Romana Extra Band 124

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IM CASTELLO DES STOLZEN ITALIENERS von MELODY SUMMER
Ein delikater Auftrag führt Kelly in das Castello des charismatischen Bernhardo Semperona. Der stolze Winzer zieht sie vom ersten Augenblick an in seinen Bann. Sie weiß jedoch, dass sie der Begierde nicht nachgeben darf – das Schicksal ihrer Familie hängt von ihr ab!

UNBEZÄHMBARES VERLANGEN NACH DIR von MYRNA MACKENZIE
Nach einem schweren Schicksalsschlag findet Darcy neuen Lebensmut in ihrer Arbeit als Köchin. Ihr attraktiver Boss, der Business-Tycoon Patrick Judson, weckt unbezähmbares Verlangen in ihr. Wird sich diese Sehnsucht jemals erfüllen?

VERFÜHRT UNTER GRIECHISCHEN STERNEN von REBECCA WINTERS
Der gut aussehende griechische Millionär Vasso Giannopoulos ist der faszinierendste Mann, dem Zoe je begegnet ist. Doch während sie sich nach einer Nacht in seinen Armen eingesteht, dass sie unrettbar ihr Herz an ihn verloren hat, scheint er nur Mitleid für sie zu empfinden…

WILD UND VERWEGEN WIE DIE LIEBE von ALISON ROBERTS
Die Ärztin Joy weiß, dass sie sich lieber von Ben Marshall fernhalten sollte. Der smarte Rettungssanitäter ist wild, verwegen und bricht alle Regeln – ganz anders als sie. Trotzdem: Gegensätze ziehen sich an! Aber kann es für sie beide auch ein Happy End geben?


  • Erscheinungstag 30.08.2022
  • Bandnummer 124
  • ISBN / Artikelnummer 9783751508209
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Melody Summer, Myrna Mackenzie, Rebecca Winters, Alison Roberts

ROMANA EXTRA BAND 124

MELODY SUMMER

Im Castello des stolzen Italieners

Die schöne Unbekannte, die auf seinem Weingut auftaucht, zieht Bernhardo unwiderstehlich an! Kelly ist auf der Suche nach ihrer Cousine, aber er fragt sich: Könnte sie bei ihm ihr Herz verlieren?

MYRNA MACKENZIE

Unbezähmbares Verlangen nach dir

Patrick ist hingerissen von der bezaubernden Darcy, ihrer Stärke und Entschlossenheit. Trotz ihrer zarten Gefühle ist eine gemeinsame Zukunft für sie nicht möglich. Ihre Welten sind zu verschieden!

REBECCA WINTERS

Verführt unter griechischen Sternen

Erst weckt die junge Zoe bloß Vassos Beschützerinstinkt. Doch als er ihr die schönsten Seiten seiner griechischen Heimat zeigt, kommt er ihr bald nahe wie keiner Frau zuvor. Ist das etwa Liebe?

ALISON ROBERTS

Wild und verwegen wie die Liebe

Als Ben Marshall mit seinem Rettungswagen in Joys Auto kracht, springt zwischen ihnen sofort der Funke über. Allerdings könnten Ben und die süße Notärztin nicht gegensätzlicher sein

1. KAPITEL

Kelly betrachtete die dunklen Wolken, die sich am Horizont auftürmten. Wenn sie jetzt auch noch in ein Unwetter geriet, mitten im Nirgendwo, wäre der absolute Tiefpunkt erreicht. Selbst die zerklüftete Weite im Hinterland des Cilento, die grünen Berge und verlassenen Dörfer, durch die sie fuhr, konnten ihre Laune nicht bessern. Ihre Cousine Helen hatte versprochen, sich auf dem letzten Wochenendtrip, den sie als unverheiratete Frau unternahm, nicht danebenzubenehmen. Ganze sechs Stunden hatte der Vorsatz gehalten. Kaum waren Kelly und Helen gestern in Rom angekommen, war der heißblütige Luigi aufgetaucht, und Helen war mit ihm in einer Bar verschwunden. Sie hatte versprochen, bis Mitternacht zurück im Hotel zu sein. Als Kelly heute Morgen aufgewacht war, hatte sie eine kurze Nachricht von Helen auf ihrem Handy vorgefunden. Alles, was ihre Cousine ihr darin mitgeteilt hatte, war, dass sie mit Luigi Semperona ein paar romantische Tage verbringen wolle.

Kelly presste die Lippen zusammen. Sie war es so leid, Helens Kindermädchen zu spielen. Sie versuchte, sich auf die Landschaft zu konzentrieren, spürte den warmen Sommerwind auf ihrer Haut, während sie mit dem gemieteten Cabrio über die schmalen Straßen fuhr, die teilweise so eng waren, dass kaum zwei Autos aneinander vorbeikamen. Der Geruch des von der Sonne aufgeheizten Asphalts lag in der Luft und vermischte sich mit dem Duft der Agaven und Olivenbäume am Wegesrand.

Sie trat auf die Bremse. Beinahe wäre sie an dem winzigen Schild vorbeigefahren, das auf das Weingut Semperona hinwies. Sie hatte im Internet recherchiert und herausgefunden, dass der geheimnisvolle Luigi der Spross einer bekannten Winzerfamilie war, die ein Weingut im Cilento in der Nähe der kleinen Gemeinde Camerota betrieb. Sie konnte nur hoffen, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag und ihre Cousine hier finden würde.

Vorsichtig lenkte Kelly den Wagen auf den Schotterweg, der sich durch eine Kluft zwischen den mit Ginster und Zistrosen bewachsenen Bergen schlängelte. Einige Minuten später hatte sie die Talsenke hinter sich gelassen und stieß einen begeisterten Schrei aus. Vor ihr lag eine sanfte Ebene, mit zahlreichen Weinreben bewachsen, und inmitten der Rebstöcke stand ein gewaltiges Kastell. Es war so unmittelbar aufgetaucht, es war so gigantisch, Kelly hätte es niemals in dieser Abgeschiedenheit erwartet. Und doch passte es perfekt in die zerklüftete Weite des Cilento. Es war aus dem typischen braunen Sandstein gebaut, aus dem hier die meisten Gebäude errichtet waren, mit roten Ziegeln gedeckt und hatte rechts und links jeweils einen hohen Turm.

Orangerote Fensterläden sperrten die Abendsonne aus. Bald jedoch würden sich die dunklen Wolken, die über den Himmel rasten, ohnehin vor die Sonne schieben. Kelly fuhr zwischen den Weinfeldern hindurch auf das Haus zu. Ein alter Brunnen auf dem Vorplatz war mit leuchtend roten Geranien bepflanzt. Marmorsäulen flankierten den Eingang, Kletterhortensien rankten an der Mauer empor. Kelly stellte das Cabriolet neben einem Orangenbaum ab und stieg aus. Der Wind hatte zugenommen. Sie strich sich fröstelnd über die Arme. Mit schnellen Schritten lief sie zum Eingang. Eine Klingel schien es nicht zu geben, also klopfte sie an die alte Holztür. Alles blieb ruhig. Zögernd streckte sie die Hand aus und drückte die Klinke hinunter. Die Tür war nicht verschlossen, und sie trat ein.

„Hallo“, rief sie. „Ist jemand zu Hause?“

Schritte erklangen irgendwo in den Tiefen des Hauses. Sie sah sich verstohlen in der großen Halle um. Im Dämmerlicht, das durch die Fensterläden hereinfiel, konnte sie antike Möbelstücke, kunstvoll gewebte Teppiche und Marmorstatuen erkennen. Es roch nach altem Holz, Zitrusfrüchten und Lavendel.

„Si?“ Ein Mann kam die geschwungene, breite Treppe herunter, die in der Mitte der imposanten Eingangshalle endete. Er hatte einen muskulösen, gebräunten Körper, dunkles Haar, das sich im Nacken kräuselte, und braune Augen. Sein weißes Leinenhemd trug er bis zur Brust aufgeknöpft, sodass Kelly den Ansatz feiner Brusthärchen erkennen konnte. Was für ein atemberaubender Mann!

Kelly räusperte sich und setzte ihre professionell freundliche Miene auf. „Entschuldigen Sie, dass ich störe, aber ich bin auf der Suche nach Luigi Semperona.“

„Raus hier!“, sagte der Mann ohne Vorwarnung und so laut, dass Kelly zusammenzuckte.

„Wie bitte?“

„Ich sagte, dass Sie sofort wieder umkehren und mein Grundstück verlassen sollen.“ Er deutete zur Tür.

Kelly schluckte. Was war das denn für ein ungehobelter Kerl? „Wissen Sie, wo er ist?“

„Nein“, entgegnete er entrüstet. „Glücklicherweise nicht. Und selbst wenn ich es wüsste, ich würde es Ihnen nicht sagen.“ Etwas freundlicher fügte er hinzu: „Er ist jedenfalls nicht hier.“

„Danke für die Antwort“, Kelly musterte ihn skeptisch. „Gutes Benehmen scheint im Cilento Mangelware zu sein.“

„Wir belästigen immerhin keine fremden Menschen.“

„Also, wenn Sie Ihren Wein verkaufen wollen, dann rate ich Ihnen zu einem Persönlichkeitstraining. Wie werde ich freundlicher oder so was.“ Sie wandte sich zur Tür. „Von Ihnen werde ich jedenfalls keinen Wein kaufen.“

„Und ich würde Ihnen meinen Wein auch gar nicht geben!“ Die dunklen Augen des Mannes blitzten. „Mein Wein ist lange schon verkauft, bevor er überhaupt abgefüllt wird. Er ist einer der Verkaufsschlager Italiens.“

„Schön für Sie“, antwortete sie, eine Augenbraue hochgezogen. Sie ließ ihren Blick an ihm auf und ab wandern. „An Selbstbewusstsein scheint es Ihnen jedenfalls nicht zu mangeln.“

„Das sind Tatsachen.“ Er griff nach einem Stapel Magazine, die auf einer der Kommoden lagen. „Hier! Das sind die führenden Weinmagazine Europas. Und in allen sind meine Weine mit den höchsten Bewertungen ausgezeichnet worden.“

„Schon gut“, seufzte Kelly. Hier kam sie anscheinend nicht weiter. „Machen Sie es sich gemütlich mit Ihren Magazinen und Weinen. So ungehobelt, wie Sie sind, wird es wohl kaum jemand mit Ihnen aushalten.“

Sie trat aus dem Haus. In diesem Moment zerriss ein greller Blitz den dunklen Himmel. Sintflutartiger Regen setzte ein. Es donnerte. Erschrocken fuhr sie zurück.

„Okay“, sie trat wieder in die Eingangshalle. „Das war zwar ein dramatischer Abgang, aber ich denke, ich warte noch ein paar Minuten, bevor ich zu meinem Auto zurückgehe.“ Oh nein! Sie schlug sich die Hand vor den Mund. „Das Verdeck!“

„Was?“, fragte der Mann ungeduldig.

„Es ist ein Cabrio und ich …“, Kelly brach ab. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Sie hatte die Wolken doch gesehen!

Der Mann streckte ihr seine Hand entgegen. „Geben Sie mir den Schlüssel, ich kümmere mich darum.“

Irritiert sah sie zu, wie er hinaus in das Unwetter lief. Das Rauschen des Regens wurde von einem gewaltigen Donner überlagert. Blitze zuckten über das Tal hinweg. Schon nach wenigen Sekunden konnte Kelly nichts mehr von dem Mann sehen. Der Regen war wie eine undurchsichtige Wand.

Drei Minuten später kam er zurück. Wasser lief ihm über das Gesicht, sein Hemd war so durchnässt, dass es ihm am Körper klebte. Er schloss die Tür, schüttelte sich und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. Auf dem Terrakottaboden bildete sich eine Pfütze.

„Das Verdeck ist zu.“ Er gab ihr den Autoschlüssel und ihre Reisetasche, die auf dem Beifahrersitz gelegen hatte. Dann begann er, sein klatschnasses Hemd aufzuknöpfen.

„Danke.“ Kelly biss sich auf die Unterlippe, als er sich aus dem nassen Kleidungsstück schälte. Was für ein Körper! Sofort kribbelte es in ihrem Unterleib.

„Was für ein Unwetter!“ Er öffnete eine Tür rechts vom Eingang und nahm sich ein dickes Frotteehandtuch, mit dem er sich trockenrieb. „Mit dem Wagen werden Sie heute nicht mehr weiterfahren können.“

„Was? Aber ich muss …“ Sie brach ab. Sie wusste ja nicht einmal, wohin sie fahren sollte, um nach Helen zu suchen. Nachdem sie die Nachricht ihrer Cousine heute Morgen gelesen hatte, war sie davon ausgegangen, dass die beiden hierhergefahren waren. „Ich muss unbedingt Luigi finden.“

„Hier ist er nicht.“ Der Mann hob einen Arm und warf sich das Handtuch über den Rücken. Während er sich trockenrubbelte, beobachtete Kelly fasziniert das Spiel seiner Muskeln.

„Wissen Sie denn, wo er sich sonst aufhalten könnte?“, fragte sie vorsichtig, um keinen erneuten Temperamentsausbruch zu riskieren.

Er schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Dann fragte er: „Was wollen Sie von ihm?“

„Das ist eine Privatangelegenheit.“ Sie hatte keine Lust, ihm von ihrer Cousine zu erzählen. Kelly sah unentschlossen zur Eingangstür, hinter der sie das Rauschen des Regens hören konnte, unterbrochen von lautem Gewitterdonnern.

„Na schön“, er zuckte mit den Schultern. „Aber der Wagen muss erst trocknen. Ich werde Ihnen wohl oder übel meine Gastfreundschaft für diese Nacht anbieten müssen.“ Er rieb sich mit dem Frotteetuch durch die Haare.

Sie atmete tief durch.

„Wohl oder übel“, wiederholte sie dann in ironischem Tonfall. „Nein danke. Ich werde mir ein Taxi rufen und mich zu einem Hotel bringen lassen.“

„Seien Sie nicht albern.“ Er legte das Handtuch zurück in den kleinen Raum und schloss die Tür. „In dieser Gegend dauert es ewig, bis ein Wagen hier ist. Und ein Hotelzimmer werden Sie kaum bekommen. Es ist Hauptsaison.“

Verdammt! Dieser Tag wurde immer schlimmer.

„Nun machen Sie nicht alles noch komplizierter, als es sowieso schon ist.“ Er deutete mit seinem muskulösen, sonnengebräunten Arm zur Treppe. „Ich kann Sie beruhigen. Wir sind nicht allein im Haus. Mein Vater und seine Frau bewohnen den Seitenflügel. Er ist zwar nicht hier, aber meine Stiefmutter muss zu Hause sein.“

Der kühle Tonfall ließ Kelly aufhorchen.

„Ich habe keine Angst vor Ihnen.“ Sie zog die Augenbrauen zusammen. Ganz im Gegenteil. Er weckte ein starkes Verlangen in ihr, das sie unbedingt unterdrücken musste. Sie musste einen klaren Kopf behalten, schließlich tat sie all das für ihre Eltern. Und sie hatte sich sowieso vorgenommen, keine Affären mehr einzugehen. „Ich habe mich schon gegen ganz andere Typen zur Wehr gesetzt.“

„Dann ist es ja gut.“ Er grinste. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.“

Sie folgte ihm die Treppe hinauf. Um nicht die ganze Zeit die Muskeln seines breiten Rückens anzustarren, betrachtete Kelly stattdessen die großen Ölgemälde an den Wänden. Sie mussten schon sehr alt und recht wertvoll sein. Kelly liebte es, in Museen und Kunstausstellungen zu gehen. Und auch wenn sie nicht jeden Maler kannte, so hatte sie doch ein gutes Auge dafür, ein Original von einer Kopie zu unterscheiden. Diese Bilder waren definitiv keine billigen Reproduktionen. Ihr Blick glitt über die Marmorbüsten, die auf Sockeln an den Wänden standen, und über die teuren Teppiche, die auf dem Steinboden lagen und ihre Schritte dämpften. Dieses Kastell war geschmackvoll und teuer eingerichtet. Es musste traumhaft sein, hier wohnen zu dürfen. Der typische Geruch alter Möbel nach Holz, Politur und Mottenkugeln lag in der Luft und vermischte sich mit dem Duft der Orangenblüten, der von draußen hereindrang. In der ersten Etage führte der Mann sie in einen breiten Flur, von dem zahlreiche Türen abgingen. Etwa in der Mitte des Ganges blieb er stehen und öffnete eine Tür.

„Da wären wir.“ Er trat zur Seite und ließ Kelly den Vortritt in einen großen Raum.

Sie sah sich in dem Zimmer um, das überraschend modern ausgestattet war. Ein niedriges, breites Bett stand in der Mitte. Ihr unfreiwilliger Gastgeber trat an die bodentiefen Fenster und stieß die Läden auf, um mehr Licht hereinzulassen. Danach schloss er die Fenster schnell wieder. Kelly unterdrückte einen begeisterten Ausruf, als sie die atemberaubende Aussicht sah. Noch prasselte der Regen gegen die Scheiben, aber bei gutem Wetter konnte man vermutlich über die Weinfelder hinaus bis zu den Bergen sehen, die sich hinter den Feldern erstreckten.

„Da Sie ja nun einmal hier sind, können Sie mir auch beim Abendessen Gesellschaft leisten“, erklärte der Mann nicht gerade galant. „Ich bin übrigens Bernhardo Semperona.“

„Zu freundlich“, antwortete Kelly ironisch. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie vollkommen ausgehungert war und seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sie stutzte. „Semperona? Sind Sie mit Luigi verwandt?“

„Er ist mein Halbbruder“, erklärte er schroff. „Also, kann ich mit Ihnen rechnen?“

Kellys Magen knurrte. Hoffentlich hatte er es nicht gehört. „Na schön, ich werde mit Ihnen essen. Ich heiße Kelly. Kelly Milton.“

Er nickte knapp. „Engländerin?“

„Genau.“

„Luigi steht auf Engländerinnen“, stellte er fest. „Ich verstehe nur nicht, warum er seine Eroberungen immer wieder hierherbestellt. Nun ja, Sie können nichts dafür, dass Luigi mein Haus mit dem seinen verwechselt.“

Kelly sah ihn verdutzt an, aber er hatte ihr bereits den Rücken zugedreht und öffnete die Tür. Dieser Bernhardo schien tatsächlich davon auszugehen, dass sie hinter Luigi her war.

Doch bevor sie ihn aufklären konnte, erklärte er: „Um acht Uhr. Ich erwarte Sie in der Eingangshalle.“

Damit war er verschwunden und ließ Kelly in einem seltsamen Zustand zurück. Sie musste zugeben, dass sie sich nicht nur wegen ihres ausgehungerten Magens auf das Essen mit Bernhardo freute. Dieser mürrische Kerl hatte sie nicht allein mit seinem Aussehen beeindruckt. Nein, ohne zu zögern, hatte er ihr angeboten, für sie in das Unwetter hinauszugehen, um das Dach des Cabriolets zu schließen. Kelly schüttelte den Kopf und rief sich selbst zur Ordnung. Den abweisenden Empfang machte das nicht wieder wett. Sie musste sich darauf konzentrieren, Helen zu finden und sie nach England zurückzubringen.

Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche. Als sie Helens Nummer gewählt hatte, erklang jedoch nur die Ansage: „Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.“ Wütend warf sie das Telefon aufs Bett und trat ans Fenster. Noch immer schüttete es, und auf dem Vorplatz des Kastells hatten sich Pfützen gebildet. Nebelschwaden stiegen aus den Bergen auf. Hier war zurzeit wirklich kein Fortkommen. Selbst wenn sie sich in das nasse Auto setzen würde, wäre die Fahrt über die schmalen Straßen, die oft an tiefen Abgründen vorbeiführten, bei dem Unwetter viel zu gefährlich. Und wo sollte sie nach Helen suchen? Sie hasste es, dass ihr Onkel sie immer wieder zwang, Helens Kindermädchen zu spielen. Aber seit jenem unheilvollen Tag vor drei Jahren war sie erpressbar. Und das nutzte er aus. Kelly hatte keine Wahl, sie durfte diese Arbeit nicht verlieren.

Wo war Helen bloß? Kelly war fest davon ausgegangen, sie hier auf dem Weingut zu finden. Stattdessen schien nur dieser unfreundliche und zugleich ausgesprochen attraktive Bernhardo mitsamt seiner Stiefmutter anwesend zu sein.

Sie wandte sich vom Fenster ab und packte ihre Reisetasche aus. Viel hatte sie nicht mitgenommen, aber glücklicherweise packte sie immer zwei oder drei Cocktailkleider ein, wenn sie mit Helen verreisen musste. Ihre Cousine ließ keine Party aus, und Kelly musste sie wohl oder übel begleiten. Heute Abend würde sie eins dieser Kleider zum Essen mit Bernhardo tragen.

Als sie an die dunklen Augen des Italieners dachte, breitete sich wieder dieses Kribbeln in ihr aus. Sie ging ins angrenzende Bad. Überrascht stellte sie fest, dass der Raum sämtlichen Luxus bot, den man sich wünschen konnte. Eine große Badewanne mit Whirlpool-Funktion, eine Regendusche und eine Infrarotkabine. Na schön, wenn sie schon hier festsaß, konnte sie auch das Beste daraus machen.

Kurze Zeit später saß sie in einem duftenden Schaumbad und spürte, wie die Anspannung allmählich von ihr abfiel. Ihre Gedanken wanderten erneut zu Bernhardo, und sie fragte sich, ob er wohl verheiratet war oder eine Freundin hatte. Einen Moment lang stellte sie sich vor, dass er mit ihr in der Badewanne lag. Seine Hände auf ihrer Haut, die langsam zwischen ihre Oberschenkel wanderten, seine Lippen auf ihren … Nein! Was dachte sie denn da?

Sie atmete tief durch und richtete sich auf. Sie war nicht hier, um sich irgendwelchen erotischen Fantasien hinzugeben. Außerdem würde sie nie wieder mit einem Mann ins Bett gehen, der nicht zu einer Beziehung bereit war. Sie hatte gerade erst die Trennung von Ben überwunden. Für ihn war es „nur Sex“ gewesen, wie er ihr hinterher gesagt hatte. Natürlich, er hatte ihr nie ausdrücklich seine Treue geschworen, aber er hatte Kelly in dem Glauben gelassen, eine feste Beziehung mit ihr zu führen. Als sie dann erfahren hatte, dass sie nicht die einzige Frau gewesen war, mit der er sich regelmäßig traf, war Kelly unendlich traurig und enttäuscht gewesen. Es sagte ihr nicht zu, Sex und Gefühle voneinander zu trennen.

Während sie sich abtrocknete, sah sie wieder Bernhardos muskulösen Oberkörper vor sich. Wie selbstverständlich wählte sie das schönste Kleid aus, das sie dabeihatte, und gab sich besondere Mühe mit ihren Haaren. Sie legte nur einen Hauch Make-up auf und schminkte sich dezent. Sie seufzte. Statt hier auf diesem Weingut festzusitzen und sich beim Abendessen zu amüsieren, sollte sie versuchen, Helen zu finden. Aber nicht nur das Unwetter, auch ihre vollkommene Ahnungslosigkeit, wo sich ihre Cousine aufhielt, verhinderten das. Also konnte sie genauso gut dieses Essen genießen. Trotzdem hatte sie ein schlechtes Gewissen, als sie um kurz nach acht in die Eingangshalle hinunterging.

Bernhardo wartete schon auf sie. Er lehnte lässig an einer der Kommoden. Erstaunt sah sie auf die Uhr. Italienern wurde doch nachgesagt, nie pünktlich zu sein. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie feststellte, dass auch er sich umgezogen hatte. Die Jeans hatte er gegen eine schwarze elegante Stoffhose getauscht und das Leinenhemd gegen ein seidenes. Das schwarze Haar war zurückgekämmt, die dunklen Augen funkelten.

Bernhardo konnte den Blick nicht von Kelly abwenden, als sie die breite Treppe herunterkam. Hatte er jemals ein so vollkommenes Geschöpf gesehen? Sie trug ein Cocktailkleid aus grüner Seide, das ihren schlanken Körper verführerisch umhüllte und perfekt zu ihrer Augenfarbe passte. Der leichte Stoff umspielte ihre wunderschön geformten Beine. Das lange Haar schimmerte rötlich und floss sinnlich über ihre nackten Schultern. Ihre Haut war leicht gebräunt und wirkte so zart wie die der Pfirsiche in seinem Garten. Wie hatte Luigi nur diese traumhafte Frau erobern können? Kelly war Engländerin, und Bernhardo hatte nicht gewusst, dass Britinnen so attraktiv sein konnten. Mit ihrer zierlichen, aber überaus weiblichen Figur, dem vollen rotblonden Haar und den leuchtend grünen Augen war sie eine der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte. Bislang hatte er nie sonderlich viel von Luigis Eroberungen gehalten, aber diese Frau war atemberaubend.

Bernhardo hatte es satt, dass andauernd die Gespielinnen seines Halbbruders bei ihm auftauchten. Aus diesem Grund hatte er vorhin so schroff reagiert. Ein wenig zu schroff, wie er selbst zugeben musste. Aber er war es so leid! Luigi hatte sich einfach zu viel erlaubt. Und wieso gab er immer das Weingut als seine Adresse an? Dazu hatte er kein Recht. Und dann war er nicht mal persönlich hier, um Kelly zu begrüßen. Allerdings war das jetzt Bernhardos Gewinn. Er hatte seit Ewigkeiten keine Zeit mehr für ein sexuelles Abenteuer gehabt. Und wenn sie schon die Nacht hier im Kastell verbringen musste, was sprach dagegen, sich ein wenig Spaß zu gönnen? Morgen würde sie weiterziehen und wieder aus seinem Leben verschwinden. Unkompliziert und ungeheuer aufregend, so wie er es mochte.

„Sie sehen hinreißend aus.“ Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

Sie sah ihn überrascht an. „So charmant auf einmal? Vorhin wollten Sie mich noch hinauswerfen.“

„Scusi, ich war wirklich unfreundlich. Können Sie mir verzeihen?“ Er sah ihr tief in die Augen, und einen Moment lang verlor er sich in diesem Grün. Dann deutete er zu der doppelflügeligen Tür, die links von der Eingangshalle abging und ins Esszimmer führte. „Bitte sehr.“

Er hielt ihr die Tür auf und sog den zarten Duft von Rosen und Vanille ein, der sie umgab.

„Oh“, stieß sie aus, als sie den Raum betrat. „Das ist …“

Er folgte ihr und sah, was sie so überrascht hatte. Seine Köchin hatte ihn offensichtlich missverstanden und ein romantisches Abendessen vorbereitet. Das Licht zahlreicher Kerzen fing sich in den Kristallgläsern, Rosenblätter waren auf dem weißen Tischtuch verstreut. Büffelmozzarella, Honigmelone mit Parmaschinken, Oliven, Baguette und Salami waren auf zarten Porzellantellern angerichtet und verströmten ein intensives, verlockendes Aroma. Im Hintergrund lief leise Musik.

„Ihnen ist schon klar, dass das kein Rendezvous ist?“, fragte Kelly und sah ihn vorwurfsvoll an.

„Ich …“ Er räusperte sich. „Meine Köchin hat das vorbereitet. Wir können die Kerzen auch löschen, falls es Ihnen zu …“

„… warm wird?“, fragte sie und zwinkerte ihm zu.

Bernhardo grinste. Er hatte eigentlich „romantisch“ sagen wollen, aber das behielt er besser für sich.

„Äh, ja.“ Er rückte ihr den Stuhl zurecht und wartete, bis sie Platz genommen hatte. „Sie trinken doch ein Glas Wein mit mir?“

„Ein Glas Ihres preisgekrönten Tropfens?“ Sie sah ihn mit undurchschaubarer Miene an. „Wenn Ihnen der nicht zu schade für mich ist.“

Bernhardo fühlte sich ertappt. Er räusperte sich unbehaglich. „Ich wollte vorhin nicht angeben, es war mir nur wichtig, Ihnen zu verdeutlichen, dass meine Weine sehr erfolgreich sind. Ich habe viel Arbeit investiert, um das zu erreichen.“

„Schon verstanden.“ Sie winkte ab. „Wo befindet sich die Kellerei? Hier im Schloss?“

Bernhardo lachte. „Nein. Aber gar nicht weit von hier. Am Ende der Felder.“

Sie lächelte. „Und Sie sind also Winzer?“

„Ich habe Weinbau, Önologie und Weinwirtschaft studiert.“ Er musste unwillkürlich an Luigi und dessen lapidare Einstellung denken, über die Bernhardo sich immer wieder aufregte. „Leidenschaft allein reicht nicht aus, es braucht viel Wissen und gut erlerntes Handwerk, um als Winzer erfolgreich zu sein. Ich vermute, Luigi hat Ihnen etwas anderes erzählt.“

Sie sah ihn überrascht an und fragte: „Luigi ist also Ihr Bruder?“

„Mein Halbbruder“, erklärte Bernhardo und breitete entschuldigend die Arme aus. „Und Sie sind auf der Suche nach ihm?“

Bernhardo hob sein Glas, und Kelly tat es ihm nach. Er nahm einen Schluck des Riserva und schloss genussvoll die Augen. Er war selbst immer wieder von dem vollen Aroma überrascht und ließ sich den Wein auf der Zunge zergehen.

„Mm, der ist wirklich gut. Sehr gut sogar“, stellte sie fest, nachdem sie gekostet hatte.

Bernhardo lächelte, als er sah, wie genüsslich sie das Bukett aufsog.

„Ich fürchte, ich muss mich für Luigi entschuldigen.“ Er fuhr sich verlegen durchs Haar. „Wissen Sie, Sie sind nicht die erste Frau, die mein Halbbruder hierherbestellt. Ich möchte Sie nicht verletzen, und verzeihen Sie mir, wenn ich es so direkt sage: Luigi ist ein Gigolo, ein Liebhaber schöner Frauen, der aber leider …“

„Moment“, unterbrach sie ihn mit erhobener Hand. „Dass Luigi ein Playboy ist, habe ich mir gedacht. Aber ich bin nicht hier, weil ich ein Rendezvous mit Luigi habe, sondern weil ich meine Cousine finden muss, die mit ihm durchgebrannt ist.“

Er musste lachen.

„Wie schön, dass Sie das dermaßen amüsiert!“ Sie sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an, was eine entzückende Falte auf ihrer Stirn entstehen ließ.

„Scusi.“ Er hob die Hand. „Entschuldigen Sie. Aber ich bin froh, dass Sie nicht auf meinen Halbbruder hereingefallen sind. Er ist nämlich ein windiger Geselle – sagt man das so? –, und ich finde Sie viel zu charmant für ihn.“ Er zwinkerte ihr zu.

„Sie leiten das Weingut zusammen?“, fragte sie, ohne auf seinen Flirtversuch einzugehen.

„Glücklicherweise nicht mehr.“ Bernhardo schüttelte den Kopf. „Luigi ist kein guter Geschäftsmann, und ihm fehlt die Leidenschaft für den Wein.“

„Dafür bringt er massenhaft Leidenschaft für Frauen auf, wie mir scheint“, murmelte Kelly grimmig.

„Und Ihre Cousine ist noch nicht volljährig?“

„Oh doch. Sie ist achtundzwanzig.“ Kelly runzelte die Stirn. „Ich selbst bin zwei Jahre jünger, fühle mich jedoch wie eine alte Gouvernante.“

„Ihre Cousine ist erwachsen.“ Er wurde ernst. „Warum kümmert es Sie, dass sie mit Luigi durchgebrannt ist? Vielleicht will sie gar nicht heiraten.“

„Natürlich will sie das nicht“, rief sie. „Glauben Sie mir, es wäre mir vollkommen recht, wenn sie für immer hier in Italien bliebe. Mit Luigi oder irgendeinem anderen. Aber wenn Helen am Samstag nicht vor den Traualtar tritt, um Steven Malone zu heiraten, verliere ich meinen Job.“

Er sah sie verständnislos an. „Was haben Sie denn für einen seltsamen Job?“

„Helen ist meine Cousine. Lady Helen.“ Ihre zarten Finger spielten mit dem Weinglas. „Und mein Boss ist der Earl of Minetreath. Eigentlich hat mich mein Onkel als Marketingleiterin eingestellt, als er zwei seiner Anwesen für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Aber ich verbringe die meiste Zeit damit, auf seine Tochter aufzupassen.“

„Warum ist Ihrem Onkel denn so wichtig, dass sie heiratet? Sie wäre nicht die erste Tochter aus reichem Haus, die ein flatterhaftes Leben führt.“ Er trank einen Schluck Wein. „Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.“

Sie schüttelte den Kopf. „Helen lässt sich ihre Abenteuer von meinem Onkel bezahlen, und der wiederum hat bei Weitem nicht so viel Geld, wie er gern vorgibt. Was meinen Sie, warum er seine Anwesen zur öffentlichen Besichtigung freigegeben hat?“

Bernhardo nickte. „Verstehe. Und der zukünftige Bräutigam ist vermögend?“

„Sehr. Steven Malone handelt mit Autozubehör. Und Helen bringt ihn in den Adel. Beide haben etwas von der Verbindung, mein Onkel und der Bräutigam.“

„Nur Ihre Cousine nicht“, stellte er fest.

Sie hob die Schultern. Das Kerzenlicht spiegelte sich in ihren Augen, und plötzlich war er nicht mehr in der Lage, den Blick von ihr abzuwenden. Dieser sinnliche Mund, das lange Haar. Er spürte, wie ihn leidenschaftliches Verlangen erfasste, und als sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, musst er tief durchatmen. Wie gut, dass sie am Tisch saßen und das lange Tischtuch seine Erregung verbarg. Er hatte wirklich schon viel zu lange keinen Sex mehr gehabt. Aber diese Frau war mehr als nur wunderschön. Sie wirkte stark und verletzlich zugleich. Er verspürte das Bedürfnis, sie zu beschützen.

Unmerklich schüttelte er den Kopf. Er würde sich nie auf mehr als eine flüchtige Affäre einlassen. Zu deutlich standen ihm die Bilder seiner verzweifelten Mutter vor Augen. Bernhardo liebte seinen Vater, aber was er seiner ersten Frau angetan hatte, war kalt und herzlos gewesen. Auch seine zweite Frau Marianna behandelte er nicht besser. Diese Fehler seines Vaters wollte Bernhardo nicht wiederholen, und aus diesem Grund hatte er sich geschworen, keine feste Beziehung zu führen. Auf diese Weise wurden keine Erwartungen an ihn gestellt, die er nicht erfüllen konnte. Und er liebte sein Leben als Single! Bislang war er mit seiner Einstellung immer gut gefahren.

„Ist Luigi jünger als Sie?“, unterbrach Kelly seine Grübeleien.

Bernhardo atmete tief durch. „Acht Jahre. Er ist das Resultat eines Seitensprungs meines Vaters. Luigis Mutter hat es geschafft, dass mein Vater meine Mutter verlassen hat. Sie ist ein halbes Jahr später gestorben.“ Er presste die Lippen zusammen. Die Erinnerung schmerzte noch immer.

„Oh“, stieß Kelly aus. „Das tut mir leid.“

Er winkte ab. „Das ist alles lange her.“

„Und dieses Weingut gehört Ihnen allein? Oder Ihnen und Luigi gemeinsam?“

„Vor sechs Jahren hat unser Vater das Weingut mitsamt dem Schloss an uns überschrieben“, erklärte er. „Luigi hat sich allerdings nie damit auseinandergesetzt. Er war kaum hier, und dann hat er seine Hälfte des Erbes beim Poker verspielt.“

„Was?“ Kelly, die gerade einen Schluck Wein trinken wollte, setzte das Glas erschrocken ab. „Er hat es beim Glücksspiel verloren?“

Er nickte grimmig. Noch immer wurde er wütend, wenn er daran dachte. „Unser Vater war schrecklich enttäuscht, und mir waren die Hände gebunden. Ich konnte keine Geschäfte mehr abschließen, weil ich plötzlich einen Fremden zum Partner hatte, der obendrein nichts vom Wein verstand und nur an Geld interessiert war. Ich habe dann Luigis Hälfte für eine horrende Summe zurückkaufen können.“

Sie hob die Augenbrauen. „Dann gehört Ihnen das Weingut jetzt allein?“

Er seufzte. „Leider meint Luigi, ich müsse ihm aus geschwisterlicher Loyalität seine verspielte Hälfte zurückschenken. Dabei habe ich ihm, nachdem er alles verloren hatte, sogar ein Apartment im Kastell zur Verfügung gestellt. Aber das reicht ihm nicht.“ Er biss sich auf die Zunge. Warum erzählte er einer vollkommen Fremden diese Familienangelegenheiten?

„Das werden Sie aber nicht tun, oder?“, fragte sie und sah ihn beinahe entsetzt an.

Er lachte. „Nein. Obwohl er mit dieser Forderung nicht allein dasteht. Meine Stiefmutter sähe ihn auch gern wieder als Mitinhaber des Weinguts und Besitzer des Kastells.“

„Lassen Sie sich bloß nicht hinreißen.“ Sie lächelte ihn an. „Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater?“

„Sehr gut, trotz der ständigen Intrigen meiner Stiefmutter.“ Bernhardo hob die Schultern. „Sie hat immer versucht, einen Keil zwischen mich und meinen Vater zu treiben. Ich glaube, sie war der Meinung, ich nähme Luigi etwas weg. Dazu braucht er mich allerdings gar nicht, er schafft es ganz allein, sein Geld zu verspielen und unseren Vater zu enttäuschen.“

„Wie gut, dass Ihr Vater sich nicht von Ihrer Stiefmutter beeinflussen lässt“, sagte Kelly und lächelte ihn an.

„Er hat sie glücklicherweise durchschaut. Und mein Vater ist kaum hier. Er hat eine Wohnung in Rom, wo er sich die meiste Zeit aufhält.“

„Und seine Frau ist hier bei Ihnen?“, fragte Kelly erstaunt.

Bernhardo zog die Augenbrauen hoch. Das war ein ewiges Streitthema zwischen ihm und seinem Vater. Er hatte seinen Vater schon oft gebeten, Marianna mitzunehmen, wenn er nach Rom fuhr. Aber es schien so, als wäre sein Vater froh, wenn er seiner Frau entkam. Die Tage, die er auf dem Weingut verbrachte, wurden immer weniger. Er war seit Monaten nicht mehr hier gewesen.

„Ja, sie muss irgendetwas gegen ihn in der Hand haben, sonst hätte er sich vermutlich längst von ihr getrennt“, sagte er nachdenklich und erwiderte ihren intensiven Blick. Einen Moment lang genoss er das Prickeln, das sich in ihm ausbreitete, und gab sich der Vorfreude auf die Nacht hin, in der er Kelly verführen wollte. Dann wechselte er das Thema. „Und Sie? Warum suchen Sie sich keinen anderen Job?“

Sie zuckte mit den schmalen Schultern. „Ich bin meinem Onkel etwas schuldig. Vor Jahren hat mein Vater einem guten Freund geholfen und für ihn gebürgt.“

„Oje.“ Bernhardo runzelte die Stirn. „Das ist nicht gut gegangen, nehme ich an?“

Sie schüttelte den Kopf und schluckte. Es schien ihr schwerzufallen, darüber zu reden.

„Sie brauchen es mir nicht zu erzählen, wenn Sie nicht wollen“, sagte er mit sanfter Stimme.

„Schon gut. Es … es ist eine schlimme Erinnerung. Meine Eltern haben alles verloren. Sie sind hoch verschuldet.“ Sie schloss einen Moment lang die Augen, bevor sie weitersprach: „Mein Onkel hat damals das Haus meiner Eltern gekauft und lässt sie dort wohnen. Sonst hätten sie in eine Sozialwohnung ziehen müssen. Meine Eltern hängen sehr an ihrem Haus.“

„Das war aber großzügig von Ihrem Onkel.“

Sie runzelte die Stirn. „Er hat es nicht ganz uneigennützig getan. Mein Onkel hat mich angestellt, und die Hälfte meines Lohns geht jeden Monat als Miete an ihn.“

Unwillkürlich fasste er nach ihrer Hand und hielt sie fest. Zart, warm und weich lagen ihre Finger in seinen. „Das ist sehr großzügig von Ihnen Ihren Eltern gegenüber.“

Tränen schimmerten in Kellys Augen, als sie jetzt energisch den Kopf schüttelte. „Meine Eltern waren immer für mich da, wenn ich Hilfe brauchte. Sie haben den falschen Menschen vertraut und waren nun zum ersten Mal selbst auf Hilfe angewiesen. Ich bin froh, dass ich die Möglichkeit habe, sie Ihnen zukommen zu lassen.“

„Aber das bedeutet doch nicht, dass Sie sich nicht einen anderen Job suchen und Ihren Onkel dann trotzdem bezahlen können.“ Er streichelte zart über Kellys Hand.

„Er würde dann die Miete erhöhen. Ich habe es schon versucht.“ Sie seufzte.

„Er erpresst Sie also?“, fragte er entsetzt. Wie konnte jemand so kaltblütig sein, das Leid anderer Menschen dermaßen auszunutzen?

„Es geht ihm um Helen“, erklärte Kelly und lächelte traurig. „Helen ist ein ziemliches Früchtchen, und ich bin sicher, sie leidet selbst oft darunter. Ich glaube, mein Onkel möchte nur, dass sie endlich zur Ruhe kommt. Wenn sie mit Steven verheiratet ist, wird der ihrem ausschweifenden Lebenswandel bestimmt einen Riegel vorschieben. Das hofft mein Onkel zumindest. Aber bis dahin muss noch jemand auf sie achtgeben, und wer würde diese Eskapaden mitmachen und ihr durch die ganze Welt folgen? Nur jemand, den er erpressen kann, jemand wie ich. Er ist froh, dass er mich in der Hand hat und ich für ihn …“

In diesem Moment klingelte ihr Telefon, das sie neben sich auf den Tisch gelegt hatte. Sie zuckte zusammen, als sie die Nummer des Anrufers auf dem Display erkannte. Tränen liefen über ihre Wangen. „Oh nein, mein Onkel! Jetzt ist alles aus.“

2. KAPITEL

Kelly stand auf und ging mit wackligen Beinen hinaus in die Eingangshalle. Plötzlich war ihr übel. Ihr Hals war trocken, obwohl sie eben noch den köstlichen Wein getrunken hatte. Ihre Finger zitterten, als sie das Telefonat annahm.

„Kelly, wo steckt ihr denn?“, schnauzte die Stimme des Earls durchs Telefon.

Kelly wischte sich die Tränen von den Wangen und schloss einen Moment lang die Augen, dann erklärte sie: „In Italien.“

„Das weiß ich!“ Der Ton ihres Onkels war schneidend, als er fortfuhr: „Ich versuche Helen seit Stunden zu erreichen. Hol sie mir sofort ans Telefon!“

Oh nein! Sie dachte fieberhaft nach. „Sie … sie kann nicht ans Telefon kommen, weil … sie im Pool ist.“

„Helen? Die habe ich noch nie schwimmen sehen“, brummte ihr Onkel. „Und es ist gleich neun.“

„Der Tag war heiß“, improvisierte Kelly.

„Na schön, sag ihr, dass Steven sie am Montag, also übermorgen, in Heathrow am Flughafen abholt. Er will mit ihr auf eine Charity-Gala. Sorg dafür, dass sie was Ordentliches anhat. Warte mal.“ Kelly hörte gedämpfte Stimmen im Hintergrund. Dann war ihr Onkel wieder am Telefon. „Und Steven möchte sie gleich noch sprechen. Sag ihr bitte, sie soll mich zurückrufen, sobald sie aus dem Pool ist.“

Kelly legte auf und ließ sich auf die unterste Stufe der Treppe sinken. Sie würde nicht umhinkommen, ihrem Onkel Helens Verschwinden zu beichten. Hoffentlich feuerte er sie nicht auf der Stelle.

„Kelly?“ Bernhardo erschien in der Tür zum Esszimmer „Ist alles in Ordnung? Wie ist das Gespräch gelaufen?“

„Schrecklich. Er will, dass Helen ihn heute Abend noch zurückruft“, erklärte sie schluchzend.

Bernhardo ging vor ihr in die Hocke. Er streckte seine Hand aus und berührte sanft Kellys Wange. „Ich wünschte, ich könnte Ihnen irgendwie helfen.“

Kelly verlor sich einen Moment lang in seinem Blick.

Plötzlich nahm sie aus dem Augenwinkel einen dunklen Schatten wahr. Sie blickte sich um und fuhr zusammen. In der hinteren Ecke der Eingangshalle stand jemand. Erschrocken sprang Kelly auf.

„Wer ist da?“, rief sie verunsichert.

„Wer ist das?“, fragte eine dunkle Stimme mit starkem Akzent wie ein Echo zurück. Dann trat eine Frau ins Licht.

Kelly betrachtete die ältere Dame, die das dunkle Haar zu einem strengen Dutt zusammengebunden hatte. Ihre dürre Gestalt steckte in einer schwarzen Armani-Hose, ein dunkles Pelzcape lag um ihre Schultern. Der einzige Farbtupfer waren ihre grell rot geschminkten Lippen.

„Marianna!“, Bernhardos Stimme hatte einen ärgerlichen Ton angenommen. „Hast du uns belauscht?“

„Rede nicht so mit deiner Mutter“, zischte die Frau und verzog ihren Mund abfällig. Dann deutete sie auf Kelly. „Was will sie hier?“

„Gar nichts“, antwortete Kelly und hatte plötzlich eine Gänsehaut. „Ich suche eigentlich Luigi. Er ist mit meiner Cousine, Lady Helen, verschwunden.“

„Sie suchen meinen Sohn?“ Ihre Miene hellte sich auf. „Er ist mit einer Lady auf und davon?“

Kelly nickte.

„So? Mit einer echten englischen Lady?“ Die Frau schien einen Moment lang nachzudenken. Dann sagte sie: „Wenn Sie mir sagen, was Sie von ihm möchten, kann ich Ihnen eventuell helfen.“

„Wirklich?“ Kelly sah sie skeptisch an. Warum wollte die Frau ihr helfen? Die Dame war ihr unsympathisch, und doch war ihr Auftauchen ein winziger Hoffnungsschimmer. Sie hatte nur noch den morgigen Tag, um Helen zu finden. Übermorgen mussten sie sich schon früh auf den Weg zum Flughafen machen, da würde sie Helen nicht mehr suchen können. „Das wäre großartig.“

„Also? Warum suchen Sie nach Luigi?“, wiederholte die Frau ihre Frage.

So knapp wie möglich berichtete Kelly von Helen und erzählte, wie wichtig es für sie war, dass sie sie fand und nach England zurückbrachte.

„Ich werde Luigi anrufen“, sagte die Frau mit ausdrucksloser Miene. „Er hört immer auf mich.“ Damit wandte sie sich ab und verschwand in der Tiefe des Hauses.

Kelly strich sich über die Arme. Plötzlich war ihr kalt. Was für eine seltsame Erscheinung Bernhardos Stiefmutter war.

„Sie will mir helfen“, stellte Kelly noch immer überrascht und verunsichert fest.

Bernhardo, der die ganze Zeit schweigend neben ihr gestanden hatte, zog die Augenbrauen zusammen. „Marianna tut nichts ohne Hintergedanken.“

„Sie wirkt unheimlich.“ Kelly schüttelte sich. „Aber wenn sie Luigi und Helen findet und sie morgen tatsächlich hier auftauchen, dann wäre das meine Rettung. Bis dahin muss ich nur irgendwie meinen Onkel hinhalten.“

Er lächelte. „Dann warten wir ab, was morgen passiert. Aber jetzt sollten wir endlich essen.“

Bernhardo legte ihr sanft seine Hand in den Rücken und führte sie zurück ins Esszimmer. Inzwischen war es dunkel geworden, und das Licht der Kerzen tauchte den Raum in warmes, schummriges Licht. Kelly nahm den Duft seines Rasierwassers wahr, der sich mit dem Aroma des Basilikums auf dem Tisch vermischte. Seine Nähe rief ein Prickeln in ihr hervor, und sie spürte die Wärme seiner Hand durch den dünnen Stoff ihres Kleides hindurch. Als sie ihren Platz erreicht hatten, strichen seine Finger zart über ihren Oberarm. Sie setzte sich und spürte die Berührung noch lange auf ihrer Haut.

Um sich von Bernhardo abzulenken, fragte sie: „Wie alt ist dieser Raum? Die Wandmalereien scheinen aus dem siebzehnten Jahrhundert zu stammen, richtig?“

Er sah sie überrascht an. „Sie haben recht. Dieser Teil des Gebäudes ist der älteste und geht bis ins sechzehnte Jahrhundert zurück. Die Wandmalereien stammen vermutlich von einem holländischen Maler aus den 1660er-Jahren. Ich habe sie erst vor zwei Jahren restaurieren lassen.“

Kelly lächelte. „Wenn ich morgen noch Zeit habe, muss ich sie mir unbedingt bei Tageslicht anschauen.“

„Wie kommt es, dass Sie so viel von Malerei verstehen?“, fragte Bernhardo.

Kelly errötete und zuckte mit den Schultern. „Das tue ich gar nicht. Ich habe nur vor Kurzem noch eine Ausstellung zu diesem Thema in New York besucht.“

Bernhardo hob anerkennend die Augenbrauen. „Haben Sie dort Urlaub gemacht?“

Kelly schüttelte den Kopf. „Ich war als Helens Begleitung dort. Ich habe sie da sturzbetrunken aus einer Bar retten müssen. Glauben Sie mir, mit Freizeit hat das nicht viel zu tun.“

Bernhardo schenkte ihnen Wein nach. Während sie sich die regionalen Köstlichkeiten schmecken ließen, begegneten sich ihre Blicke immer wieder. Bildete sie es sich nur ein, oder lag dasselbe Verlangen in seinem Blick, das in ihr selbst brodelte? Bernhardo erzählte von den Restaurierungsarbeiten am Kastell, die er hatte durchführen lassen. Anscheinend gab es noch mehr alte Wandgemälde und Deckenfresken. Zu gern hätte Kelly sich das Schloss in aller Ruhe angesehen. Schließlich gab es nicht oft Gelegenheit, ein so altes Kastell in Privatbesitz besichtigen zu dürfen. Aber sie würde morgen, wie so oft, keine Zeit für eigene Freizeitaktivitäten haben, sondern musste versuchen, ihre Cousine zu finden.

„Möchten Sie etwas Besonderes sehen?“ Er zwinkerte ihr zu und stand auf.

Kelly sah ihn überrascht an. „Noch etwas? Das ganze Kastell ist außergewöhnlich.“ Sie sind außergewöhnlich, fügte sie im Stillen hinzu, ärgerte sich aber sofort wieder über den Gedanken. Wieso reichten ein romantisches Abendessen und ein blendend aussehender Mann, um sie so schnell ins Schwärmen geraten zu lassen? Schließlich hatte er sich bei ihrer Ankunft heute Nachmittag nicht gerade galant gezeigt.

„Kommen Sie.“ Er bot ihr seinen Arm an. „Ich werde Ihnen meinen zweitliebsten Lieblingsplatz zeigen.“

Sie hakte sich bei ihm unter und sah ihn fragend an. „Nur Ihren zweitliebsten Lieblingsplatz?“

Er lachte. „Wenn Sie brav sind, zeige ich Ihnen morgen meinen liebsten Lieblingsplatz.“

„Sie erpressen mich?“ Sie grinste.

„Vielleicht.“ Er fasste mit seiner freien Hand nach ihrer und drückte sie kurz. „Nein, im Ernst. Mein absoluter Lieblingsplatz in diesem Gebäude muss bei Tageslicht besucht werden.“

„Jetzt machen Sie mich aber neugierig“, antwortete Kelly und ließ sich von ihm in einen langen Flur führen.

Sie verlor schon bald die Orientierung, als er sie über endlose Korridore und kleine Treppen in einen anderen Teil des Kastells führte. Vor einer breiten Eichenholztür blieb er stehen und sah sie verschwörerisch an. „Sie sind der erste Gast, den ich mit hierhernehme. Normalerweise ist es mein privater Rückzugsort.“

„Oh“, stieß Kelly aus und überlegte, ob sie ihm glauben sollte. Vielleicht erzählte er das jeder Frau, die er hier beherbergte? Kelly schüttelte stumm den Kopf. Dazu hatte Ben sie also gebracht, sie vertraute keinem Mann mehr.

Inzwischen hatte Bernhardo ihren Arm losgelassen und die Tür geöffnet. Kelly betrat einen kleinen Vorraum und stand jetzt vor einer Glaswand. Dahinter erkannte sie verschiedene Pflanzen. „Ein Gewächshaus?“

„Es ist mehr als das.“ Bernhardo öffnete eine Glastür, und sie betraten das große Glaskonstrukt. Er schaltete das Licht ein. „Es ist mein Atelier.“

„Sie malen?“ Kelly sah ihn überrascht an.

Er breitete die Arme aus und lächelte. „Ich male nur als Ausgleich zu meiner Arbeit als Winzer. Aber es entspannt mich. Ich kann mich in die Farben, in die Schönheit der Natur fallen lassen.“

„Das ist …“ Kelly überlegte. „Sie stecken voller Überraschungen.“ Ihr Blick glitt durch den großen Raum, der wie ein Wintergarten an das Kastell gebaut worden war. Er war vollgestellt mit Pflanzen. Beete waren angelegt, in denen duftende Rosen blühten. Kelly konnte Orchideen und Sonnenblumen erkennen. Dazwischen führten Kieswege hindurch. In der Mitte des großen Glashauses befand sich eine Terrasse. Hier standen Staffeleien, Tische mit Farbtöpfen, Aquarellkästen und Ölfarben. Jetzt fiel Kelly auch der Terpentingeruch auf, der sich mit den Blütendüften vermischte.

Der Ort war besonders, das spürte Kelly. Obwohl es draußen dunkel war, konnte sie die Schönheit des Cilento erahnen, die sich vor dem Atelier ausbreitete. Wie ein Tropengewitter prasselte der Regen gegen die Scheiben. Die Blumen und Grünpflanzen um sie herum unterstrichen die exotische Atmosphäre.

„Die Pflanzen brauche ich zum Malen.“ Bernhardo wirkte beinahe verlegen. „Kaffee?“

Sie sah sich erstaunt um und entdeckte eine Espressomaschine, die zwischen den Farben und Tuben stand.

Er machte sich an der Maschine zu schaffen.

„Gern.“ Sie nahm in einem der Korbstühle Platz. Ihr Blick fiel auf ein Bild, an dem Bernhardo aktuell zu arbeiten schien. Es stand auf einer der Staffeleien und zeigte ein Vögelchen beim Baden in einer Pfütze. Im Hintergrund erhoben sich die Berge des Cilento.

„Das Gemälde ist wunderschön.“ Sie stand auf und trat näher heran. Jede Feder war detailliert gemalt, der Schnabel leuchtete orangerot, und Kelly hatte den Eindruck, das Tier käme gleich aus der Leinwand geflogen.

Bernhardo trat neben sie und betrachtete sein Werk mit schiefgelegtem Kopf. „Gefällt es Ihnen? Sie sind die Erste, die eins meiner Bilder sehen darf. Ich … ich male nur für mich selbst.“

„Wirklich?“ Kelly sah ihn an. „Warum? Das hier ist großartig. Wenn all Ihre Bilder so sind, könnten Sie damit bestimmt viel Geld verdienen.“

„Ich glaube, das will ich gar nicht.“ Er zögerte. „Ich male nur für mich, um mich zu entspannen, um Dinge festzuhalten, die mich beschäftigen. Wenn ich meine Bilder verkaufen oder auch nur ausstellen würde, dann würde ich für andere malen. Und dann würde es mich nicht mehr entspannen, es wäre nicht mehr nur meine ganz eigene private Zuflucht. Verstehen Sie das?“

Kelly dachte einen Moment nach. „Ich glaube schon.“

„Ich habe mich schon als Kind in die Malerei geflüchtet. Nachdem meine Mutter tot war und Marianna mich … nun ja, es war teilweise schwer, sie als Stiefmutter zu haben.“

Er reichte ihr die Espressotasse und nahm einen Zeichenblock und einen Bleistift. „Darf ich?“

Kelly nickte. „Ist es nicht schon zu dunkel, um zu malen?“

„Ich mache nur eine Zeichnung.“ Mit der Miene in seiner Hand huschte er über das Papier. Er arbeitete konzentriert. Immer wieder sah er auf. Sein Blick tastete ihr Gesicht ab und streichelte es zugleich. Schließlich hielt er inne und warf einen letzten prüfenden Blick auf seine Zeichnung. Dann reichte er ihr den Block.

„Wow!“ Kelly starrte auf das Bild. Er hatte sie genau eingefangen. Die hohen Wangenknochen, die Augen, das wellige Haar, das ihr über die Schultern fiel. Sogar die wenigen Sommersprossen um ihre Nase herum hatte er gezeichnet. „Das ist fantastisch geworden.“

„Ich würde sehr gern ein Ölbild von Ihnen anfertigen“, gestand er. „Sie tragen die perfekten Farben in sich. Ihr rotblondes Haar, die grünen Augen …“ Er brach verlegen ab, und Kelly musste lächeln.

„Ich würde mich sehr gerne von Ihnen in Öl malen lassen“, sagte sie leise, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. „Aber leider habe ich keine Zeit, weil ich unbedingt meine Cousine nach England zurückbringen muss.“

„Ein Jammer.“ Er lächelte. Dann streckte er die Hand aus und nahm ihr den Block wieder ab. „Danke, dass ich Sie zumindest zeichnen durfte. Jetzt habe ich eine Erinnerung an Sie.“

Kellys Bauch kribbelte, und schweigend trank sie ihren Espresso. Dieser Mann war deutlich vielschichtiger, als sie anfangs gedacht hatte. Sie war tief beeindruckt davon, wie er mit wenigen Strichen ein so lebendiges Porträt von ihr hatte entstehen lassen.

Sie stellte ihre leere Tasse auf einen der Tische neben sich. „Wo haben Sie gelernt, so zu malen?“

„Ich habe es mir selbst beigebracht.“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Erst später habe ich ein paar Kurse besucht.“

„Und was machen Sie mit all den Bildern?“ Kelly sah sich um. Hier waren jedenfalls nicht viele Leinwände zu sehen.

Er lachte. „Das ist der Vorteil eines großen Hauses. Ich habe sie in den Gästezimmern aufgehängt und auf dem Dachboden gelagert.“

„Schade, dass Sie sie nicht ausstellen wollen.“ Sie hob die Hand, um ihn daran zu hindern, ihr zu widersprechen. „Ich habe verstanden, was Sie dazu bewegt, und doch frage ich mich, ob nicht mehr dahintersteckt.“

„Was meinen Sie?“ Er sah sie erstaunt an.

„Nach allem, was Sie von sich und Ihrer Kindheit erzählt haben, glaube ich, dass Sie nicht viel Zuspruch erhalten haben. Und zu malen, ist eine sehr persönliche Sache, man gibt immer etwas von sich selbst preis.“

„Durchaus“, er nickte. „Ich gebe meinen Blick auf die Welt preis.“

„Genau“, sie lächelte. „Und das macht Sie angreifbar. Sobald Sie Ihre Bilder anderen Menschen zeigen, setzen Sie sich automatisch deren Kritik aus.“

„Sicher“, antwortete Bernhardo und breitete die Arme aus. „Aber das bin ich gewohnt. Auch meine Weine stelle ich der Öffentlichkeit vor.“

„Aber da sind mehrere Faktoren beteiligt“, warf Kelly ein. „Die Trauben, das Wetter, Ihre Mitarbeiter … der Wein ist nicht so intim und persönlich wie Ihre Bilder.“

„Und Sie meinen, ich würde die Kritik an meinen Bildern nicht vertragen?“ Er betrachtete sie nachdenklich.

Kelly hob nur die Schultern, ohne etwas zu sagen.

„Ich habe tatsächlich Angst vor den Reaktionen der Leute“, gab er schließlich zu, und seine Augen ruhten auf ihr. „Es ist nicht die Furcht vor einer Wertung, ich könnte damit leben, wenn jemand meine Bilder kritisieren würde. Nein, es ist eher das Gefühl, mich auszuliefern. Ich gebe meine Seele preis, meine intimsten Gedanken, und ich könnte nicht ertragen, wenn andere darüber reden, vielleicht darüber spotten oder lachen würden.“

Kelly nickte.

„Das haben Sie gut erkannt.“ Noch immer betrachtete er sie mit seinem nachdenklichen Blick. „Als ich mich gerade entschieden hatte, Ihnen mein Atelier zu zeigen, wusste ich, dass Sie mich und meine Kunst verstehen würden.“

Sie sah wieder zu der Leinwand hinüber. „Sie malen großartig.“

Am liebsten wäre sie noch die ganze Nacht hier sitzen geblieben, aber sie dachte an Helen und an ihren Onkel. Plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie seit Stunden kaum einen Gedanken an ihre Cousine verschwendet hatte. Dabei war sie doch nicht zum Vergnügen hier.

„Vielen Dank für den schönen Abend.“ Kelly stand abrupt auf. „Es war ein schrecklicher Tag, der überraschend angenehm geendet hat.“

Bernhardo erhob sich ebenfalls. Er sah ihr direkt in die Augen, und einen Moment lang war sie nicht in der Lage, ihren Blick von ihm abzuwenden. „Ich danke Ihnen für die zauberhafte Gesellschaft und für den Denkanstoß gerade.“ Er zwinkerte. „Ich begleite Sie noch hinauf.“

Er reichte ihr wieder seinen Arm, und sie ließ sich bereitwillig von ihm durch das dunkle, stille Kastell führen. Als sie in die Halle kamen, fröstelte Kelly. Hier war es deutlich kühler als in dem warmen Atelier. Sie sah sich verstohlen um. Plötzlich hatte sie wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie konnte jedoch nichts Auffälliges in der Eingangshalle erkennen. Vermutlich rührte das Gefühl noch von der unheimlichen Begegnung mit Marianna her, die vorhin ihr Telefonat belauscht hatte. Schweigend stiegen sie nebeneinander die Treppe hinauf. Als sie Kellys Zimmer erreicht hatten, drehte sie sich in der Tür zu Bernhardo um.

„Ich …“ Sie verstummte, als sie spürte, wie nah er war. Der süße Duft seiner Haut stieg ihr in die Nase, und sie spürte seinen Blick. Seine Lippen wirkten weich und einladend.

„Kelly“, murmelte er. Sie konnte seinen heißen Atem spüren.

Sie war gefangen von seinem Blick. Sie dachte an seine Hände, die sie so mühelos gezeichnet hatten. Was konnten sie wohl noch mit ihr anstellen? Der anstrengende Tag, die Sorgen, der Wein und das wunderbare Essen hatten sie vollkommen durcheinandergebracht. Sie war heute einem Gefühlschaos nach dem anderen ausgesetzt worden, und in diesem Moment fragte sie sich, was sie noch zu verlieren hatte. Bernhardo war eine Versuchung. Warum sollte sie nicht ein Mal unvernünftig sein? Sie wischte die Erinnerungen an den Schmerz nach der unschönen Trennung von Ben fort und bewegte sich einen Zentimeter auf Bernhardo zu. Sofort kam er ihr entgegen, und plötzlich spürte sie die Wärme seiner Lippen auf ihren.

Kelly konnte nicht anders, als diesen Kuss zu erwidern. Sie schloss die Augen und seufzte leise, als er mit seinen Händen sanft an ihren Oberarmen entlangstrich. Diese Hände, die so beeindruckende Kunstwerke schaffen konnten. Vorsichtig umspielten ihre Zungen einander. Kelly streckte ihre Arme aus und zog ihn näher an sich. Sämtliche Vorsätze, nie wieder am ersten Abend mit einem Mann ins Bett zu gehen, waren von einer Sekunde auf die andere vergessen, als sie das Hemd aus seinem Hosenbund zog und unter den leichten Stoff fuhr. Sie stöhnte auf, als sie die weiche Haut über seinen festen Muskeln ertastete. Inzwischen hatte Bernhardo ihr Kleid hochgerafft, und er streichelte über ihren nackten Rücken. Leidenschaftlich liebkoste er ihre Haut, zögernd tastete er sich weiter vor, bis er den Rand ihres Slips erreichte. Sie stöhnte leise, als sie seine warme Hand auf ihrem Po spürte. Während er sie ein wenig fester an sich drückte, fühlte sie seine Erektion deutlich durch den dünnen Stoff seiner Hose hindurch. Sein Mund wanderte an ihrem Hals entlang bis zu den sanften Rundungen ihrer Brüste.

„Kelly“, stöhnte er und hob sie hoch, als wöge sie nicht mehr als ein Vogel. Er trug sie zum Bett, und sie sank in die Kissen. Im nächsten Moment lag er auf ihr, und ihre Lippen verschmolzen erneut miteinander. Kelly ließ sich in diesen Kuss fallen und vergaß für einen Augenblick die Welt um sich herum. Ihr Atem beschleunigte sich, als Bernhardo ihr Kleid hochschob und ihren BH öffnete. Sein Mund fuhr über ihren Bauch, zu ihren Brüsten, und seine Zunge umspielte eine ihrer Brustwarzen. Kelly keuchte auf, als er sie schließlich zwischen den Beinen streichelte, und sie drängte sich ihm entgegen.

In diesem Moment klingelte ihr Telefon, das sie achtlos auf die Kommode neben der Tür gelegt hatte.

Bernhardo hielt inne. „Geh nicht ran.“

Seine Lippen beschäftigten sich wieder mit Kellys Körper.

Sie schloss die Augen und versuchte, sich Bernhardos Berührungen erneut hinzugeben. Hatte sie jemals einen Mann so sehr begehrt?

Nein! Sie richtete sich auf. Was tat sie denn da? Morgen würde sie es bereuen, wenn sie mit ihm schlief. Sie würde sich nach ihm sehnen und sich entsetzlich einsam fühlen.

„Warte“, sagte sie und stemmte die Hand gegen seine Brust, um ein wenig Abstand zwischen sie zu bringen. „Ich kann das nicht.“

„Was?“ Er sah irritiert auf. Eine dunkle Haarsträhne hing ihm in die Stirn.

„Ich bin eine Versagerin, was Affären angeht“, gestand sie ihm und rutschte bis an die Bettkante.

Er richtete sich auf. „Es ist nur Sex, Kelly.“

Sie stand auf. „Ich würde mich morgen schlecht fühlen.“

Er schüttelte den Kopf. „Kelly, du bist atemberaubend und wunderschön. Aber du kannst sicher nachvollziehen, dass ich dir keinen Verlobungsring schenke, nur weil ich mit dir schlafen möchte.“

Sie spürte, wie sie errötete. „Das verlange ich doch gar nicht. Wir kennen uns kaum und haben leider auch keine Zeit, uns kennenzulernen. Ich weiß nicht einmal, ob du nicht irgendwo eine Freundin hast oder …“

„So einer bin ich nicht.“ Er hob die Hand. „Ich wäre niemals mit einer Frau zusammen, die ich nicht respektiere. Und das würde es mir verbieten, sie zu betrügen.“

Kelly nickte. Erleichterung breitete sich in ihr aus.

„Aber ich genieße mein Leben als Single.“ Er sah sie forschend an.

Sie schluckte und zwang sich, seinen Blick zu erwidern. „Und für mich ist unverbindlicher Sex nichts.“

Er seufzte. „Es sieht so aus, als würden wir in der Hinsicht nicht zusammenpassen, oder?“

Kelly schüttelte traurig den Kopf.

„Schade, Kelly.“ Seine Fingerspitzen berührten zärtlich ihre Wange. Er betrachtete sie voller Verlangen.

Es wäre so einfach, diese Nacht in seinen Armen zu verbringen. Aber sie dachte an die Stunden der Einsamkeit, die unweigerlich folgen würden, die Erinnerungen an Bernhardo, die ihr das Herz zerreißen würden.

Langsam stand er auf, nahm sein Hemd und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.

Kelly ließ sich aufs Bett fallen und vergrub ihr Gesicht in den Kissen.

Bernhardo blieb vor Kellys Tür stehen. Was war da gerade geschehen? Er war berauscht von diesem Abend, von dieser Frau, und sie hatte sich so perfekt in seinen Armen angefühlt. Aber dann hatte sie ihn abgewiesen. Das war ihm noch nie passiert, normalerweise war er immer erfolgreich. Nicht, dass er es mit Luigi aufnehmen konnte, was die Quantität betraf, aber wenn er sich hin und wieder verabredete und ihm eine Frau gefiel, landeten sie früher oder später im Bett.

Natürlich gab es von Zeit zu Zeit Erwartungen an ihn, die verstand er aber zu dämpfen, indem er ehrlich mit der Situation umging. Er machte weder falsche Versprechungen, noch traf er sich mehr als einmal mit ein und derselben Frau. Bernhardo liebte diese Unverbindlichkeit, aber heute bereute er beinahe, Kelly die Wahrheit gesagt zu haben. Er war schier verrückt vor Verlangen nach ihr und wollte zu gern wissen, wie es war, sich in ihr zu verlieren. Kelly war anders als sämtliche Frauen, die er bisher getroffen hatte. Er liebte diese Zartheit und gleichzeitige Entschlossenheit, die sie ausstrahlte.

Während er sein Hemd überzog, sah er gedankenverloren in die Dunkelheit. Er zuckte zusammen, als er eine Bewegung wahrnahm.

„Wer ist da?“, fragte er mit lauter Stimme.

Einen Moment lang blieb alles still, dann trat Marianna ins gespenstische Mondlicht, das durchs Fenster fiel.

„Was machst du hier?“, fuhr Bernhardo sie an. „Beobachtest du mich?“

Sie hob eine ihrer dünnen, grotesk nachgezogenen Augenbrauen. „Nicht dich, sondern die Kleine, mit der du dich gerade vergnügt hast.“

„Ich habe mich nicht …“, er brach ab. Vor Marianna musste er sich nicht rechtfertigen.

„Es ist gefährlich, Fremde im Haus zu haben.“ Sie wandte sich Richtung Treppe. „Besonders nachts.“

„Lass das mal meine Sorge sein.“ Bernhardo atmete tief durch, um die Wut auf seine Stiefmutter zu unterdrücken. „Außerdem habt ihr einen abgetrennten Wohnbereich. Du kannst die Tür verschließen und bist in Sicherheit.“

„Denkst du, es ist mir gleichgültig, was mit dem Besitz meines Sohnes geschieht?“, fragte sie ihn über die Schulter hinweg. Sie hatte schon fast die Treppe erreicht.

„Das hier ist nicht mehr Luigis Besitz“, erklärte Bernhardo, der keine Lust hatte, schon wieder dieses Thema mit ihr zu diskutieren.

„Im Moment nicht“, rief sie und machte eine umfassende Handbewegung. „Aber bald wird ihm das hier alles wieder gehören.“

Bernhardo ballte die Hand zu einer Faust und sah ihr noch einen Moment lang nach. Wieso ärgerte er sich überhaupt über Marianna? Am besten wäre es, sie gar nicht ernst zu nehmen. Trotzdem hatte er ein unheilvolles Gefühl, als er in sein Zimmer ging. Er zog sich aus und legte sich ins Bett. Seine Gedanken wanderten wieder zu Kelly und zu dem gemeinsamen Abend und den leidenschaftlichen Berührungen, die sie vorhin ausgetauscht hatten. Wenn nur das Handy nicht geklingelt hätte!

Er drehte sich auf die Seite und überlegte, ob er sich das wirklich wünschte. Denn wenn sie nicht unterbrochen worden wären, dann hätten sie miteinander geschlafen. Kelly hätte keine Gelegenheit gefunden, ihm vorher zu sagen, was sie empfand. Und dann wäre es zu spät gewesen, er hätte sie verletzen müssen, auch wenn er es nicht wollte. Er spürte einen Stich im Magen, als er sich Kellys Enttäuschung vorstellte. Das hätte er kaum ertragen können, sie morgen so gehen zu lassen. Nein, alles war gut so, wie es gekommen war. Morgen konnte sie nach Rom fahren und würde ihn bereits vergessen haben, wenn sie übermorgen in den Flieger nach London stieg.

Er wälzte sich auf die andere Seite und versuchte zu schlafen. Aber immer wieder tauchte Kellys Gesicht vor ihm auf. Zu wissen, dass sie zwei Zimmer entfernt von ihm schlief und er sie nicht haben konnte, erregte ihn so sehr, dass es fast wehtat. Gegen Morgen fiel er endlich in einen unruhigen Schlaf, aus dem er wenig später schon wieder aufschreckte, als er Schritte auf dem Flur hörte. Kelly! Er strich sich übers Gesicht und quälte sich aus dem Bett. Nach einer langen Dusche fühlte er sich besser.

Als er in die Küche trat, saß Kelly am Tresen und plauderte mit seiner Köchin, die ein schreckliches Englisch sprach. Ihre Blicke begegneten sich, und Bernhardos Herz schlug unwillkürlich schneller. Kellys Wangen überzog ein leichter roter Hauch, was Bernhardo ganz entzückend fand.

Sie schlug die Augen nieder, als sie ihm einen guten Morgen wünschte.

Er lächelte ihr zu und machte sich einen Espresso.

Als er sich mit der Tasse neben sie stellte, fragte er: „Hast du gut geschlafen?“

„Mir geht zu viel im Kopf herum.“

„Mir auch“, er trank seinen Espresso aus. „Hattest du schon eine Tasse? Möchtest du noch?“

„Ich bin bestens versorgt worden“, lachte sie. „Deine Köchin hat mir Orangensaft, Weißbrot und Kaffee serviert. Die Orangen stammen von dem Baum auf dem Vorplatz.“

Er nickte. Eine Weile schwiegen sie. Dann holten sie gleichzeitig Luft.

„Hast du …?“

„Danke für …“ Kelly hielt inne. „Du zuerst.“

„Na schön.“ Er lachte verlegen. „Ich wollte mich nur erkundigen, ob du schon etwas von Helen gehört hast.“

Sie schüttelte den Kopf. „Aber mein Onkel hat schon dreimal versucht, mich zu erreichen. Er wird inzwischen mächtig sauer sein.“

„Wenn du Helen morgen bei ihrem Verlobten ablieferst, wird er dir verzeihen“, versuchte Bernhardo, sie zu beruhigen.

„Ich hoffe es.“ Sie strich gedankenverloren einen Krümel vom Tresen. „Wenn ich sie bis dahin wirklich eingefangen habe.“

„Komm mit, wir werden Marianna suchen.“ Er deutete zur Küchentür. „Vielleicht hat sie inzwischen Luigi erreicht, und wir erfahren mehr.“

Kelly nickte und sprang vom Barhocker.

„Was hattest du vorhin sagen wollen?“, fragte er sie, während sie den langen Flur an den Hauswirtschaftsräumen entlang in Richtung Eingangshalle gingen.

„Ich wollte dir für gestern Abend danken.“ Sie zögerte. „Für deine Ehrlichkeit.“

Er nickte und trat in die Halle. „Das ist doch selbstverständlich.“

„Na ja, ich glaube, die wenigsten Männer hätten …“ Sie hielt erschrocken inne.

Bernhardo folgte ihrem Blick. Marianna stand am Fuß der Treppe, mit ihrer undurchdringlichen Miene, wie immer in Schwarz gekleidet.

„Ich habe Luigi erreicht“, sagte sie mit tonloser Stimme. „Er wird heute Mittag hier sein.“

„Oh“, stieß Kelly aus. „Und Helen?“

Ein leichtes Lächeln legte sich auf Mariannas Gesicht. „Machen Sie sich auf eine Überraschung gefasst.“

3. KAPITEL

Kelly starrte der seltsamen Frau nach, die wieder in einem der dunklen Flure des Kastells verschwand. Sie atmete tief durch.

„Das ist … das ist unglaublich.“ Sie drehte sich zu Bernhardo um und machte einen Luftsprung. „Helen kommt. Ich habe sie gefunden.“

Er lächelte nachdenklich. „Marianna hat sie gefunden.“

„Du traust deiner Stiefmutter nicht, habe ich recht?“, fragte Kelly und lachte vor Erleichterung.

Bernhardo machte eine wegwerfende Handbewegung. „Was tut das schon zur Sache? Wichtig ist, dass Helen kommt. Aber ich freue mich erst für dich, wenn sie wirklich hier ist.“

„Meinst du, Marianna hat uns angelogen?“ Kelly wurde plötzlich kalt. Sie hatte sich so gefreut, wenn sich das als Trugschluss herausstellen würde, dann wusste sie nicht, wie sie Helen bis morgen Mittag noch finden konnte.

„Sie kommt bestimmt“, erklärte Bernhardo. „Und jetzt sollten wir das Verdeck deines Mietwagens öffnen, damit die Sonne es von innen trocknen kann.“

Kelly sah zum Eingang. Das hätte sie beinahe vergessen.

Als sie vor die Tür traten, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Kelly gab Bernhardo den Autoschlüssel und sah ihm dabei zu, wie er das Verdeck zurückfuhr.

„Was hältst du von einer kleinen Wanderung durch die Weinberge“, fragte er, als er wieder bei ihr war. „Ich könnte dir zeigen, wo die Trauben wachsen, die du gestern als Wein genossen hast.“

„Sehr gern.“ Kelly erwiderte seinen Blick, und einen Moment lang spürte sie wieder seine Lippen auf ihren und seinen Körper, der sich an sie drückte. Bei dieser Erinnerung überlief sie ein angenehmer Schauer. Sie atmete tief durch und folgte ihm um das Kastell herum. Schmetterlinge flatterten im Sommerwind, und das Summen von Hummeln drang an ihr Ohr. In der Nähe plätscherte ein Bach.

„Musst du heute gar nicht arbeiten?“, fragte sie ihn.

Er lachte. „Ich habe gute Mitarbeiter. Und für dich nehme ich mir gern frei.“

„Ein Vorteil, wenn man sein eigener Chef ist, vermute ich.“ Kelly erwiderte sein Lachen.

Er schüttelte den Kopf. „Stell dir das nicht so leicht vor. Heute kann ich mir vielleicht freinehmen, aber bald beginnt die Ernte, und dann arbeite ich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.“

„Es ist wunderschön im Cilento“, stellte sie fest, als er sie einen schmalen Pfad hinaufgeführt hatte und sich die zerklüftete Landschaft unter ihnen ausbreitete. „Du hast Glück, hier leben zu dürfen.“

Er lächelte. „Ich sehe das auch so, aber ich kann ebenfalls verstehen, dass es manchen Menschen zu einsam ist. Aus diesem Grund sind so viele Dörfer hier verlassen.“

Kelly nickte. Sie erinnerte sich an die Ruinen, an denen sie auf dem Hinweg vorbeigefahren war.

„Von der schönen Landschaft allein wird man nicht satt.“ Bernhardo reichte ihr die Hand, um ihr einen Felsvorsprung hinaufzuhelfen. „Es gibt hier nicht genug Arbeit. Daher wandert die Jugend ab, und nur die Alten bleiben zurück.“

Kelly ließ sich von ihm auf den Felsen ziehen und blinzelte in die Sonne. „Können wir eins dieser verlassenen Dörfer besichtigen?“

Er hob die Augenbrauen. „Na klar. Wir haben sogar eins auf unserem Land. Es stammt aus dem neunzehnten Jahrhundert, damals gab es hier noch nicht viele Maschinen, fast alles wurde von Hand gemacht, und meine Vorfahren brauchten viel mehr Arbeiter für die Felder.“

„Dann ist das Weingut schon so alt?“, fragte Kelly überrascht. Sie war davon ausgegangen, dass Bernhardos Vater das Gut gegründet hatte.

„Es ist seit Generationen in Familienbesitz.“ Er kniff die Augen zusammen und ließ seinen Blick über die Berge und Täler gleiten, die sich vor ihnen ausbreiteten. „All das Land gehört uns. Soweit du schauen kannst. Aber als ich es übernommen habe, war es ziemlich heruntergewirtschaftet. Mein Vater versteht viel von Wein, und er bringt eine Menge Leidenschaft dafür mit, doch er ist kein Geschäftsmann. Er ist besser darin, Geld auszugeben, als es einzunehmen. Das hat Luigi leider von ihm geerbt. Es war viel Arbeit, das Gut wirtschaftlich und unsere Weine bekannt zu machen.“

Kelly lächelte, während sie ihm den schmalen Pfad zwischen den Hügeln entlang folgte. Jetzt verstand sie auch, warum er gestern so darauf gepocht hatte, dass seine Weine von den bekannten Magazinen ausgezeichnet worden waren. Er war einfach stolz auf seine Arbeit.

Bernhardo führte sie die Hänge hinauf und hinunter, er erklärte ihr die verschiedenen Rebsorten und welche Weine er daraus machte. Kelly war fasziniert von dem Wissen, das Bernhardo auf diesem Gebiet hatte. Er lebte für den Wein, und das spürte Kelly bei jedem einzelnen Wort, das er über das Gut und seine Arbeit verlor.

Kelly genoss die Wanderung in der atemberaubenden Landschaft. In der Ferne konnte sie sogar das Meer glitzern sehen. Die Schreie der Möwen drangen bis zu ihnen herüber, und sie konnte das Salz auf den Lippen schmecken.

Zwei Stunden später erreichten sie das verlassene Dorf, und Bernhardo schlug eine Pause im Schatten der alten Mauern vor. Kelly setzte sich auf ein Stück Wiese und lehnte sich an die Wand eines halb verfallenen Hauses, das nicht von Brombeerranken und Ginster überwuchert war. Neben ihr standen ein paar wilde Olivenbäume. Sie sog tief das Aroma ein, das seine frischen Früchte verströmten. Darüber hinaus war die Luft geschwängert vom Duft des Weines, der Agaven und des Meeres. Sie spürte die Sonne auf ihrer Haut und die Nähe Bernhardos, der sich neben sie gesetzt hatte.

Sie betrachtete aus dem Augenwinkel seine gebräunten Beine, die in einer dunkelgrünen Shorts steckten, und wünschte sich plötzlich nichts mehr, als ihn zu berühren. War es wirklich die richtige Entscheidung gewesen, gestern nicht mit ihm zu schlafen? Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen Mann so sehr begehrt zu haben. Sie hatte aber auch noch nie einen Mann wie Bernhardo getroffen. Er hatte eine raue Schale, das musste sie zugeben. Bei ihrer ersten Begegnung war er alles andere als charmant gewesen. Aber genauso leidenschaftlich und temperamentvoll war er in seinen körperlichen Berührungen. Und er war bewundernswert ehrlich. Das kannte Kelly von keinem ihrer Ex-Freunde. Sie drehte den Kopf noch ein Stück weiter und heftete ihren Blick auf seinen Oberkörper. Unter dem engen Shirt zeichnete sich seine gut trainierte Brust ab.

Er sah zu ihr, und es war zu spät, den Blick abzuwenden. Kelly spürte, wie sie rot wurde. Wieso musste sie diesen Mann auch immerzu anstarren? Bernhardo lächelte sie an. In seinen Augen erkannte sie nicht nur Begehren, sondern auch noch etwas anderes, das sie nicht genau benennen konnte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und eine Welle kitzelnder Erregung überrollte sie. Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. Ihr Blick wanderte zu seinem Mund. Sie wollte diesen Mann. Sie würde anschließend leiden, sich nach ihm verzehren, ihn und seine Berührungen so sehr vermissen, dass es schmerzte, aber sie musste ihn spüren. Jetzt! Und noch bevor Kelly einen weiteren Gedanken fassen konnte, rutschte sie rittlings auf seinen Schoß.

Bernhardo sog überrascht die Luft ein, und seine Augen blitzten. Sie spürte augenblicklich, wie er unter ihr hart wurde, was sie noch mehr erregte. Sie stieß einen kleinen Seufzer aus. Sie strich mit den Fingern über seine rechte Wange, die Schläfe hinauf und zog seine schwarzen Augenbrauen nach. Er schloss die Augen und stöhnte auf.

„Kelly“, flüsterte er und streichelte ihren Rücken.

Sie drückte sich an ihn und stöhnte vor Erregung.

Bernhardo öffnete die Augen und betrachtete sie. Sein Blick blieb an ihren Lippen hängen. „Kelly, wir sollten das nicht tun. Ich will nicht, dass du …“

Sie verschloss seinen Mund mit ihrem, und ihre Lippen lagen weich und sinnlich aufeinander. Kellys Zungenspitze wagte sich ein wenig vor, und sofort kam er ihr entgegen. Sie ließ sich fallen, ihr Körper schien plötzlich schwerelos zu sein, und während der Kuss immer drängender und leidenschaftlicher wurde, griff Bernhardo unter Kellys Top, befreite ihre Brüste von ihrem BH und umfasste sie mit beiden Händen. Kelly schob sein Shirt hoch und öffnete seine Hose.

„Oh Kelly“ stöhnte er, während sie ihre Hand in seine Shorts gleiten ließ.

Ihre Atemzüge beschleunigten sich, als ihre Finger seine harte Männlichkeit streiften. Er richtete sich auf und schob ihren Rock hoch. Als sie seine sanften Berührungen spürte, schrie sie leise auf. Sie konnte nicht mehr warten. Sie wollte ihn jetzt. Sie rutschte höher, bis er am Stoff ihres Tangas vorbei in sie eindrang. Sie vergaß die Welt um sich herum, gab sich ganz den rhythmischen Bewegungen hin, bis ihr leises Stöhnen zu Schreien wurde. Anschließend ließ sie ihren Kopf auf seine Brust fallen und lauschte seinem Herzschlag, der mit ihrem zu einem wurde.

Bernhardo strich mit seinen Lippen über Kellys Stirn und spürte, wie sich sein Atem langsam wieder normalisierte. Jetzt war es also doch passiert, und es war gigantisch gewesen. So sinnlichen, befriedigenden und leidenschaftlichen Sex hatte er noch nie gehabt. Woran lag das? Er hatte schon viele Frauen gehabt, die sehr gewandt im Bett gewesen waren, aber dieses Mal war es anders gewesen. Kelly hatte sich genommen, was sie gewollt hatte, zugleich schimmerte während des Liebesspiels ihre Verletzlichkeit durch. Genau diese Widersprüche waren es, was ihn so sehr an ihr faszinierte.

Auch ihre Schönheit war atemberaubend, aber viel mehr beeindruckte ihn ihr vielschichtiges Wesen, das er noch nicht ganz durchschaut hatte.

Er streichelte Kellys Kopf, drückte sie fest an sich, und in seiner Brust machte sich ein völlig neues, unbekanntes Gefühl breit. Dieses zarte Wesen in seinen Armen halten zu dürfen, berührte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Er wollte sie vor der Welt schützen, vor sämtlichen Gefahren und Sorgen. Er vergrub seine Nase in ihrem weichen Haar und sog tief den Duft ein.

Eine Weile saßen sie so da, bis Kelly ihren Kopf von seiner Brust löste und ihn ansah. Sie lächelte beinahe schüchtern, und er küsste sie zärtlich. Plötzlich fiel ihm der Gedanke unsagbar schwer, sie gehen zu lassen, aber es war richtig so. Sein Leben war perfekt, so wie es war, und eine Frau brachte auf Dauer nur Ärger. Sie würde Ansprüche stellen, die er nicht erfüllen konnte oder wollte, und er würde sich früher oder später ja doch nach Abwechslung im Bett sehnen. Es war also das Beste, wenn er sich gar nicht weiter auf diese verwirrenden Gedanken einließ, die sich immer wieder in seinen Kopf schoben und die Frage aufkommen ließen, was wäre, wenn er Kelly um ein Wiedersehen bitten würde. Oder um mehr als ein Wiedersehen. Nein! Das kam nicht infrage. Was war nur los mit ihm?

Er richtete sich auf und schob Kelly sanft von seinem Schoß. „Wir sollten uns langsam auf den Rückweg machen, vielleicht sind Luigi und Helen ja inzwischen angekommen.“

Kelly stand auf und richtete ihre Kleidung. Ihr Gesicht war gerötet von der lustvollen Anstrengung, ihr Haar zerzaust und wild. Sie war wunderschön. Er hätte seinen Zeichenblock mitnehmen sollen. Plötzlich erschien sie ihm unendlich verloren in der Weite des Cilento. Er schloss seine Shorts und konnte nicht anders, als sie anschließend in seine Arme zu ziehen. Einen Moment lang hielt er sie fest, atmete den lieblichen Duft ihrer Haut nach Sonne und Früchten ein und küsste ihr weiches Haar.

Schweigend machten sie sich auf den Weg zurück zum Kastell. Es war bereits Mittag, und die Hitze wurde zunehmend unerträglich. Trotzdem konnte Bernhardo der Versuchung nicht widerstehen und zog Kelly immer wieder in seine Arme. Sie schmiegte sich fest an ihn. Am liebsten hätte er das erotische Erlebnis wiederholt, aber er wusste, dass sie heute noch mit Helen nach Rom fahren wollte, und begnügte sich daher mit leidenschaftlichen Küssen. Es war schon nach drei Uhr, als das Schloss vor ihnen auftauchte. Als sie näher kamen, erkannte Bernhardo den roten Sportwagen, der vor dem Haus gleich neben Kellys Mietcabrio geparkt war.

Bernhardo blieb stehen. „Luigi ist da.“

Kelly sog die Luft ein und fasste nach seiner Hand. „Hoffentlich ist Helen bei ihm.“

„Bestimmt.“ Er drückte ihre schmalen Finger und setzte sich wieder in Bewegung.

Er wünschte Kelly von Herzen, dass Helen bei Luigi war, aber zugleich hatte er das untrügliche Gefühl, dass die Sache nicht so einfach ausgestanden sein würde, wie Kelly es sich wünschte. Er hatte in den letzten Stunden darüber nachgedacht, warum Marianna, die sich normalerweise nur für ihren eigenen Vorteil starkmachte, so bereitwillig angeboten hatte, Kelly zu helfen. Aber es fiel ihm keine zufriedenstellende Erklärung ein.

Hand in Hand gingen sie die letzten hundert Meter zwischen den Weinreben auf das Kastell zu. Er betrachtete Kelly von der Seite. Ihre vollen, samtweichen Lippen hatte sie zusammengepresst, ihr Blick war ängstlich nach vorn gerichtet. Zu gern hätte er ihr gesagt, dass alles gut werden würde, aber er war sich alles andere als sicher, dass das stimmte, und er wollte sie auf keinen Fall belügen.

In diesem Moment erreichten sie den gekiesten Vorplatz. „Warte.“ Er streckte seine Hand nach ihr aus und drehte sie sanft zu sich herum. „Bevor wir jetzt hineingehen, will ich dir noch etwas sagen …“

„Nein“, sie legte einen Finger auf seinen Mund. „Es ist alles okay so, wie es ist.“

Kelly öffnete die Eingangstür, und sie betraten die kühle, abgedunkelte Halle. Stimmen drangen an sein Ohr. Bernhardo erkannte Luigi und Marianna. Eine unbekannte weibliche Stimme war auch dabei. Das musste Helen sein. Dann war sie tatsächlich mitgekommen. Er konnte nicht glauben, dass Marianna selbstlos gehandelt hatte, indem sie dafür gesorgt hatte, dass Kellys Cousine hergekommen war, aber vielleicht tat er ihr ja unrecht. Luigi und Helen mussten im Salon sein. Also führte er Kelly nach hinten, durch einen kurzen, breiten Flur und von dort in den großen Salon.

Luigi saß auf dem breiten Chesterfield-Sofa, das Bernhardo erst letztes Jahr in England hatte anfertigen lassen. Ein Bein angezogen, einen Arm um eine stark geschminkte Blondine gelegt, die Bernhardo jetzt unter ellenlangen künstlichen Wimpern neugierig ansah.

„Da ist er ja!“, hörte Bernhardo die kalte Stimme seiner Stiefmutter aus dem gegenüberliegenden Sessel. „Hat sich herumgetrieben, obwohl Luigi nach Hause gekommen ist.“

Bernhardo biss sich auf die Zunge, um nichts Unverschämtes zu erwidern. Er duldete die Anwesenheit Mariannas nur, weil sie die Frau seines Vaters war und er seinen Vater niemals aus dem Kastell werfen würde, auch wenn es offiziell ihm gehörte. Aber diese Frau ließ nichts unversucht, Bernhardo zu provozieren und ihn ihre Abneigung spüren zu lassen.

„Mama“, Luigi stand auf und machte eine gönnerhafte Geste in Bernhardos Richtung. „Lass ihn nur, wir haben doch noch genügend Zeit, uns zu unterhalten.“

Luigi kam auf ihn zu und klopfte ihm mit einer kumpelhaften Geste auf den Rücken. Dann sah er Kelly. Mit einem anzüglichen Grinsen trat er auf sie zu. „Oh, Sie sind bellissima, wunderschön.“

Bernhardo räusperte sich, als er sah, wie sein Halbbruder Kelly mit seinen Blicken auszuziehen schien. Am liebsten wäre er schützend vor sie getreten.

„Helen!“, rief Kelly, ohne Luigi zu beachten, und trat auf die Blondine zu. „Weißt du, was du für einen Ärger von deinem Vater bekommst? Er versucht seit gestern Abend, dich zu erreichen.“

Helen verzog den pink geschminkten Mund. „Mir egal.“

Bernhardo sah, wie Kelly sich nur schwer zusammenreißen konnte. Ihre Augen funkelten, als sie sagte: „Du hattest mir versprochen, dich zu benehmen.“

„Und?“

Kelly atmete tief durch. „Ich soll dir ausrichten, dass Steven dich morgen in Heathrow abholt und von da aus direkt mit dir auf eine Charity-Gala will.“

Jetzt hob Helen den Blick und sah Kelly an. Sie lächelte. „Ich werde morgen nicht mit dir nach London zurückfliegen, ich bleibe hier.“

Kelly schnappte nach Luft. „Was?“

Helens Lächeln vertiefte sich. Sie stand auf und kam auf Kelly zu. Dann streckte sie ihr die Hand entgegen, an der ein Diamantring blitzte. „Ich habe mich gerade eben mit Luigi verlobt! Wir werden heiraten.“

4. KAPITEL

Kelly schwankte. Sie musste sich verhört haben.

„Was?“, fragte sie mit einer Stimme, die ihr selbst fremd vorkam.

„Es kam vollkommen überraschend!“ Helen drehte sich strahlend zu Luigi um. „Wir waren kaum hier angekommen, da hat er mich gefragt.“

Luigi grinste erst Kelly, dann Bernhardo an.

Ungläubig ließ Kelly sich in den nächstbesten Sessel sinken. Sie hatte geglaubt, ihre Cousine durch und durch zu kennen. Helen hatte Spaß daran, zu flirten, Affären zu haben und zu feiern. Aber Kelly war immer davon ausgegangen, dass sie genauso wenig an einer Ehe interessiert war wie Kelly an einem Hotdog-Wettessen. Ihr Vater hatte sie förmlich zwingen müssen, Steven Malones Antrag anzunehmen. Wieso ließ sie sich auf diesen Luigi ein, den sie erst seit wenigen Stunden kannte?

Marianna saß mit selbstzufriedener Miene in ihrem Sessel, und plötzlich wurde Kelly bewusst, dass sie es sein musste, die hinter all dem steckte. Gestern Abend hatte Bernhardos Stiefmutter sehr interessiert gewirkt, als sie davon gehört hatte, dass Helen aus dem englischen Adel stammte. Wie hatte Kelly auch nur eine Minute annehmen können, dass Marianna ihr helfen wollte? Sie war nur an ihrem eigenen Vorteil interessiert, und wer weiß, was sie Helen dafür versprochen hatte, Luigis Antrag anzunehmen. Aber all das war im Grunde genommen irrelevant, weil nur das Ergebnis zählte: Helen würde am kommenden Wochenende nicht Steven Malone heiraten. Das würde Kelly den Job kosten und ihre Eltern das Zuhause! Was sollte sie nur tun?

Sie atmete tief durch. Jetzt nur nichts überstürzen. Sie wandte sich an ihre Cousine. „Helen, darf ich dich kurz draußen sprechen?“

„Es gibt nichts, was wir zu besprechen haben, Kelly. Ich weiß, dass mein Vater dich vorschickt, damit ich seinen Freund heirate, der im Geld schwimmt. Aber Luigi hat auch Geld und ein wunderschönes Schloss.“ Sie machte eine umfassende Handbewegung.

Kelly sah sie irritiert an. „Das gehört alles Bernhardo.“

„Noch“, mischte sich Luigi ein, und zum ersten Mal betrachtete Kelly Bernhardos Halbbruder genauer. Luigi war deutlich kleiner und schmaler gebaut als Bernhardo. Er hatte dasselbe dunkle Haar, die braunen Augen und die gebräunte Haut. Sonst unterschieden sich die beiden Geschwister jedoch grundlegend. Luigi hatte die Hakennase seiner Mutter geerbt und auch ihre verhärmten Gesichtszüge.

„Bernhardo wird mir meinen Anteil wieder überschreiben“, sagte Luigi jetzt und lehnte sich auf dem Sofa zurück.

„Ich werde mich hüten“, rief Bernhardo mit mühsam unterdrückter Wut in der Stimme.

„Bitte Helen, nur fünf Minuten.“ Kelly stand auf und deutete zur Tür.

„Nein.“ Helen ging zum Sofa zurück und ließ sich neben Luigi fallen. Sie streifte die Stilettos ab und zog die Beine auf die Couch.

Kelly schluckte. Tränen der Wut stiegen in ihr auf. Sie hatte die letzten drei Jahre sämtliche Strapazen auf sich genommen, hatte sich immer wieder von Helen demütigen lassen, um sie vor sich selbst zu schützen. Ohne Kelly wäre Helen längst an einer Überdosis gestorben, von irgendwelchen Typen verschleppt und vergewaltigt oder in einem der Hinterzimmer einer zwielichtigen Kneipe vom Barkeeper geschwängert worden. Und jetzt, so kurz vorm Ziel, wenige Tage bevor Kelly ihre Cousine endlich in die Verantwortung Steven Malones übergeben konnte, wollte sie einen Gigolo heiraten, der es vermutlich nur auf ihren Adelstitel und ihr Geld abgesehen hatte?

Kelly trat einen Schritt auf Helen zu, die gedankenverloren eine ihrer platinblonden Haarsträhnen um ihren Finger wickelte und auf einem Kaugummi herumkaute. „Helen, es ist mir vollkommen gleich, ob du diesen Luigi heiratest oder Steven Malone. Meinetwegen kannst du auch den Kapitän eines Öltankers zum Mann nehmen und ein Leben lang über die Meere schippern. Aber wer mir nicht gleichgültig ist, sind meine Eltern. Daher bitte ich dich, morgen mit mir nach England zu fliegen, dann kannst du persönlich mit Steven und mit deinem Vater reden. Das ist die einzige Chance, dass der Earl mich nicht für diese miese und lächerliche Idee, jemanden zu heiraten, den du kaum kennst und der dich offensichtlich nur aus eigenem Vorteil heraus ehelichen möchte, verantwortlich macht. Nur so sehe ich eine Chance, dass er meine Eltern nicht für deine Fehler bezahlen lässt.“

Marianna schnappte nach Luft. „Was für eine Unverschämtheit! Das sind alles infame Unterstellungen. Raus aus meinem Haus!“

Bernhardo verdrehte die Augen. „Es ist mein Haus, und Kelly ist zurzeit der einzige Mensch in diesem Raum, der mir hier willkommen ist.“

Marianna warf Bernhardo einen bösen Blick zu, schwieg jedoch.

„Lady Helen“, sagte Bernhardo und trat neben Kelly. „Ich muss Ihrer Cousine recht geben. Sie sind verlobt, und wenn Sie vorhaben, diese Verlobung zu lösen, dann sollten Sie die Größe haben und es dem Mann persönlich sagen. Auch Kelly sind Sie es schuldig, dass Sie sich Ihrem Vater gegenüber erklären und nicht Ihre Cousine vorschicken, die den ganzen Ärger ausbaden muss. Stehen Sie zu Ihrer Entscheidung, nicht Mr. Malone, sondern Luigi zu heiraten, und ich bin sicher, dafür würde Ihnen Respekt entgegengebracht.“

Daran zweifelte Kelly zwar, aber das behielt sie lieber für sich. Dass ihr Onkel jemals jemandem Anerkennung gezollt hätte, der eine andere Meinung als er selbst vertrat, hatte Kelly noch nicht erlebt.

„Nein“, sagte Helen und wandte sich an Luigi. Sie richtete sich auf. „Und jetzt komm, ich möchte mit dir allein sein.“

Das war ein entsetzlicher Albtraum. Kelly wurde übel. Sie musste hier raus. Abrupt drehte sie sich um und lief zur Tür. Durch den Flur, in die Halle und von dort nach draußen auf den Vorplatz. Ihre Schritte knirschten auf dem Kies, als sie darüber hinwegeilte und den ersten Weg in die Weinfelder, der vor ihr auftauchte, einschlug. Was sollte sie ihren Eltern erzählen? Sie musste es irgendwie schaffen, mit ihrem Onkel zu reden und ihn davon zu überzeugen, ihre Eltern weiterhin in dem Haus wohnen zu lassen. Er durfte die Miete nicht anheben, wenn er Kelly kündigte.

Während sie an Weinreben und Mirabellenbäumen entlangging, liefen ihr die Tränen über die Wangen. Sie konnte sich noch zu gut an die schlimme Zeit vor drei Jahren erinnern, als ihren Eltern die Räumungsklage zugestellt worden war, nachdem das Haus in einer Zwangsversteigerung veräußert worden war. Damals hatten sie nicht gewusst, wie es weitergehen sollte. Kelly hatte ihre Eltern noch nie so verzweifelt gesehen. Sie hatte sie in ihrem Zweieinhalb-Zimmer-Apartment in London aufnehmen wollen, bis ihnen eine Sozialwohnung angeboten worden wäre. Dann war ihr Onkel erschienen und hatte erklärt, dass er das Haus gekauft habe und bereit sei, eine geringere Miete zu verlangen, als das historische Gebäude eigentlich wert sei, wenn Kelly dafür bei ihm als Marketingleiterin anfangen würde. Dass er das Haus auch zu einem Preis erworben hatte, der weit unter seinem Marktwert lag, hatte Kelly erst später erfahren. Aber ihre Eltern waren unendlich erleichtert gewesen und hatten ihrer Tochter immer wieder ihre Dankbarkeit gezeigt. Jetzt würden sie schrecklich enttäuscht von ihr sein.

„Kelly!“

Sie blieb stehen und drehte sich um.

Es war Bernhardo, der ihr hinterhersprintete.

„Es tut mir so leid“, sagte er atemlos, als er sie erreicht hatte. „Kann ich dir irgendwie helfen?“

Kelly schüttelte mutlos den Kopf. „Es gibt nichts, was wir tun könnten. Ich kann jetzt nur noch auf die Großzügigkeit meines Onkels hoffen.“

Bernhardo sah sie einen Moment lang schweigend an. Dann zog er ein Taschentuch hervor und tupfte sanft Kellys Wangen trocken. Ihr stockte der Atem, als sie die Zärtlichkeit in seinen Augen wahrnahm.

„Komm her“, Bernhardo zog sie sacht in seine Arme.

Diese liebevolle Geste nahm Kelly den Rest Selbstbeherrschung, den sie noch hatte. Schluchzend sank sie an Bernhardos Brust, und auch wenn es ihr peinlich war, sich vor Bernhardo so gehen zu lassen, tat es wahnsinnig gut, sich in seine Arme fallen zu lassen. Er streichelte ihr beruhigend über den Rücken. Kelly fühlte sich auf einmal seltsam geborgen. Sie spürte seine Lippen, die ganz zart ihre Stirn liebkosten.

Als sie sich wieder beruhigt hatte, löste sie sich widerstrebend so weit von ihm, dass sie ihn ansehen konnte. „Ich danke dir.“

„Ich wünschte, ich könnte mehr tun, als dir nur Trost zu spenden.“ Er sah ihr tief in die Augen, und in Kellys Bauch begann es zu kribbeln.

Da klingelte das Handy in der Tasche ihrer Shorts und zerstörte den intimen Moment.

„Oh nein! Mein Onkel!“ Ihr wurde schwindlig. Sie konnte seine Anrufe nicht länger ignorieren.

„Und wenn du ihm die Wahrheit sagst?“, fragte Bernhardo. „Vielleicht ist er verständnisvoller, als du annimmst.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen, aber es ist meine einzige Chance“, antwortete Kelly leise und nahm dann das Telefonat an.

„Kelly, endlich! Weißt du eigentlich, was ich mir für Sorgen mache? Was ist los? Wo seid ihr? Warum ruft mich Helen nicht zurück?“, bombardierte er sie mit Fragen.

„Ich … ich muss …“ Kelly räusperte sich. Ihr war plötzlich eiskalt, obwohl die Sonne vom Himmel brannte. „Onkel, ich muss dir leider etwas sagen, was dir nicht gefallen wird.“

Kelly sah zu Bernhardo, der ihr aufmunternd zulächelte. Das gab ihr den nötigen Mut, die Wahrheit zu sagen. „Helen hat sich mit einem Italiener verlobt.“

Einen Moment lang blieb es vollkommen still am anderen Ende der Leitung. Dann hörte sie ihren Onkel scharf Luft holen. „Unsinn. Helen ist doch bereits verlobt. Das wäre Bigamie. Das geht nicht.“

„Na ja, sie ist noch nicht verheiratet. Ich glaube, verloben kann man sich, so viel man will“, widersprach Kelly ihm zaghaft.

„Na meinetwegen soll sie sich verloben, wenn es ihr Spaß macht.“ Die Stimme des Earls klang abfällig. „Aber sie heiratet am Samstag doch Steven, oder?“ Jetzt lag ganz klar ein drohender Unterton in seiner Stimme.

Kelly holte tief Luft, und wieder wanderte ihr Blick zu Bernhardo. „Sie hat nicht vor, mit mir morgen nach England zurückzukehren, und sie will nicht Steven heiraten.“

„Das kommt gar nicht infrage“, schnauzte ihr Onkel. „Kelly, du bist dafür verantwortlich, dass Helen morgen in London eintrifft und mit Steven zu dieser Gala geht. Und sie wird ihn verdammt noch mal am kommenden Wochenende heiraten.“

„Ich habe schon alles versucht, aber Helen lässt nicht mit sich reden“, sagte Kelly leise.

In der Ferne zog ein Schwarm Krähen über den Himmel.

„Ich habe dich eingestellt, damit ich mich um diese Angelegenheiten nicht selbst kümmern muss“, erklärte ihr Onkel.

Autor

Myrna Mackenzie
Myrna Mackenzie wusste in ihrer Jugend zunächst nicht, was sie später einmal beruflich machen wollte. Aber sie wusste, dass sie Geschichten und Happy Ends liebte. Und so war der Schritt zur Liebesroman-Autorin nahezu unvermeidlich.
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