Schicksalhafte Jagd nach dem Sancy-Diamanten

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Eine verregnete Nacht, ein Gentleman auf der Flucht vor dem Gatten seiner Liebhaberin – und dann läuft Phineas Attwood, dem Earl of Hartwick, ausgerechnet Miss Sarah Forrester in die Arme. Wie kann es sein, dass eine Dame der feinen Gesellschaft durch die Nacht schleicht? Zu Hartwicks Leidwesen ist sie genau wie er auf der Jagd nach dem legendären Sancy-Diamanten. Um als Erster ans Ziel zu kommen, zögert Hartwick natürlich nicht, seinen Charme einzusetzen – und muss dabei feststellen, dass er in Miss Sarah eine ebenbürtige Gegnerin gefunden hat …


  • Erscheinungstag 11.05.2021
  • Bandnummer 612
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502597
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

London 1819

Es geschah nicht zum ersten Mal, dass Phineas Attwood, der Earl of Hartwick, bei nächtlichem Regen auf ein Londoner Hausdach trat. Allerdings stellte er zum ersten Mal fest, dass er dort nicht allein war.

In so einer scheußlichen Nacht hatte Hart sich von Theodosias herrlichem Himmelbett förmlich losreißen müssen. Er wünschte, er hätte sie noch einmal nehmen können, aber dafür hatte die Zeit nicht gereicht. Jeden Augenblick hatte ihr Ehemann nach Hause kommen können, und Hart war nicht daran interessiert, dem Mann zu begegnen. Er hätte ganz kühn das Haus durch den Vordereingang verlassen können, aber nichts war mit der Spannung vergleichbar, andere Wege zu finden, aus den Häusern seiner Gespielinnen zu gelangen – und wenn es während eines Unwetters sein musste.

Er schützte die Augen vor den kalten Tropfen, die ihm ins Gesicht schlugen, und trat an den Rand des Daches. Todesmutig beugte er sich vor. Es ging in gerader Linie zur Mount Street hinab, vier Stockwerke und nichts, woran er Halt finden könnte, wenn er hinunterkletterte. Und von jeder Kutsche aus, die vorüberfuhr, würde man ihn sehen können.

Zu seiner Linken führten die angrenzenden Dächer der nächsten drei Gebäude zu einer Gasse, an der die Stallungen der Reeves lagen. Das erschien ihm als die beste Möglichkeit. Gerade als er sich ein genaueres Bild machen wollte, bemerkte er zu seiner Rechten eine Bewegung.

Eine schlanke dunkle Gestalt strebte in einigen Fuß Entfernung am Dach entlang auf die Rückseite des angrenzenden Hauses zu. Anscheinend ein weiterer Gentleman, hinter dem ein amouröses Abenteuer lag. Dieser Mann war klug genug, ein Cape und den breitrandigen Hut eines Geistlichen zum Schutz gegen den Regen zu tragen. Allerdings hätte Hart gewettet, dass es sich nicht um einen Priester handelte.

„Ein Wetter, in dem man keinen Hund vor die Tür scheuchen würde“, rief er dem anderen zu.

Der Mann erschrak so sehr, dass er den Halt verlor. Er rutschte auf den schlüpfrigen Ziegeln aus, doch Hart bekam ihn am Arm zu fassen, ehe er über den Rand des Daches fallen und in den sicheren Tod stürzen konnte.

Hart grub seine Finger in den Arm des Fremden und hoffte, dass dessen Gewicht ihn nicht nach unten ziehen würde. „Ich habe Sie!“, stieß er hervor. „Und ich werde Sie nicht loslassen.“

Der vermeintliche Geistliche klammerte sich so fest an ihn, dass es schmerzte. Er hatte nicht viel Fleisch auf den Knochen und hatte eher das Gewicht eines Jungen als das eines Mannes. Viel Kraft war nicht nötig, um ihn zurückzuziehen.

Der Regen hatte aufgehört, leichter Nebel zog auf.

Ein Dank wäre angebracht gewesen, dachte Hart, aber die zusammengekauerte Gestalt vor ihm blieb stumm wie ein Stein, vermutlich vor Angst oder vor Schreck. Hart strich sich das Haar aus dem Gesicht, musterte seinen Kameraden – und wünschte sich dann, der Regen hätte ihm die Sicht verschleiert.

„Verdammt, Miss Forrester, was machen Sie denn hier oben?“

Die Tochter des amerikanischen Botschafters setzte sich auf. Das Cape, das sie trug, öffnete sich gerade weit genug, um den Blick auf ein dunkles Herrenhemd zu enthüllen und die Rundungen ihrer Brüste. Er erinnerte sich daran, sie vor etwa einem Jahr auf dem Maskenball bei den Finchleys in dieser Kleidung gesehen zu haben, wo sie so kühn gewesen war, sich als Straßenräuber zu verkleiden – dasselbe Kostüm, das auch er an jenem Abend gewählt hatte. Jetzt hatte sie die wohlgeformten Beine, in schwarze Hosen und Stiefel gehüllt, von sich gestreckt. Diese Beine waren noch genauso verführerisch, wie er sie in Erinnerung hatte.

„Erzählen Sie mir nicht, dass Sie von hier oben aus einen Maskenball verlassen wollen“, sagte er und wandte seine Aufmerksamkeit ab von diesen Beinen, damit er sich nicht länger vorstellen musste, wie sie sie um seine Taille schlang.

Sie zog eine ihrer sanft geschwungenen Brauen hoch. „Ich würde ja fragen, wo Sie herkommen, aber das kann ich mir schon denken. Ist dies die Uhrzeit, zu der Ihre Verabredungen gewöhnlich enden?“

Eine unverheiratete Frau sollte nichts wissen über solche Verabredungen. Bei den wenigen Malen, die er in ihrer Gegenwart verbracht hatte, war ihm aufgefallen, dass Miss Sarah Forrester gern andere Menschen mit ihrer Direktheit irritierte. Er hatte nicht die Absicht, sich auf ein Wortgefecht mit ihr einzulassen.

„Ich komme von dem Treffen mit einem Geschäftspartner. Aber was viel wichtiger ist – weiß Katrina, dass Sie nachts auf den Dächern Londons herumturnen?“, fragte er, um von dem Thema Verabredungen abzulenken. Katrina war die Duchess of Lyonsdale, eine gute Freundin Miss Forresters.

„Nein.“ Viel zu rasch wandte sie sich ab. Offensichtlich wusste die Frau seines Freundes Julian ganz genau, was dieses Mädchen vorhatte. Er fragte sich, ob Katrina ihm wohl davon erzählt hatte.

„Wie wollten Sie von hier aus weiterkommen?“, erkundigte sie sich.

„Das weiß ich noch nicht genau. Aber darin liegt der Reiz. Man ist dazu gezwungen, verschiedene Möglichkeiten abzuwägen.“

Klappernde Pferdehufe und das Rumpeln von Wagenrädern unten auf der Straße erregte ihrer beider Aufmerksamkeit, und sie krochen zum Rand des Daches. Eine lackschwarze Kutsche hielt direkt unter ihnen vor der Tür, und aus dem Haus eilte ein Diener darauf zu, der einen großen schwarzen Schirm trug. Hart hatte Theodosias Bett gerade rechtzeitig verlassen, und er freute sich über das Glück, das er gehabt hatte.

„Wären Sie länger bei Lady Helmford geblieben, hätte das ein wenig unangenehm werden können“, sagte Miss Forrester.

Für einen Moment hatte er vergessen, dass diese Plage neben ihm lag.

Sie beugte sich näher, und ein schwacher Fliederduft erfüllte die Luft. Als sie zu ihm aufsah, erkannte er in ihren braunen Augen eine Mischung aus Amüsement und Neugierde. „Sind Sie schon einmal erwischt worden?“

Ihre Frage war so absurd, dass er höhnisch auflachte. „Natürlich nicht.“

„Nie?“

„Kein einziges Mal.“ Bei dieser Erklärung holte er tief Atem, dann bemerkte er, was er gerade gesagt hatte. Verdammt!

Sie setzte sich auf und nahm den Hut ab, um die Tropfen von der Krempe zu wischen. „Mir war nicht bewusst, dass Lady Helmford eine ihrer Geschäftspartnerinnen ist.“

Er hasste es, dass sie seine Neigung zum Prahlen so geschickt gegen ihn verwendete. Und während sie vielleicht glaubte, die Oberhand gewonnen zu haben, war es ihm nicht entgangen, dass sie seiner Frage ausgewichen war.

„Und was führt Sie auf dieses Dach? Das haben Sie mir noch nicht gesagt.“

Einen Moment lang blickte sie zur Seite. „Ich interessiere mich für Architektur.“

„Architektur?“

„Ja. Wissen Sie, ich bin hier heraufgekommen, um die Verzierungen an den Gebäuden und Dachgiebeln zu studieren.“

„Aber Sie wohnen hier nicht.“

„Natürlich nicht. Welchen Sinn hätte es, wenn ich die Häuser betrachte, die bei mir gegenüber stehen und die ich schon vor einer Ewigkeit angesehen habe?“

„Etwas Besseres fällt Ihnen nicht ein?“

Von einem wie dem Earl of Hartwick wollte Sarah sich nicht durchschauen lassen. Kein Schürzenjäger würde sie besiegen. Sie gehörte nicht zu diesen hohlköpfigen Frauen, die sich ihm zu Füßen warfen, nur weil er charmant war und gut aussah. Sehr gut aussah. Und jedes Mal, wenn sie sich in seiner Nähe befand, verspürte sie den dringenden Wunsch, ihn das wissen zu lassen.

„Die Häuser hier sind ein hervorragendes Beispiel für die Bauwerke Mr. Kents“, erklärte sie. „Ich kann ja nicht gut bei Tage hier auf dem Dach stehen. Jemand könnte mich sehen.“ Sie hatte keine Ahnung, was die von Mr. Kent entworfenen Gebäude auszeichnete, aber sie wusste, dass er ein sehr angesehener Architekt war.

„William Kent?“ Hartwick schüttelte den Kopf, und Wassertropfen spritzten aus seinen Haaren und fielen auf sein attraktives Gesicht.

In der Hoffnung, ihn abzulenken, wischte sie sich über die tropfnassen Hosenbeine.

Sein Blick fiel auf ihre Schenkel und blieb dort ruhen. „Sie haben sich also eine regennasse Nacht ausgesucht, um sich die Aussicht anzusehen?“

„Die Gelegenheit bot sich, und ich habe sie ergriffen. Als ich hierher aufbrach, hat es noch nicht geregnet.“

„Ich verstehe. Und wie ist es Ihnen gelungen, sich für diese Eskapade zur Wertschätzung der Architektur aus dem Haus Ihrer Eltern zu schleichen?“

Er benötigte mehr Ablenkung, und es erschien ihr ratsam, langsam mit der Hand über ihr Bein zu streichen. Aber nur zu bald warf Hartwick den Kopf zurück und strich sich eine Locke des schwarzen Haars aus den durchdringend blauen Augen. „Ihre Eltern, Miss Forrester. Wie ist es Ihnen gelungen, denen zu entkommen?“

Himmel, er war so hartnäckig wie ein Hund, der einen Knochen erwischt hatte. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.“

„Das stimmt. Ihr Wohlergehen geht mich nichts an. Ich wollte nur etwas Konversation machen – von einem beeindruckenden nächtlichen Herumschleicher zum anderen.“

„Auch mit Charme können Sie mir keine Antwort entlocken.“

„Mir war nicht bewusst, dass ich charmant war. Wir plaudern nur.“

„Sie versuchen, mir zu schmeicheln.“

„Weil ich Sie beeindruckend nannte? Wenn ich Ihnen schmeicheln wollte, meine Liebe, dann würde ich Ihnen meine Bewunderung aussprechen, wie verführerisch Sie in diesen Hosen wirken.“

„Vielen Dank für das Kompliment, aber ich habe trotzdem nicht die Absicht, Ihnen irgendetwas mitzuteilen.“

„Sie missverstehen mich. Ich habe nicht gesagt, dass Sie verführerisch aussehen. Ich habe nur angemerkt, dass dies das wäre, was ich Ihnen sagen würde, wenn ich Ihnen schmeicheln wollte.“

Dieser unerträgliche Mann! Wenn sie ihm doch nur einen festen Stoß versetzen könnte! Aber bei ihrem Glück würde er auf dem Rücken landen und das als Einladung zu gewissen Aktivitäten sehen, mit denen er äußerst vertraut war – jedenfalls hatte sie das gehört. Sie stand auf und wischte sich die Hände ab. „Nun, ich muss jetzt wirklich gehen.“

Er sprang auf. „Was suchen Sie wirklich hier oben?“

„Das sagte ich Ihnen bereits. Ich bewunderte die Architektur.“

„Und ich bin der Thronfolger.“ Er kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme. „Kommen Sie von einem Rendezvous mit einem Mann?“

Der Abscheu in seinem Gesicht war sehenswert in Anbetracht seiner eigenen Vorlieben, aber wenn er dann aufhörte, Fragen zu stellen, würde eine kleine Lüge nicht schaden. „Vielleicht.“ In der Gesellschaft kursierten Geschichten über seine Eskapaden mit Frauen. Sie bezweifelte, dass er über eine kleine Indiskretion ihrerseits reden würde oder sie überhaupt bemerkenswert genug fand, um sie auch nur zu erwähnen.

„Vielleicht? Vielleicht? Was ist das für ein Mann, der eine Frau nach einer Verabredung allein den Weg nach Hause finden lässt? Und zudem über das Hausdach. Jeder Mann von Anstand würde seine Herzensdame besuchen, und nicht umgekehrt.“

„Ich lebe bei meinen Eltern“, sagte sie und verdrehte die Augen. „Und Sie scheinen sich mehr über die Art, wie ich das Haus verlasse, zu wundern als über die Verabredung an sich.“

„Ich bin der Letzte, der über die Moral eines anderen urteilen würde“, versicherte er ihr. „Miss Forrester, er ist alt genug, um Ihr Vater zu sein.“ Er erschauderte sichtlich. „Ich habe Ihnen immer einen besseren Geschmack zugetraut.“

Sie ging wortlos an ihm vorbei zum nächsten Dach. Er hatte keinen Grund, beleidigend zu werden. Lord Baxter sah nicht so gut aus wie Hartwick, und er war ungefähr zwanzig Jahre älter als er, aber er war wahrhaftig kein Ungeheuer. Er war … gereift. Und warum verspürte sie das Bedürfnis, einen Mann zu verteidigen, den sie kaum kannte? Sie ballte die Hände zu Fäusten.

Hartwick war ihr gefolgt und packte sie am Arm. „Was glauben Sie, wohin Sie jetzt gehen?“

„Fort. Ich war lange genug hier oben.“

Er runzelte die Stirn. „Was schlagen Sie vor, wie sollen wir hinunterkommen?“

Wir kommen gar nicht hinunter. Sie haben gesagt, Sie hätten jede Menge Möglichkeiten. Ich finde meinen eigenen Weg nach unten.“

„Sagt Ihnen meine Gesellschaft nicht zu?“

„Nicht besonders.“

Er bedachte sie mit einem teuflischen Lächeln. „Jetzt weiß ich, dass Sie lügen.“

„Es gibt Frauen, die Ihnen widerstehen können, Lord Hartwick.“

Er lachte. „Davon gibt es nicht viele.“

„Nun, ich gehöre dazu“, erklärte sie entschieden. „Und jetzt lassen Sie meinen Arm los. Ich muss los.“

„Also gut, ziehen Sie Ihrer Wege. Ich werde dasselbe tun. Aber Sie nehmen einem solchen Abend jeden Spaß.“ Er verbeugte sich, langsam und übertrieben.

Sie war durchaus für einen Spaß zu haben, doch sie hatte nicht vor, mit ihm darüber zu diskutieren. Sie ging zu einem der hinteren Mansardenfenster und balancierte vorsichtig auf dem schmalen Sims, der davor verlief. Dabei bewegte sie sich bedrohlich nahe am Rand, und ihre Hände begannen zu zittern. Eine falsche Bewegung und sie könnte rücklings vom Dach fallen und vier Stockwerke tiefer auf der Terrasse landen. Wäre ihre Überlebenschance größer, wenn sie das Gebüsch anvisierte? Wie viel Blut mochte ein Körper enthalten?

„Worauf warten Sie?“

Sie fuhr herum, und Hartwick packte sie, presste ihre Wange gegen die kalte, nasse Fensterscheibe. Beinahe wäre ihr das Herz stehen geblieben.

„Hören Sie damit auf!“

Er ließ sie los. „Wenn Sie zukünftig noch einmal herumschleichen wollen, sollten Sie mehr auf Ihre Umgebung achten.“

„Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen sich selbst einen Weg nach unten suchen.“

„Das wollte ich. Aber dann sah ich Sie auf dem Sims, und ich entschied, dass Sie meine Hilfe brauchen.“

„Ich kann das allein.“

Sie bückte sich, um das Fenster hochzuschieben. Leider bewegte es sich nicht. Hartwick wollte zugreifen, doch sie stieß seine Hand beiseite. „Ich sagte, ich kann das allein!“

Resigniert hob er beide Hände. Wenn er irgendetwas tat, sodass sie rücklings von diesem Dach fiel, würde sie ihn mit sich reißen. Sie machte einen weiteren Versuch, das Fenster hochzuschieben. Ihr Herzschlag trommelte ihr so laut in den Ohren, dass sie nicht hörte, wie das Fenster endlich nachgab und nach oben glitt. Erleichtert stieß sie den Atem aus und schloss die Augen.

„Sie sollten sicher sein, dass sich niemand dort aufhält, ehe sie das Zimmer betreten. Außer Sie möchten, dass ich den Charme, den ich Ihrer Meinung nach besitze, einsetze, um junge Damen zu betören, die sich möglicherweise dort befinden.“

Hörte dieser Mann denn nie auf zu reden? „Ihren Charme müssen Sie nicht einsetzen. Das Haus steht leer“, gab sie zurück und stieg in das dunkle Zimmer. Dann ging sie weiter hinein, damit Hartwick genügend Platz hatte, um nachzukommen.

„Woher wissen Sie, dass das Haus leer steht?“, fragte er und schloss das Fenster.

„Ich habe einige Nachforschungen angestellt.“ Er musste nicht wissen, dass Katrina ihr davon erzählt hatte, als sie über die Everills sprachen. Während Lady Everill verstimmt war, weil ein Haus in ihrer Straße keine Bewohner gefunden hatte und ungepflegt wirkte, war es für Sarah ein Geschenk des Himmels. Und wenn sie es jetzt noch schaffte, das Haus zu verlassen, ohne dass der Earl of Hartwick herausfand, warum sie tatsächlich als Mann verkleidet in der Mount Street unterwegs war …

Als sie in den Flur trat, fiel Mondlicht durch das Fenster des Zimmers, durch das sie ins Haus gelangt waren, auf die staubigen Dielen. Hartwick folgte ihr lautlos, bis sie die Tür zur Dienstbotentreppe öffnete.

„Woher wissen Sie, dass diese Tür zur Treppe führt?“, flüsterte er.

„Die Gebäude in dieser Straße haben denselben Grundriss wie das Haus, in dem ich wohne. Und es ist nicht nötig zu flüstern. Wir sind allein.“

„Mir erscheint es am besten, auf Nummer sicher zu gehen. Für alle Fälle“, sagte er ganz nahe an ihrem Ohr. Seine tiefe Stimme ließ sie erschauern. „Es könnte schließlich doch jemand in der Nähe sein.“

Sie zögerte einen Moment. „Das sagen Sie nur, um mir Angst zu machen.“

„Wenn ich Ihnen Angst machen wollte, dann würde ich Sie darauf aufmerksam machen, dass vermutlich Ratten hier im Haus unterwegs sind und Spinnen und alle möglichen anderen Tiere, die durch die Löcher in der Decke auf uns herunterfallen könnten.“

„Was?“, rief sie mit schriller Stimme und blickte nach oben. Ihr Herz begann wieder ruhiger zu schlagen, als sie sah, dass die Decke in Ordnung war. Sie blieb so abrupt stehen, dass er gegen sie prallte.

„Wofür war das?“

„Weil Sie versucht haben, mir Angst zu machen.“

„Warum lassen Sie nicht mich zuerst die Treppe hinuntergehen?“

„Warum sollte ich?“

„Für den Fall, dass sich doch jemand im Haus aufhält, glaube ich, bin ich besser geeignet, damit fertigzuwerden, als Sie es sind.“

„Vielleicht würde ich Sie überraschen.“

„Miss Forrester, heute Nacht stelle ich fest, dass Sie voller Überraschungen stecken, aber als Gentleman muss ich darauf bestehen.“

Das Licht, das durch die schmutzigen Fenster fiel, half ihnen, sich auf der Wendeltreppe zurechtzufinden. Wenn sie sich über das hölzerne Geländer beugte, konnte Sarah bis nach ganz unten sehen. Wo es sehr dunkel war. Hatte Hartwick recht? Lebte jemand in diesem Haus, unbemerkt von den Nachbarn? Ein ungewaschener Riese von einem Mann, der wütend war, weil er entdeckt wurde?

„Also gut“, flüsterte sie. „Ich lasse Sie vorgehen.“

Als sie endlich unten angekommen waren, hielt Sarah ihn zurück. „Ganz in der Nähe gibt es eine Tür zum Garten“, flüsterte sie. „Von da aus sollte es nicht schwer sein, durch die Pforte nach draußen zu gelangen und auf die Gasse, die zu den Stallungen führt.“

„Das sehe ich auch so. Bleiben Sie zurück, während ich die Tür öffne.“ Hartwick bückte sich und zog ein Messer aus seinem Stiefel.

Sie trat zurück. „Wofür haben Sie das?“

„Man weiß nie, wem man in einer solchen Nacht begegnet“, gab er mit einem belustigten Grinsen zurück.

Sie folgte ihm den Gang entlang, der zu der Hintertür führte. Vor Aufregung bekam sie feuchte Hände. Sie zog die Handschuhe aus und bewegte die Finger für den Fall, dass sie einem Angreifer das Gesicht zerkratzen müsste.

Lieber Gott, mach, dass wir allein sind.

Niemals würde sie ihm gegenüber zugeben, wie froh sie war über seine selbstsichere Gegenwart in dieser Nacht. Die Vorstellung, durch dieses Haus zu schleichen, hatte ihr schon den ganzen Tag Übelkeit verursacht. Sie hatte überhaupt keine Erfahrung in solchen Dingen.

Sie erreichten die Tür, die zum Garten führte, und er benutzte sein Messer, um das Schloss zu öffnen. Dann legte er eine Hand auf den Türknauf. „Sind Sie bereit?“

Sarah nickte und holte tief Atem. Bei dem Gedanken, dass jemand sie vielleicht ganz aus der Nähe beobachtete, sträubten sich ihr die Nackenhaare.

Als sie in den überwucherten Garten hinaustraten, erschien ihr die feuchte Luft als eine willkommene Erleichterung nach dem muffigen Geruch im Innern. Endlich hatte sie den Abend mit Einbrechen und Einsteigen hinter sich.

„Brauchen Sie Begleitung auf dem Weg nach Hause?“, fragte er und musterte ihr Gesicht mit einem Blick, in dem sie echte Besorgnis las.

„Nein, vielen Dank. Ich nahm an, dass das Haus leer steht, aber Sie haben recht. Man kann nicht vorsichtig genug sein.“

„Vergessen Sie das nicht, wenn Sie weiterhin Lord Baxter treffen“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln.

Es dauerte einen Moment, ehe ihr wieder einfiel, welchen Grund er vorhin für ihre Anwesenheit auf dem Dach angenommen hatte. „Nun – ja, also, noch einmal vielen Dank.“

Sie standen einander im Mondschein gegenüber, und sie verspürte den seltsamen Drang, den Abstand zwischen ihnen zu verkürzen. Mit dem Blick aus seinen blauen Augen, die von langen Wimpern umgeben waren, hielt er sie gefangen. Eine ganze Weile stand sie da und erwiderte seinen Blick. Er hatte schöne Augen – aber sie las darin, wie misstrauisch er ihrer Geschichte gegenüberstand.

Schon wollte sie an ihm vorbeigehen, doch er zog sie an der Hand zurück. Er trat näher und betrachtete ihre Lippen. Durch die kühle feuchte Luft spürte sie die Wärme seines Körpers. Der Regen setzte wieder ein, aber das bemerkte sie nicht.

„Sie sollten gehen“, sagte er leise.

Sie nickte, einem Teil von ihr fiel es jedoch schwer, von ihm wegzugehen.

Er verzog die Lippen zu dem vertrauten frechen Lächeln. „Sie haben mir noch gar nicht dafür gedankt, dass ich Ihnen das Leben gerettet habe.“

Sie ließ seine Hand los und trat zurück. „Erwarten Sie keinen Kuss von mir. Der Kuss, den Sie in dieser Nacht von einer anderen Frau bekommen haben, sollte Ihnen genügen.“

Er verschränkte die Arme. „Wie kommen Sie darauf, dass es nur ein Kuss war?“

Manchmal machte er es ihr ganz leicht, seiner Anziehungkraft zu widerstehen. Sie wandte sich ab und folgte dem mit Unkraut überwucherten Pfad zu dem kleinen schmiedeeisernen Tor. „Die Details aus Ihrem Liebesleben interessieren mich nicht, Mylord“, gab sie über die Schulter hinweg zurück, dankbar, den arroganten Earl hinter sich lassen zu können.

Als sie in die Kutsche stieg, die ein paar Straßen weiter wartete, blickte ihr mit eifriger Miene ihre beste Freundin und engste Vertraute entgegen: Katrina, die Duchess of Lyonsdale.

„Hast du es gefunden, Sarah?“ Katrina rückte auf der mit grünem Samt bezogenen Bank ein Stück zur Seite, sodass sie neben ihr Platz nehmen konnte.

Sarah schüttelte den Kopf und setzte den Hut ab. Ganz umsonst hatte sie sich in Gefahr begeben und war in das Haus der Everills eingebrochen. „Ich habe ihr Zimmer von oben bis unten durchsucht, aber das Armband war nicht zu finden. Sie trägt es wohl heute Abend.“

„Und was wirst du jetzt tun?“

„Ich bin nicht sicher. Wenn sie es weiterhin überall trägt, wohin auch immer sie geht, werde ich gezwungen sein, es ihr vom Handgelenk zu ziehen.“ Sarah legte das Cape ab.

Katrina reichte ihr das Kleid, das sie in der Kutsche ausgezogen hatte, nachdem sie den Ball verlassen hatten. Sie runzelte besorgt die Stirn. „Du warst lange fort. Ich fing schon an, mir Sorgen zu machen.“

Sarah seufzte, bevor sie sich das Kleid über den Kopf zog. Dann drehte sie sich um, damit Katrina ihr die Knöpfe am Rückenteil schließen konnte. „Auf dem Nachbardach wurde ich von Lord Hartwick aufgehalten, als ich auf dem Rückweg war.“

„Hartwick? Weiß er, was du heute getan hast?“

„Nein, er glaubt, ich kam von einer Verabredung mit Lord Baxter.“

Katrina, die gerade einen weiteren Knopf schließen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. „Hältst du das für klug?“

„Es war besser, als ihm die Wahrheit zu sagen. Bei all seinen eigenen Indiskretionen glaube ich kaum, dass er darüber sprechen wird.“

„Was hat er auf dem Dach gesucht?“

„Musst du das wirklich fragen?“

Katrina knöpfte weiter. „Hat er etwas mit Everills verwitweter Nichte angefangen?“

„Nein, zum Glück war sie heute Abend nicht da, nach allem, was ich bei einem Blick in das Schlafzimmer erkennen konnte. Hartwick war mit Lady Helmford zusammen.“

„Warum kann dieser Mann nicht einmal eine unverheiratete Frau umwerben?“

„Weil er dann vielleicht gezwungen wäre, eine davon zu heiraten! Nach allem, was ich beobachten konnte, wird ihm eine Frau schnell langweilig.“ Sarah begann, sich das Haar aufzustecken.

„Ich wünschte, er würde heiraten und eine Familie gründen. Ich glaube, das würde ihm guttun. Er erscheint mir immer recht ruhelos.“

„Mir tut die Frau leid, die sich in einen wie Lord Hartwick verliebt. Er hat eine viel zu hohe Meinung von sich selbst und ist viel zu sehr ein Schürzenjäger, um jemals treu zu sein.“ Sie drehte sich zu Katrina um. „Wie sehe ich aus?“

„Du siehst aus, als hättest du den Ballsaal niemals verlassen. Es tut mir leid, dass das alles umsonst war.“

„Mir auch.“ Das Armband war der Schlüssel, um ihren Eltern großen Kummer zu ersparen. Sie würde nicht eher ruhen, bis sie es hatte.

Mit dem Prinzregenten Karten zu spielen erwies sich stets als unterhaltsam, vor allem, wenn der Mann verlor. In einem Alkoven bei White’s lehnte Hart sich auf seinem Stuhl zurück und beobachtete, wie sein Freund die Karten in seiner Hand mit der Miene eines Mannes betrachtete, der Wörter in einer fremden Sprache zu enträtseln versuchte.

Hart fiel sein aufgequollenes Gesicht auf, als Prinny den Blick von den Karten abwandte und ihn anblickte. „Sieh mich nicht so schadenfroh an.“

„Mir ist nicht aufgefallen, dass ich das tue.“

„Das tust du immer. Noch hast du dieses Spiel nicht gewonnen.“

„Dir geht allmählich das Geld aus. Allein dadurch könnte ich gewinnen.“

„Unwahrscheinlich.“ Prinny wandte sich wieder seinen Karten zu.

Hart trank einen Schluck Brandy und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Es war beinahe vier Uhr früh, aber es fühlte sich sehr viel später an. Nach diesem Spiel würde er sich verabschieden und sich die dringend benötigte Ruhe gönnen. „Ich glaube nicht, dass sich die Karten verändern, wie lange du sie auch immer anstarren magst.“

„Dräng mich nicht, Junge.“

Zwar war Hart jung genug, um der Sohn des Regenten zu sein, aber mit zweiunddreißig Jahren war er weit davon entfernt, als Junge bezeichnet zu werden. „Also gut. Falls ich einschlafe, muss mich jemand wecken, wenn ich an der Reihe bin.“

Endlich wählte Prinny seine Karte aus und legte sie auf den Tisch. Hart gewann das Spiel und den Rest des Geldes seines Freundes. Jetzt konnte er endlich zu Bett gehen und für mehrere Tage schlafen.

„Noch eine Runde, Hart.“

Verdammt! Wie war es möglich, dass der Mann nie müde wurde zu verlieren? „Du kannst nichts mehr setzen.“

Prinny wandte sich den drei Begleitern zu, die hinter ihm standen, um sie um Geld zu bitten, doch die drehten sich sofort um und gingen davon. „Nutzlos! Ihr seid alle nutzlos!“, rief er ihnen nach.

„Du siehst …“, sagte Hart und gähnte, „wir können nicht weiterspielen.“

„Eine letzte Runde noch. Wie wäre es, wenn wir um einen Gefallen spielen?“

Es war immer von Vorteil, so viele Gefallen wie möglich gut zu haben. Man wusste nie, wann man die brauchte. In Anbetracht des Pechs, das Prinny in dieser Nacht hatte, war Hart sicher, dass er gewinnen würde. „Also gut, aber dies ist die letzte.“

Eine Weile war der Ausgang der Partie ungewiss, bis es schließlich um die letzte Karte ging. Prinny legte sie ab und verkündete mit einem siegessicheren Lächeln: „Ich gewinne.“

Hart musste sich zweimal die Augen reiben, bis er sicher sein konnte, wirklich wach zu sein. Verdammt! Prinny hatte tatsächlich gewonnen, und jetzt schuldete er ihm einen Gefallen.

Der Prinzregent beugte sich vor und sagte: „Ich habe die Absicht, das einzufordern, weißt du.“

„Das dachte ich mir. Ich glaube, du hattest die ganze Zeit schon im Kopf, um welchen Gefallen du mich bitten wolltest.“

„Das könnte sein.“

„Du hättest einfach fragen können.“

„Das stimmt, aber jetzt bist du durch eine Spielschuld gezwungen, das für mich zu tun.“

„Und es gibt niemanden sonst, den du fragen könntest?“

„Niemanden, bei dem ich darauf vertrauen kann, dass er Stillschweigen bewahrt. Du darfst es niemandem erzählen. Nicht einmal Winter.“ Wenn er es nicht einmal dem Mann gegenüber erwähnen durfte, der Prinnys Geheimdienst befehligte, dann war seine Neugierde geweckt.

„Und du darfst es auch Lyonsdale gegenüber nicht erwähnen. Ich weiß, wie nahe ihr einander steht.“

„Also gut, du hast mein Wort darauf. Ich werde es keiner Menschenseele erzählen.“

Prinny sagte in verschwörerischem Ton: „Es sind Gerüchte aufgekommen, die besagen, dass einige der vermissten französischen Kronjuwelen hier in London versteckt sind.“

Hart rückte näher an Prinny heran. „Davon habe ich nichts gehört.“ Normalerweise erfuhr er alle wichtigen Dinge, ehe sie allgemein bekannt wurden.

„Louis hat mich durch seinen Botschafter benachrichtigt. Er bat mich um Hilfe, um sie für Frankreich ausfindig zu machen. Er will sie wiederhaben. Besonders erwähnt wurde der Sancy, ein großer hellgelber Diamant. James II. verkaufte den Stein, weil er Geld brauchte. So gelangte er nach Frankreich und wurde Teil der französischen Kronjuwelen.“

„Was hat das mit mir zu tun?“

„Ich will, dass du ihn findest.“

„Warum? Das klingt nach einer Aufgabe für das Innenministerium.“

„Ich und Castlereigh haben uns mit dem Leiter der zuständigen Abteilung getroffen. Er hat uns versichert, dass sie die Juwelen finden werden.“

„Ich verstehe nicht. Wenn die vom Ministerium sie finden, warum willst du dann mich da mit hineinziehen? Ich arbeite nicht mit denen zusammen.“

„Nein, aber du arbeitest für Winter, und ich weiß, wie gerissen du bist. Ich möchte, dass du das für mich erledigst, ohne das Wissen des Innenministeriums.“

Entweder bin ich viel zu müde, dachte Hart, oder Prinny redet mal wieder in Rätseln. „Du willst also, dass ich Frankreichs Kronjuwelen finde, die das Innenministerium bereits versucht, ausfindig zu machen, damit ich sie dir übergebe?“

„Nur den Sancy.“

„Warum?“

„Weil der Diamant uns gehören sollte. Aber ich kann ihn nicht offiziell zurückfordern, und ich habe nicht die Absicht, ihn an Frankreich zurückzugeben. Ich werde weder Louis noch Castlereigh wissen lassen, dass ich ihn besitze. Frankreich glaubt, dass Guillot, der Dieb, der ihn gestohlen hat, kurz nach seiner Ankunft in England Hinweise auf den Sancy in einem Armband versteckt hat. Das Armband tauchte kürzlich beim Juwelier Rundell & Bridge auf, und Everill hat es für seine Frau gekauft. Um den Sancy zu finden, brauchst du das Armband.“

Hart kniff die Augen zusammen, um den Mann, der vor ihm saß, besser sehen zu können. Möglicherweise hatte Prinny wieder einmal zu viel getrunken.

„Komm schon, Hart. Die Gefahr fasziniert dich bereits, seit du ein kleiner Junge warst. Du solltest mich anflehen, diese Aufgabe übernehmen zu dürfen. Dein Onkel hat oft gesagt, bei deiner Vorliebe für tollkühne Unternehmungen würde es an ein Wunder grenzen, wenn du das Alter von zwanzig Jahren erreichst. Und es ist tatsächlich ein Wunder, dass du noch am Leben bist nach deinem Sturz von den Klippen kurz nach dem Tod deiner Mutter.“

Hart rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Bei der Erwähnung seiner Mutter und jenes Tages, als er ein siebenjähriger Junge gewesen war, fühlte er sich unbehaglich – ein Junge, der nur dort hatte stehen wollen, wo seine Mutter zuletzt gestanden hatte, ehe er sie für immer verlor.

„Du wirst ihn also für mich finden?“ Prinnys Stimme durchbrach die schmerzliche Erinnerung, und zum ersten Mal war Hart froh, von ihm unterbrochen zu werden.

Er rieb sich die Augen. „Weißt du überhaupt, wie das Armband aussieht? Ich könnte mir vorstellen, dass Lady Everill einige Schmuckstücke in der Art besitzt.“

„Zufällig weiß ich, wie es aussieht.“ Prinny lächelte zufrieden. „Mir wurde gesagt, es sind quadratische Glieder aus Gold mit Porzellanmalerei. Und die einzelnen Glieder zeigen Gravuren im griechischen Stil. Der Dieb hat seinem Komplizen eine Nachricht hinterlassen, dass das Armband ihm helfen wird, den Sancy ausfindig zu machen. Finde das Armband mit den Hinweisen, wo der Sancy versteckt wurde. Ihn zu finden und mir zu übergeben ist es, was du mir schuldest.“

2. KAPITEL

Sarah stand im Haus ihrer Eltern vor der geschlossenen Tür zum Frühstückszimmer und versuchte, ein überzeugendes Lächeln aufzusetzen. Es funktionierte nicht. Sie musste ihre Enttäuschung darüber, Lady Everills Armband in der Nacht zuvor nicht gefunden zu haben, verbergen, ehe jemand ihre schlechte Stimmung bemerkte. Das würde Fragen geben – und sie hatte keine Antworten parat.

Auf der anderen Seite der Tür waren ihre Eltern zum Glück ahnungslos, wie nahe sie daran waren, in eine Welt von Trauer zurückgeworfen zu werden, in der sie ihre einzige Hoffnung war. Sie hatte das mit ihnen schon einmal durchlitten und hoffte inständig, das Armband zu finden, damit sie kein zweites Mal eine solche Zeit des Kummers miterleben musste.

Wieder bemühte sie sich zu lächeln. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an das Gefühl, mit ihrem Pferd im vollen Galopp auf dem Landsitz ihrer Familie am Strand entlangzureiten. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Das war das Beste, was sie zustande brachte.

Als sie das Zimmer betrat, hörte sie leises Klappern von Besteck. Ihre Mutter las einen Brief, und ihr Vater durchblätterte die Zeitung, während er sein Rührei aß. Wenn das Schweigen anhielt, könnte sie weiter versuchen, sich eine andere Möglichkeit zu überlegen, wie sie an das Armband kommen könnte.

Als Sarah sich eine Tasse Schokolade einschenkte, faltete ihre Mutter den Brief zusammen, den sie gerade gelesen hatte, und lächelte ihr zu.

„Guten Morgen! Hast du die Zeit mit Katrina gestern Abend genossen?“

„Das habe ich. Vielen Dank. Wir haben lange schon nicht mehr so viel Zeit miteinander verbracht, und wir hatten so viel zu besprechen.“

„Ihr beide scheint immer viel zu besprechen zu haben“, sagte ihre Mutter lächelnd. „Geht es ihr gut?“

„Ja, sie ist wohlauf, aber ich glaube, sie war angespannt, weil sie die kleine Augusta zum ersten Mal über Nacht allein gelassen hat.“

„Das war zu erwarten. Als ich dich das erste Mal allein gelassen habe, war das auch nicht einfach.“

„Sie wollte nach Hause, kaum dass unsere Kutsche die Auffahrt verlassen hatte“, bemerkte ihr Vater, ohne von der Zeitung aufzublicken.

Die Mutter nahm ihre Brille ab. „Wenn ich mich richtig erinnere, ging das nicht nur mir allein so“, neckte sie ihn, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder Sarah zuwandte. „Ich habe gerade einen Brief von Mrs. Colter gelesen. In ein paar Wochen wird Robert nach Liverpool kommen, um ein paar geschäftliche Dinge zu erledigen. Sie rechnet damit, dass er drei Monate bleibt, und ich dachte, es wäre nett, ihn zu uns nach London für einen Besuch einzuladen.“

„Das dachtest du?“ Sarah war sich vollkommen im Klaren darüber, warum ihre Mutter das für eine gute Idee hielt.

„Ja, wir könnten im Pulteney für ihn ein Zimmer reservieren.“

„Vielleicht verfügt Mr. Colter nicht über die Mittel, um in solch einem teuren Hotel abzusteigen.“

„Natürlich tut er das. Seine Familie ist recht gut situiert.“

Sarah trank einen Schluck von ihrer Schokolade. Das verschaffte ihr eine kleine Pause.

„Ich denke, es wäre wunderbar, ihn wiederzusehen. Er war mir immer der liebste von Mrs. Colters vier Söhnen.“

„Welcher ist er?“

„So lange sind wir noch nicht fort, Sarah“, schalt die Mutter sie. „Du erinnerst dich, er ist der Jüngste. Derjenige, der zwei Jahre älter ist als du. Der mit den reizenden Manieren.“

„Ist er nicht derjenige, der nicht spricht?“

„Er spricht. Ich habe ihn gehört. Warum glaubst du, dass er nicht spricht?“

„Mit mir spricht er nicht.“

Ihr Vater legte die Zeitung weg. „Vielleicht bringt der Mann kein einziges Wort heraus, weil du ihm keine Gelegenheit dafür gibst.“

„Das stimmt nicht. Ich bin ihm nie aus dem Weg gegangen.“

„Ich meinte, dass du in seiner Gegenwart zu viel redest“, entgegnete ihr Vater lächelnd.

„Vielleicht findet er dich schön, und es verschlägt ihm die Sprache in deiner Gegenwart.“ Dem Gesichtsausdruck ihrer Mutter nach zu urteilen hielt sie dies für durchaus möglich.

„Vielleicht hat Mr. Colter kein Interesse daran, mit mir zu reden.“

„Unsinn, du versuchst nur, mich davon abzubringen, ihn einzuladen.“

„Das stimmt nicht. Ich versuche nur, dich daran zu erinnern, dass Mr. Colter mir vor seiner Abreise keinen Antrag machen wird, auch wenn du ihn hierher einlädst.“

„Woher weißt du das? Ihr habt euch zwei Jahre lang nicht gesehen. Dinge können sich ändern.“

„Menschen ändern sich nicht, Mutter. Wenn wir uns vor zwei Jahren nicht ineinander verliebt haben, dann werden wir uns jetzt auch nicht ineinander verlieben. So funktioniert Liebe nicht.“

„Woher weißt du das? Eines Tages siehst du ihn vielleicht an und bemerkst, dass er der Mann ist, ohne den du nicht leben kannst.“

„Er ist stumm“, stellte Sarah etwas energischer fest.

„Nein, das ist er nicht“, erwiderte ihre Mutter ebenso entschieden.

„Ich weiß, du möchtest, dass ich einen netten Amerikaner heirate, und ich möchte auch einen finden. Aber Mr. Colter ist es nicht.“

„Das weißt du nicht. Ich möchte dich einfach nur glücklich und verliebt sehen. Und eines Tages möchte ich Großmutter sein. Ich bin deine Mutter, und ich möchte das Beste für dich.“

Hilfe suchend blickte sie hinüber zu ihrem Ehemann, aber an seiner amüsierten Miene sah Sarah, dass ihre Mutter von ihm keine Hilfe erwarten konnte.

„Welche Neuigkeiten hat Mrs. Colter noch geschrieben? Ich bin sicher, dass nicht der ganze Brief von ihrem Sohn handelt.“

Bitte, lieber Gott, mach, dass er nicht nur von ihrem Sohn handelt.

„Gibt es Neuigkeiten von unseren Nachbarn?“

„Mrs. Stevens hat ihr zweites Kind bekommen und Mrs. Anderson ihr fünftes. Beides Mädchen.“ Sie zog eine Braue hoch, als sie Sarah ansah.

Sarah trank mehr Schokolade.

„Und Susan Philpott und Jonathan van Houten sind verheiratet.“ Dieses Mal zog sie beide Brauen hoch.

„Wurde jemand verletzt? Ist jemand krank?“

„Sarah!“

„Ich frage nur, weil Menschen auch so etwas passiert. Nicht nur Kinderkriegen.“

Ihr Vater lachte und wandte sich ab, um von Bayles, dem Butler, einen Brief entgegenzunehmen. Sofort sah Sarah dorthin, und sie holte tief Luft, als sie das Siegel der amerikanischen Regierung auf dem Papier bemerkte.

„Mr. Harney ist gestorben“, sagte ihre Mutter, und Sarah wandte sich ihr zu. Die besorgte Miene ihres Vaters war ihr jedoch nicht entgangen, als dieser den Brief zu lesen begann.

Wieder einmal erschienen die Schatten der Trauer in den Augen ihrer Mutter. Sarah glaubte nicht, dass sie jemals verschwinden würden. Jedes Mal, wenn sie die Nachricht erhielt, dass jemand gestorben war, riss das die kaum verheilten Wunden der Trauer über Alexanders Tod auf.

„Wie traurig. Er war ein netter Mann.“

„Das war er. Mrs. Harney hat Glück, dass ihr Sohn sie bei sich zu Hause aufgenommen hat. Ihr Augenlicht schwindet immer mehr.“ Sie nahm ihren Stapel mit Briefen und stand auf. „Ich werde ihr heute noch schreiben, um meinem Mitgefühl Ausdruck zu verleihen. Dann werde ich Mrs. Colter schreiben, dass ich beabsichtige, Robert nach London einzuladen, gleich nach seiner Ankunft in England.“

Als ihre Mutter zur Tür ging, schenkte sich Sarah aus der Wedgwood-Kanne noch mehr Schokolade ein. Schokolade zum Frühstück war die Antwort auf alles – oder war es jedenfalls einmal gewesen.

Ihr Vater legte seinen Brief hin. „Deine Mutter und ich würden dich nie zwingen, jemanden zu heiraten, den du nicht liebst. Sie versucht nur, dir zu helfen.“

„Indem sie jeden Amerikaner in England zu mir schickt?“

„Wenn das nötig ist, um einen Ehemann für dich zu finden, dann vermutlich schon.“

„Bitte überzeuge sie davon, Mr. Colter nicht in der Hoffnung auf eine Verbindung hierher einzuladen. Wir passen nicht zueinander, und wir beide wissen das. Für meinen Geschmack ist er viel zu langweilig, und ich glaube, meine Lebhaftigkeit macht ihm Angst.“ Sarah legte den Kopf schief und versuchte zu entziffern, was ihr Vater las. „Sind das schlechte Nachrichten?“

„Es ist ein Brief aus Washington. Die Krise der Banken zu Hause ist nicht besser geworden. Immer weniger Menschen bekommen einen Kredit.“

„Sind wir auch davon betroffen?“

Er lächelte ihr beruhigend zu. „Uns geht es gut, und unser Gestüt floriert. Pferde werden immer gebraucht, aber ich werde an Perkins schreiben, dass er genau darauf achten soll, wem er beim Kauf eines Pferdes einen Kredit gewährt.“

Sie stellte die Tasse auf die Untertasse. „Es wäre leichter, wenn du zu Hause wärst und dich selbst darum kümmern könntest.“ Wenn sie Großbritannien verließen, würden ihre Eltern vielleicht nie erfahren, was Alexander getan hatte.

„Perkins ist sehr fähig. Ich vertraue ihm.“

„Ich hoffe, Präsident Monroe weiß deine Tätigkeit hier zu schätzen.“

„Hier geht es nicht um Präsident Monroe. Ich möchte der Nation etwas zurückgeben, die es mir ermöglicht hat, mein Leben so zu leben, wie ich es tue.“

Die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, bereitete ihr Unbehagen. Wenn bekannt wurde, welchen Verrat Alexander begangen hatte, würde ihr Vater vielleicht seine Stellung verlieren. „Hast du schon entschieden, was du tun wirst, wenn deine Mission hier erfüllt ist?“

Er zuckte die Achseln. „Wir werden nach New York zurückkehren. Vielleicht werde ich für ein politisches Amt kandidieren.“ Er lehnte sich bequem auf seinem Stuhl zurück und trank einen Schluck Kaffee. „Habe ich dir je erzählt, wie mein Vater als Colonel neben Präsident Washington gekämpft hat und entscheidend für den Erfolg der Schlacht auf Long Island verantwortlich war?“

„Du weißt, dass du das erzählt hast. Viele Male“, antwortete Sarah lächelnd.

„Dann weißt du, dass der Patriotismus stark ausgeprägt ist in unserer Familie. Mein Vater war ein Patriot, ich bin einer, und dein Bruder war noch patriotischer als wir alle zusammen.“ Wenn er über die Liebe zu seinem Land sprach, wirkte ihr Vater lebendiger als sonst während der ganzen Zeit, die seit dem Tod ihres Bruders vergangen war.

Vor vier Tagen hatte sie zufällig einen Brief geöffnet, der an ihren Vater adressiert und versehentlich in ihrer Post gelandet war. Sie hatte gelesen, dass der Absender im Besitz eines Briefes war, den ihr Bruder an einen englischen General geschrieben und in dem er militärische Details über Fort McHenry berichtet hatte. Diese Person wollte den verräterischen Brief gegen einen großen gelben Diamanten eintauschen, der mithilfe von Lady Everills Armband gefunden werden konnte.

Hätte ihr Vater diesen Brief gelesen, hätte sein Herz diese Nachricht verkraftet? Als er wegen Alexanders Tod in tiefer Trauer versank, hatten sie ihn schon beinahe verloren. Sie hatte festgestellt, dass das Einzige, was ihm half, den Tod ihres Bruders zu akzeptieren, die Tatsache war, dass Alexander heldenhaft sein Leben geopfert hatte, als er die Bürger von Baltimore in jener Nacht des Angriffs beschützt hatte. Was würde aus ihren Eltern werden, wenn sie feststellten, dass er als Verräter gestorben war?

Sie brauchte das Armband und den Diamanten, um ihren Eltern weiteren Schmerz zu ersparen. Das klang ganz einfach, war es jedoch nicht. Aber nichts würde sie daran hindern, dieses Armband und den Diamanten zu finden und ihre geliebten Eltern zu beschützen.

Kies knirschte unter seinen Stiefeln, als Hart neben Julian Carlisle, dem Duke of Lyonsdale, zum Besichtigungsstand bei Tattersall’s ging. Die vertraute Geruchsmischung von Heu und Dung lag in der Luft, als sie an Gruppen von Gentlemen vorbeigingen, die die Pferde in Augenschein nahmen, die zum Verkauf standen. Als er sich dem Auktionsblock näherte, nickte Hart Mr. Tattersall freundlich zu und sah sich dann um in der Hoffnung, das schöne Vollblut zu entdecken, das eine passende Ergänzung für seinen Rennstall wäre.

Julian blickte sich ebenfalls um. „Siehst du ihn?“

Hart schüttelte den Kopf und hielt noch immer Ausschau nach dem vierjährigen Hengst mit dem schimmernden schwarzen Fell.

„Hast du vor, für diesen deine Bank zu überfallen?“

„Ich werde nicht allzu bald als Bittsteller vor deiner Tür stehen, weil ich es mir nicht leisten kann, mein Gespann in Albany zu behalten, falls es das ist, was du befürchtest.“

„Das erleichtert mich“, gab Julian grinsend zurück. „Tatsächlich verzehrst du mehr, als du wiegst, bei mir zu Hause.“

„Kann ich etwas dafür, dass Katrina so großzügig ist und mich so regelmäßig bei euch zum Dinner einlädt?“

Autor

Laurie Benson
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