau, welcher Arzt wann im Haus ist. Sobald es Abweichungen von der vertraglichen Stundenzahl gibt, leuchtet der Name rot auf. Wissen Sie, wie oft Ihr Name in den letzten Wochen rot markiert war?“

Sie hob ihr Kinn, und die grünen Augen blitzten auf. „Warum stellen Sie mir diese Fragen? Wenn es ein Problem mit meiner Arbeit gibt, ist das eine Sache für die Personalabteilung.“

„Normalerweise würde ich Ihnen da zustimmen und den Fall an die Kollegen weiterreichen. Aber die Notaufnahme ist das Herzstück vom Miami’s Grace Hospital. Sie ist unglaublich wichtig für das ganze Krankenhaus.“

„Ich würde meinen, dass meine zusätzlichen Stunden dann eher helfen als schaden.“

„So könnte man das sehen. Aber so einfach ist es nicht.“ Er ließ seine Hand sinken. Er wollte sie nicht als Beispiel dafür hernehmen, was passieren konnte. „Ich muss sicherstellen, dass Sie in Topform sind.“

„Bin ich das nicht?“

„Sie sind eine ungemeine Bereicherung für dieses Krankenhaus. Und ich möchte nicht, dass sich eine unserer besten Ärztinnen völlig verausgabt oder sich etwas anderes sucht.“

„Ich habe nicht vor, mir einen anderen Job zu suchen. Zumindest nicht im Moment.“ Ihr Blick wanderte zur Schreibtischkante und wieder zu ihm.

Und ob sie daran denkt.

„Haben Sie Probleme? Macht Ihnen jemand das Leben schwer?“

„Sie meinen außer Ihnen?“ Sie grinste ihn an, und beim Anblick ihrer Lachfältchen wurde ihm merkwürdig flau im Magen. Doch als er ihr Lächeln nicht erwiderte, wurde sie wieder ernst. „Nein. Natürlich nicht.“

„Warum machen Sie dann plötzlich so viele Überstunden?“ Er zwang sich, sich auf das Thema zu konzentrieren. Sie konnte schlecht leugnen, dass ihre Gewohnheiten sich geändert hatten. Vielleicht betrat er damit verbotenes Gebiet, aber es war sein Job, dafür zu sorgen, dass dieses Krankenhaus seinen herausragenden Ruf nicht verlor.

Sie zögerte. „Ich habe im Moment ein paar private Probleme. Ich muss da einfach durch, und die Arbeit hilft mir dabei.“

Das klang verdammt vertraut, und Garret horchte auf. Vor ein paar Jahren hatte er selbst in einer persönlichen Krise gesteckt. „Können Sie genauer sagen, worum es geht?“

Sie hob den Kopf. An ihrem Hals bildeten sich rote Flecken. „Nein. Ja …“ Es folgte eine längere Pause, als überlege sie fieberhaft, was sie ihm erzählen sollte. „Ich lasse mich gerade scheiden, und das ist manchmal etwas nervenaufreibend.“

Er lehnte sich zurück. „Eine Scheidung also.“

Das war ihm so sachlich herausgerutscht, dass es ziemlich gefühllos klang. Das hatte er nicht gewollt. Schließlich hatte er selbst eine Scheidung hinter sich und wusste, wovon sie sprach.

„Ich wüsste nicht, warum meine Überstunden ein Problem darstellen sollten, solange ich niemanden in Gefahr bringe.“

Garret beugte sich vor. „Manchmal merkt man es erst, wenn es zu spät ist.“

„Reden wir noch von mir? Oder von Ihrer Hand?“

„Wie bitte?“ Erst jetzt merkte er, dass seine lädierte Hand auf dem Schreibtisch lag. Die fast nutzlosen Finger waren zu einer Kugel zusammengekrümmt.

„Entschuldigen Sie. Ich hätte das nicht sagen sollen.“

Sie hatte recht, das hätte sie nicht. Aber der Grund, warum er sie in sein Büro gebeten hatte, hatte tatsächlich mehr mit ihm zu tun als mit ihr. Sie hatte nur das Offensichtliche ausgesprochen. Er hob die Hand, drehte sie um und betrachtete sie ein paar Sekunden. „Sie haben recht. Ich habe Sie deswegen hergebeten. Sie wissen, was passiert ist?“

„Sie kennen doch den Flurfunk. Man kann ihm nicht entkommen.“

„Vermutlich nicht. Aber dass ich Sie hergebeten habe, ist kein persönliches Anliegen von mir, es ist rein professionell. Ich möchte nicht erleben, dass Sie sich Ihre Karriere ruinieren, indem Sie bis zur Erschöpfung arbeiten.“

„Ich kenne meine Grenzen.“

Er lächelte, um das Brennen in seinem Inneren zu überspielen, das ihre Worte hervorriefen. Er hatte auch geglaubt, seine Grenzen zu kennen. Wie sehr hatte er sich geirrt! „Manchmal glauben wir das nur.“

„Glauben Sie mir, ich habe nicht vor, etwas zu gefährden, das ich mehr als alles andere liebe.“

Das hatte er auch nicht gewollt. Doch nach Leticias Tod …

Er schluckte und stand auf. „Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen und Sie bitten, vernünftig zu sein und in Zukunft etwas kürzerzutreten.“

Sie lachte und stand ebenfalls auf, wobei sie ihre wilden Locken über die Schulter warf. „Ich glaube, Ärztin und vernünftig sind zwei Begriffe, die nicht zusammenpassen, meinen Sie nicht? Werden Sie mich offiziell rügen? Es wäre Ihr gutes Recht. Wenn Sie wollen, könnten Sie mich sogar feuern. Ich kann jederzeit woanders anfangen.“

Er griff den Gedanken wieder auf, der ihm zuvor schon gekommen war. „Denken Sie bereits konkret darüber nach, sich etwas anderes zu suchen?“

Sie schwieg lange. „Ich hoffe, dass es nicht dazu kommt. Mein Ex ist Rettungssanitäter in dieser Gegend. Das macht es schwierig. Die Radikallösung wäre, dass ich ganz von hier weggehe.“

Er machte einen Schritt auf sie zu, dankbar, dass sie dieses Mal nicht zusammenzuckte. „Kann ich Ihnen helfen? Das Krankenhaus, meine ich natürlich.“

„Leider nicht. Damit muss ich selbst klarkommen. Wir haben uns nicht besonders freundschaftlich getrennt.“

Er runzelte die Stirn. „Sagen Sie mir Bescheid, falls er Ihnen Ärger macht.“

„Er macht Ärger, wo er nur kann. Je schneller die Scheidung durch ist, desto besser.“ Ihre Finger spielten mit einer kleinen Goldkugel, die an ihrem zierlichen rechten Ohrläppchen baumelte. Etwas in seiner Brust zog sich zusammen.

Sie ließ die Hand wieder sinken und streckte den Rücken durch. „Sie wollen sich garantiert kein Gejammer über eine bevorstehende Scheidung anhören.“

Unwillkürlich warf er einen Blick auf den Safe.

Ehe er die Frage stellen konnte, nickte sie bereits. „Ja, er hat sie mir geschenkt. Und die anderen Sachen auch.“

„Verständlich, dass Sie sie loswerden wollen. Ich denke trotzdem, dass man die Perlen schätzen lassen sollte. Ich könnte das für Sie übernehmen, wenn Sie möchten.“

„Das überlasse ich Ihnen. Ich will die Kette nicht zurückhaben, egal, wie viel sie wert ist.“

Er sah auf ihre Hand. Keine Ringe, aber die Einkerbung war noch zu sehen. „Es tut mir leid. Das mit Ihrer Trennung.“

„Danke.“ Sie schob die Hände in die Hosentaschen. „Wenn sonst nichts mehr anliegt …“

„Nein, nichts. Aber achten Sie auf Ihre Überstunden, okay?“

„Mache ich. Danke, dass Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben.“

Er ging zur Tür und hielt sie ihr auf. „Ach, noch etwas, Dr. Santini.“

„Nennen Sie mich Addy.“

Er nickte. „Gut, Addy. Ich bin Garret. Vielen Dank für Ihre Spende. Das Krankenhaus weiß das sehr zu schätzen.“

Wie unpersönlich war das denn? Vielleicht klang er übermäßig formell, aber es machte ihn nervös, dass ihm plötzlich lauter Kleinigkeiten an ihr auffielen.

„Ich bin froh, wenn jemand anders sie gebrauchen kann.“

Er schloss die Tür hinter ihr und ging wieder an seinen Schreibtisch. Er warf einen kurzen Blick auf seine lädierte Hand, setzte sich und versuchte, sich mit Arbeit abzulenken. Doch er bekam Addys Gesicht und diesen verdammten goldenen Ohrring einfach nicht aus dem Kopf. Er hoffte, dass sie die Krise unbeschadet überstand. Und dass sie nicht mehr dafür zahlen musste als den Wert einer Perlenkette.

Zwei Tage später fand Addy einen Brief vom Krankenhaus in ihrem Postkasten. Ihr stockte der Atem. Sie hatte sich Mühe gegeben, ihre Stunden zu reduzieren, aber sie wusste, dass sie mehr gearbeitet hatte, als sie sollte.

Sie öffnete den Umschlag und zog ein einzelnes Blatt heraus. Erstaunt betrachtete sie die handschriftliche Notiz.

Zweitausend Dollar Schätzwert – sind Sie sicher?

Unterschrieben war der Brief von Garret Stapleton. Ein Schauder erfasste sie, als sie sich setzte und den Brief anstarrte. Schwungvolle Striche kreuzten die Ts. Sie berührte einen davon, dann biss sie die Zähne zusammen.

Natürlich wusste sie, dass es um die Perlenkette ging. Der Schätzpreis überraschte sie nicht. Aber dass Garret ihr persönlich schreiben würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Und was sollte dieses merkwürdige Kribbeln im Bauch, als sie erkannt hatte, von wem der Brief stammte?

Immerhin hatte er sie nicht noch einmal zu sich ins Büro gerufen, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen. Nach ihrer letzten Begegnung hatte sie sich ziemlich unbehaglich gefühlt. Vielleicht, weil sie die Rede auf seine Hand gebracht hatte. Dabei war sie nur in die Defensive gegangen und hatte versucht, seine Aufmerksamkeit von sich abzulenken.

Er hatte das Recht, sie zu tadeln, aber es wäre nicht nötig gewesen. Sie kannte ihre Grenzen und liebte ihren Job zu sehr, um ihn aufs Spiel zu setzen. Wenn sie zu erschöpft war, ließ sie ihren Wagen stehen und nahm sich ein Taxi.

Rief Garret Stapleton alle Ärzte, die zu viele Überstunden hatten, in sein Büro? Wohl kaum. Es musste bedeuten, dass er irgendein Warnzeichen bei ihr gesehen hatte.

Sie hatte gehört, dass der Autounfall, bei dem seine Hand verletzt wurde, ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Er war einer der besten Neurochirurgen des Landes gewesen, doch binnen einer Sekunde war es damit vorbei gewesen. Nach dem Unfall war er von New York nach South Beach gezogen.

Warum so weit weg?

Hatte er, genau wie sie, Sehnsucht nach einem Tapetenwechsel gehabt? Nach einem Neustart? Vielleicht sollte sie es auch so machen und nach New York ziehen.

Aber sie war in Florida geboren und aufgewachsen, und sie liebte das Surfen. Die Wellen lockten sie immer wieder ins Wasser.

Auch Leo Santini hatte sie bei einem Surf-Wettbewerb vor fünf Jahren kennengelernt und sich sofort in ihn verliebt. Sie machte damals gerade eine Krise mit ihrer Mom durch. Rückblickend war ihr klar, dass ihre Liebesgeschichte der verzweifelte Versuch war, einen Weg aus dem dunklen Loch herauszufinden, doch der Versuch schlug fehl. Als der Zustand ihrer Mutter sich immer weiter verschlechterte, ging es auch mit ihrer Ehe bergab. Ihre Surftrips wurden seltener, bis sie ein Jahr lang gar nicht mehr dazu kam. Leo wandte sich immer mehr der Partyszene zu, woran Addy kein Interesse hatte. Sie hätte den Bruch kommen sehen können, doch die Warnzeichen waren ihr allesamt entgangen.

Aber das war jetzt anders.

Sie könnte Mittwoch, an ihrem freien Tag, endlich mal wieder an den Strand fahren. Dann könnte ihr Chef nicht mehr behaupten, sie würde zu viel arbeiten. Und vielleicht bekam sie dabei ja den Kopf frei und fand zu ihrem inneren Gleichgewicht zurück. Allein der Gedanke daran ließ ihr Herz schneller schlagen. Wie lange war es her, seit sie durch die Brandung gepaddelt war und nach der einen großen Welle Ausschau gehalten hatte?

Viel zu lange. Aber jetzt war es wieder so weit.

Sie nahm einen Stift und schrieb eine rasche Antwort an Garret. Sie schaffte es mit deutlich weniger Worten als er. „Klar doch.“ Sie würde ihm die Nachricht allerdings auf den Schreibtisch legen.

Sie schob die Notiz zurück in den Umschlag und musste sich beeilen, um sich für den Tag fertig zu machen. Heute Abend würde sie ihr Surfbrett herausholen und sich den Wetterbericht ansehen, in der Hoffnung auf perfekte Surfbedingungen.

2. KAPITEL

In der Notaufnahme war nicht so viel los wie normalerweise. Manchmal war das Wartezimmer überfüllt, und das medizinische Personal rannte hin und her. Doch es war noch früh, und das Krankenhaus war außergewöhnlich gut darin, die Patienten vorzusortieren. Garrets Krankenhaus in New York konnte ebenfalls sehr schnell reagieren, die Teams konnten im Handumdrehen multiple Verletzungen behandeln. Diese Kombination aus Können und Schnelligkeit hatte ihm nach seinem Unfall vermutlich das Leben gerettet, auch wenn er sich nur noch bruchstückhaft an das Geschehen erinnern konnte.

Er lief durch die Station, wie er es oft am Montagmorgen tat, und verschaffte sich einen Überblick. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, zu Beginn jeden Arbeitstages eine andere Station zu besuchen. Nicht, um seine Mitarbeiter zu kontrollieren, sondern damit die Leute keine Hemmungen hatten, ihn anzusprechen, und das Gefühl hatten, er würde ihnen zuhören. Auf gar keinen Fall wollte er einer dieser zugeknöpften Vorgesetzten sein, die in ihrem Büro hockten, Vorschriften machten und darauf pochten, dass diese wortgetreu befolgt wurden. Er wollte, dass die Mitarbeiter im Krankenhaus blieben, weil es der Leitung gelang, eine angenehme Arbeitsatmosphäre zu schaffen.

Deswegen hatte er auch so heftig reagiert, als er merkte, dass Addy möglicherweise kündigen wollte. Die Ärztin der Notaufnahme hatte sein Interesse geweckt, und das nicht nur wegen der vielen Überstunden. Ihre Kollegen sprachen von ihr, als sei sie eine Art Superheldin. Er hatte dafür zu sorgen, dass eine der Spitzenkräfte des Krankenhauses sich nicht in einen Burnout manövrierte.

Oder steckte etwas Persönliches dahinter?

Aber nein. Es war Montag. Er hielt einfach nur seine Routine ein.

Und was war mit dem Umschlag, den er heute Morgen auf seinem Schreibtisch gefunden hatte? Sie war noch vor ihm dagewesen. Hatte sie nicht verstanden, was er gesagt hatte?

Er nickte einer Mitarbeiterin zu und fragte sich, ob er besser nicht hätte herkommen sollen. Er wollte nicht, dass Addy dachte, er würde ihr nachstellen.

Denn so war es nicht, oh nein.

Er machte kehrt und stieß prompt auf die Person, der er aus dem Weg gehen wollte.

„Dr. Stapleton.“ Ihre großen Augen und die atemlose Stimme ließen ihn lächeln. War er also nicht der Einzige, der sich verlegen fühlte?

„Garret, schon vergessen? Alle nennen mich beim Vornamen.“

„Natürlich.“ Sie schaute auf das Tablet mit den elektronischen Patientenakten in ihrer Hand. „Haben Sie meine Nachricht erhalten?“

„Sie meinen die, die schon in aller Frühe auf meinem Schreibtisch lag?“

„Ich komme immer schon um sechs.“ Ihre rasche Antwort klang defensiv, und sie hob den Kopf. „Aber Mittwoch habe ich frei. Ich will surfen.“

„Sie surfen?“ Ein rasches Bild von Addy auf dem Surfbrett ging ihm durch den Kopf. Im Surfanzug? Oder, noch schlimmer, im Bikini? Hätte er bloß nicht genauer nachgefragt!

Sie hob die Brauen. „Wir sind hier in South Beach. Machen das hier nicht alle?“

„Ich kenne die Umfragen dazu nicht.“

Sie lachte. „Entschuldigen Sie. Ich dachte nur, dass die meisten Menschen in Florida … Warten Sie. Sie kommen aus New York. Der Umzug hierher muss große Veränderungen für Sie mit sich gebracht haben.“

Seine Bilder starben einen schmerzhaften Tod.

„Nicht größer als andere Veränderungen.“ Die Hand an seiner Seite rollte sich ein. „An beiden Orten leben viele Menschen. Und ein paar von ihnen brauchen eine gute medizinische Versorgung.“

„Natürlich.“ Sie zögerte. „Praktizieren Sie eigentlich noch?“

„Wie bitte?“

„Behandeln Sie hin und wieder noch Patienten? Neulich hatte ich eine Schädelverletzung, und der diensthabende Neurologe war gerade im OP. Er hat länger gebraucht, den Patienten einzuschätzen, als mir lieb war.“

„Hat es etwas am Ergebnis geändert?“

„Der Patient hat es nicht geschafft, und das Ergebnis wäre vermutlich dasselbe gewesen. Aber es wäre gut, wenn ich wüsste, dass ich im Notfall noch jemanden fragen kann.“

Sein Kiefer verkrampfte sich. Niemand im Miami’s Grace Hospital hatte ihn je zuvor um so etwas gebeten. Es war einer der Gründe für seinen Umzug gewesen: Wenn die Menschen in ihm nicht mehr den Neurochirurgen sahen, würden sie ihn auch nicht so behandeln. Wollte er diese Tür wirklich öffnen? Andererseits – wollte er das Leben eines Patienten aufs Spiel setzen, indem er sich weigerte?

„Ich operiere nicht mehr.“ Als könnte er das überhaupt noch. Warum hatte er nicht gesagt, dass er es nicht mehr konnte? Weil er der Tatsache nicht ins Auge blicken wollte, dass er nie wieder ein Skalpell in der Hand halten würde, um einen Gehirntumor zu entfernen?

Addy runzelte die Stirn. „Das ist mir klar. Sie sind also nicht bereit, ab und zu Ihren Rat beizusteuern? Ich möchte nur Bescheid wissen.“

„Ich bin da, wenn Sie mich brauchen.“ Jetzt war es heraus.

Dieses Gespräch verlief ganz und gar nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Er hatte vorgehabt, sie zur Rede zu stellen, weil sie seine Bitte ignorierte, weniger zu arbeiten. Und jetzt schalt sie ihn auf subtile Art dafür, dass er sich selbst über das Wohl der Patienten stellte.

Aber sie hatte ja recht. Seine Verlegenheit wegen seiner Hand beeinflusste tatsächlich einige seiner Entscheidungen. Und es war auch das Hauptmotiv, warum er Addy kürzlich in sein Büro gebeten hatte. Es hatte nichts mit den Patienten oder auch nur mit Addys Wohlbefinden zu tun, sondern ganz allein mit ihm.

Das musste anders werden. Ab sofort.

„Vielen Dank, Dr. … ich meine, Garret. Sie werden es nicht bereuen.“

Das tat er schon jetzt, aber das würde er ihr nicht verraten. Stattdessen deutete er mit einem Nicken auf das Tablet in ihrer Hand. „Keine neurologischen Notfälle heute Morgen?“

„Bis jetzt nicht. Nur ein Alligatorjäger, der ein Loch in sein Boot geschossen hat. Nachdem ihm sein Kumpel in den Fuß geschossen hat.“

Garret runzelte die Stirn. „Ich kann mich an keinen derartigen Fall aus meinem letzten Krankenhaus erinnern.“

„Gibt es in New York keine Jäger?“

Er dachte an die Bandenschießereien und den sinnlosen Verlust von Leben. „Das schon. Aber sie jagen eine andere Art Beute. Und wenn sie auf jemanden schießen, ist es kein Unfall.“

„Das gibt es hier auch.“ Sie seufzte. „Ich wünschte, die Menschen wären netter zueinander.“

„Es gibt immer noch sehr viele gute.“ Addy gehörte dazu. Er merkte es an ihrer Arbeitsmoral. Sie sorgte sich so sehr um ihre Patienten, dass sie eine heftige Zurückweisung riskierte, indem sie ihn fragte, ob sie ihn ab und zu konsultieren dürfte.

Manchmal war es leichter, alles wie gewohnt weiterlaufen zu lassen und zu versuchen, keinen Wind zu machen, doch das war nicht immer das Beste für die Patienten. Hier war jemand, der nicht nur bereit war, Wind zu machen, sondern auch gegen den Strom zu schwimmen. Machten Surfer das nicht jedes Mal, wenn sie mit ihrem Board ins Wasser gingen? Addy tat nur das, was ihr ganz natürlich vorkam.

„Das stimmt. Manche der Guten kommen sogar aus New York.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln, das ihre grünen Augen aufleuchten ließ. Ihre Blicke trafen sich und ließen einander ein paar lange Sekunden nicht wieder los.

Er schluckte. Sie kannte ihn nicht besonders gut. Sonst würde sie wissen, dass ich nicht zu den Guten gehöre. Doch noch während er diesen Gedanken dachte, breitete sich ein warmes Gefühl in seiner Brust aus, das nichts mit einem Defekt der Klimaanlage des Krankenhauses zu tun hatte. Es war eine ganze Weile her, seit ihm jemand ein Kompliment gemacht hat, das nichts mit seiner Stellung im Krankenhaus zu tun hatte. Er war nicht sicher, was er davon halten sollte.

Er sollte es einfach ignorieren. Genau wie das, was ihr Lächeln mit seinem Inneren anstellte.

„Was genau ist mit dem Mann im Boot passiert? Demjenigen, der angeschossen wurde?“, fragte er.

„Nachdem die Kugel ihn getroffen hat, ist er über Bord gegangen und hat seinen Fuß ins Sumpfwasser getaucht. Sobald er wieder im Boot war, musste er Wasser schöpfen, während sein Kumpel sie zurück zum Ufer brachte, wobei sein Fuß noch mal jede Menge Wasser abbekam.“ Ihr Lächeln wurde breiter, und es erreichte prompt die Bereiche in seinem Körper, die besser in Ruhe gelassen wurden. „Wir haben die Wunde gesäubert, ihn mit Antibiotika vollgepumpt und seine Tetanusimpfung aufgefrischt.“

„Armer Kerl. Und es war nicht einmal seine Schuld.“

„Allerdings. Ich glaube nicht, dass er gerade besonders gut auf seinen Freund zu sprechen ist.“

Addys Augen, die beim Gespräch in seinem Büro müde und erschöpft gewirkt hatten, funkelten jetzt vor Leben und Freude. Die Verwandlung gefiel ihm. Er versuchte, sie sich mit einem Surfbrett unter dem Arm vorzustellen, während ihr das Wasser über den Rücken lief, das dunkle Haar nass und zerzaust. Eine weitere Verwandlung, die er gerne sehen würde. Und die er vermutlich nie sehen würde.

„Das kann ich mir vorstellen.“ Er versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, ehe er etwas sagte, das er bereuen könnte. „Noch etwas, wegen der Schätzung. Ich muss den Zuständigen für die Auktion über den Wert der Kette informieren.“

„Eigentlich hatte ich gehofft, dass ich sie ohne viel Aufhebens loswerden kann.“

„Das verstehe ich. Aber dass der wahre Wert auf der Auktion bekannt wird, macht die Sache für Sie nicht komplizierter, oder?“

„Nein. Mein Ex wird vermutlich ohnehin nicht kommen. Es war sein Hochzeitsgeschenk für mich, also kann ich damit machen, was ich will. Er hat unsere Ehe verraten.“ Sie zog die Nase kraus. „Entschuldigung. Das hätte ich nicht sagen sollen.“

Garret wartete, bis eine Krankenschwester vorbeigegangen war, dann senkte er die Stimme. „Hat er Sie betrogen?“

Sie nickte. „Wie kann man sonst eine Ehe verraten?“

Ihm würden da einige Wege einfallen. Einen davon hatte er eingeschlagen. Vielleicht war das Ende aber auch unausweichlich gewesen, nachdem sie ihre Tochter an eine erbarmungslose und tödliche Krankheit verloren hatten.

„Haben Sie es mit Paarberatung versucht?“ Vielleicht hätte das seine Ehe retten können. Doch statt es vorzuschlagen, war er für Patrice unerreichbar geworden und war so selten wie möglich zu Hause gewesen.

„Paarberatung, klar. Nachdem er mit einer gemeinsamen Freundin geschlafen hat und sofort bei ihr eingezogen ist, nachdem ich sie erwischt hatte? Damals lief es schon seit fast einem Jahr.“

„Autsch. Entschuldigung.“ Wenigstens das hatte er während des Trauerprozesses nie getan: seine Frau betrogen. Er war so am Boden gewesen, emotional leer, dass er einem anderen Menschen nichts geben konnte, nicht einmal seiner Frau.

Daran hatte sich bis jetzt nichts geändert. Er war auch nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. Die Scheidung war sein Fehler gewesen, das konnte er jetzt zugeben. Manche Menschen verdienten einfach keine zweite Chance.

„Schon in Ordnung. Irgendwie wusste ich ja, dass etwas nicht stimmte. Er wurde nachts oft unerwartet zur Arbeit gerufen – was vermutlich nie der Fall war. Selbst wenn er zu Hause war, war er nicht wirklich anwesend. Ich hatte selbst mit ein paar Problemen zu kämpfen, aber wenn ich gewusst hätte, dass er so unglücklich war, hätte ich etwas unternommen. Bevor er selbst etwas gemacht hat.“

Garret hatte das langsame Entgleiten seiner Ehe sehr deutlich gesehen und hatte sich entschieden, nichts zu unternehmen. Stattdessen hatte er bis zur Erschöpfung gearbeitet. Patrice hatte ihn nach dem Unfall verlassen, als er noch im Krankenhaus lag. Sie sagte, sie wolle nicht zusehen, wie er sein Leben fortwarf. Sie hatte recht, genau das hatte er getan. Als er schließlich nach Hause kam, warteten dort die Scheidungspapiere auf ihn. Garret verkaufte das Haus, in dem sie ihre Tochter aufgezogen hatten, und kündigte im Krankenhaus. Nach einem Jahr voller Operationen und Physiotherapie für seine Hand bekam er das Angebot vom Miami’s Grace Hospital, und er beschloss, nach Florida zu ziehen. Doch immerhin war die Scheidung nicht das Ergebnis eines Betrugs.

„Es tut mir leid, dass er Ihnen das angetan hat.“

„Es ist vorbei. Irgendwie bin ich sogar erleichtert. Ich kann wieder alles allein entscheiden.“

„Zum Beispiel, in der Freizeit zu surfen.“

Sie sah ihn an. „Sie haben es wirklich nie probiert?“

„Nie. Ist es so ähnlich wie Skifahren?“

„Eher nicht.“ Sie lachte. „Wenn man stürzt, ist es vermutlich so ähnlich. Warum kommen Sie am Mittwoch nicht mit an den Strand und sehen es sich an?“

„Wie bitte?“

Sie blinzelte, als sei sie nicht ganz sicher, was gerade passierte. „Vergessen Sie’s. Sie interessieren sich vermutlich nicht einmal fürs Surfen.“

Addy lud ihn ein, mit ihr an den Strand zu kommen? Das Bild, das er eben vor Augen gehabt hatte, sickerte langsam wieder durch. Surfanzug? Oder Badeanzug? Er war ein Idiot, dass er solche Gedanken überhaupt zuließ. „Ich interessiere mich für eine Menge Dinge.“

„Sie wollen also kommen?“

Er musste ja nicht zugeben, dass er dabei weniger ans Surfen dachte.

„Wieso nicht? Wann soll ich da sein?“

Sie schürzte die Lippen und betrachtete ihn. Vielleicht spürte sie, dass er nicht ganz ehrlich zu ihr war. Sie klemmte sich das Tablet unter den Arm, zog ihr Telefon hervor und scrollte ein wenig herum.

Was machte sie da? „Wollen Sie mir die Zeit per SMS schicken?“

„Ich sehe kurz nach … Okay, wir wollen den Beginn des Niedrigwassers. Sieht aus, als käme der Wind auch aus der richtigen Richtung.“

Wovon redete sie da? „Steht da irgendwo auch eine konkrete Uhrzeit?“

„Sie haben kein Board, nehme ich an?“

„Nein, leider nicht.“ Die Begeisterung in ihrer Stimme färbte ein wenig auf ihn ab. Wie lange war es her, dass er mit einer Frau irgendwohin gegangen war? Das hier war kein Date, aber es könnte Spaß machen. Und etwas Spaß durfte er doch wohl haben, oder?

„Kein Problem. Wir leihen eines für Sie.“

„Oh nein.“ Er hob seine linke Hand. „Ich habe nicht vor, auf ein Surfbrett zu steigen. Ich will nur zusehen.“

Wie ein Voyeur.

„Sie wollen nicht einmal hinauspaddeln? Sie müssen sich nicht hinstellen, wenn Sie nicht wollen. Wenn Sie nur am Strand hocken, werden Sie sich langweilen.“

Das bezweifelte er. Er drehte seine vernarbte Hand um, damit Addy sie sehen konnte. „Ich kann sie nicht mehr so benutzen wie die meisten Menschen.“

„Das wird schon gehen. Glauben Sie mir. Es gibt Surfer, denen fehlt eine Gliedmaße, und sie gehen trotzdem raus und nehmen jede Welle mit.“

Er war ziemlich sicher, dass er nie dazugehören würde, doch ihm stand nicht der Sinn danach, mit ihr im Flur darüber zu streiten, während ständig Krankenhausmitarbeiter an ihnen vorbeikamen. „Also, wann treffen wir uns?“

„Wollen wir uns am Strand treffen oder hier im Krankenhaus?“

„Strand.“ Das Wort platzte aus ihm heraus. Er wollte sie nicht draußen vor dem Haus treffen, wenn sie nur leichte Strandkleidung trug. Die Gerüchteküche würde überkochen. Und schon gar nicht wollte er hier in Shorts auftauchen.

„Okay. Gegen zehn Uhr vormittags ist die Ebbe genau richtig, und die Läden haben auch schon auf. Wäre es okay für Sie, wenn wir uns eine halbe Stunde vorher treffen? Dann erkläre ich Ihnen kurz das Wichtigste. Oder Sie könnten einen Kurs besuchen.“

„Nein, kein Kurs. Ich will keine Karriere als Surfer machen. Und ja, halb zehn kann ich schaffen.“

„Ich glaube, das wird nett.“ Sie grinste. „Selbst wenn Sie nicht vorhaben, ein Surfstar zu werden.“

Sie steckte ihr Telefon wieder in die Tasche und hielt ihre elektronische Akte in die Höhe. „Ich sollte mich lieber wieder meiner Arbeit widmen. Dann also bis Mittwoch um halb zehn?“ Sie schlug einen Surfladen am Strand als Treffpunkt vor.

„Ich werde dort sein.“ Er war nicht sicher, wie das passieren konnte, aber es war passiert. Jetzt konnte er keinen Rückzieher mehr machen – er konnte ihr schlecht erklären, dass sein plötzliches Interesse am Surfen eher mit ihrer Strandbekleidung als mit dem Sport zu tun hatte. „Soll ich irgendetwas mitbringen?“

„Nein. Nur sich selbst und eine Badehose.“

Badehose. Damit verstärkte sie alle Vorbehalte, die er gegen den Ausflug hatte.

Neben einer Badehose sollte er vor allem versuchen, das mitzubringen, was von seinem Verstand noch übrig war. Denn mit ihr an den Strand zu gehen, stand nicht auf seiner Liste kluger Ideen. Im Gegenteil, es könnte sich als ziemliche Dummheit entpuppen.

Addy zog ihr Surfbrett aus dem begehbaren Kleiderschrank und strich über die glatte, glänzende Oberfläche. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, Garret zu fragen, ob er sie begleiten wollte? Das war nicht ganz das, was sie unter „Zeit für mich haben“ verstand.

In seiner Nähe war sie einfach nervös. Das war schon immer so, seit er vor drei Jahren im Krankenhaus angefangen hatte. Doch sie hatte sich zusammengerissen, denn im Gegensatz zu Leo hatte ihre Ehe ihr etwas bedeutet.

Und was hatte ihr das gebracht? Vielleicht hätte sie als Erste eine Affäre anfangen sollen.

Sie rümpfte die Nase. Garret hätte garantiert nichts mit einer verheirateten Frau angefangen. Außerdem lag es ihr nicht, ihren Mann zu betrügen. Sie war loyal bis zum Gehtnichtmehr und erwartete das auch in ihren Freundschaften und ihrer Ehe.

Doch das war eine Illusion gewesen. Wie die perfekte Welle. Sie verlockt einen, hinauszupaddeln, doch dann entpuppt sie sich als weniger großartig, als es vom flachen Wasser aus ausgesehen hatte. Aus der Nähe sah man die Mängel, die bisher im weißen Schaum verborgen geblieben waren.

Ohne eine Welle war ein Surfbrett nutzlos. Und welchen Zweck hatte eine Ehe ohne Vertrauen? Das hätte sie nie wieder zurückbekommen. Selbst wenn sie Leo erlaubt hätte zu bleiben und sie zu einer Paarberatung gegangen wären, wie Garret vorgeschlagen hatte. Außerdem war er ja direkt bei seiner Geliebten eingezogen, sobald sie ihm auf die Schliche gekommen war.

Aber dieser Teil ihres Lebens war vorbei. Zumindest würde er das sein, sobald die Scheidung durch war. Je eher, desto besser.

Sie legte das Surfbrett auf das verhasste Bett. Wenn sie morgen Zeit fand, würde sie das Board wachsen und es für ihren ersten Surftrip seit der Trennung vorbereiten. Garret hatte recht. Sie arbeitete zu viel. Aber die Alternative waren Abende wie heute, an denen sie nichts zu tun hatte, außer zu grübeln. Und das war nicht gut.

Sie musste diesen Abend irgendwie hinter sich bringen. Morgen würde sie wie gewohnt arbeiten, und Mittwoch würde sie endlich wieder auf dem Wasser sein. Warum hatte sie Garret gefragt, ob er mitkommen wollte? Sie war sich nicht sicher, aber jetzt, da es passiert war, war sie froh. Wenn er dabei war, konnte sie keinen Rückzieher machen und dann doch wieder zu Hause hocken und ihren düsteren Gedanken nachhängen. Denn bei der Arbeit bräuchte sie sich gar nicht erst blicken lassen. Er würde ihr den Kopf abreißen.

Jetzt konnte sie ihm beweisen, dass sie immer noch abschalten und Spaß haben konnte. Zumindest konnte sie so tun, als ob. Denn bei allem, was gerade in ihrem Leben passierte, war sie ziemlich sicher, dass es kein lustiges Date werden würde.

Nein, kein Date. Es war ein Ausflug, und sie wollte etwas beweisen.

Wie hieß es noch? Durch Schein zum Sein. Nun, dann fing sie wohl besser an, so zu tun, als sei sie witzig und unbekümmert. Oder Garret würde schnell hinter ihr kleines Geheimnis kommen.

Was für ein Geheimnis sollte das denn sein? Dass sie ein Auge auf ihren Chef geworfen hatte?

Sie schluckte. Nein, das hatte sie nicht.

Damit das mal klar war.

3. KAPITEL

Bestürzt schnappte Addy sich die Broschüre vom Informationsschalter des Krankenhauses. Hoffentlich sah Leo es nicht!

Eigentlich war es egal, aber sie wollte nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Vielleicht sollte sie Garret gegenüber noch einmal deutlich machen, dass sie diese Spende so diskret wie möglich behandeln wollte. Sie ging zum Fahrstuhl, stieg ein und drückte den Knopf für den vierten Stock. Sie hatte keine Ahnung, was sie von ihm in dieser Angelegenheit verlangen sollte, aber sie wollte zumindest die Zusicherung, dass ihr Name nicht im Zusammenhang mit diesen Perlen genannt werden würde.

Sie klopfte an seine Tür und wartete auf eine Antwort. Als er „Herein“ rief, stellte sie fest, dass gerade ein anderer Arzt bei ihm war. Jake Parson, der Kinderarzt aus dem ersten Stock.

„Dr. Santini, was kann ich für Sie tun?“

Sie waren also wieder bei ihren Titeln? Natürlich waren sie das. Sie waren nicht allein, und Garret war ihr Chef. Und sie nahm ihren Chef zum Surfen mit. Eine Situation, die im Chaos enden konnte, wenn sie nicht vorsichtig war.

„Ich wusste nicht, dass Sie nicht allein sind. Ich kann warten.“ Sie merkte, dass sie die Broschüre für die Auktion noch in der Hand hielt, und versuchte, sie unauffällig zu verbergen. Auf gar keinen Fall wollte sie in Gegenwart eines Dritten darüber reden.

„Dr. Parson und ich sind gerade fertig.“

Jake stand auf. Er schüttelte Garret kurz die Hand, lächelte Addy zu und schob sich mit einem gemurmelten Gruß an ihr vorbei.

Sobald die Tür hinter ihm geschlossen war, kam Garret um seinen Schreibtisch herum. „Was kann ich für Sie tun?“

Jetzt, wo sie hier war, kam sie sich ziemlich albern vor. Wahrscheinlich hatte er gar nichts mit dem Marketing für die Spendenauktion zu tun.

„Es geht um diese Broschüre.“ Zögernd reichte sie ihm das dünne Heft.

Als er das Cover sah, stieß er einen kurzen Pfiff aus. „Ich wusste nicht, dass sie es auf die Titelseite setzen würden.“

„Lässt es sich einrichten, dass mein Name auf gar keinen Fall mit der Kette in Verbindung gebracht wird?“

„Geht es um Ihren Ex?“ Er runzelte die Stirn. „Ich kann die Broschüren wieder einsammeln lassen und darum bitten, dass sie neugestaltet werden, wenn Sie möchten. Ich hatte keine Ahnung, dass sie so schnell fertig sein würden.“

„Nein, mit Leo hat das nichts zu tun. Ehrlich gesagt komme ich mir auch ein wenig albern vor, damit bei Ihnen hereinzuplatzen. Ich war nur so schockiert, als ich die Broschüren eben am Infoschalter gesehen habe.“

„Machen Sie sich keine Sorgen. Ich kümmere mich darum, dass Ihr Name nirgendwo auftaucht. Ich glaube, die Perlen ließen sich einfach besser fotografieren als einige der anderen Spenden.“ Er blätterte in der Broschüre und blickte auf. „Es ist doch kein Familienerbstück oder so etwas, bei der sich die Herkunft zurückverfolgen ließe, oder?“

„Nein. Er hat sie beim Juwelier gekauft.“ Sie hob die Hand. „Und fragen Sie mich nicht noch einmal, ob ich wirklich sicher bin. Sobald ich mich einmal entschieden habe, ändere ich meine Meinung nicht so schnell wieder.“

Er stöhnte gequält auf. Ehe sie ihn fragen konnte, was das zu bedeuten hatte, sagte er: „Kann ich diese Broschüre hier behalten?“

„Natürlich.“

Garret deutete auf den Sessel, auf dem kurz zuvor noch der andere Arzt gesessen hatte. „Setzen Sie sich.“

„Stecke ich etwa schon wieder in Schwierigkeiten? Ich habe mir Mühe gegeben, keine Überstunden zu machen.“

„Nein, keine Angst. Es geht um morgen.“

Ach ja, der Surftrip. Plötzlich war sie sicher, dass er es sich anders überlegt hatte und doch nicht mitkommen würde. Enttäuschung überkam sie.

Ich sollte froh sein!

Sie setzte sich in den Sessel und wappnete sich.

„Ihnen ist doch klar, dass ich fast vierzig bin, oder?“

Sie runzelte die Stirn. Worauf wollte er hinaus? Hatte er etwa erraten, dass sie sich in ihn verguckt hatte? Sie steckte mitten in der Scheidung! Sie sollte sich hüten, diese breiten Schultern und die schmale Taille verstohlen zu betrachten. Aber genau das tat sie. Und es war nicht das einzige, wohin ihr Blick fiel. Selbst seine beschädigte Hand war auf seltsame Weise schön. Vielleicht, weil sie ein Teil von ihm war? Er hatte jede Menge körperliche Eigenschaften, die ihr gegen ihren Willen auffielen.

Es liegt daran, dass ich wieder Single bin. Und Garret war der erste attraktive Mann, mit dem sie seit der Trennung zu tun hatte. Das musste es sein. Sie betete, dass es das war.

Ja, sie hatte sich darauf gefreut, ihn auf einem Surfbrett zu sehen, und daran würden auch ihre Selbstvorwürfe nichts ändern. Sie sollte lieber herausfinden, worauf seine Frage abzielte.

„Was hat das mit morgen zu tun?“

Wenn er sie vor sich warnen würde, würde sie sich davonschleichen und sich nie wieder blicken lassen.

„Sagen wir so, ich bin nicht mehr so kräftig, wie ich einmal war.“

Kräftig? Daher rührte seine Sorge wegen des Alters?

Sie lachte laut auf. Teils erleichtert, teils ungläubig.

Seine Brauen schossen in die Höhe. „Was ist daran so witzig?“

Nur mit Mühe kam sie wieder zu Atem, ehe sie erneut kichern musste. „Ihnen ist aber schon klar, dass ich in fünf Jahren vierzig werde, oder? Ich könnte Ihre Worte also auch als Beleidigung für alle über Dreißigjährigen auffassen.“

„Sie sehen aber nicht aus wie fünfunddreißig.“

Fand er etwa, sie sähe älter aus? Aber wie sollte sie danach fragen …?

„Sehe ich kräftiger aus? Oder weniger kräftig?“

Jetzt musste er auch lachen. Sein Lachen überrollte sie wie eine warme Woge im Meer, umschmeichelte ihre Zehen und zog ihr fast den Boden unter den Füßen weg. Sie legte die Arme auf den Sessel, als sei der Sog real.

„Sie sehen wesentlich jünger aus. Allerdings kenne ich nur wenige Ärzte, die schon mit Ende zwanzig mit dem Studium und der Facharztausbildung fertig sind.“

Das Telefon in Addys Tasche vibrierte. Sie zog es heraus und sah stirnrunzelnd auf das Display. „Es ist das Schwesternzimmer.“ Sie drückte den grünen Knopf und schaltete auf Freisprechen. „Santini hier.“

„Addy, wir haben eine Familie mit einem Hausbrand. Sie sind zu uns unterwegs. Fünf Personen, ein Erwachsener und vier Kinder, eines davon ein Kleinkind.“

„Wie schlimm?“ Bei einem Brand war alles möglich, von einer Rauchvergiftung bis zu Verbrennungen dritten Grades.

„Zwei Opfer mit Verbrennungen, aber ich weiß nicht, wie stark. Die Rettungswagen kommen in zehn Minuten.“

„Bin schon unterwegs. Ruf Dr. Hascup an und frag ihn, ob er dazukommen kann. Und sorge dafür, dass genügend Räume vorbereitet sind.“ Sie brauchten unbedingt einen Arzt von der Station für Verbrennungen.

Sie beendete den Anruf und warf Garret einen hastigen Blick zu. Sie hasste es, ihn zu fragen, immerhin hatte sie versprochen, ihn nur zu fragen, wenn sie einen Neurologen brauchte. Doch sie brauchte die Frage gar nicht zu stellen.

„Ich weiß nicht, ob ich helfen kann“, sagte er. „Aber ich könnte zumindest die Fälle begutachten und die Schwestern anweisen.“

Addy seufzte erleichtert. „Danke. Wie gut können Sie Ihre Hand noch einsetzen?“ Sie stand auf, und erst da begriff sie, dass die Frage unsensibel klingen könnte. Aber sie musste es wissen, bevor die große Hektik ausbrach.

„Ich kann größere Gegenstände damit aufheben, aber meine Feinmotorik ist hinüber.“

Ihr tat das Herz weh, als sie daran dachte, wie schwer ihm dieses Eingeständnis fallen musste, doch es blieb keine Zeit, näher darauf einzugehen. „Sie können also immer noch mit einem Stethoskop umgehen, sich die Patienten anschauen und Behandlungsanweisungen geben, also werden Sie das tun.“ Es war besser, keine große Sache daraus zu machen.

„Das kann ich machen.“ Er stand auf. „Dann lassen wir unsere Patienten lieber nicht warten.“

Wenn er doch nur seine Hand richtig gebrauchen könnte!

Alle anderen hier wussten, wo ihr Platz war, nur er nicht.

Seine schreienden Nerven übertönten fast den Lärm der Sirene, als der erste Rettungswagen um die Ecke bog und vor der Notaufnahme anhielt.

Er konnte es schaffen. Er brauchte nur sein Gehirn zu benutzen, nicht die Hand.

Eine Bö der heißen Sommerluft streifte ihn, als er die Türen öffnete, damit Addy und er nach draußen konnten. Obwohl er sich fühlte wie ein Fisch auf dem Trockenen, wurde das Adrenalin wie ein steter Strom durch seine Adern gepumpt. Wenigstens das war ihm vertraut.

Die Trage aus dem ersten Wagen wurde herausgezogen. Er lief hin, während Addy zum zweiten Wagen lief.

Ein kleines Mädchen, nicht älter als drei Jahre. Sie war bewusstlos, das Gesicht war rußbedeckt. Sie trug nur ein T-Shirt und eine Windel. Kein Wunder. Sie war zu Hause gewesen, und das Thermometer zeigte heute fast 37°C. Der Rettungssanitäter hielt ihr eine Sauerstoffmaske übers Gesicht. Gut. Immerhin konnte sie aus eigener Kraft atmen. „Vitalzeichen?“

„Blutdruck neunzig zu sechzig, Puls neunzig, Atmung fünfundvierzig. Keine Verbrennungen, aber sie wurde in einem Zimmer voll Rauch gefunden.“

Wie aufs Stichwort verkrampfte sich das Zwerchfell des Mädchens zu einem rauen, trockenen Husten.

Ihre Vitalzeichen waren gar nicht so schlecht.

„Bringen Sie sie rein, ich sehe mir die anderen an. Irgendwelche Patienten im kritischen Zustand?“

Der Sanitäter nickte. „Ein Kind ist ziemlich übel dran, und die Mutter hat Verbrennungen von dem Bratfett, das in Brand geraten ist. Sie hat versucht, das Feuer mit einem Eimer Wasser zu löschen und …“ Die Flammen mussten in alle Richtungen ausgeschlagen haben. Garret sah es lebhaft vor sich und zuckte zusammen. „Sie hat schwere Verbrennungen an Händen und Armen, aber zum Glück hat das eigentliche Feuer sie nicht erwischt. Ein Nachbar hat den Rauch gesehen und sofort die Feuerwehr gerufen.“

„Und die anderen Kinder?“

„Sie hatte das Baby beim Kochen auf dem Arm. Als sie das Wasser auf die Flammen geschüttet hat und sie vom Fett verbrüht wurde, muss sie es fallen gelassen haben. Ich habe gehört, dass es schwer verletzt ist, aber ich musste mich um meine eigenen Patienten kümmern, sodass ich nichts Genaues weiß.“

Von hinten waren laute Stimmen zu hören.

„Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, Leo. Ich muss meine Patientin behandeln!“

Stirnrunzelnd sah Garret den Sanitäter an, der in Richtung der immer lauter werdenden Stimmen blickte. „Bringen Sie sie hinein. Ich kümmere mich um die anderen Patienten.“ Dann eilte er zu Addy. Ein Rettungssanitäter hatte sich vor ihr aufgebaut. Er versperrte ihr nicht direkt den Weg, aber sie musste einen Bogen machen, um zu ihrer Patientin zu kommen. Ein anderer Mann, bei dem es sich um seinen Partner handeln musste, stand neben der hinteren Tür und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Garret musterte den Sanitäter vor Addy. Er ahnte bereits, mit wem er es zu tun hatte.

„Gibt es ein Problem?“, fragte er.

Der Mann richtete sich zu seiner vollen Größe auf, doch dann wich er zurück, als er merkte, dass er plötzlich ein Publikum hatte. „Nein. Kein Problem.“ Er sah Addy an. „Wir reden später.“

„Ich glaube nicht. Und jetzt muss ich meinen Job machen. Genau wie du.“

Garret runzelte die Stirn. Das war also ihr Exmann. Dieser Leo schien sehr von sich selbst überzeugt zu sein und hatte offensichtlich nicht mit Addys negativer Antwort gerechnet.

Der Mann warf ihm noch einen kurzen Blick zu, dann verschwand er hinter dem Wagen. Der Sanitäter, der den Patienten versorgte, rasselte die Vitalzeichen des zehnjährigen Jungen herunter. Sobald er damit fertig war, murmelte er: „Tut mir leid, das hier gerade.“

Addy lächelte, doch es wirkte angespannt. „Es ist nicht Ihre Schuld. Könnten Sie den Jungen bitte hineinbringen?“

„Klar.“

Der nächste Rettungswagen kam, und Addy machte sich bereit. Garret legte ihr kurz eine Hand auf den Arm und drückte beruhigend. „Hey, alles in Ordnung?“

„Ja. Leo ist manchmal einfach ein Idiot.“

Vermutlich nicht nur manchmal. Doch Garret verkniff sich die Bemerkung, außerdem lief Addy bereits entschlossen auf den nächsten Rettungswagen zu.

Der vierte Rettungswagen kam, und Garret ging gerade darauf zu, als ein weiterer Arzt aus den Türen zur Notaufnahme stürmte. Lyle Hascup, der in der Verbrennungsstation arbeitete, hatte es schneller ins Krankenhaus geschafft als erwartet.

Garret überließ Lyle die erwachsene Frau mit den Fettverbrennungen an Armen und Oberkörper. Die Frau litt offenkundig unter Schmerzen und krümmte sich auf der Trage. Trotzdem fragte sie laut nach ihrem Baby. Lyle versuchte, sie zu beruhigen, doch sie reagierte nicht auf ihn. Er sah den Sanitäter an. „Wissen Sie, wo ihr Baby ist?“

„Es kommt im nächsten Wagen. Es hat etwas länger gedauert, um es zu stabilisieren.“ Der Mann sprach leise. „Kopf und Halstrauma nach einem Sturz.“

Lyle nickte. „Dr. Stapleton, das ist Ihr Fall – übernehmen Sie den Jungen?“

Sein Magen zog sich zusammen. „Ja. Aber sorgen Sie dafür, dass noch ein Neurochirurg im Haus ist, für alle Fälle.“

„Verstanden.“ Dann widmete sich Lyle wieder seiner Patientin, gab Anweisungen und rannte neben der Trage her, während man die Mutter der Kinder eilig hineinbrachte.

Addy kam zu ihm. „Übernehmen Sie den Nächsten? Dann fange ich mit der Behandlung der anderen Kinder an. Lyle kümmert sich um die Mutter.“

„Mach ich. Gehen Sie.“

Der erste Rettungswagen fuhr davon, gefolgt von dem zweiten, in dem Addys Ex saß. Fragen brannten in Garrets Kopf, doch wie Addy gesagt hatte, dafür war jetzt keine Zeit. Außerdem ging Addys Ehe ihn gar nichts an. Es sei denn, sie beeinträchtigte ihre Arbeit.

Seine Hand brannte mit einem Phantomschmerz, der ihn daran erinnerte, dass das Privatleben manchmal sehr wohl auf die Arbeit abfärbte. Er ignorierte den Gedanken und wartete eine gefühlte Ewigkeit auf den fünften und letzten Wagen. Die hinteren Türen schwangen auf, und ein junger Sanitäter sprang heraus. „Wir haben einen Patienten im kritischen Zustand. Sind Sie Arzt?“

Erst in diesem Moment merkte Garret, dass er sein Namensschild nicht trug. Er hatte das Schlüsselband in seinem Büro abgenommen, weil es ständig gegen die Schreibtischkante schlug und ihn nervte.

Er merkte auch, dass der junge Mann auf seine Hand starrte und ihn dann fragend ansah.

„Ja, ich bin Neurochirurg. Sie können jeden hier im Haus fragen.“ Er erwähnte nicht, dass er jetzt vor allem ein Schreibtischhengst und Erbsenzähler war, der kaum noch Patienten behandelte.

„Das reicht mir.“

Seine Partnerin sprang aus dem Wagen und half, die Trage herauszuholen, während sie die Vitalzeichen vortrug. Es klang nicht gut. Schädelfraktur oder eine Hirnblutung standen ganz oben auf der Liste. Genaueres würde man erst wissen, wenn die Aufnahme vom CT vorlag. Garret hob die Lider des Babys, um die Pupillenreflexe zu überprüfen.

Keine der Pupillen war völlig starr, was gut war, aber die rechte reagierte etwas besser als die linke. Natürlich hatte Garret keine Stablampe mehr dabei. Er könnte sich drinnen eine leihen. Aber wie sollte er mit der einen Hand die Lampe halten und mit der anderen die Lider anheben? Stattdessen horchte er seinem kleinen Patienten das Herz ab, das zum Glück kräftig schlug. Allerdings war der Blutdruck niedriger, als ihm lieb war. Er besah sich den Kopf des Babys. Keine sichtbaren Blutungen. Das Spineboard und die Halskrause verhinderten im Moment noch eine genauere Untersuchung der Hinterseite des Schädels.

„Bringen Sie ihn hinein. Ich will ein CT von seinem Kopf und Hals, um mir ein Bild zu machen.“

Eilig schoben sie das Baby in die Notaufnahme und betteten ihn von der Trage des Rettungswagens auf eine Krankenhausliege um. Garret bat die Schwester, in der Radiologie anzurufen und anzukündigen, dass sie auf dem Weg seien.

„Wissen Sie, ob es neben der Mutter noch ein Elternteil gibt?“, fragte er den Sanitäter.

Der Mann schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Die Mutter wurde von einem anderen Team behandelt.“

Garret rief eine andere Krankenschwester zu sich. „Können Sie bitte nachsehen, ob seine Mutter eine Einverständniserklärung unterschreiben kann? Ich gehe mit dem Jungen hoch.“

„Ich besorge sie Ihnen und rufe Sie an, wenn alles klar ist.“ Erfreulicherweise stellte niemand seine Anweisungen in Frage. Es gab auch keine Seitenblicke oder fragend gehobene Augenbrauen. Jedenfalls hatte er nichts davon mitbekommen.

Als sie in der Radiologie ankamen, war die Erklärung der Mutter bereits unterschrieben und lag eingescannt im System bereit. „Die Mutter ist ziemlich mitgenommen“, sagte die Schwester.

„Verständlich. Ich sage Ihnen Bescheid, sobald wir wissen, was genau …“, er sah kurz auf die elektronische Akte, „… Matthew hat. Wie geht es den anderen Kindern?“

„Die meisten haben Rauchvergiftungen. Ein Finger wurde in dem Chaos gebrochen, er ist bereits geschient. Sie werden alle über Nacht aufgenommen, um sie überwachen zu können.“

Eine weitere Schwester kam zu ihm. „Die Notaufnahme hat gerade angerufen. Die Mutter ist Single und sagt, dass der Dad aus dem Spiel ist. Jemand hat ihre Mom angerufen. Sie wohnt in Michigan.“

Michigan? Da könnte sie genauso gut am anderen Ende der Welt leben. Wer sollte auf die Kinder aufpassen, sobald sie entlassen waren, während ihre Mutter hier behandelt wurde?

Das war nicht seine Aufgabe. Und im Moment musste er sich um einen kleinen Jungen kümmern.

Die Röntgenassistentin beeilte sich, das Baby in das CT zu schieben. Matthew war immer noch bewusstlos und lag ganz still. Immerhin ein kleiner Segen, und die ganze Prozedur dauerte keine fünf Minuten.

Während eine Schwester bei dem Baby wartete, sah Garret sich die Aufnahmen an. Auf den ersten Blick erkannte er, dass sie es tatsächlich mit einer Fraktur der Schädelbasis zu tun hatten. Das ergab Sinn, da die Mutter das Baby fallengelassen hatte, als das brennende Fett sie getroffen hatte. Die Wucht, mit der Matthew auf die harten Fliesen aufgeschlagen war, hatte einen geraden Bruch hervorgerufen. Hinweise auf Hirnquetschungen oder Blutungen konnte er dagegen nirgends erkennen. Ein gutes Zeichen.

Die Tatsache, dass Matthew keine Verbrennungen hatte, deutete darauf hin, dass seine Mutter sich instinktiv von den Flammen weggedreht hatte. Es hätte schlimmer kommen können. Es sah nicht so aus, als müsste Garret einen Chirurgen hinzuziehen. Sie würden das Kind konservativ behandeln und hoffentlich ein gutes Ergebnis erzielen. Unter den Augen des Babys hatten sich dunkle Flecken gebildet. Am Morgen würde er zwei ordentliche Veilchen haben, aber das war bei einem Schädelbruch, wie er ihn hatte, vollkommen normal.

Garret konnte auf dem Scan auch keine Halsverletzungen erkennen, sodass sie die Nackenkrause abnehmen und den kleinen Patienten auf die Kinderintensivstation bringen konnten.

Er notierte rasch die Anweisungen für Matthews weitere Versorgung und vergewisserte sich, dass ein Bett für ihn frei war. Die Vitalfunktionen des Babys waren stabil, und es begann, sich zu rühren. Und zu weinen. Kein Wunder. Der Junge musste heftige Kopfschmerzen haben. Garret strich mit dem Finger über den Handrücken des Kindes. „Keine Angst, Kleiner. Wir werden uns gut um dich kümmern, und du bist hoffentlich schon bald wieder bei deiner Mutter.“ Er schrieb einen kurzen Bericht für die Kollegen aus der Neurologie. Er würde nachsehen, wer morgen früh Dienst hatte. Heute Abend würde er selbst noch einmal nach dem Baby schauen, bevor er das Krankenhaus verließ.

Auch die Mutter wollte er sich noch einmal ansehen. Er blickte auf seine gekrümmten Finger und hoffte, dass es ihren Händen besser ging als seinen.

In der Notaufnahme waren die Schockräume bereits wieder frei, und es gab keine Spur von Addy. Vielleicht hatte sie schon Feierabend gemacht? Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass es fast neun Uhr war. Morgen früh war er mit ihr zum Surfen verabredet. Er hatte sich den Kopf zerbrochen, wie er sich da wieder herauswinden könnte, aber ihm war nichts eingefallen.

In diesem Moment kam sie um die Ecke und blieb wie angewurzelt stehen, als würde sein Anblick sie erschrecken. Er sprach zuerst.

„Wie geht es der Familie?“

„Das wollte ich auch gerade fragen. Wie geht es dem Baby?“

Garret deutete auf die Stühle im nahen Wartebereich. Addy sah ihn an.

„Er hat es geschafft, oder? Grace wäre am Boden zerstört.“

„Er hat einen Schädelbruch, aber nichts, was die Zeit nicht heilen könnte.“

Addy ließ sich auf einen der Stühle sinken. „Gott sei Dank. Grace hat immer wieder gesagt, dass sie es sich nie vergeben wird, dass sie ihn fallen gelassen hat.“

„Wenn sie ihn festgehalten hätte, hätte er vermutlich das meiste von den Flammen abbekommen.“ Garret setzte sich neben sie. „Wie geht es den anderen?“

„Sie bleiben alle über Nacht hier. Wir haben ein paar Patienten verlegt, damit die Familie zusammenbleiben kann. Zwei von ihnen bekommen über Nacht Sauerstoff. Ein Junge könnte im Grunde schon entlassen werden, aber …“

„Sie können nirgends hin. Ich habe es schon gehört. Ist die Großmutter unterwegs?“

„Ja. Grace sagt, sie hat einen Flug für heute Nacht gefunden.“

„Wie geht es ihr? Wie schwer sind die Verbrennungen?“

„Kaum zu glauben, aber sie hatte ziemliches Glück. Sie hat mehrere Verbrennungen zweiten Grades, aber die meisten Schäden am Hals und Arm sind nur oberflächlich. Nur zwei Bereiche an ihren Händen sind schwerer beschädigt.“

Verbrennungen zweiten Grades konnten bis zu zwei Hautschichten tief reichen.

Er schluckte. „Irgendwelche Nervenschäden an den Händen?“

„Möglicherweise, aber die Kollegen haben das im Blick und achten darauf, dass es keine Infektion gibt. Es hätte wesentlich schlimmer kommen können.“

Garret lehnte sich zurück und atmete hörbar aus. „Genau dasselbe habe ich auch bei Matthews CT-Scan gesagt. Was ist mit dem Haus? Ist es komplett abgebrannt?“

„Nein. Einer der Sanitäter erzählte, dass das Feuer schnell gelöscht war. Eine Küchenwand hat einen Brandschaden, dazu das Wasser und der Rauch, aber es hätte …“

„… schlimmer kommen können.“ Er lachte.

Lächelnd drehte sie sich auf ihrem Stuhl um, um ihn anzuschauen. „Und, wie fühlt es sich an, wieder einmal Doktor zu spielen?“

Doktor spielen? Er sah sie scharf an.

„Merkwürdig. Aber irgendwie auch gut.“ Nein, er würde nicht über die zweite Bedeutung ihrer Worte nachdenken. „Es hat mir gefehlt.“

„Du bist immer noch Arzt, Garret. Das ist dir schon klar, oder?“ Sie berührte seine verletzte Hand und löste damit einen Hitzestoß aus. Es war beinahe unerträglich intim. „Das hier …“ Sie strich sanft über die vernarbte Haut, „… hat keinen Einfluss darauf, wer du bist oder was du im Kopf hast. In deinem Herzen.“

Er biss die Zähne zusammen und bekämpfte die Anspannung, die sich von seinem Bauch aus in andere Bereiche ausdehnte.

„Aber es bestimmt, was ich in den Händen halten kann.“ Er hörte selbst, wie bitter seine Worte klangen. „Binnen weniger Sekunden hat sich mein ganzes Leben verändert.“

Als er ihr ins Gesicht blickte, sah er eine ganze Reihe von Gefühlen, von Besorgnis über Bestürzung bis zu Mitgefühl. Doch das, wovor er sich am meisten fürchtete, sah er nicht: Mitleid. Trotzdem wusste er genau, was sie als Nächstes fragen würde, noch bevor sie die Worte ausgesprochen hatte.

„Was ist mit deiner Hand passiert, Garret?“

4. KAPITEL

Das Wartezimmer war leer, die meisten Patienten waren zu Hause oder versorgt. Addy liebte es, wenn das Krankenhaus so ruhig und fast friedlich war. Man konnte fast vergessen, dass es hier jeden Tag um das Leben von Menschen ging.

Der Kampf, der im Moment in Garret tobte, war vielleicht kein Kampf auf Leben und Tod, aber sie merkte, dass er unsicher war, wie viel er ihr erzählen sollte. Sie wusste, dass seine Hand bei einem Unfall so schwer beschädigt worden war. Aber wie war es dazu gekommen? Sie hatte nur vage Gerüchte gehört, dass seine Tochter gestorben und er danach psychisch abgestürzt war.

„Vor vier Jahren hatte ich einen Autounfall. Ich kam von einer Vierzehn-Stunden-Schicht, und ich war müde.“ Er rieb sich die Stirn und verzog den Mund. „Ich bin am Steuer eingeschlafen.“

Ihr Herz zog sich zusammen. Damit bekam die erste Besprechung in seinem Büro eine ganz neue Bedeutung.

„Das wusste ich nicht.“

„Nicht? Ich dachte, Krankenhäuser seien berüchtigt dafür, alles aus der Vergangenheit hervorzukramen.“

„Nicht bei jemanden, der für seine Verschwiegenheit nicht weniger berüchtigt ist. Ich habe gehört, du hattest eine Tochter, die gestorben ist. Das tut mir leid.“

„Wir haben Leticia an Leukämie verloren. Sie war zehn.“

Es musste furchtbar sein, ein Kind zu verlieren. „Das tut mir leid.“ Sie zögerte, doch dann überwand sie sich. „Willst du deswegen, dass ich weniger arbeite?“

„Ja. Das hier“, er hob seine Hand, „wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht.“

„Das verstehe ich. Aber es gibt noch so viel, was du tun kannst, Garret. Das hast du heute bewiesen, als du das Baby behandelt hast. Du könntest unterrichten. Ich habe gehört, was für ein talentierter Chirurg du warst … und immer noch bist.“

„Ich kann nicht mehr operieren.“

Sie legte den Kopf schräg. „Doch, das kannst du.“

Er griff mit seiner kaputten Hand nach ihrer Hand und versuchte, sie auf die Armlehne des Stuhls zu legen. Er schaffte es, sie ein paar Zentimeter anzuheben, dann entglitt sie ihm wieder. Sein Lachen war humorlos. „Siehst du? Das ist wie bei diesen Greiferspielen auf dem Jahrmarkt. Meinst du nicht, du solltest deine Einschätzung noch einmal überdenken?“

Sie beugte sich vor und zwang ihn, sie anzusehen. „Du kannst immer noch operieren. Hier drin, Garret.“ Sie hob die Hand und berührte ihn an der Schläfe. Seine Haut war warm, das dunkle Haar kitzelte auf ihrem Handrücken. Sie schluckte. „Und du kannst dein Wissen mit Medizinstudenten teilen. Du kannst ihnen so viel geben!“

„Nein.“ Sein Blick verdüsterte sich, die braunen Augen wirkten fast schwarz.

„Aber warum nicht?“

Er sprang auf, als könnte er ihre Berührung nicht ertragen. Warum hatte sie es getan? Es war dumm von ihr, überhaupt mit ihm darüber zu sprechen. Sie kannte den Mann kaum. Er arbeitete im selben Krankenhaus, aber das bedeutete nicht automatisch, dass sie Freunde oder Vertraute waren.

Tatsächlich schien er ihr die persönlichen Fragen übelzunehmen, und das war sein gutes Recht. Dabei hatte er selbst gesagt, dass es ihm fehlte, als Arzt zu arbeiten. Warum wollte er seine Leidenschaft nicht mit anderen teilen? Sie würde es wahrscheinlich nie erfahren.

„Entschuldige bitte“, sagte sie. „Das geht mich nichts an. Ich habe meine Nase in Dinge gesteckt, die mich nichts angehen. Es wird nicht wieder vorkommen.“

Er antwortete nicht. Seine Wangenmuskeln zuckten, bis er den Atem ausstieß. „Ich bin derjenige, der sich entschuldigen muss. Ich habe überreagiert, aber das ist ein heikles Thema.“ Er holte tief Luft. „Ich werde lieber mal nach meinem kleinen Patienten sehen und mich vergewissern, dass es ihm gut geht. Dann mache ich Feierabend.“

„Na dann … gute Nacht.“

Sollte sie ihn fragen, ob ihre Verabredung für morgen noch stand? Vermutlich hatte sich das erledigt. Nach diesem angespannten Wortwechsel konnte sie es ihm nicht verdenken, wenn er es sich anders überlegte.

Sie würde einfach zum vereinbarten Zeitpunkt an Ort und Stelle sein. Wenn er kam – klasse. Wenn nicht, würde sie allein ein paar Wellen nachjagen. Das war vielleicht ohnehin besser. Keine Ablenkung. Und keine Gelegenheit, noch einmal ins Fettnäpfchen zu treten.

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und wartete, bis sie allein war. Dann stand sie auf und ging zum Ausgang. Das Bild von Garret, der eines Abends nach Hause fährt und im Krankenhaus wieder aufwacht, ließ sich nicht so einfach vertreiben. Dabei hatte er eindrücklich klargemacht, dass er nicht über sein Privatleben reden wollte.

Auf jeden Fall nicht mit ihr.

Es war ein typischer milder Morgen in South Beach. Addy lehnte ihr Board an das Geländer des Surfladens und warf einen Blick auf ihre wasserfeste Uhr. Neun Uhr neunundzwanzig. Er kam nicht. Warum löste das eine Woge der Enttäuschung in ihr aus? Sie wollte doch gar nicht, dass er kam und ihr beim Surfen zusah. Aber eigentlich wollte sie es doch. Denn sie half gerne anderen Menschen dabei, Neues zu entdecken.

Sie hatte noch nie jemandem offiziell Surfunterricht gegeben, aber sie hatte schon interessierten Kollegen ein paar Grundlagen beigebracht. Allerdings sah es nicht so aus, als würde es jetzt dazu kommen. Garret ließ sich einfach nicht blicken.

Sie nahm ihr Board und ging in Richtung Strand, als sie ihren Namen hörte. Ihre Füße weigerten sich, weiterzugehen.

Garret!

Sie schloss die Augen und versuchte, ihr plötzlich rasendes Herz zu beruhigen.

Aber sie würde ihm nicht zeigen, wie sehr sie sich freute, dass er gekommen war.

Sie drehte sich um, und da war er. Braungebrannte Beine steckten in einer engen schwarzen Badehose. Die weiße Kordel im Bund hielt ihren Blick einen Moment gefangen, ehe sie hastig hochschaute. Sie beschloss auf der Stelle, sich nicht in ihren Surfanzug zu zwängen, den sie in ihrer Strandtasche dabeihatte. Sie würde nur ihren Bikini tragen, wie die meisten Surfer in Florida. Das Sportoberteil saß fest genug, um auch bei der größten Welle nicht zu verrutschen.

Offensichtlich hatte Garret wirklich außer sich selbst nichts dabei.

Aber das reichte auch schon.

Leicht verärgert verzog sie den Mund. Sie musste ihre Gedanken unter Kontrolle bekommen.

Zur schwarzen Badehose trug er ein schwarzes Sport-Shirt, außerdem ein graues Strandtuch über dem linken Arm, das seine verletzte Hand verbarg. Und er hatte kein Surfbrett bei sich.

Sie hatte nicht von ihm erwartet, dass er sich nur für diesen Ausflug ein eigenes Board kaufen würde, doch die Vorstellung, dass er am Strand sitzen und ihr beim Wellenreiten zusehen würde, ließ sie heftig schlucken.

Oh nein. Wenn sie surfte, würde er es auch tun. Oder zumindest mit ihr zusammen hinauspaddeln.

„Am Kiosk kann man sich ein Board leihen.“

„Ich bin mir nicht sicher …“

„Aber ich. Du musst es ausprobieren.“

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ziemlich verbohrt sein kannst?“ Er lächelte, und der Unterschied zu der grimmigen Gestalt gestern Abend raubte ihr den Atem.

Vorsicht! Es würde lange dauern, bis sie noch einmal zulassen würde, dass ein hübsches Gesicht ihr das Herz stahl. Die Sache mit Leo mochte aus und vorbei sein, aber die Beziehung hallte noch in ihr nach.

Dabei war Garrets Gesicht nicht einmal hübsch. Es war zerfurcht. Mit einem Hauch von Gefahr an den Rändern. Sie hatte ein wenig davon am letzten Abend gesehen, als sie sich zu nah an ein schmerzhaftes Thema herangewagt hatte.

„Mitunter vielleicht. Hin und wieder.“ Sie erwiderte sein Lächeln.

Immer locker bleiben. Und sich von allen blinkenden Warnzeichen fernhalten.

Wie von dieser Kordel im Hosenbund. Sie wagte nicht zu blinzeln, aus Angst, ihr Blick würde direkt in das verbotene Gebiet wandern. Sie holte tief Luft. „Jetzt holen wir erst einmal ein Board für dich.“

Mit nicht ganz sicherer Stimme erklärte sie dem Mann am Kiosk, was sie brauchten, und wartete, während der ein blaugrünes Board aus dem Lager holte.

„Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“

Sie war sich überhaupt nicht mehr sicher, aber hatte sie sich nicht vorgenommen, so zu tun, als ob, bis es wirklich so war? „Keine Angst, es wird Spaß machen. Du wirst sehen.“

Spaß. Hatte sie wirklich je gedacht, diese Verabredung könnte in etwas anderem als einer Katastrophe enden?

„Als ich das das letzte Mal hörte, hat meine Tochter …“ Jede Andeutung eines Lächelns verschwand. Sein Adamsapfel bewegte sich heftig, als er schluckte. „Es war eine Karussellfahrt auf dem Jahrmarkt. Und es war keine gute Idee.“

Es wäre witzig, wenn der offensichtliche Schmerz in Garrets Gesicht nicht wäre.

Alle sexy Gedanken, die sie kurz davor noch gehabt hatte, waren wie weggeblasen, verdrängt durch einen schrecklichen Schmerz in ihrer Brust. Obwohl sie in der Notaufnahme oft mit Tod und Verlust konfrontiert war, konnte sie sich nicht vorstellen, was er seit dem Verlust seiner Tochter durchgemacht hatte.

Bei ihr war es ihre Mom gewesen.

Doch daran wollte sie im Moment nicht denken. „Es ist überhaupt nicht mit einem Karussell zu vergleichen. Es ist eher wie Mr. Toad’s Wild Ride.“

„Wie was?“

„Das ist ein berühmtes Fahrgeschäft im Vergnügungspark in Florida.“ Sie sah ihn aufmerksam an. „Man fährt nicht im Kreis, aber es geht hoch, und dann stürzt man ab, es gibt ständige Starts und Stopps, sodass man ständig beschäftigt ist. So ähnlich ist es beim Surfen.“

„Genau das hatte ich befürchtet.“

Sie lachte, und die Atmosphäre lockerte sich auf. Sobald Garret die Leihgebühr bezahlt hatte, legte er sich das Board auf die Schulter. Sein Bizeps schwoll an, und prompt kribbelte ihr Magen. Normalerweise trug man sein Surfbrett nicht so, aber es funktionierte. Und es sah verdammt cool aus.

Oder lag es an ihm? Jedenfalls drehte sich mehr als eine Frau nach ihm um.

Addy stellte fest, dass er das Board mit seiner verletzten Hand festhielt. Er konnte sie also doch benutzen, wenn es sein musste. Allerdings neigte er dazu, die Hand zu verstecken. Zumindest war ihr das in seinem Büro aufgefallen, und auch, als sie die Opfer des Hausbrands versorgt hatten.

Ob er sich dessen bewusst war? Denn jetzt umfasste seine Hand mit den roten und weißen Narben den Rand des Boards ohne Probleme. Solange er die Finger nicht übermäßig beugen und strecken musste, konnte er sie benutzen.

Autor

Caroline Anderson

Caroline Anderson ist eine bekannte britische Autorin, die über 80 Romane bei Mills & Boon veröffentlicht hat. Ihre Vorliebe dabei sind Arztromane. Ihr Geburtsdatum ist unbekannt und sie lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Suffolk, England.

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Alison Roberts
Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde.
Sie fand eine Stelle...
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Tina Beckett
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