Andalusisches Feuer

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Was für ein Mann! Als Rafael erfährt, dass er der Vater von Sarahs Zwillingen ist, droht er wütend, ihr das Sorgerecht zu entziehen – wenn Sarah ihm nicht nach Sevilla folgt. Noch immer schlägt ihr Herz für den feurigen Spanier. Doch wird er ihr die Kinder wegnehmen?


  • Erscheinungstag 30.10.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751513005
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Ein Partylöwe bin ich nicht gerade“, warnte Gordon sie, als sie im Aufzug zu Karens Apartment nach oben fuhren.

„Wir müssen ja nicht lange bleiben“, versicherte Sarah. „Ich will mich nur kurz sehen lassen.“

Der Ausdruck in seinen grauen Augen wurde ganz weich. „Ich wollte auch nicht nörgeln. Eigentlich freue ich mich darauf, Karen kennenzulernen. Wenn sie dir auch nur ein bisschen ähnelt …“

Sarah lachte. „Das tut sie wahrhaftig nicht. Karen und ich sind so verschieden, wie zwei Frauen nur sein können!“

„Und trotzdem seid ihr seit eurer Schulzeit befreundet.“

Mit dieser Annahme lag er falsch, aber Sarah machte sich nicht die Mühe, ihn zu korrigieren.

Während der Lift sie weiter nach oben trug, wanderten ihre Gedanken in die Vergangenheit …

Damals hatten Welten zwischen ihr und Karen gelegen. Die lebhafte, beliebte Karen, die ständig Unfug im Kopf hatte, stand im Zentrum einer großen Gruppe von Bewunderern. Sie selbst dagegen war ruhig und introvertiert, eine Einzelgängerin, die vom Klatsch und Tratsch der anderen Mädchen ausgeschlossen blieb.

Letzten Winter war sie Karen zufällig wieder begegnet. „Ich habe dich ganz anders in Erinnerung, Sarah“, hatte diese ihr nach zehn Minuten Unterhaltung gestanden.

Und einige Wochen nach jenem ersten Wiedersehen vertraute Karen ihr offen an: „Damals habe ich dich für einen prüden Snob gehalten, der auf uns andere herabsieht. Was waren wir eifersüchtige kleine Biester! Du sahst einfach toll aus und warst gleichzeitig schrecklich gut erzogen. Wir waren manchmal ziemlich gemein, nicht wahr?“

Bei diesen Worten war Sarah in Tränen ausgebrochen. Karen erinnerte sich gerne an ihre Schulzeit – sie hingegen empfand bei der Erinnerung einen scharfen Schmerz. Niemand hatte jemals ihre Unsicherheit und Einsamkeit bemerkt oder erraten, wie heftig sie sich danach sehnte dazuzugehören.

Als Säugling war sie von reichen Eltern adoptiert worden. Der Vater war Bankier, die Mutter genoss ihr Leben im Wohlstand. Ihre größte Anstrengung bestand darin, mit der Haushälterin die Sitzordnung bei den zahlreichen Dinnerpartys zu besprechen.

Charles und Louise Southcott hatten ihre Tochter gelehrt, niemals Gefühle zu zeigen. Streit oder auch nur ein lautes Wort galten auf Southcott Lodge als tabu, Missfallen wurde durch eisiges Schweigen ausgedrückt. Diese Grabesstille hatte jeden Gedanken an Auflehnung in Sarah gründlich erstickt und ihrer zarten Kinderseele großen Schaden zugefügt.

Rasch war es dem aufgeweckten Mädchen gelungen, sich den Erwartungen der Eltern anzupassen. Im Gegenzug war sie mit Geschenken und stolzer Aufmerksamkeit überhäuft worden.

Doch Sarah hatte nie gelernt, in Gegenwart anderer Kinder aufzutauen und sich an ihren wilden Spielen oder intimen Geheimnissen zu beteiligen. Und so hatte sie auch als Tagesschülerin im Internat keine Freunde gefunden.

Ihr sicheres Auftreten war ein Schutzschild, hinter dem sie sich verschanzen konnte, ein Verhalten, das ihre Umgebung als Zeichen früher Reife interpretiert hatte. Aber tief im Inneren war sie gespannt wie eine Feder gewesen, die zu fest aufgezogen war. Ewig hätte sie nicht so weitermachen können … einerseits frei denkendes Individuum, andererseits angestrengt bemüht, den Eltern gerecht zu werden.

Dann allerdings war sie ausgebrochen – doch sie schrak davor zurück, sich an jene Zeit zwischen ihrem achtzehnten und zwanzigsten Lebensjahr zu erinnern.

„Hier muss es sein“, bemerkte Gordon und holte sie gerade rechtzeitig in die Gegenwart zurück.

Aus Karens weit geöffneter Wohnungstür drangen Stimmengewirr und Musik.

Was er wohl von Karen halten mag, überlegte Sarah belustigt. Ihre Freundin war eine erfolgreiche Fotografin, extrovertiert und sehr direkt. Gordon, ein äußerst konservativer Bankier, neigte dazu, sich selbst ein bisschen zu ernst zu nehmen.

Nachdem er einen flüchtigen Blick auf die leger gekleidete Menge im Flur geworfen hatte, runzelte er die Stirn und legte Sarah schützend einen Arm um die schlanke Taille. „Bei dem Lärm werden wir uns den ganzen Abend nur schreiend unterhalten können“, prophezeite er düster. „Auf so einer Party war ich seit einer Ewigkeit nicht mehr.“

Karen winkte hektisch und kämpfte sich zu ihnen durch. Ihr Aufsehen erregend kurzer Rock betonte die langen Beine, und das Spitzentop enthüllte ausgesprochen viel glatte, gebräunte Haut. „Wo bleibt ihr nur so lange?“

Sarah lächelte. „Tut mir leid! Mein Babysitter hat in der Bibliothek gearbeitet und die Zeit vergessen.“

„Schon gut, ich verzeihe dir. Besser spät als nie.“

Neugierig und unverhohlen unterzog Karen den Begleiter ihrer Freundin einer gründlichen Musterung, angefangen bei seinem blonden, ordentlich gekämmten Haar über sein gut sitzendes Dinnerjackett bis zu den Hosen mit Bügelfalte. „Vermutlich wissen Sie schon, wie schwer es ist, Sarah für einen Abend von ihren kleinen Monstern wegzulocken. Sie erträgt es nicht, das abendliche Bad oder die Beatrix-Potter-Vorlesestunde zu versäumen.“

„Ich verstehe Sarahs Bedenken schon. Alleinerziehende tragen die doppelte Verantwortung.“ Unnötigerweise und zudem noch aufreizend schwülstig versuchte Gordon seine Begleiterin zu verteidigen.

„Sprechen Sie aus persönlicher Erfahrung?“, fragte Karen trocken.

Gordon richtete sich auf. „Eigentlich nicht, aber …“

„Gordon Frinton … Karen Chalmers“, übernahm Sarah hastig die Vorstellung, als sie an ihrer Taille spürte, wie Gordon ärgerlich die Finger verkrampfte. Wenn sie nicht aufpasste, würden gleich die Fetzen zwischen den beiden fliegen.

Karen warf Gordon ein strahlendes Lächeln zu. „Sarah hat Ihren Namen erwähnt. Aber als ich Sie sah, war ich mir nicht sicher, ob Sie der Mann sind, von dem sie erzählte“, bemerkte sie absichtlich vage. „Während du deinen Mantel in die Garderobe bringst, Sarah, werden Gordon und ich …“

Er wandte sich zu Sarah um. „Ich bringe ihn weg.“

„Seien Sie nicht albern, Gordon“, unterbrach Karen ihn sanft. „Ich muss Ihnen zeigen, wo Sie einen Drink bekommen. Sie können nicht an zwei Orten gleichzeitig sein.“

Gordon wurde fortgezogen, ob er wollte oder nicht. Zwar verhinderten seine guten Manieren weiteren Protest, aber die gestrafften Schultern sprachen Bände.

In Sarahs leuchtenden amethystfarbenen Augen, die ihr herzförmiges Gesicht dominierten, blitzte ein Lachen auf. Armer Gordon. Je mehr er versuchte, Abstand zu wahren, desto abscheulicher würde Karen sich benehmen. Zwar hatte sie Karen gesagt, dass er nur ein guter Bekannter war, dennoch würde sie ihn gründlich unter die Lupe nehmen.

Nachdem sie ihren Mantel losgeworden war, blickte Sarah sich in dem geräumigen, spärlich beleuchteten Raum um und stellte erleichtert fest, dass es hier nicht so voll war wie im Flur. Sie war schon ewig auf keiner Party mehr gewesen. Im kleinen Freundeskreis fühlte sie sich einfach wohler als in einem Meer von Fremden. Tatsächlich wäre sie auch zu dieser Party nicht gekommen, wenn es nicht geradezu unhöflich gewesen wäre, eine weitere Einladung von Karen auszuschlagen.

Die Musik setzte kurz aus, und durch das summende Stimmengewirr drang das raue Lachen eines Mannes an ihr Ohr. Ruckartig fuhr Sarah herum. Jeder Zweifel war ausgeschlossen. Sie stand wie erstarrt, die Pupillen vor Schreck geweitet.

Vor den bodentiefen, gardinenlosen Fenstern zeichneten sich deutlich die Umrisse eines großen schwarzhaarigen Mannes mit prägnanten Gesichtszügen ab. Geschmeidig ließ er sich auf die Armlehne einer cremefarbenen Couch sinken, eine Gruppe aufgeregter Gäste drängte sich um ihn.

Eine Frau drückte sich an ihr vorbei in den Raum. „Gütiger Himmel, ist das nicht …?“

Das Dröhnen in Sarahs Ohren übertönte den Rest des Satzes. Sie konnte es immer noch nicht glauben, wollte nicht wahrhaben, dass dort wirklich Rafael saß. Aber der atemberaubende Mann war unvergesslich und unverwechselbar. Zwar dachte sie im wachen Zustand kaum jemals mehr an ihn, doch in ihren Träumen suchte er sie regelmäßig heim.

Er gestikulierte lebhaft mit seinen schlanken Händen. Einige Gäste lauschten gebannt. Sein Charisma traf Sarah wie ein elektrischer Schlag. Neben dieser intensiven körperlichen Aura verblassten andere Männer völlig. Wo immer Rafael auch ging oder stand, verfolgten ihn die Blicke der Frauen, offen oder verstohlen, manchmal sogar unbewusst. Keine Frau war immun gegen die ungestüme Kraft seiner Persönlichkeit. Oder gegen seinen Sexappeal … heiß, offen und blendend. Das Schicksal hatte es bei der Geburt gut mit ihm gemeint. Aber selbst ohne diese auffallend körperliche Schönheit würde Rafael Frauen magnetisch anziehen. Er hielt Hof mit der ungehemmten Leichtigkeit eines von Natur aus extrovertierten Mannes.

Plötzlich wandte er Sarah sein markantes Gesicht zu. Er betrachtete sie durchdringend, nahm sie genau ins Visier. Bernsteinfarbene Augen … hypnotischer Blick … unwiderstehlich. Bevor sie in kopfloser Panik die Flucht ergriff, bemerkte sie, wie alle Farbe aus seinem dunklen Gesicht wich. Auf wackligen Beinen, die unter ihr nachzugeben drohten, kämpfte sie sich einen Weg zurück durch die Diele und fand Zuflucht in Karens Schlafzimmer.

Sarahs Magen revoltierte, ihr wurde übel. Sie eilte in das angrenzende Bad und musste schmerzhaft und elend würgen, obwohl sie nichts gegessen hatte. Als sie hinterher heftig nach Atem rang, kam ihr der Gedanke, dass sie vermutlich die einzige Frau auf dieser Welt war, die auf Rafael mit Übelkeit und Rückzug reagierte.

Ja, du bist tapfer, Sarah, so tapfer! Wenn sie gewusst hätte, dass er eingeladen war, hätten sie keine zehn Pferde heute Abend hierhergebracht. Nicht aus Feigheit, überlegte sie, sondern weil ich die furchtbaren Schmerzen nicht vergessen kann, und wenn ich tausend Jahre alt werde. Aber in den vergangenen fünf Jahren hatte sie sich verändert. Sie war nicht mehr dieselbe, sie war eine andere Frau geworden. Bist du das wirklich, stichelte eine innere Stimme. Da draußen ist er, umringt von faszinierten, sinnlichen Frauen und neidischen, bewundernden Männern … und du versteckst dich im Bad. Oh Gott, war doch alles beim Alten geblieben?

Schamesröte stieg ihr ins Gesicht, doch als sie wieder ins Schlafzimmer zurückging, waren Stolz und Stärke zumindest wiedergekehrt, wenn sie auch nicht gerade hell loderten wie das olympische Feuer. Guter Gott, was machte er bloß hier? Andererseits, warum sollte er nicht hier sein? Karen hatte zahllose Freunde und Bekannte. Es gab kaum eine Person von gesellschaftlicher Bedeutung, sie sie nicht kannte. Dennoch, Rafael lebte nicht in London, sondern im Ausland. Einem Löwen in der Wüste gleich, fühlte auch er sich nur in heißem, sonnigem Klima wohl.

Sie presste die Fingerspitzen an ihre pochenden Schläfen. Bestimmt würde er gehen. Er hatte sie bemerkt. Natürlich würde er die Party verlassen. Selbst Rafael wäre nicht so abgebrüht zu bleiben. Waren ihm jetzt endlich seine beiden Kinder eingefallen, die er noch nie gesehen, noch nie zu treffen versucht hatte? Obwohl ihre Knie zitterten, zwang sie sich, ihr Aussehen im Spiegel zu überprüfen. Erstaunlicherweise war das glänzende weizenblonde Haar noch immer ordentlich hochgesteckt. Das zartgrüne Trägerkleid umschmeichelte schlanke Kurven. Nur in den Augen konnte man ihre Verletzbarkeit erkennen.

Aus ihrem Unterbewusstsein tönte eine höhnische Stimme. „Du bist die hübsche kleine Puppe, die liebliche Prinzessin, die sie auserwählt und mit ihrem Geld geschaffen haben. Puppen atmen und leben nicht, querida, genauso wenig wie du.“

Wieder zerriss sie der heftige Schmerz seiner Zurückweisung. Eine Puppe in erlesener Kleidung, steril verpackt in Plastik. Wunderschön anzusehen, aber seelenlos. So hatte sie sich selbst gesehen, als ihr Leben in Stücke geschlagen wurde von dem Mann, den sie liebte.

Sarah schreckte auf, als jemand eintrat.

„Hier bist du also. Ich veranstalte die Party des Jahres, und du versteckst dich!“, beklagte Karen sich in gespielter Übertreibung und schloss die Tür. „Gott sei Dank habe ich mich an deiner Stelle um Gordon gekümmert. Er steht hinter der Bar in der Küche, die Fliege habe ich ihm abgenommen, damit er nicht mit einem echten Barkeeper verwechselt wird, und ich habe ihm geraten, sich ein paar Drinks zu genehmigen. Er ist so gut erzogen, dass er die ganze Nacht dortbleiben und die anderen Gäste bedienen wird, wenn du ihn nicht rettest!“

Sarah sah ihre Freundin an. „Ich würde an deiner Stelle lieber nicht darauf wetten“, spöttelte sie.

Karen musterte sie. „Geht es dir gut? Du bist so weiß wie Gordons Hemd.“

„Es ist nichts, nur leichte Kopfschmerzen. Eben habe ich eine Tablette genommen.“ Bei dieser Lüge errötete Sarah.

„Da ich deinen Hang zur Untertreibung kenne, vermute ich, dass du eine Migräne bekommst. Leg dich hin, um Himmels willen“, befahl Karen, zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. „Ich will alles über Gordon wissen.“

„Ehrlich, mir geht es gut.“ Sarah setzte sich auf das Fußende des Bettes. „Solltest du nicht besser auf deiner Party sein?“

„Gordon hat die Bar übernommen, mein großer Bruder kümmert sich um die Betrunkenen und meine kleine Schwester um die Musik“, zählte Karen auf. „Das kalte Buffet ist im Esszimmer aufgebaut. Du siehst, ich bin als Gastgeberin überflüssig.“

„Du hast alles bestens organisiert.“

„Gordon“, erinnerte Karen die Freundin ungeduldig. „Du hast mich hingehalten. Was? Wo? Wie? Freiwillig erzählt er mir überhaupt nichts, ich müsste ihn schon foltern. Und selbst dann würde er mir vermutlich nur das Nötigste verraten! Dennoch, er wäre genau der Mann, den Mummy und Daddy Southcott ihrer Tochter verordnen würden.“

Rafael würde gegangen sein, wenn sie in das Partygetümmel zurückkehrte. Diese Aussicht beruhigte Sarah, und sie entspannte sich etwas. „Er ist Bankier.“

„Wusste ich es doch!“, triumphierte Karen, sehr mit sich zufrieden. „Ich sagte zu ihm, er wäre Broker, Buchhalter oder Steuerberater. Darüber war er nicht gerade glücklich, aber er hat ein Gesicht wie ein Tresor. Ohne die magische Kombination kommst du nicht hinein.“

Die lockere Unterhaltung mit Karen half Sarah, ihre Anspannung zu überwinden. „Wir sind wirklich nur gute Bekannte. Er ist Witwer, seine Frau starb letztes Jahr an Leukämie. Kurz darauf ist er von New York hierhergezogen“, berichtete sie voll Mitgefühl. „Verständlicherweise ist er noch nicht darüber hinweg. Es muss schrecklich für ihn gewesen sein.“

Karen war bestürzt. „Oh nein!“, stöhnte sie. „Ich muss ihn sofort aus der Bar holen! Kein Wunder, dass er so seltsam schaute, als ich ihm den Witz von der Blondine und dem Bestatter erzählte.“ Ihre Verlegenheit verflog jedoch schnell wieder, und sie lächelte. „Andererseits denke ich, dass dein Freund besser mit seinem tragischen Verlust fertig wird, als du vermutest. Nachdem ich ihn von dir losgeeist hatte, sah er gar nicht mehr so verschlossen aus. Gordon, meine Liebe, ist bereits halbwegs in dich verliebt!“

Sarah sah sie erstaunt an. „Das ist er auf keinen Fall. Ich kenne ihn doch kaum. Er hat ein paar Wochenenden im Haus meiner Eltern verbracht. Wir waren ein-, zweimal beim Lunch, sind ins Theater gegangen … mehr nicht.“

Karen schüttelte den Kopf. „Du bist mit ihm zusammen. Das hast du nur noch nicht bemerkt.“

„Du verstehst das nicht“, protestierte Sarah unsicher.

„Bloße Bekannte benehmen sich nicht wie Wachhunde, außerdem bist du so hübsch, dass er einfach auf sinnliche Gedanken kommen muss. Das ist doch kein Problem, oder?“

„Gordon und ich waren ganz offen zueinander.“ Nur mit Mühe gelang es Sarah, das amüsierte Lächeln zu bewahren. „Wir haben beide kein Interesse an einer emotionalen Bindung. Ich mag ihn, aber das ist auch wirklich alles.“

„Er sieht gut aus, ist erfolgreich und ungebunden, und alles, was dir einfällt, ist, dass du den Mann magst?“ Karen war entsetzt von dem Eingeständnis. „Was soll ich nur mit dir anfangen? Ist das die Frau, die unsere ganze Schule überrascht hat, als sie in der Abschlussklasse mit einem völlig unpassenden Ausländer durchgebrannt ist? Das hatte Stil, meine Liebe! Wo sind deine Risikobereitschaft und Spontaneität geblieben?“

Die wiedergekehrte Farbe verschwand schlagartig aus Sarahs Gesicht. „Ich bin erwachsen geworden“, murmelte sie knapp.

„Nein, du hast dich selbst begraben“, widersprach Karen. „Sieh mal, ich habe dich nie nach dem Scheitern deiner Ehe gefragt … zumindest nicht mit Nachdruck. Natürlich weiß ich, dass diese Zeit sehr schmerzhaft für dich war, sonst hättest du inzwischen darüber reden können. Aber, Sarah, es gibt auch ein Leben außerhalb der Mutterschaft. Weiß Gott, jeder darf seine eigenen Fehler machen. Dein erster war gleich ein Volltreffer. Na und? Ich glaube nicht, dass ich mich mit achtzehn bei der Wahl meines Lebensgefährten geschickter angestellt hätte. Doch du kannst dich wegen einer üblen Erfahrung nicht für immer ins Schneckenhaus verkriechen!“

„Bist du fertig mit deiner Predigt?“ Ein oder zwei Drinks, und Karen mutierte zum Kreuzritter! Unglücklicherweise hatte sie keine Ahnung, wovon sie sprach. Sarah hatte nicht einfach nur den falschen Partner gewählt, sie hatte Betrug, Zurückweisung und tiefste Einsamkeit erlebt.

Mit einem ziemlich rüden Fluch machte Karen sich Luft, sprang auf und zog ihre Lippen vor dem Spiegel nach. „Du weißt gar nicht, wie viel Glück du hast. Gordon ist süß. Ich mochte ihn auf den ersten Blick!“

Sarahs Mundwinkel zuckten. „Dann nimm ihn dir!“

Karen sah sie schief an. „Dazu müsste ich schon Gewalt anwenden. Es hat ihn erwischt. Und er passt zu dir wie maßgeschneidert. Gib ihm wenigstens eine Chance.“

Wünscht sich Gordon das wirklich, dachte Sarah beunruhigt. Sah Karen das richtig? In ihrer Menschenkenntnis war ihre Freundin überraschend scharfsichtig. Ihre flotten Urteile trafen oft den Nagel auf den Kopf. Falls sie recht hat, muss ich aufhören, mich mit Gordon zu verabreden.

„Ach du Schreck, mein Kopf ist wie ein Sieb!“, stöhnte Karen, die Augen in komischer Verzweiflung weit aufgerissen. „Jetzt habe ich meinen Stargast vollkommen vergessen. Was machen wir nur hier drinnen? Eins der Models, mit denen ich in Italien gearbeitet habe, hat ihn einfach mitgebracht, als ob er nichts Besonderes wäre. Rafael Alejandro! Hier! In meinem bescheidenen Zuhause. Ist das zu fassen?“

Sarah stellte sich unwissend. „Alejandro … der Maler?“

„Mein Gott, gibt es noch einen anderen? Er ist ja bloß einer der bedeutendsten lebenden Künstler! Die meisten von ihnen müssen erst sterben, bevor sie Anerkennung finden. Wir sprechen hier von Ruhm wie in ‚echter Ruhm‘, Ruhm mit einem ganz großen R!“

„Ich denke, dass er ein bemerkenswert talentierter Maler ist.“ Das klang selbst in ihren eigenen Ohren hölzern.

„Glaube mir, wenn du ihn ansiehst, ist sein Geschick mit dem Pinsel das Letzte, woran du denkst.“ Sie war verärgert, dass Sarah sich so gar nicht beeindrucken ließ. „Die Fotos in der Presse werden ihm nicht gerecht.“

„Die Klatschspalten umso mehr.“

Karen gab ihre beleidigte Miene auf und lächelte. „Sarah, du Unschuldslamm, bei einem so heißen Mann kommt der schlechte Ruf von ganz allein. Das glaubst du jetzt vielleicht nicht, aber du hast ihn auch noch nicht kennengelernt. Der Typ ist ein Traum. Ich schwöre, meine Hormone spielten schon beim ersten Blick verrückt!“

Als Sarah aufstand, hatte sie ein schlechtes Gewissen. Karen würde fürchterlich enttäuscht sein, wenn sie herausfand, dass der Vogel in ihrer Abwesenheit davongeflogen war. „Ist er eher dein Typ als Gordon?“

„Nein. Ich möchte ihn nur ansehen, nicht anfassen … na ja, zumindest solange ich noch bei Sinnen bin“, vertraute Karen ihr mit ihrem Hang zur absoluten Wahrheit an. „Ich habe es lieber, wenn meine Männer weniger … wie sagt man in Spanien? Muy hombre? Ein launisches Malergenie wäre für mich viel zu unberechenbar.“

In Wahrheit ist Rafael nicht unkalkulierbar, überlegte Sarah. Er machte genau das, was er wollte, wann er es wollte und wie er es wollte. Seine Zunge war messerscharf, und seinen brillanten Verstand setzte er dazu ein, um Ecken zu denken und Dinge zu ergründen, vor denen andere Menschen zurückscheuten.

„Außerdem heißt es, dass er unheimlich intelligent ist. Ich will mich ja nicht kleinmachen, aber ein Einstein bin ich nicht. Über einen solchen Mann kann man einfach nicht die Kontrolle behalten“, plapperte Karen weiter. „Es ist zwar albern, aber diese Party wird noch lange im Gespräch bleiben, nur weil er da war.“ Karen öffnete die Tür und sah sich Gordon gegenüber, der die Hand erhoben hatte, um zu klopfen. Halb belustigt, halb ärgerlich sagte sie: „Ich habe Sie unterschätzt. Haben Sie einen Peilsender an ihr angebracht?“

Gordon lächelte und sah gleichzeitig durch sie hindurch. Karen murmelte etwas über Essen im Ofen und verschwand.

„Entschuldige, ich war ewig weg. Wir haben uns verplaudert“, sagte Sarah gelassen.

„Und ich wurde festgehalten“, bemerkte Gordon leicht gequält. „Du hattest recht, sie ähnelt dir überhaupt nicht. Sie ist wie ein großes Schulmädchen.“

„Aber wirklich nett, und sie hat keinen Funken Bosheit im Leib.“

„Kannst du dir das Chaos vorstellen, das sie anrichten würde, wenn sie boshaft wäre? Ihr Verstand hinkt ihren Worten um zwei Schritte hinterher.“

„Langsam frage ich mich, warum sie dich süß findet.“

„Süß?“

„Dieses Kompliment hast du wirklich nicht verdient.“

Seine streitlustige Miene verschwand, und er lachte unerwartet auf. „Kuscheltiere sind süß. Aber entschuldige, ich war unaufmerksam, wollen wir uns nicht einen Platz suchen?“

An Gordons Seite war natürlich keine Suche nötig. Er führte sie direkt zu einem Sofa neben einem niedrigen Tisch. Zehn Sekunden später tauchte er wieder auf, zwei Drinks in der Hand, die er offensichtlich schon vorher in der Nähe deponiert hatte, gut organisiert wie immer. Als sie seinem Blick begegnete, dem sie bis dahin bewusst ausgewichen war, lächelte Sarah. Dieses eine Mal irrte Karen sich. Zwischen vernünftigen Erwachsenen konnte durchaus eine rein platonische Freundschaft bestehen.

Sie ließ den Blick ziellos über die Menschenmenge schweifen, und plötzlich sah sie ihn. Wieso, um Himmels willen, war er noch hier? Der Schock löste erneut Übelkeit in ihr aus. Sie krallte die Finger um die Abendtasche, als wolle sie gleich damit zuschlagen.

Rafael rekelte sich auf dem Gegenstück zu ihrem Sofa auf der anderen Seite des Tischchens. Sarahs Kehle war wie zugeschnürt. Er hingegen wirkte unverschämt entspannt, bis in die letzte Faser seines fabelhaften Körpers. Über den Tisch hinweg trafen sich ihre Augen, sein Blick verhieß Rücksichtslosigkeit. Sarah stockte der Atem.

„Der Punsch hat es in sich“, warnte Gordon.

Obwohl sie kaum schlucken konnte, stürzte Sarah das halbe Glas auf einmal hinunter. Rafael hatte seine Aufmerksamkeit wieder der kurvenreichen Rothaarigen zugewandt, die sich in seine Arme schmiegte. Mit kirschrot lackierten Fingernägeln fuhr sie lässig die innere Naht seiner verschlissenen Jeans entlang, die die muskulösen Schenkel umspannte. Wie gebannt verfolgte Sarah diese Liebkosungen, unfähig, den Blick abzuwenden.

Gordon sprach mit ihr, doch sie konnte den Sinn seiner Worte nicht erfassen. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich ihm zu, nur um von Rafaels stahlhartem Blick eingefangen zu werden. Oh nein! Er hatte beobachtet, wie sie ihn anstarrte. So musste sich ein Tier in der Falle fühlen, den Jäger schon über sich gebeugt, der aber noch zögerte, den Todesstoß auszuführen. Sie hatte das Gefühl, als ob Rafael sie nackt und hilflos sähe. Sämtliche Muskeln waren so angespannt, dass ihr ganzer Körper schmerzte. Einen verrückten Moment lang hatte sie jede Kontrolle verloren, beinahe wäre sie wieder geflohen.

Karens Stimme an ihrem Ohr schreckte sie auf. „Warum mischt ihr euch nicht unter die Leute?“

Doch für Sarah gab es keine Karen mehr, keinen Gordon. Nur Rafael, auch wenn Karen jetzt die Sicht auf ihn versperrte. Er musste nicht einmal sprechen, um ihr brutal klarzumachen, wie sehr er sie als Frau verachtete. Es genügte, dass er dasaß und sich von diesem Flittchen in aller Öffentlichkeit liebkosen ließ! Sie verstand die Botschaft, die er ihr zukommen lassen wollte, und fühlte sich krank, in die Enge getrieben.

Por dios, die Welt ist wirklich klein.“ Sarah fuhr hoch, wie von einem elektrischen Schlag getroffen, und verlor den letzten Rest Farbe.

Rafael hatte sich erhoben und stand direkt vor ihr. Mit athletischer Anmut ging er jetzt in die Hocke. Das kam so plötzlich, seine Nähe war so überwältigend, dass es sie den letzten Rest Willenskraft kostete, ihm nicht den Rücken zu kehren. Aus weiter Ferne hörte sie, wie Karen sie einander vorstellte.

„Sarah und ich kennen uns schon.“ Das war an sie gerichtet, an niemanden sonst.

Autor

Lynne Graham
Lynne Graham ist eine populäre Autorin aus Nord-Irland. Seit 1987 hat sie über 60 Romances geschrieben, die auf vielen Bestseller-Listen stehen.

Bereits im Alter von 15 Jahren schrieb sie ihren ersten Liebesroman, leider wurde er abgelehnt. Nachdem sie wegen ihres Babys zu Hause blieb, begann sie erneut mit dem...
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