Ein Duke für immer und ewig?

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"Er hat meine Schwester ermordet!" Ein entsetztes Raunen geht durch die geschmückte Kirche am Hanover Square. Gerade will die schöne Musiklehrerin Dora dem begehrten Adligen George Crabbe, Duke of Stanbrook das Jawort geben, da erhebt einer der vornehmen Gäste lautstark diese unerhörten Vorwürfe. Zwar wird er von Georges Freunden rasch aus der Kirche entfernt, aber tiefe Zweifel überkommen Dora. Sie weiß, dass der schneidige Duke verwitwet ist, weil seine erste Frau angeblich den Freitod wählte. Aber was, wenn die Beschuldigungen stimmen? Hat die Liebe sie verblendet - ist der Duke, den sie gleich heiraten wird, ein gewissenloser Mörder?


  • Erscheinungstag 29.01.2019
  • Bandnummer 336
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736538
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

George Crabbe, Duke of Stanbrook, stand am Fuß der Treppe vor seinem Londoner Domizil am Grosvenor Square. Er hatte die rechte Hand noch immer zum Abschied gehoben, obwohl die Kutsche, in der seine beiden Cousinen zurück nach Cumberland fuhren, längst nicht mehr zu sehen war. Sie waren zeitig aufgebrochen, wobei einige vergessene – oder vergessen geglaubte – Gegenstände die Abreise zweimal verzögert hatten. Zuerst war eines der Dienstmädchen und schließlich die Haushälterin selbst die Treppe hinaufgehastet, um sicherheitshalber noch einmal einen Blick in die verlassenen Zimmer zu werfen.

Margaret und Audrey waren Schwestern und, um genau zu sein, seine Cousinen zweiten Grades. Sie waren nach London gekommen, um der Hochzeit von Imogen Hayes, Lady Barclay, und Percy, Earl of Hardford, beizuwohnen. Audrey war die Mutter der Braut. Auch Imogen hatte bis zu ihrer Trauung vor zwei Tagen in Stanbrook House gewohnt, zum einen, weil sie eine Verwandte war, aber vor allem, weil George niemanden auf der Welt mehr liebte als sie. Zugegeben, es gab noch fünf weitere Menschen, die er gleichermaßen liebte. Doch Imogen war die einzige Frau und seine einzige Verwandte unter ihnen. Zusammen bildeten sie sieben, er eingeschlossen, den selbst ernannten „Klub der Überlebenden“.

Vor gut acht Jahren hatte George beschlossen, Penderris Hall, seinen Landsitz in Cornwall, in ein Spital und Genesungsheim für Offiziere umzuwandeln, die in den Napoleonischen Kriegen schwer verwundet worden waren und einer intensiveren und umfassenderen Pflege bedurften, als ihre Familien ihnen angedeihen lassen konnten. Er hatte einen fähigen Arzt und weiteres medizinisches Personal als Pflegekräfte eingestellt und unter den vorgeschlagenen Patienten eine sorgsame Auswahl getroffen. Insgesamt waren es mehr als zwei Dutzend gewesen, von denen die meisten überlebt hatten und nach einigen Wochen oder Monaten zu ihrer Familie beziehungsweise ihrem Regiment zurückgekehrt waren. Sechs jedoch waren drei Jahre lang geblieben. Die Art ihrer Verletzungen war mannigfach gewesen und nicht immer körperlicher Natur. Hugo Emes, Lord Trentham, beispielsweise war ohne einen Kratzer bei ihm angekommen, allerdings in einer Zwangsjacke, um ihn davon abzuhalten, sich selbst oder anderen Schaden zuzufügen.

Zwischen ihnen sieben war ein starkes Band entstanden, eine ausgeprägte Verbundenheit, die nicht abgebrochen war, als die übrigen sechs von Penderris fortgegangen und in ihr jeweiliges Leben zurückgekehrt waren. Diese sechs Menschen bedeuteten George mehr als alle anderen noch Lebenden – wenngleich das nicht ganz stimmte, denn auch seinen einzigen Neffen Julian sowie dessen Frau Philippa und deren kleine Tochter Belinda liebte er von ganzem Herzen. Er sah die drei recht häufig und genoss jeden dieser Besuche. Sie lebten nur wenige Meilen von Penderris entfernt. Wobei die Liebe natürlich keiner hierarchischen Struktur folgte. Sie bevorzugte niemanden, sondern manifestierte sich auf tausenderlei unterschiedlicher Weise, die jede, für sich genommen, doch ganz und gar Liebe war. Seltsam, wenn man so darüber nachsann.

Er senkte die Hand, weil er sich plötzlich töricht vorkam, dem Nichts nachzuwinken, und wandte sich dem Haus zu. Am Portal drückte sich ein Lakai herum, zweifellos erpicht darauf, es zu schließen. Vermutlich fror er in seinen Schuhen. Über den Platz hinweg fegte George eine frische Morgenbrise ins Gesicht, obwohl sich über ihm ein blauer Himmel spannte, der für Mitte Mai einen herrlichen Tag verhieß. Vereinzelte Wolken jagten darüber hinweg.

George nickte dem jungen Lakaien zu und schickte ihn mit dem Auftrag in die Küche, ihm Kaffee in die Bibliothek zu bringen.

Die morgendliche Post war noch nicht da, stellte er fest, als er die Bibliothek betrat. Die Oberfläche des ausladenden Eichenschreibtischs vor dem Fenster war leer bis auf ein sauberes Blatt Löschpapier, ein Tintenfass und zwei Federkiele. Unter den eintreffenden Briefen würde sich der übliche Stapel Einladungen befinden, denn die Londoner Saison war in vollem Gange. Er würde unter Bällen, Soireen, Konzerten, Theatergruppen, Gartenfesten, als „Venezianisches Frühstück“ bezeichneten nachmittäglichen Schlemmereien, privaten Diners sowie einer Vielzahl anderer Amüsements wählen müssen. In seinem Klub erwarteten ihn erbauliche Gesellschaft und Zerstreuung, und Ablenkung fände er ebenso bei Tattersall’s, auf der Pferderennbahn, bei seinem Schneider und bei seinem Schuhmacher. Falls ihm der Sinn nicht nach Ausgehen stand, war er hier in diesem Zimmer von Bücherregalen umgeben, die vom Boden bis zur Decke reichten und nur von Türen und Fenstern unterbrochen wurden. Er wäre überrascht, in einem der Regale Platz für auch nur ein einziges weiteres Buch zu finden. Unter den Werken gab es gar einige, die er noch nicht gelesen hatte und an deren Lektüre er zweifellos seine Freude hätte.

Es war angenehm zu wissen, dass er mit seiner Zeit anfangen konnte, was immer er wollte, ja sich nach Belieben auch in Nichtstun ergehen durfte. Die Wochen vor Imogens Hochzeit waren ebenso wie die Tage danach äußerst erfüllt gewesen und hatten ihm wenig Muße gelassen. Er hatte die Geschäftigkeit genossen und musste einräumen, dass seine momentane Zufriedenheit darüber, wieder allein und frei und niemandem verpflichtet zu sein, einen gewissen faden Beigeschmack hatte. Das Haus wirkte sehr still, obwohl seine Cousinen keineswegs laute oder anspruchsvolle Gäste gewesen waren. Er hatte nicht erwartet, ihre Gesellschaft derart zu genießen. Immerhin waren sie ihm buchstäblich fremd gewesen, denn bis letzte Woche war er den beiden Schwestern jahrelang nicht begegnet.

Imogen hingegen war seine engste Freundin. Angesichts der bevorstehenden Hochzeit hätte sie jedes Recht darauf gehabt, für Hektik zu sorgen. Doch das hatte sie nicht getan. Sie war nicht im Mindesten eine aufgeregte Braut gewesen. Im Grunde hätte man ihr die anstehende Vermählung kaum angemerkt, wäre da nicht das neue, ungewohnte Strahlen gewesen, das sie umgeben hatte. Es hatte George das Herz gewärmt.

Das Hochzeitsmahl war in Stanbrook House abgehalten worden. Darauf hatte er bestanden, auch wenn sowohl Ralph als auch Flavian, ihre Gefährten vom Klub der Überlebenden, sich erboten hatten, es auszurichten. Der halbe ton hatte teilgenommen. Der Ballsaal war aus allen Nähten geplatzt, und nach dem Festessen und den Reden waren die Gäste unweigerlich auch in andere Räumlichkeiten vorgedrungen. Nur wenige hatten das Fest vor dem späten Abend verlassen.

George hatte jeden einzelnen Augenblick ausgekostet.

Nun waren die Festlichkeiten vorüber, und Imogen war mit Percy zur Hochzeitsreise nach Paris aufgebrochen. Auch Audrey und Margaret waren fort. Vor ihrem Aufbruch hatten sie ihn innig umarmt, ihm überschwänglich für seine Gastfreundschaft gedankt und ihn angefleht, sie recht bald in Cumberland zu besuchen.

An diesem Morgen verspürte George das Gefühl der Endgültigkeit. In den vergangenen zwei Jahren hatte eine Hochzeit die nächste gejagt. Inzwischen waren die Mitglieder vom Klub der Überlebenden samt und sonders vermählt, ebenso wie Georges Neffe. All die Menschen also, die ihm auf der Welt am wichtigsten waren. Imogen war die Letzte gewesen – abgesehen von ihm selbst natürlich. Aber er zählte kaum. Er war achtundvierzig und seit mehr als zwölf Jahre verwitwet, nachdem er achtzehn Jahre lang verheiratet gewesen war.

Er war froh über das Feuer im Kamin der Bibliothek, denn nach seinem Aufenthalt im Freien fror er. Er setzte sich in den Sessel neben dem Kamin und streckte die Hände den Flammen entgegen. Wenige Minuten darauf brachte der Lakai das Tablett, schenkte Kaffee ein und stellte Tasse und Unterteller auf den kleinen Tisch neben George, ergänzt durch einen Teller mit Plätzchen, die nach Butter und Muskat dufteten.

„Danke.“ George gab Milch und ein wenig Zucker in das dunkle Gebräu. Unvermittelt schoss ihm durch den Kopf, wie sehr es seine Gattin stets enerviert hatte, dass er den Angestellten für jeden noch so kleinen Dienst dankte. Das schmälere sein Ansehen bei der Dienerschaft, hatte sie zu erklären gepflegt.

Er konnte kaum fassen, dass all seine sechs Gefährten vom Klub der Überlebenden in den vergangenen zwei Jahren geheiratet hatten. Es war, als hätten sie sich in den ersten drei Jahren nach ihrem Scheiden von Penderris, in dessen Geborgenheit sie genesen waren, erst wieder in der Welt zurechtfinden müssen, um sich anschließend freudig in ein erfülltes, erfolgreiches Dasein zu stürzen – vielleicht, um das Leben zu feiern, nachdem sie sich so lange an der Schwelle zu Tod und Wahnsinn bewegt hatten. Er war sich recht sicher, dass sämtliche Ehen glücklich waren. Hugo und Vincent hatten bereits je ein Kind, und Vincent und Sophia erwarteten schon das nächste. Auch Ralph und Flavian konnten sich auf Nachwuchs freuen. Sogar Ben, ebenfalls einer aus ihren Reihen, hatte vor zwei Tagen angedeutet, dass sich Samantha seit einigen Tagen morgens unwohl fühle und er hoffe, es diene einer guten Sache.

Das alles machte George zufrieden. Immerhin hatte er Heim und Herz Männern – und einer Frau – geöffnet, die vom Krieg innerlich zerrissen gewesen waren und womöglich auf ewig ein Schatten ihrer selbst geblieben wären, hätte er sich ihrer nicht angenommen. Sofern sie denn überhaupt überlebt hätten.

Versonnen betrachtete er die Kekse, nahm sich jedoch keinen. Stattdessen griff er nach der Kaffeetasse und legte, den Henkel ignorierend, die Hände darum, um sie zu wärmen.

War diese verhaltene Niedergeschlagenheit, die ihn heute Morgen befallen hatte, nicht gänzlich untypisch für ihn? Imogens Hochzeit war ein glanzvoll festliches, freudiges Ereignis gewesen. Es gefiel George, sie derart strahlen zu sehen, und obwohl er anfangs Bedenken gehegt hatte, mochte er inzwischen auch Percy. Vielleicht war dieser tatsächlich der ideale Mann für Imogen. Die Gattinnen der übrigen Mitglieder des Klubs waren ihm ebenfalls sympathisch. In vielerlei Hinsicht kam er sich wie ein von selbstgefälligem Stolz erfüllter Vater vor, der seine Brut glücklich unter die Haube gebracht hat.

Womöglich lag genau darin das Problem. Denn er war nicht der Vater dieser Menschen, richtig? Ja, er hatte überhaupt kein Kind. Stirnrunzelnd musterte er seinen Kaffee und überlegte, ob er mehr Zucker hineingeben sollte. Er entschied sich dagegen und nahm einen weiteren Schluck. Sein einziger Sohn war in der Anfangsphase der Napoleonischen Kriege im Alter von siebzehn Jahren gefallen, und Georges Frau – Miriam – hatte sich nur wenige Monate darauf das Leben genommen.

Ich bin, dachte er und starrte mit leerem Blick in seine Tasse, mutterseelenallein – wenn auch nicht einsamer als vor Imogens Vermählung oder den anderen Hochzeiten. Julian war der Sohn seines verstorbenen Bruders, nicht sein eigener, und seine sechs Gefährten vom Klub der Überlebenden hatten Penderris vor fünf Jahren verlassen. Zwar bestanden die Freundschaftsbande fort, und sie alle kamen alljährlich für drei Wochen zusammen, gemeinhin auf Penderris, aber eine Familie waren sie genau genommen nicht. Selbst Imogen war lediglich die Tochter einer Cousine zweiten Grades.

Die sechs hatten ihr Leben wiederaufgenommen und ihn hinter sich gelassen. Welch gotterbärmlicher, wehleidiger Gedanke.

George leerte seine Tasse, knallte sie nicht eben sanft auf den Unterteller, stellte beides aufs Tablett und erhob sich, von Unruhe erfasst. Er trat hinter den Schreibtisch und ans Fenster, von wo aus er hinunter auf den Square schaute. Zu dieser frühen Stunde herrschte draußen kaum Betrieb. Die Wolken hatten sich gelichtet, das Blau des Himmels war gleichförmiger als vorhin. Es war ein Tag wie dazu geschaffen, einen Menschen aufzuheitern.

Er war einsam, verflucht noch mal. Einsam bis ins Mark, bis in die Tiefen seiner Seele.

Das war fast immer so gewesen.

Er war grausam früh ins Erwachsenendasein katapultiert worden. Mit siebzehn war er voll glühendem Eifer in die Armee eingetreten, nachdem er seinen Vater davon überzeugt hatte, dass eine militärische Laufbahn sein größter Herzenswunsch sei. Nur vier Monate darauf war er nach Hause zurückgerufen worden, weil sein Vater von seinem nahenden Tod erfahren hatte. Noch vor seinem achtzehnten Geburtstag hatte George seine Kornettstelle veräußert, Miriam geheiratet, seinen Vater verloren und von ihm den Titel des Duke of Stanbrook geerbt. Brendan war zur Welt gekommen, bevor George neunzehn geworden war.

Rückblickend kam es ihm vor, als wäre er sein gesamtes Erwachsenenleben lang nichts als einsam gewesen, abgesehen von der allzu kurzen Zeit beim Regiment, in dem er mit schier überbordender Begeisterung gedient hatte. Und da waren die wenigen Jahre mit Brendan gewesen …

Er verschränkte die Hände im Rücken. Zu spät kam ihm in den Sinn, dass er Ralph und Ben versprochen hatte, heute Morgen mit ihnen durch den Hyde Park zu reiten, sofern seine Cousinen, wie geplant, früh abreisten. Sämtliche Mitglieder des Klubs der Überlebenden waren für Imogens Hochzeit nach London gekommen, und alle waren noch hier, bis auf Vincent und Sophia, die gestern nach Gloucestershire aufgebrochen waren. Sie zogen die heimatlichen Gefilde vor, denn Vincent war blind und fühlte sich in der vertrauten Umgebung von Middlebury Park wohler. Und Braut und Bräutigam befanden sich natürlich auf dem Weg nach Paris.

Er hatte keinen Grund, sich einsam zu fühlen, ja würde ihn nicht einmal dann haben, wenn die übrigen vier London verließen und nach Hause zurückkehrten. George hatte weitere Freunde und Freundinnen in der Stadt. Und auf dem Land gab es Nachbarn, die er ebenfalls als Freunde betrachtete. Zudem waren da noch Julian und Philippa.

Dennoch war er einsam, verflucht. Dies hatte er sich erst kürzlich eingestanden – vergangene Woche, inmitten der fröhlich turbulenten Vorbereitungen auf die letzte Hochzeit unter den Mitgliedern des Klubs der Überlebenden. Einigermaßen entsetzt hatte er sich gefragt, ob er es Percy verübelte, dass dieser Imogens Herz erobert hatte und sie wieder lachen und strahlen ließ. Er hatte sich gefragt, ob er Imogen gar selbst liebte. Nun, ja, das tat er, hatte er festgestellt, nachdem er aufrichtig in sich gegangen war. Daran bestand kein Zweifel – so wie kein Zweifel daran bestand, dass seine Liebe zu ihr nicht diese Art von Liebe war. Er liebte sie ganz so, wie er Vincent und Hugo und die anderen liebte – aus tiefstem Herzen, jedoch rein platonisch.

In den letzten Tagen hatte er mit der Idee geliebäugelt, sich wieder eine Mätresse zu leisten. Im Laufe der Jahre hatte er das gelegentlich getan. Dann und wann war er gar eine diskrete Affäre mit Damen seines eigenen Standes eingegangen – ausnahmslos mit Witwen, für die er nichts als Zuneigung und Respekt empfunden hatte.

Er wollte keine Mätresse.

Vergangene Nacht hatte er wach gelegen und in die Schatten des Baldachins über seinem Bett gestarrt, unfähig, seinen Geist zum Loslassen und seinen Leib zum Schlafen zu bewegen. Es war eine jener Nächte gewesen, in denen er aus unerfindlichen Gründen keine Ruhe fand. Wie aus dem Nichts war ihm der Gedanke durch den Kopf geschossen, dass er vielleicht heiraten sollte. Nicht der Liebe oder der Nachkommen wegen – sowohl für romantische Gefühle als auch für die Vaterschaft war er zu alt. Körperlich hätte er Letzteres durchaus noch bewerkstelligen können, aber er wollte auf Penderris keine Kinder mehr, nicht einmal eines. Um die Kinderstube zu bevölkern, müsste er außerdem eine junge Frau ehelichen, und die Vorstellung einer Gattin, die halb so alt war wie er, reizte ihn wenig. Vielen Männern mochte das zusagen, doch ihm nicht. Er bewunderte die blutjungen Schönheiten, die sich jedes Frühjahr während der Saison in den mondänen Ballsälen drängten, aber es verlangte ihn nicht danach, sich eine von ihnen ins Bett zu holen.

Vielmehr war ihm letzte Nacht der Gedanke gekommen, dass eine Heirat ihm eine Gefährtin, ja möglicherweise eine echte Freundin bescheren könnte. Vielleicht gar so etwas wie eine Seelenverwandte. Und, ja, jemanden, der des Nachts neben ihm lag, die Einsamkeit vertrieb und regelmäßig die Freuden des Ehebetts mit ihm teilte.

Er lebte für seinen Geschmack schon ein wenig zu lange abstinent.

Auf der anderen Seite des Platzes wurden zwei Pferde von einem berittenen Stallknecht am Zügel geführt. George hörte das Hufgeklapper und sah, dass beide Tiere einen Damensattel trugen. Der Knecht saß ab. Das Portal des Hauses der Rees-Parrys direkt gegenüber ging auf, und die zwei jungen Töchter der Familie kamen heraus und ließen sich vom Stallknecht in den Sattel helfen. Beide Mädchen trugen ein elegantes Reitkostüm. Ihr ausgelassenes helles Lachen drang gedämpft über den Platz und durch das geschlossene Fenster der Bibliothek. Sichtlich beschwingt ritten sie davon, gefolgt vom Knecht, der respektvoll Abstand hielt.

Die Jugend mochte ein ergötzlicher Anblick sein, doch er sehnte sich nicht danach zurück.

Die Idee von letzter Nacht war keineswegs rein hypothetischer Natur gewesen. Ihm war dabei eine bestimmte Frau in den Sinn gekommen, wenngleich ihm schleierhaft war, wieso ausgerechnet sie. Schließlich kannte er sie kaum und hatte sie mehr als ein Jahr lang nicht gesehen. Dennoch hatte er ihr Bild lebhaft vor Augen gehabt, als er überlegt hatte, ob er nicht doch noch einmal heiraten sollte. Sie heiraten. Er hatte das Gefühl, dass sie die ideale – die einzig richtige – Wahl wäre.

Irgendwann war er eingeschlummert. Er war zeitig auf den Beinen gewesen, um mit seinen Cousinen zu frühstücken, ehe er sie verabschiedet hatte. Erst jetzt kamen ihm jene bizarren nächtlichen Betrachtungen wieder in den Sinn. Er musste schon halb geschlafen, halb geträumt haben. Sich neuerlich an eine Frau zu binden wäre schierer Aberwitz, vor allem, wenn es sich um eine praktisch Fremde handelte. Was, wenn sie gar nicht zu ihm passte? Was, wenn er nicht zu ihr passte? Eine unglückliche Ehe wäre schlimmer als Einsamkeit und Leere, die sich von Zeit zu Zeit verschworen, um ihn in Trübsal zu stürzen.

Und nun dachte er schon wieder daran. Warum zum Teufel war er nicht ausgeritten? Oder hatte sich in den White’s Club geflüchtet? Er hätte seinen Kaffee dort trinken und sich durch ein angeregtes Gespräch mit Bekannten oder die Morgenzeitungen ablenken können.

Würde sie Ja sagen, wenn er ihr einen Antrag machte? War es vermessen von ihm anzunehmen, dass sie es tatsächlich täte? Denn weshalb sollte sie ablehnen? Es sei denn, sie ließe sich von dem Umstand abhalten, dass sie ihn nicht liebte. Andererseits war sie kein junges Mädchen mehr, mit romantischen Flausen im Kopf. Romantik war ihr vermutlich ebenso gleichgültig wie ihm. Er hatte einer Frau einiges zu bieten, einmal abgesehen von den offensichtlichen Anreizen, die sein hoher Titel und sein Vermögen boten. Er konnte mit einem soliden Charakter aufwarten sowie mit Freundschaft und … Nun, er konnte ihr den Ehestand bieten. Sie war nie verheiratet gewesen.

Würde er sich bloß zum Narren machen, wenn er jetzt heiratete, da er die mittleren Jahre fast hinter sich gelassen hatte? Aber wieso? Immerzu heirateten Männer, die in seinem Alter, wenn nicht gar älter waren. Und es war ja nicht so, dass er es auf ein liebreizendes junges Ding frisch von der Schulbank abgesehen hätte. Das wäre in der Tat armselig gewesen. Stattdessen würde er Trost bei einer reifen Frau suchen, die sich einen solchen Trost womöglich ebenfalls ersehnte.

Es war absurd, sich selbst für zu alt zu halten. Oder sie. Gewiss hatte jeder Mensch ein Anrecht auf einen Gefährten, auf ein wenig Zufriedenheit im Leben, auch jenseits der Jugend. Er erwog doch nicht ernsthaft, es zu tun, oder?

Es klopfte an der Bibliothekstür, und herein kam ein junger Mann mit einem Bündel Briefe.

„Ethan.“ George nickte seinem Sekretär zu. „Irgendetwas besonders Dringliches oder Bedeutsames?“

„Im üblichen Rahmen, Euer Gnaden“, erwiderte Ethan Briggs, während er das Bündel in zwei Stapel aufteilte, die er auf dem Schreibtisch platzierte. „Geschäftliches und Gesellschaftliches.“ Dabei deutete er, wie stets, auf den jeweiligen Stapel.

„Rechnungen?“ George deutete mit dem Kinn auf den Stapel mit der Geschäftskorrespondenz.

„Eine von Hoby’s für ein Paar Reitstiefel“, erklärte sein Sekretär, „und diverse für Hochzeitsausgaben.“

„Muss ich die wirklich anschauen?“ George schnitt eine Grimasse. „Begleichen Sie sie einfach, Ethan.“

Sein Sekretär ergriff den ersten Stapel.

„Nehmen Sie auch die anderen mit“, wies George ihn an, „und verschicken Sie höfliche Absagen.“

„An alle, Euer Gnaden?“ Briggs hob die Augenbrauen. „Die Marchioness of …“

„An alle“, bekräftigte George. „Und bis auf Weiteres auch an all jene, von denen in den kommenden Tagen Post eintrifft. Ich werde die Stadt verlassen.“

„Die Stadt verlassen?“ Wieder zog Briggs die Brauen hoch.

Briggs war ein tüchtiger, durch und durch zuverlässiger Sekretär. George beschäftigte ihn seit nunmehr sechs Jahren. Aber niemand ist perfekt, dachte er. Der Mann hatte die Angewohnheit, Georges Worte zu wiederholen, als glaubte er, sich verhört zu haben.

„Aber übermorgen steht Ihre Rede im House of Lords an, Euer Gnaden“, wandte Briggs ein.

„Die kann warten.“ George winkte ab. „Ich werde morgen aufbrechen.“

„Nach Cornwall, Euer Gnaden?“, erkundigte sich Briggs. „Wünschen Sie, dass ich der Haushälterin schreibe und sie darüber informiere …?“

„Nein, nicht nach Penderris Hall“, entgegnete George. „Ich werde zurückkehren … nun, wenn es so weit ist. Derweil seien Sie so gut, meine Rechnungen zu bezahlen, meine Einladungen abzulehnen und zu tun, womit auch immer ich Sie sonst noch beschäftigt halte.“

Sein Sekretär nahm auch den anderen Stapel vom Schreibtisch, verbeugte sich respektvoll und verließ das Zimmer.

Dann werde ich es wirklich tun? Würde er um die Hand einer Dame anhalten, die er kaum kannte und lange nicht gesehen hatte?

Wie brachte man einen Heiratsantrag vor? Beim letzten Mal war er siebzehn und die Sache eine reine Formalität gewesen, da die Väter die Verbindung bereits beschlossen, sich über die Bedingungen geeinigt und den Vertrag unterzeichnet hatten. Was der Sohn beziehungsweise die Tochter wünschte oder empfand, war weder in Betracht gezogen noch auch nur erfragt worden, forciert dadurch, dass einer der Väter mit einem Bein im Grab gestanden und es eilig gehabt hatte, seinen Sohn zu vermählen. Wenigstens kannte George die Dame dieses Mal ein bisschen besser, als er Miriam gekannt hatte. Wenigstens wusste er, wie sie aussah und wie ihre Stimme klang. Miriam hatte er erstmals zu Gesicht bekommen, als er ihr stammelnd und förmlich einen Antrag gemacht hatte, unter dem gestrengen Blick der beiden Väter.

Würde er es wahrhaftig tun?

Was zum Teufel würde sie denken?

Was würde sie sagen?

2. KAPITEL

Man hätte fast meinen können, der Frühling weiche dem Sommer, obwohl es erst Mai war. Die Sonne schien, und der Himmel war von einem klaren, tiefen Blau. Die Luft ist so warm, dass mein Umschlagtuch nicht nur überflüssig, sondern geradezu unangenehm ist, dachte Dora Debbins, während sie die Haustür öffnete und eintrat. Sie rief Mrs. Henry, ihrer Haushälterin, etwas zu, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie wieder zu Hause war.

Ihr Zuhause war ein bescheidenes Cottage im Dorf Inglebrook in Gloucestershire, wo sie seit neun Jahren lebte. Geboren worden war sie in Lancashire. Ihre Mutter war davongelaufen, als Dora siebzehn gewesen war, und Dora hatte sich alle Mühe gegeben, sich um das große Haus ihres Vaters zu kümmern und ihrer jüngeren Schwester Agnes eine Mutter zu sein. Als sie dreißig gewesen war, hatte ihr Vater eine Witwe geehelicht, eine langjährige Freundin der Familie. Die damals achtzehnjährige Agnes hatte einen Nachbarn geheiratet, der einst Dora den Hof gemacht hatte, was Agnes nicht wusste. Binnen eines Jahres war Dora plötzlich überflüssig geworden, nirgendwohin gehörend. Die neue Gattin ihres Vaters hatte vermehrt Andeutungen fallen lassen, denen Dora entnommen hatte, dass sie sich nach einer anderen Bleibe umsehen sollte. Sie hatte erwogen, sich eine Anstellung als Gouvernante, Gesellschafterin oder Haushälterin zu suchen, aber nichts davon hatte ihr so recht zugesagt.

Durch einen glücklichen Zufall hatte sie eines Tages eine Annonce in der Zeitung ihres Vaters entdeckt. Darin wurde eine ehrbare Person – Herr oder Dame – eingeladen, im Dorf Inglebrook in Gloucestershire Musik zu unterrichten. Die Schüler würden aus dem Dorf sowie dem Umland stammen und eine ganze Bandbreite an Instrumenten spielen. Es war keine Stellung mit fester Bezahlung. Im Grunde war es überhaupt keine richtige Stellung. Es gab weder einen Arbeitgeber noch eine Garantie für Arbeit oder Einkommen, nur die Aussicht darauf, sich ein florierendes, unabhängiges Geschäft aufzubauen, das dem betreffenden Lehrer höchstwahrscheinlich einen angemessenen Verdienst einbringen würde. In der Annonce wurde auch ein Cottage im Dorf erwähnt, das zu einem annehmbaren Preis zu haben sei. Dora hatte die nötigen Qualifikationen besessen, und ihr Vater war bereit gewesen, das Haus zu bezahlen – dessen Preis sich mehr oder weniger mit der Höhe von Agnes’ Mitgift gedeckt hatte. Seine älteste Tochter und seine neue Gattin unter einem Dach zu haben, hatte ein Problem dargestellt, und angesichts dieser relativ einfachen Lösung hatte er seine Erleichterung kaum verhehlen können.

Dora hatte dem in der Anzeige erwähnten Agenten geschrieben, hatte rasch eine Zusage erhalten und war in ihr neues Heim gezogen, ohne dieses vorher begutachtet zu haben. Seitdem lebte sie hier, war ausgelastet und glücklich und konnte nie über zu wenige Schüler oder mangelndes Einkommen klagen. Sie war keineswegs reich – ganz und gar nicht. Doch was sie mit dem Unterricht verdiente, genügte für ihren Bedarf und ermöglichte es ihr, einen Notgroschen für Regentage zurückzulegen, wie sie es nannte. Sie konnte es sich sogar leisten, Mrs. Henry für sich putzen, kochen und einkaufen zu lassen. Die Dörfler hatten sie in ihrer Mitte aufgenommen, und wenngleich sie keine engen Freunde hatte, gab es doch zahlreiche gute Bekannte.

Sie ging geradewegs hinauf in ihr Zimmer, um Schultertuch und Schute abzulegen. Vor dem Spiegel schüttelte sie ihr platt gedrücktes Haar auf, ehe sie sich in ihrem kleinen Ankleidezimmer die Hände in der Schüssel wusch. Durch das Fenster, das nach hinten hinausging, schaute sie hinunter in den Garten. Von hier oben aus wirkte er gepflegt und farbenprächtig, aber sie wusste, dass sie dem unablässig wuchernden Unkraut in ein, zwei Tagen erneut mit Forke und Pflanzschaufel würde zu Leibe rücken müssen. Im Grunde mochte sie Wildkräuter, aber – bitte, bitte – nicht in ihrem Garten. Sollten sie an den Hecken und auf den Wiesen ringsumher wachsen und gedeihen. Dort erfreute sie sich gern den lieben langen Tag an ihnen.

Oh, dachte sie und verspürte einen jähen schmerzlichen Stich, wie sehr ich Agnes immer noch vermisse. Nach dem Verlust ihres Mannes hatte ihre Schwester ein Jahr lang hier bei ihr gelebt. Einen Gutteil ihrer Zeit hatte sie im Freien verbracht und Wildblumen gemalt. Agnes war eine begnadete Aquarellkünstlerin. Es war ein überaus glückliches Jahr gewesen, denn Agnes war ihr wie die Tochter, die sie nicht hatte und niemals haben würde. Aber Dora war bewusst gewesen, dass dieses Intermezzo nicht von Dauer sein konnte. Sie hatte sich nicht zugestanden, darauf auch nur zu hoffen. Und es hatte tatsächlich nicht angedauert, denn Agnes hatte sich verliebt.

Dora mochte Flavian, Viscount Ponsonby, Agnes’ zweiten Ehemann. Sie mochte ihn sogar sehr, obwohl sie anfangs ihre Zweifel gehabt hatte. Er war ansehnlich, charmant und geistreich, hatte jedoch eine spöttisch geschwungene Augenbraue, der sie misstraut hatte. Bei näherem Kennenlernen hatte sie allerdings zugeben müssen, dass er der ideale Partner für ihre stille, zurückhaltende Schwester war. Als sie vergangenes Jahr hier im Dorf geheiratet hatten, war für Dora offenkundig gewesen, dass es eine Verbindung aus Liebe war oder zumindest bald sein würde. Und tatsächlich hatte es sich so entwickelt. Die zwei waren glücklich miteinander und erwarteten im Herbst ein Kind.

Dora wandte sich vom Fenster ab, als ihr bewusst wurde, dass sie den Garten nicht länger wahrnahm. Sie lebten im weit entfernten Sussex, Agnes und Flavian. Aber das war nicht das Ende der Welt, nicht wahr? Dora hatte sie schon besucht, zu Weihnachten und zu Ostern. Beide Male war sie jeweils zwei Wochen geblieben, obgleich Flavian sie gedrängt hatte, länger zu bleiben, und Agnes ihr aufrichtig angeboten hatte, sie könne ewig bei ihnen bleiben.

„Ewig und drei Tage“, hatte Flavian ergänzt.

Dora hatte sich dagegen entschieden. Es lag in der Natur der Sache, dass allein zu leben eine einsame Angelegenheit war. Aber sie zog das Alleinsein allen ihr bekannten Alternativen bei Weitem vor. Sie war neununddreißig und ledig. Ihr blieb entweder, sich als jemandes Gouvernante oder Gesellschafterin zu verdingen oder als mittellose Verwandte unablässig zwischen Schwester, Vater und Bruder hin und her zu wechseln. Sie war sehr, sehr dankbar für ihr bescheidenes, adrettes Cottage, ihren Erwerb, der sie unabhängig machte, und ihr einsames Dasein. Nein, sie war nicht einsam – allein.

Von unten vernahm sie das Geklapper von Geschirr. Damit gab Mrs. Henry ihr unmissverständlich zu verstehen, dass der Tee fertig sei und in der Wohnstube auf sie warte, wo er kalt werden würde, sollte sie sich nicht bald nach unten bequemen.

Sie ging hinunter.

„Gewiss haben Sie auf Middlebury alles über die große Hochzeit in London erfahren, habe ich recht?“, fragte Mrs. Henry, die hoffnungsfroh in der Tür stehen blieb, während Dora sich eine Tasse Tee einschenkte und einen Scone mit Butter bestrich.

„Von Lady Darleigh?“ Dora lächelte. „Ja, sie hat mir erzählt, es sei ein überaus grandioses und fröhliches Ereignis gewesen. Die Trauung wurde in St George’s am Hanover Square vollzogen, und der Duke of Stanbrook hat ein opulentes Hochzeitsmahl ausgerichtet. Ich freue mich sehr für Lady Barclay, obwohl ich sie nun wohl Countess of Hardford nennen sollte. Als ich sie letztes Jahr kennenlernte, fand ich sie äußerst charmant, wenn auch reserviert. Lady Darleigh sagt, dass der frischgebackene Gatte sie vergöttere. Ausgesprochen romantisch, nicht wahr?“

Wie wunderbar das sein musste …

Sie nahm einen Bissen von ihrem Scone. Sophia, Lady Darleigh, war vorgestern mit ihrem Mann aus London zurück nach Middlebury Park gekommen. Sie hatte ausführlich über die Hochzeit berichtet, der sie beigewohnt hatten, doch im Moment war Dora zu erschöpft, um Einzelheiten wiederzugeben. Sie hatte eine zusätzliche Pianoforte-Stunde für die Viscountess in ihren ohnehin vollen Tagesplan gezwängt und seit dem Frühstück kaum einen Augenblick für sich gehabt.

„Bestimmt erhalte ich in den nächsten Tagen einen langen Brief von Agnes, in dem sie alles schildert“, meinte sie auf Mrs. Henrys enttäuschten Blick hin. „Ich werde Ihnen mitteilen, was sie über die Hochzeit zu sagen hat.“

Ihre Haushälterin nickte und schloss die Tür.

Dora biss erneut von ihrem Scone ab. Unwillkürlich dachte sie an das vergangene Jahr zurück. Die Tage hatten zu den glücklichsten ihres Lebens gezählt, nur um in jenen schmerzhaftesten aller Tage zu münden, an dem Agnes mit ihrem frisch angetrauten Ehemann davongefahren war und Dora ihnen lächelnd nachgewinkt hatte.

Wie erbärmlich, dass sie jene Zeit so oft wieder heraufbeschwor. Der Viscount und die Viscountess Darleigh, die auf Middlebury Park gleich jenseits des Dorfes lebten, hatten Hausgäste beherbergt, höchst illustre und durchweg adelige Gäste. Während ihres Aufenthalts waren Dora und Agnes mehr als einmal ins Haus eingeladen worden, und einige Male waren diverse Grüppchen dieser Gäste ins Cottage gekommen und hatten gar Tee hier getrunken. Agnes war eine enge Freundin der Viscountess, und auch Dora war vertraut mit ihr und dem Viscount, da sie den beiden Musikunterricht gab. Daher waren sie und Agnes eines Abends zum Dinner eingeladen worden, und hinterher war Dora gebeten worden zu spielen.

Sämtliche Gäste waren ungemein liebenswürdig gewesen. Und charmant. Dora spielte Harfe, und niemand wollte sie aufhören lassen. Anschließend setzte sie sich ans Pianoforte, und die Gäste drängten sie weiterzuspielen. Niemand Geringeres als der Duke of Stanbrook bot ihr danach seinen Arm und geleitete sie zum Tee hinauf in den Salon. Er war, neben Lord Darleigh, ihr Tischnachbar an der Dinnertafel gewesen. Vermutlich hätte es ihr vor Ehrfurcht die Sprache verschlagen, wenn sie den Viscount nicht schon so lange gekannt hätte. Außerdem gab sich der Duke redlich Mühe, ihr die Scheu zu nehmen. Hatte sie ihn zunächst als einschüchternd streng aussehenden Aristokraten wahrgenommen, änderte sich dies, als sie ihm in die Augen sah, die voller Güte waren.

Man hatte ihr das Gefühl gegeben, etwas ganz Besonderes zu sein. Wie eine gefeierte Berühmtheit. Während jener kurzen Tage hatte sie sich herrlich lebendig gefühlt. Wie traurig – nein, armselig –, dass sie im Laufe ihres Lebens keine vergleichbar berauschenden Erinnerungen hatte anhäufen können, in denen sie schwelgen konnte, wenn sie, so wie jetzt, allein dasaß, zu müde zum Lesen. Oder wenn sie des Nachts wach lag und nicht einschlafen konnte, wie es manchmal der Fall war.

Sie bezeichneten sich als Klub, die Gäste, die drei Wochen lang auf Middlebury Park geweilt hatten – als den Klub der Überlebenden. Sie hatten beide Kriege gegen Napoleon Bonaparte sowie die davongetragenen schweren Blessuren überstanden. Auch Lady Barclay war Mitglied – die Dame, die jüngst geheiratet hatte. Natürlich hatte sie nicht selbst als Offizier gedient, doch ihr erster Mann war einer gewesen. Die arme Dame hatte mit angesehen, wie er durch Folter starb, nachdem er in Portugal in Gefangenschaft geraten war. Viscount Darleigh selbst war erblindet. Flavian, Lord Ponsonby und Agnes’ Ehemann, hatte solch gravierende Kopfverletzungen erlitten, dass er bei seiner Rückkehr nach England weder denken noch sprechen oder Gesagtes begreifen konnte. Baron Trentham, Sir Benedict Harper und der Earl of Berwick – Letzterer hatte im vergangenen Jahr ein Herzogtum geerbt – hatten ebenfalls unsäglich gelitten. Vor Jahren hatte der Duke of Stanbrook sie alle in sein Haus in Cornwall geholt und ihnen die Zeit, den Raum und die Pflege geboten, die sie benötigt hatten, um zu genesen und wieder zu Kräften zu kommen. Inzwischen waren sie alle verheiratet, bis auf den Duke selbst, der schon älter und zudem verwitwet war.

Dora fragte sich, ob sie je wieder eines ihrer alljährlichen Treffen auf Middlebury Park abhalten würden. Falls ja, würde sie womöglich erneut eingeladen werden – vielleicht gar für die Gäste spielen dürfen. Immerhin war sie Agnes’ Schwester, und Agnes war nun mit einem von ihnen vermählt.

Sie hob ihre Tasse und nahm einen Schluck Tee. Er war nur noch lauwarm, und sie verzog das Gesicht. Natürlich war das allein ihre Schuld. Aber sie mochte Tee nur, wenn er richtig heiß war.

Von der Haustür her ertönte ein Klopfen. Dora seufzte. Sie war einfach zu ausgelaugt, um einen unangekündigten Besucher zu empfangen. Ihre letzte Schülerin heute war die vierzehnjährige Miranda Corley gewesen, die das Pianoforte ebenso lustlos malträtierte, wie Dora sie unterrichtete. Das arme Mädchen war bar jeden musikalischen Talentes, wenngleich die Eltern es für das reinste Wunderkind hielten. Der Unterricht war für Miranda wie für Dora stets eine Tortur.

Vielleicht würde Mrs. Henry sich des Besuchers annehmen, wer immer es war, der da auf ihrer Schwelle stand. Ihre Haushälterin wusste, wie müde sie nach einem langen Tag voller Unterrichtsstunden war, und wachte wie eine Glucke darüber, dass sie nicht gestört wurde. Doch nicht so heute, wie es schien. Es klopfte an der Tür zur Wohnstube, ehe Mrs. Henry sie öffnete und einen Moment lang einfach dastand, die Augen groß wie Unterteller.

„Besuch für Sie, Miss Debbins“, sagte sie und trat beiseite.

Und als hätten Doras Erinnerungen an das vergangene Jahr ihn heraufbeschworen, trat der Duke of Stanbrook in ihre Wohnstube.

Gleich hinter der Tür blieb er stehen, während Mrs. Henry diese schloss.

„Miss Debbins.“ Er verbeugte sich. „Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen?“

Jeder Gedanke daran, wie freundlich und umgänglich und im Großen und Ganzen menschlich der Duke war, löste sich in Luft auf. Abermals wurde sie von Ehrfurcht befallen, in gleichem Maße wie damals, als sie ihm im Salon von Middlebury Park erstmals begegnet war. Er war hochgewachsen und wirkte distinguiert. Sein dunkles Haar war an den Schläfen von Silber durchsetzt, und seine strengen, wie gemeißelt wirkenden Züge wurden von einer geraden Nase, hohen Wangenknochen und schmalen Lippen beherrscht. Seine Haltung hatte etwas Steifes, Abweisendes, das letztes Jahr, soweit sie sich erinnerte, noch nicht dagewesen war. Er war vom Scheitel bis zur Sohle der Inbegriff des eleganten, unnahbaren Aristokraten und schien Doras Wohnstube gänzlich auszufüllen und ihr die Luft zum Atmen zu nehmen.

Jäh ging ihr auf, dass sie noch immer saß und ihn offenen Mundes anstarrte, wie eine vom Donner gerührte Närrin. Er hatte ihr eine Frage gestellt und schaute sie in Erwartung einer Antwort an, die Brauen gehoben. Verspätet kam sie auf die Beine und knickste. Dabei versuchte sie sich ins Gedächtnis zu rufen, was für Kleider sie trug und ob ihre Gewandung eine Haube umfasste.

„Euer Gnaden“, begrüßte sie ihn. „Nein, Sie kommen keineswegs ungelegen. Für heute bin ich fertig mit dem Musikunterricht. Ich war dabei, Tee zu trinken. Die Kanne dürfte inzwischen kalt sein. Lassen Sie mich Mrs. Henry rufen …“

Er gebot ihr Einhalt, indem er eine seiner eleganten Hände hob.

„Bitte machen Sie sich keine Umstände. Ich habe gerade erst gemeinsam mit Vincent und Sophia gegessen.“

Mit Viscount und Lady Darleigh.

„Ich war heute auf Middlebury Park“, sagte sie, „und habe Lady Darleigh Pianoforte-Unterricht gegeben, da sie ihre reguläre Stunde wegen Lady Barclays Hochzeit in London nicht wahrnehmen konnte. Sie hat gar nicht erwähnt, dass Sie sie herbegleitet haben. Wozu sie natürlich auch nicht verpflichtet ist.“ Sie spürte ihre Wangen heiß werden. „Es geht mich nichts an.“

„Ich bin erst vor einer Stunde eingetroffen“, erklärte er, „unerwartet, wenn auch nicht ohne Einladung. Wann immer ich Vincent und seiner Gattin begegne, drängen sie mich, sie nach Belieben zu besuchen. Das kommt stets von Herzen, da bin ich gewiss, doch mir ist auch bewusst, dass sie nie ernsthaft mit meinem Erscheinen rechnen. Dieses Mal habe ich sie beim Wort genommen. Ich bin ihnen von London aus sozusagen auf dem Fuße gefolgt, und ich glaube, dass sie sich gefreut haben, mich zu sehen, gesegnet sei ihre Gutherzigkeit. Wobei ‚sehen‘ in Vincents Fall nicht zutrifft. Manchmal neigt man dazu zu vergessen, dass er nicht im eigentlichen Sinne sehen kann.“

Doras Wangen glühten umso heißer. Wie lange hatte sie ihn dort an der Tür herumstehen lassen? Was würde er nur von ihren ungehobelten Manieren halten?

„Möchten Sie sich nicht setzen, Euer Gnaden?“ Sie wies auf den Sessel, der ihrem gegenüber auf der anderen Kaminseite stand. „Sind Sie von Middlebury aus zu Fuß hergekommen? Welch herrlicher Tag, um sich an der frischen Luft zu bewegen, nicht wahr?“

Er war vor einer Stunde aus London eingetroffen? Er hatte mit Viscount und Lady Darleigh den Tee eingenommen, um das Haus danach umgehend zu verlassen und … zu ihr zu kommen? Ob er Neuigkeiten von Agnes brachte?

„Ich werde darauf verzichten, Platz zu nehmen“, entgegnete er. „Dies ist im Grunde kein Höflichkeitsbesuch.“

„Agnes …?“ Unwillkürlich fasste sie sich an die Kehle. Das erklärte sein steifes, förmliches Auftreten. Etwas stimmte nicht mit Agnes. Sie hatte eine Fehlgeburt erlitten.

„Als ich Ihre Schwester vor wenigen Tagen gesehen habe, schien sie mir das blühende Leben zu sein“, beruhigte er sie. „Verzeihen Sie, falls mein plötzliches Auftauchen Sie erschreckt haben sollte. Ich habe keineswegs schlechte Nachrichten zu überbringen. In Wahrheit bin ich hier, um Ihnen eine Frage zu stellen.“

Dora verschränkte die Hände auf dem Schoß und wartete darauf, dass er fortfuhr. Einen oder zwei Tage nach dem Dinner auf Middlebury letztes Jahr war er mit einigen der anderen Gäste im Cottage erschienen, um ihr für ihre musikalische Darbietung zu danken und der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, sie möge noch einmal für sie spielen, bevor sie alle abreisen müssten. Dazu hatte sie keine Gelegenheit mehr gehabt. Würde er sie nun darum bitten? Für den heutigen Abend vielleicht?

Doch es kam anders.

„Ich frage mich, Miss Debbins, ob Sie mir die große Ehre erweisen würden, mich zu heiraten.“

Manchmal werden Worte ausgesprochen, die man deutlich hört, allerdings eher als Abfolge einzelner, unzusammenhängender Laute aufnimmt und nicht als Wortverbünde und ganze Sätze. Dann dauert es ein wenig, die Laute zusammenzufügen und zu begreifen, was gesagt worden ist.

Dora vernahm seine Worte, erfasste deren Bedeutung jedoch nicht sofort. Sie starrte ihn an, die Hände ineinander verkrampft. Mit einer so sonderbaren wie törichten Form von Enttäuschung ging ihr durch den Kopf, dass sie heute Abend doch nicht auf der Harfe oder dem Pianoforte spielen sollte.

Er wollte sie bloß heiraten.

Was?

Mit einem Mal blickte er zerknirscht drein und ähnelte damit wieder dem Mann von vergangenem Jahr, an den sie sich erinnerte. „Meinen letzten Heiratsantrag habe ich mit siebzehn vorgebracht“, erklärte er, „vor über dreißig Jahren. Aber trotz dieser Tatsache als Rechtfertigung sehe ich ein, dass dies ein ziemlich jämmerlicher Versuch war. Seit meiner Abreise aus London hätte ich reichlich Zeit gehabt, mir eine schmucke Rede zurechtzulegen, habe es jedoch verabsäumt. Ich habe nicht einmal Blumen mitgebracht oder bin auf ein Knie niedergesunken. Sie müssen mich für einen recht erbärmlichen Freier halten, Miss Debbins.“

„Sie wollen, dass ich Sie heirate?“ Sie zeigte auf sich selbst, indem sie sich eine Hand aufs Herz legte, so als wäre das Zimmer voller unvermählter Damen und sie wüsste nicht genau, ob er sie gemeint hatte.

Er verschränkte die Hände im Rücken und seufzte vernehmlich. „Von der Hochzeit, die vor knapp einer Woche in London stattgefunden hat, wissen Sie selbstverständlich“, sagte er. „Als wir alle letztes Jahr hier auf Middlebury Park waren, haben Sie zweifellos vom Klub der Überlebenden erfahren. Falls niemand sonst Ihnen davon erzählt haben sollte, dann doch spätestens Flavian. Uns alle verbindet eine innige Freundschaft. Im Laufe der vergangenen zwei Jahre haben meine sechs Gefährten allesamt geheiratet. Nachdem Imogens Hochzeit letzte Woche vorüber war und die letzten meiner Gäste vor wenigen Tagen mein Londoner Haus verlassen haben, ist mir bewusst geworden, dass ich ins Hintertreffen geraten bin. Ich habe erkannt, dass … ich vielleicht ein wenig einsam bin.“

Dora hatte es den Atem verschlagen. Man erwartete von einem Adeligen seiner … Präsenz weder ein solches Manko im Leben noch das Eingeständnis eines solchen. Es war das Letzte, das sie von ihm zu hören erwartet hatte.

„Und mir ist aufgegangen“, sprach er weiter, als sie das kurze Schweigen nach seinen Worten nicht brach, „dass ich Einsamkeit verabscheue. Von meinen Freunden, wie nah sie mir auch stehen, kann ich nicht erwarten, die Leere auszufüllen oder die Sehnsucht in mir zu stillen. Ich würde nicht wollen, dass sie es auch nur versuchen. Erhoffen, wenn nicht gar erwarten, könnte ich es indes von einer Gattin.“

„Aber …“ Sie presste sich die Hand fester an den Busen. „Aber warum ich?“

„Weil ich mir vorstellen könnte, dass Sie vielleicht ebenfalls ein wenig einsam sind, Miss Debbins“, erwiderte er, verhalten lächelnd.

Jäh wünschte sie, sie würde sitzen. Sah man sie so – als einsame, bedauernswerte alte Jungfer, die sich an die schwache Hoffnung klammerte, irgendein Gentleman könnte verzweifelt genug sein, sich ihrer zu erbarmen? „Verzweifelt“ war allerdings kein Wort, das sich auf den Duke of Stanbrook anwenden ließ. Er musste einige Jahre älter sein als sie, war jedoch nach wie vor in jedweder Hinsicht begehrenswert. Er dürfte die freie Auswahl haben unter den unverheirateten Frauen – und Mädchen. Seine Worte trafen, ja demütigten sie.

„Ich führe ein zurückgezogenes Leben, Euer Gnaden“, entgegnete sie, ihre Worte mit Bedacht wählend. „Freiwillig. Zurückgezogenheit und Einsamkeit sind nicht zwangsläufig dasselbe.“

„Ich habe Sie gekränkt, Miss Debbins. Bitte verzeihen Sie mir. Ich gebärde mich ungewohnt tölpelhaft. Darf ich Ihre Einladung, mich zu setzen, doch akzeptieren? Ich würde Ihnen gern den Hintergrund meines Ansinnens erläutern. Seien Sie gewiss, dass ich keineswegs nach der einsamsten Dame meines Bekanntenkreises gefahndet und mir Sie herausgesucht habe, um sogleich loszustürmen und Ihnen die Ehe anzutragen. Vergeben Sie mir, sollte ich diesen Eindruck erweckt haben.“

„Es wäre ohnehin absurd anzunehmen, dass Sie sich für mich entscheiden müssten.“ Abermals deutete sie auf den Sessel gegenüber dem ihren und ließ sich erleichtert in ihren eigenen sinken. Sie wusste nicht genau, wie lange ihre Beine sie noch getragen hätten.

„Nachdem ich die Angelegenheit reiflich überdacht habe“, sagte er, während er Platz nahm, „bin ich zu dem Schluss gelangt, dass ich in erster Linie eine Gefährtin und Freundin brauche und möchte. Jemanden, in dessen Gesellschaft ich mich wohlfühle; jemanden, der gern ständig an meiner Seite ist. Jemanden … der ganz mir gehört. Und jemanden, der das Bett mit mir teilt. Verzeihen Sie – aber das sollte Erwähnung finden. Ich verspürte – verspüre – den Wunsch nach mehr als einer rein platonischen Beziehung.“

Dora blickte auf ihre Hände hinab. Ihre Wangen glühten schon wieder – nun, das war kaum verwunderlich. Sie hob den Blick und begegnete seinem, und die Realität dessen, was gerade geschah, traf sie mit voller Wucht. Er war der Duke of Stanbrook. Vergangenes Jahr hatten seine galanten Zuwendungen ihr geschmeichelt, ihr den Atem geraubt, sie auf geradezu kindische Weise gefreut. Eines Nachmittags waren Agnes und sie von ihm und Flavian nach Hause begleitet worden, den ganzen Weg von Middlebury bis zum Cottage. Der Duke hatte sie bei sich untergehakt und in eine angenehme Plauderei verstrickt. So war es ihm gelungen, ihr die Befangenheit zu nehmen, während sie die anderen beiden abgehängt hatten. Dora hatte jeden Moment dieses Spaziergangs genossen, hatte die Erinnerung daran im Geiste wieder und wieder aufleben lassen, bis heute. Nun war der Duke hier, in ihrer Wohnstube. Er war gekommen, um ihr einen Heiratsantrag zu machen.

„Aber warum ich?“, fragte sie neuerlich und fand, dass ihre Stimme überraschend ungerührt klang.

„Während ich über all dies nachgesonnen habe“, meinte er, „kam mir Ihr Bild in den Sinn. Warum, vermag ich nicht zu sagen. Ich glaube nicht, dass ich den Grund dafür kenne. Jedenfalls habe ich an Sie gedacht. An Sie allein. Sofern Sie ablehnen, werde ich meine Verhältnisse vermutlich so belassen, wie sie sind.“

Er schaute ihr geradewegs in die Augen, und nun sah sie nicht länger bloß einen strengen Aristokraten vor sich. Sie sah einen Mann. Es war ein absurder Gedanke, den sie nicht hätte erklären können, wäre sie dazu aufgefordert worden. Erneut hatte sie das Gefühl, keine Luft zu bekommen, und sie verspürte ein leichtes inneres Beben. Wie gut, dass sie saß.

Und jemanden, der das Bett mit mir teilt.

„Ich bin neununddreißig Jahre alt, Euer Gnaden.“

„Ah.“ Wieder zeigte er dieses verhaltene Lächeln. „Dann besitze ich die Dreistigkeit, Sie zu bitten, einen älteren Mann zu ehelichen. Ich habe Ihnen neun Jahre voraus.“

„Ich könnte Ihnen keine Kinder schenken“, gab sie zu bedenken. „Zumindest …“ Sie hatte jenen Wandel im Leben einer Frau noch nicht durchlaufen, aber gewiss würde es bald so weit sein.

„Ich habe einen Neffen“, entgegnete er, „einen famosen jungen Burschen, den ich von Herzen gernhabe. Er ist verheiratet und bereits Vater einer Tochter. Söhne werden zweifellos noch folgen. Ich habe kein Interesse daran, wieder Kinder in meiner Kinderstube zu haben, Miss Debbins.“

Ihr fiel ein, dass er einen Sohn gehabt hatte, der während der Kriege in Portugal oder Spanien gefallen war. Der Duke musste sehr jung gewesen sein, als dieser Sohn geboren worden war. Dann erinnerte sie sich daran, dass er vorhin gesagt hatte, er habe seinen letzten Heiratsantrag mit siebzehn vorgebracht.

„Ich hätte gern eine Gefährtin“, wiederholte er. „Eine Freundin. Eine Frau und Freundin. Eine Gattin, genau genommen. Große romantische Gefühle oder Leidenschaft habe ich nicht zu bieten, fürchte ich. Für derlei Flausen bin ich zu alt. Obwohl wir einander kaum kennen, glaube ich, dass wir gut zueinander passen. Ich bewundere Ihr musikalisches Talent und die Schönheit Ihrer Seele, auf die es verweist. Ihre Erscheinung gefällt mir. Ebenso wie die Vorstellung, Sie für den Rest meines Lebens jeden Tag anzuschauen.“

Erstaunt blickte Dora ihn an. Einst war sie hübsch gewesen, doch die Jugend und sie waren schon vor langer Zeit getrennte Wege gegangen. Was sie heute im Spiegel sah, war bestenfalls adrett und … gewöhnlich. Eine biedere Jungfer mittleren Alters. Er hingegen war … nun, selbst mit achtundvierzig Jahren und grau meliertem Haar sah er noch umwerfend aus.

Sie biss sich auf die Unterlippe und erwiderte seinen Blick. Wie um alles in der Welt sollten sie Freunde werden?

„Ich hätte keine Ahnung, wie ich mich als Duchess verhalten soll“, wandte sie ein.

Sie sah das Lächeln in seinen Augen und erwiderte es beschämt, ehe sie laut auflachte. So unglaublich es war, er tat es ihr gleich. Und wieder war sie froh darüber, dass sie saß. Gab es ein ausdrucksstärkeres Wort als „umwerfend“?

„Zugegeben“, antwortete er, „würden Sie meine Frau werden, wären Sie zugleich meine Duchess. Aber – und ich enttäusche Sie nur ungern – das bedeutet nicht, jeden Tag ein Diadem und eine mit Hermelin gesäumte Robe zu tragen. Oder auch nur einmal im Jahr. Und man verkehrt auch nicht allwöchentlich mit dem König und dessen Hofstaat. Andererseits ließe sich womöglich Erheiterung aus dem Umstand ziehen, mit ‚Euer Gnaden‘ statt bloß mit ‚Miss Debbins‘ angeredet zu werden.“

„Miss Debbins gefällt mir recht gut. Sie begleitet mich seit fast vierzig Jahren.“

Sein Lächeln verblasste, und er wurde wieder ernst.

„Sind Sie glücklich, Miss Debbins?“, fragte er. „Ich sehe ein, dass dies durchaus der Fall sein könnte. Sie haben hier ein behagliches Zuhause und gehen einer einträglichen, unabhängigen Arbeit nach, die Sie erfüllt. Sowohl auf Middlebury als auch gewiss im Dorf schätzt man Sie aufgrund Ihres Talentes und Ihres freundlichen Wesens.“ Er verstummte und blickte sie an. „Oder könnte es sein, dass auch Sie Gefallen an einem Freund und Gefährten fänden, der ganz für Sie da wäre? Wünschen Sie sich vielleicht ebenfalls, mit Haut und Haar einem anderen Menschen zugehörig zu sein, so wie er Ihnen zugehörig wäre? Wären Sie möglicherweise bereit, Ihr Dasein hier hinter sich zu lassen und mit mir nach Penderris in Cornwall zu kommen? Nicht bloß als meine Freundin, sondern als meine Lebenspartnerin?“ Wieder schwieg er kurz. „Werden Sie mich heiraten?“

Unverwandt sah er sie an. Sie gab ihren Widerstand auf, machte sich nicht länger vor, dass sie glücklich sei mit dem Lauf, den ihr Dasein seit ihrem siebzehnten Lebensjahr genommen hatte, dass sie zumindest zufrieden sei, dass sie nicht einsam sei. Nein, nie und nimmer einsam.

Sie hatte ein gemütliches Heim, ein ausgefülltes, produktives Leben, Nachbarn und Freunde, ein eigenes, ausreichend hohes Einkommen sowie Verwandte, die nicht allzu weit entfernt lebten. Nie jedoch hatte es einen Menschen gegeben, der ganz allein zu ihr gehört hatte und den sie nicht in absehbarer Zukunft wieder hatte loslassen müssen. Sie hatte ihre Schwester Agnes gehabt, ehe diese William Keeping geheiratet hatte, und danach noch einmal ein Jahr lang, bevor Agnes eine Ehe mit Flavian eingegangen war. Aber … ansonsten war da niemand gewesen und schon gar nicht jemand, der die Leere dauerhaft hätte füllen können. Niemand, der je gelobt hatte, sich an sie allein zu binden, bis dass der Tod sie scheide.

Sie hatte sich nie erlaubt, darüber nachzusinnen, wie anders sich ihr Leben entwickelt hätte, wäre ihre Mutter nicht so abrupt und unerwartet verschwunden, als Dora siebzehn und Agnes fünf gewesen war. Ihr Dasein war so verlaufen, wie es eben verlaufen war, und was immer sie getan hatte, hatte sie aus freien Stücken getan. Ob sie womöglich nun doch noch …?

Sie war neununddreißig Jahre alt.

Aber sie war nicht tot.

Allerdings würde sie nicht heiraten, nur weil sie verzweifelt war. Eine unglückliche Ehe könnte – und würde – schlimmer sein als ihr gegenwärtiges Leben. Eine Ehe mit dem Duke of Stanbrook würde sie jedoch keineswegs aus Verzweiflung eingehen, das wusste sie, ohne überlegen zu müssen. Ein ganzes Jahr lang hatte sie von ihm geträumt – vierzehn Monate lang, um genau zu sein. Oh, nicht auf diese Weise, hätte sie noch vor einer Stunde abgewiegelt. Doch ihre inneren Mauern waren gefallen, und nun konnte sie sich eingestehen, dass sie sich eben doch genau dies erträumt hatte. Natürlich hatte sie das. Sie hatte ihn noch lebhaft vor Augen, jenen wundervollsten aller Nachmittage ihres Lebens, an dem sie an seiner Seite von Middlebury heimgelaufen war, bei ihm untergehakt und unbeschwert mit ihm plaudernd. Er hatte sie angelächelt, und sie hatte sein Duftwasser gerochen und seine maskuline Ausstrahlung gespürt. An jenem Tag hatte sie gewagt, von Liebe und Romantik zu träumen, und dieser Traum war geblieben.

Aber es war eben nur ein Traum gewesen.

Manchmal – oh, nur manchmal – wurden Träume wahr. Natürlich würde das nicht im Hinblick auf Liebe und Romantik geschehen, doch er hatte ihr Gesellschaft und Freundschaft zu bieten. Und die Ehe. Keine platonische Ehe.

Sie könnte herausfinden, wie es war …

Mit ihm? Oh, Grundgütiger, mit ihm. Sie könnte erfahren …

Und jemanden, der das Bett mit mir teilt.

Ihr wurde bewusst, dass sich das Schweigen, das auf seinen Antrag gefolgt war, in die Länge zog. Sie hatte den Blick nicht von ihm abgewandt.

„Danke“, sagte sie. „Ja, ich werde Sie heiraten.“

3. KAPITEL

Als George das Zimmer betrat und Miss Debbins wiedersah, war er überrascht. Er hatte angenommen, sich seit letztem Jahr ein klares Bild von ihr bewahrt zu haben, doch sie war ein wenig größer, als er gedacht hatte, wenn auch nicht übermäßig groß. Und er hatte sie eine Spur fülliger, unscheinbarer, älter in Erinnerung. Angesichts seines Ansinnens mutete es befremdlich an festzustellen, dass sie in Wahrheit attraktiver war, als er erwartet hatte. Eigentlich hätte es doch umgekehrt sein müssen.

Sie war für ihr Alter eine gut aussehende Frau, trotz ihrer prüden Kleider und der schlichten, beinahe strengen Frisur. Als junges Mädchen musste sie ausnehmend hübsch gewesen sein. Ihr Haar war noch immer dunkel, ohne eine Spur von Grau, und sie hatte einen makellosen Teint und schöne, intelligent dreinblickende Augen. Auch strahlte sie eine stille Würde aus, die sie aufrechterhielt, obwohl sein unerwartetes Erscheinen und seine jähe, unvermittelte Frage sie aus der Bahn geworfen haben dürften. Alles in allem wirkte sie wie eine Frau, die sich mit ihrem Leben arrangiert hat und es so akzeptiert, wie es ist.

Diese Ausstrahlung war es, erinnerte er sich, die vergangenes Jahr seine Bewunderung geweckt hatte. Es lag nicht bloß an ihrem musikalischen Talent, ihren pragmatischen Ansichten oder ihrem einnehmenden Äußeren. Gerade hatte er behauptet, nicht zu wissen, woher seine spontane Idee zu heiraten stammte oder weshalb ihm dabei ihr Bild vor Augen stand; wieso beides unzertrennlich miteinander verwoben war, das eine nicht ohne das andere bestehen konnte. Aber er wusste durchaus, warum. Sie verströmte eine würdevolle Ruhe, die ihr sicherlich nicht zugeflogen war. Zweifellos gab es Frauen, die freiwillig ledig blieben, aber er glaubte nicht, dass Miss Debbins zu ihnen zählte. Die Ehelosigkeit war ihr durch gewisse Umstände aufgezwungen worden – einige davon kannte er durch ihre Schwester. Trotz der möglicherweise erlittenen Enttäuschungen hatte sie sich ein erfülltes Leben geschaffen, aus dem sie Befriedigung zog.

Ja, er bewunderte sie.

Danke. Ja, ich werde Sie heiraten. Das hatte sie gesagt.

Er stand auf und streckte ihr eine Hand entgegen. Auch sie erhob sich, und er führte sich ihre Hand an die Lippen. Diese war weich und gepflegt, mit langen Fingern und kurz geschnittenen Nägeln. Wenigstens in dieser Hinsicht hatte ihn seine Erinnerung nicht getrogen. Es war die Hand einer Musikerin. Diese Hand brachte Musik hervor, die ihm Tränen in die Augen trieb.

„Danke“, sagte er. „Ich werde mein Möglichstes tun, um zu gewährleisten, dass Sie Ihre Entscheidung niemals bereuen werden. Es ist bedauernswert, dass in fast jeder Ehe die Frau diejenige ist, die ihr Zuhause, ihre Freunde und Nachbarn und überhaupt alles aufgeben muss, was ihr vertraut und teuer ist. Wird es Ihnen sehr schwerfallen, all dies zurückzulassen?“

Die meisten Menschen hätten diese Frage für absurd erachtet. Immerhin hatte er Penderris Hall in Cornwall zu bieten, Stanbrook House in London, ein immenses Vermögen und das glamouröse Leben einer Duchess, ganz zu schweigen von der Ehe selbst, die sie von ihrem Dasein als alte Jungfer erlösen würde. Aber sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort.

„Ja, das wird es“, erwiderte sie, ihre Hand nach wie vor in seiner. „Vor neun Jahren habe ich mir hier eine Existenz aufgebaut, und mir ist es gut ergangen. Nicht viele Frauen haben das Privileg zu erfahren, wie es ist, unabhängig zu sein. Die Menschen hier haben mich mit offenen Armen aufgenommen. Wenn ich fortgehe, werden diejenigen meiner Schüler, die wirklich etwas lernen wollen und von denen einige echtes Talent haben, ohne Lehrer dastehen, zumindest eine Weile lang. Das tue ich ihnen nur ungern an.“

„Vincent?“, fragte er lächelnd. „Hat er Talent?“

Vincent war in jungen Jahren erblindet und hatte gegen Furcht, Wut und Verzweiflung angesichts des Wissens ankämpfen müssen, dass er nie wieder würde sehen können. Statt in Hoffnungslosigkeit zu versinken und sein Leben nur halb zu leben, hatte er sich so mancher Herausforderung gestellt. Eine davon hatte darin bestanden, Pianoforte, Violine und seit Kurzem auch Harfe spielen zu lernen. Mit letzterem Instrument hatte er es nur aufgenommen, weil eine seiner Schwestern vorgeschlagen hatte, die im Haus befindliche Harfe zu veräußern, da doch „offenkundig“ sei, dass er sie niemals würde nutzen können. Vincents Gefährten vom Klub der Überlebenden, die einander nicht eben mit Samthandschuhen anfassten, hatten ihn gnadenlos wegen seines Geigenspiels gehänselt. Doch er hatte beharrlich weitergeübt und wurde stetig besser. In puncto Harfe zogen sie ihn nicht auf, denn diese hatte ihn schier verzweifeln lassen und ihm einigen Kummer bereitet. Allerdings durfte er nun, da er sich die Mysterien des Instruments nach und nach erschloss, damit rechnen, dass ihm die Schmähungen nur so um die Ohren fliegen würden.

Wieder antwortete Miss Debbins nicht sofort, wenngleich sie wusste, dass Vincent zu Georges engsten Freunden zählte.

„Viscount Darleigh besitzt Entschlossenheit“, meinte sie. „Er bemüht sich eifrig darum, besser zu werden, und redet sich nie damit heraus, dass er das Instrument, das er spielt, nicht sehen kann oder die Musik allein durch Hören erfassen muss. Er schlägt sich denkbar tapfer und wird sich weiter verbessern. Ich bin sehr stolz auf ihn.“

„Aber Talent hat er keines?“ Armer Vincent. Er war in der Tat fest entschlossen, seine Behinderung zu ignorieren.

„Talent ist in jedem Bereich dünn gesät“, wandte sie ein. „Echtes Talent, meine ich. Aber wenn wir nur noch Dinge täten, für die wir eine besondere Begabung besitzen, würden wir so gut wie gar nichts mehr tun und nie herausfinden, was wir können. Wir würden einen Gutteil des uns geschenkten Lebens an Tätigkeiten verschwenden, in denen wir firm sind, und uns damit selbst einschränken. Lord Darleigh hat das Talent der Beharrlichkeit. Er geht bis an seine Grenzen, und das, obwohl er an der wohl heikelsten aller Beeinträchtigungen leidet – oder vielleicht gerade deswegen. Nicht viele Menschen würden in seiner Lage das erreichen, was er erreicht hat. Er hat gelernt, die Dunkelheit, in der er leben muss, mit Licht zu erfüllen. Und damit erhellt er auch uns, die wir meinen, sehen zu können.“

Ah, auch das war etwas, das ihn daran erinnerte, weshalb er sie so sehr bewunderte und mochte – dieser gemessene, bedachtsame Ernst, mit dem sie über Dinge sprach, welche die meisten Leute leichthin abgetan hätten. Viele Menschen hätten sich herablassend über das geäußert, was Vincent trotz seiner Blindheit erreicht hatte. Nicht so sie. Und dabei war sie aufrichtig. Vincent mangelte es tatsächlich an herausragendem musikalischem Talent, selbst wenn man seine Blindheit berücksichtigte. Aber das war belanglos, denn wie sie gerade angemerkt hatte, vermochte er auf besonders eindruckende Weise, die Grenzen seines Lebens überraschend weit zu dehnen.

„Es tut mir leid, dass ich Sie dieser Existenz entreiße, indem ich Sie heirate, Miss Debbins“, sagte er. „Ich hoffe, dass Penderris und die Ehe mit mir Sie dafür entschädigen werden.“

Nachdenklich sah sie ihn an. „Als ich vor neun Jahren das Haus meines Vaters in Lancashire verlassen habe und hierhergekommen bin, kannte ich niemanden. Alles mutete fremd und ein wenig bedrückend an – in einem Cottage zu leben, das mir, verglichen mit dem Gewohnten, unglaublich beengt vorkam; allein zu sein; für meinen Lebensunterhalt zu arbeiten. Aber es ist mir gelungen, mich an die neuen Gegebenheiten anzupassen, und ich bin glücklich hier gewesen. Nun lasse ich mich aus freien Stücken auf einen weiteren grundlegenden Wandel ein. Sie haben mich in keiner Hinsicht dazu genötigt. Ich werde mich entsprechend verhalten. Das heißt, sofern Sie sich noch sicher sind, nachdem Sie mich wiedergesehen und mit mir gesprochen haben.“

Noch immer hielt er ihre Hand fest, fiel ihm auf. Er drückte sie und hob sie sich abermals an die Lippen.

„Das bin ich“, entgegnete er. „Ich bin mir sicher.“

Er fragte sich, was sie täte, wenn er den Kopf senkte und sie auf den Mund küsste. Sie konnte schwerlich etwas einwenden – sie war nun seine Verlobte. Der Gedanke erschreckte ihn und ließ ihn innehalten, und kurz überlegte er, ob er sich tatsächlich sicher war. Mit einem Mal fiel ihm die Vorstellung schwer, sie zu küssen, ihr beizuliegen, mit ihrem Körper so vertraut zu werden, wie er es mit seinem eigenen war. Zugleich wusste er, dass er über die Maßen enttäuscht gewesen wäre, hätte sie Nein gesagt. Denn es war nicht allein die Institution Ehe gewesen, die ihm vor wenigen Nächten in London in den Sinn gekommen war. Es war Miss Dora Debbins und die seltsame, unverhoffte Sehnsucht danach gewesen, sie zur Frau zu haben.

„Wann?“, fragte sie. „Und wo?“ Sie biss sich auf die Unterlippe, als fürchtete sie, zu viel Eifer an den Tag gelegt zu haben.

Er tätschelte ihr die Hand und ließ sie los, und Miss Debbins setzte sich wieder. Um nicht über ihr aufzuragen, nahm auch er Platz. Als der Kretin, der er war, hatte er nicht über den Antrag hinausgedacht. Zumindest hatte er sich über den konkreten Ablauf der Hochzeit keine Gedanken gemacht. Zu sehr hatte er in der Zufriedenheit der kommenden Jahre geschwelgt. Dabei hatte er die fieberhafte Hektik, die mit einer Hochzeit einherging, gerade erst miterlebt und wusste, dass es nicht ohne Vorbereitungen ging.

„Sollte ich mich nach Lancashire begeben, um mit Ihrem Vater zu reden?“ Erst jetzt kam ihm in den Sinn, dass dies vielleicht angebracht wäre.

„Ich bin neununddreißig“, erinnerte sie ihn. „Mein Vater lebt sein eigenes Leben mit der Dame, die er geheiratet hat, bevor ich hergekommen bin. Wir haben uns nicht entfremdet, doch er hat wenig bis gar nichts mit meinem Leben zu tun und mir bestimmt nicht vorzuschreiben, wie ich es leben soll.“

George fragte sich, wie es um ihre familiäre Situation stand. Einiges wusste er, aber er konnte nur ahnen, weshalb sie von zu Hause fortgegangen war und sich so weit entfernt niedergelassen hatte. Das war ungewöhnlich für eine unvermählte Dame, wenn es männliche Angehörige gab, die sie hätten unterstützen können.

„Dann sieht es so aus, als bräuchten wir nur unseren eigenen Wünschen zu folgen“, meinte er. „Sollen wir auf eine lange Verlobungsphase verzichten? Werden Sie mich bald heiraten?“

Autor

Mary Balogh
Mary Balogh wuchs als Mary Jenkins in der Nachkriegszeit in Wales auf. Ihre Kindheit war sehr idyllisch, auch, wenn ihre Heimatstadt Swansea im Krieg sehr zerbombt wurde. Sie wuchs mit einer zwei Jahre älteren Schwester auf, die sowohl ihre Seelenverwandte als auch ihre Spielgefährtin war. Als Kinder füllten beide Notizbücher...
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