Baccara Spezial Band 11

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IN DEN ARMEN DER ANGST von CARLA CASSIDY
Schüsse im Schulgebäude! Schwer bewaffnete Männer stürmen in Annalises Klassenraum, nehmen drei Schülerinnen und sie als Geiseln. Die Lage ist ausweglos – bis Annalise die Stimme des FBI-Agenten hört, der verhandeln wird: ihr Ex Evan Duran, den sie immer noch liebt …

SCHWÜLE NÄCHTE IN DEN EVERGLADES von LENA DIAZ
Alligatoren und Panther lauern in den Everglades, aber Faye hat keine Angst. Sicher führt sie sich und Privatdetektiv Jake Young durch das sumpfige Labyrinth. Jake sucht einen Verbrecher, sie ihren Bruder – ein und denselben Mann. Wenn sie ihn gefunden haben, wird Faye handeln …

WIEDERSEHEN AM TAG DER RACHE vob AMANDA STEVENS
Ein Wiedersehen mit alten Freunden, darunter Ava, mit der er eine verbotene Nacht verbrachte … Army Ranger Dylan Burkhart hat gemischte Gefühle, als er nach Whispering Springs fährt. Zu Recht – denn einer von ihnen ist ein Mörder. Damals traf es Lily, jetzt gerät Ava in Gefahr!


  • Erscheinungstag 09.04.2021
  • Bandnummer 11
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500784
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carla Cassidy, Lena Diaz, Amanda Stevens

BACCARA SPEZIAL BAND 11

CARLA CASSIDY

In den Armen der Angst

Damals hat Annalise sein Herz gebrochen – jetzt hängt ihr Leben von ihm ab! FBI-Agent Evan Duran muss mit den Geiselnehmern sprechen, die in einer Privatschule drei Kinder und die Lehrerin Annalise in ihrer Gewalt haben. Von Evans Verhandlungsgeschick hängt ab, ob es für ihn und Annalise eine zweite Chance gibt. Oder ob die Liebe seines Lebens stirbt …

LENA DIAZ

Schwüle Nächte in den Everglades

Zierlich ist sie, kleidet sich bunt und unkonventionell – von der ersten Sekunde an ist Privatdetektiv Jake Young von der temperamentvollen Faye fasziniert. Gemeinsam suchen sie in den Everglades nach einem Vermissten, Fayes Bruder. Zu spät bemerkt Jake, dass Faye unter ihren bunten Kleidern ein scharfes Messer verbirgt, das sie kompromisslos einsetzt …

AMANDA STEVENS

Wiedersehen am Tag der Rache

„Lily ist nicht gesprungen. Ich habe sie geschubst.“ Fassungslos liest Ava die anonymen Zeilen. Zehn Jahre hat sie sich umsonst die Schuld an Lilys Selbstmord gegeben, weil sie sich in deren Freund Dylan verliebt hat! Jetzt müssen Ava und Dylan herausfinden, wer ihre Freundin auf dem Gewissen hat. Und dabei wird Whispering Springs zu einer tödlichen Falle …

PROLOG

Sandhurst Hochbegabtenschule, Pearson, North Carolina

„Ich habe einen kurzen Text an die Tafel geschrieben. Wie wär’s, wenn ihr ihn in unseren Geheimcode übersetzt?“, sagte Annalise Taylor und sah zu, wie sich die drei Mädchen an ihren Computern an die Arbeit machten.

Tanya Walton war dreizehn Jahre alt, Emily Clariton zehn und Sadie Brubaker neun. Sie alle trugen blaue Hosen und weiße Blusen, auf deren Brusttaschen das blaugrüne Logo der Sandhurst-Schule aufgestickt war.

Die Mädchen kamen aus verschiedenen Regionen der Vereinigten Staaten, waren aber allesamt in extremer Armut und Chancenlosigkeit aufgewachsen und hatten Gewalt und Misshandlung erlebt. Ihre schnelle Auffassungsgabe hatte sie an diese außergewöhnliche Privatschule geführt, die eigens für Kinder wie sie gegründet worden war und wo ihre Intelligenz anerkannt und gefördert wurde.

Während die Mädchen weiterarbeiteten, trat Annalise ans Fenster neben ihrem Schreibtisch und sah hinaus. Die Schule lag auf einem sechs Hektar großen Grundstück am Rande der beschaulichen Kleinstadt Pearson in North Carolina.

Die Aussicht war einfach atemberaubend. Rund um die Stadt erhoben sich die Blue Ridge Mountains. In dem über 400.000 Hektar großen Naturschutzgebiet gab es zahlreiche Wanderwege, entlegene Straßen, Bäche und Wasserfälle zu entdecken. Die Blätter an den Bäumen strahlten bereits in herbstlichen Rot- und Orangetönen.

Annalise wandte den Blick von der Aussicht ab und setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie seufzte erschöpft. Es war ein langer Tag gewesen. Dieser Kurs gehörte nicht offiziell zum Lehrplan, sondern war eher eine Art Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der drei Mädchen, die es immer kaum erwarten konnten, sich an ihren Computern auszuprobieren.

Ein lauter Knall riss sie aus ihren Gedanken, der kurz darauf ein zweites und dann ein drittes Mal ertönte. Annalise richtete sich in ihrem Stuhl auf. Waren das … Waren das etwa Schüsse? Was war denn da los? Eine Schießerei! Die drei Mädchen schrien los, und einen Augenblick lang war sie starr vor Angst.

Tür abschließen! Tische davorschieben! ging es ihr durch den Kopf. Das waren die Anweisungen für solche Situationen; so hatte sie es gelernt.

Mit klopfendem Herzen sprang sie auf und rannte auf die Klassentür zu. Aber bevor sie sie erreichen konnte, sprang sie auf und ein großer, stämmiger Mann mit einem Maschinengewehr stand in der Tür.

„Runter, runter mit euch!“, schrie er und deutete mit seiner Waffe in Richtung Wand. „Alle hinsetzen, mit dem Rücken zur Wand. Sofort.“

„Was geht hier vor? Was wollen Sie?“, fragte Annalise, während sie ihre Schülerinnen um sich versammelte.

„Klappe halten und hinsetzen“, wies er sie an.

Von Entsetzen gepackt, führte Annalise die Mädchen zur Wand, wo sie sich alle zu Boden gleiten ließen. Die Mädchen schrien und heulten und sie versuchte, sie zu beruhigen … Nicht, dass ihr Geschrei den Mann noch weiter reizte.

Was wollte er? Warum war er hier? Ein großer, aber schlaksiger Mann kam ins Zimmer gehastet. „Hast du nicht gesagt, es wäre niemand hier außer diesen vier?“ Er deutete auf Annalise und die Mädchen.

„Das war die Info, die ich bekommen habe“, antwortete der Stämmige.

„Na ja, wir haben einen toten Wachmann in der Eingangshalle liegen und zwei tote Frauen im Sekretariat.“ Er trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Lass uns abhauen. Die Sache ist total danebengegangen. Wir müssen sofort hier weg.“

O Gott. Annalises Herz schlug zu schnell, und jetzt drehte sich ihr vor Übelkeit der Magen um und eine eisige Kälte fuhr durch ihre Adern. Bert war tot? Der Wachmann mit dem ansteckenden Lächeln, der so gerne blöde Klopf-Klopf-Witze erzählte, lebte nicht mehr? Und welche zwei Frauen waren getötet worden? Wer war im Büro gewesen, als dieser … dieser Angriff passiert war?

Was hatten diese Männer hier zu suchen? Was wollten sie?

Aus der Ferne drang plötzlich Sirenengeheul heran. Der Stämmige fluchte laut.

„Wir wollten doch hier weg sein, bevor die Bullen kommen!“, sagte der Dünne mit kaum verhohlener Verzweiflung in der Stimme.

„Zu spät“, gab der Stämmige zurück. Er drehte sich um und richtete sein Gewehr auf Annalise. Sie erstarrte. Würde er sie auch töten? Würde er sie erschießen? Und die Mädchen umbringen? Sie legte die Arme um ihre Schülerinnen und versuchte, sie hinter sich zu drängen.

Das Sirenengeheul wurde immer lauter.

„Keine Bewegung“, blaffte er sie an. Dann schlug er eines der Fenster mit dem Griff seines Gewehrs ein. Als sie den Klang von zerbrechendem Glas hörte, gefolgt von einer Reihe schneller Schüsse aus dem Fenster, wurde ihr klar, wie gefährlich die Lage wirklich war.

Die Polizei war da. Aber sie und ihre Schülerinnen saßen hier drinnen fest, mit zwei mordlustigen Bewaffneten, und sie konnte sich nicht vorstellen, wie das alles enden sollte.

1. KAPITEL

Evan Duran saß am Küchentisch, sah mal zum Fernseher, mal auf sein Handy, und schlürfte seine zweite Tasse Kaffee. Es war kurz vor zehn an einem Mittwoch, sein freier Tag, und er hatte länger als sonst geschlafen.

Normalerweise wäre er jetzt schon seine acht Kilometer gelaufen und im Büro, statt so spät am Morgen noch zu Hause herumzusitzen.

Mit der Tasse in der Hand hielt er inne, als die Talkshow, die gerade lief, durch eine Eilmeldung unterbrochen wurde.

GEISELNAHME IN NORTH CAROLINA, lief es in Großbuchstaben über den Bildschirm. Evan griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton lauter, während die Nachrichtensprecherin zu ihrem Bericht ansetzte.

„Und nun eine Eilmeldung aus der Kleinstadt Pearson, North Carolina. Eine Gruppe bewaffneter Männer ist gestern um etwa siebzehn Uhr in die Sandhurst-Schule eingedrungen. Den neuesten Berichten zufolge gibt es bereits erste Todesopfer, unter den Geiseln befinden sich Lehrer und Schüler. Die Namen der Kinder können nicht bekanntgegeben werden, aber unter den Lehrern sind Annalise Taylor und Belinda Baker …“

Evan starrte auf den Fernseher und setzte langsam seine Tasse ab. Annalise? Eine Geisel in einer Schule in Pearson, North Carolina? Als er zuletzt von ihr gehört hatte, hatte sie an einem privaten Elite-College in Missouri gelehrt.

Es war nicht nur seine persönliche Beziehung zu Annalise, die ihn in Aktion treten ließ. Es gab eine Geiselnahme, und Evan musste dorthin, um zu helfen.

Er ging in sein Schlafzimmer, legte seine Laufsachen ab und zog sich ein weißes Hemd und eine schwarze Hose an. Dann schnappte er sich seine Jacke mit dem Aufdruck TCD – Tactical Crime Division – und ging Richtung Haustür.

Annalise. Mit einem Mal sah er sie wieder ganz genau vor sich. Zwei Jahre lang waren sie ein Paar gewesen. Er hatte immer geglaubt, dass sie irgendwann heiraten würden. Stattdessen hatte sie ihn vor fast drei Jahren verlassen, hatte in einer SMS mit ihm Schluss gemacht.

Aber er durfte den Gefühlen keinen Raum geben, die die Gedanken an sie in ihm hervorriefen. Jetzt ging es um eine Geiselnahme. Und in puncto Verhandlungsführung konnte ihm keiner das Wasser reichen.

Adrenalin durchströmte ihn, als er Minuten später Richtung Knoxville, Tennessee fuhr, unterwegs zum TCD-Büro in Old City. Der Hauptsitz des FBI befand sich in DC, aber natürlich gab es im ganzen Land Außenstellen.

Die Tactical Crime Division war eine technische und taktische Spezialeinheit, in der ausgebildete Spezialisten verschiedener Abteilungen zusammenarbeiteten. Die kleineren und damit flexibleren Einheiten der TCD konnten als Schnelleinsatztruppen und zur Unterstützung in verschiedensten Situationen eingesetzt werden – vor allem in ländlicheren Gegenden, die über keine großen Polizeieinheiten verfügten.

Endlich erreichte er den unauffälligen Backsteinbau, in dem sich die Büroräume der TCD befanden. Er parkte den Wagen, stieg aus und lief ins Gebäude. Auf dem Weg über den Flur zum Hauptkonferenzraum hörte er die Direktorin Jill Pembrook, die offenbar noch das morgendliche Meeting abhielt.

Evan riss die Tür auf und stürmte hinein. Direktorin Pembrook sah überrascht zu ihm auf. „Agent Duran, wie nett, dass Sie an Ihrem freien Tag zu uns kommen.“

„Ich habe gerade die Nachrichten aus Pearson gesehen“, sagte er. „Ich muss da hin … Es ist Annalise.“

Einige der anderen Agenten stöhnten auf. Evan ignorierte sie. „Stellen Sie mir einen Flieger bereit. Ich werde Hendricks Hilfe brauchen, und die Agenten Brennan und Lathrop muss ich auch dabeihaben.“

Die Direktorin musterte Evan mit ihrem eiskalten Blick. „Agent Duran, das kann nicht Ihr Ernst sein.“ Sie hielt inne, ohne den Blick von ihm abzuwenden. „Vor zehn Minuten hat North Carolina um Verstärkung gebeten …“ Sie zögerte, und er fragte sich, ob er anbieten sollte, seine Kündigung einzureichen. „Nehmen Sie auch Specialagent Rogers mit. Sie werden jede Hilfe brauchen. Wie immer wird auch Rowan Sie begleiten und das Team unterstützen.“

Rowan Cooper war eine attraktive Frau mit langem dunklem Haar, die als Verbindungsperson zwischen den örtlichen Polizeibehörden und dem TCD-Personal agierte.

„Ja, Ma’am“, gab Evan zurück. Ihm war bewusst, dass er eine Grenze überschritten hatte, indem er einfach so hereingeplatzt war, aber er hatte das dringende Bedürfnis gehabt, sofort zu handeln, als er von der Geiselnahme gehört hatte … von Annalise …

„Der Flieger geht in zwanzig Minuten. Und jetzt verschwinden Sie“, sagte Direktorin Pembrook, und fügte hinzu: „Duran … so was ziehen Sie nicht noch mal ab.“

„Kommt nicht wieder vor“, antwortete Evan und wandte sich zum Gehen.

Das Team machte sich auf den Weg zu den Umkleideräumen, wo die Agenten gepackte Reisetaschen bereithielten, da sie jederzeit abfahrbereit sein mussten. Auch Rowan war bestens auf den Einsatz vorbereitet. Normalerweise fuhr sie den Agenten an den Zielort voraus, aber in diesem Fall war die Zeit dafür zu knapp.

Evan wusste, dass er das beste Team an seiner Seite hatte und sie das Geiseldrama irgendwie beenden würden. Specialagent Davis Rogers war ein ehemaliger Army Ranger und erst seit drei Jahren bei der TCD, fügte sich aber sehr gut ins Team ein. Besonders bei kniffligen Aufklärungseinsätzen wuchs er über sich hinaus.

Die Agenten Nick Brennan und Daniel Lathrop waren nicht nur sehr umgänglich, sondern hatten auch besondere Fertigkeiten, die ihm in dem Fall von Vorteil wären.

Als die vier ins Flugzeug stiegen, hatte Hendrick ihnen bereits Informationen zu der Schule inklusive Baupläne des Gebäudes per E-Mail geschickt.

Die Schule war vor fünf Jahren von Regina Sandhurst gegründet worden, der Leiterin eines großen Technologieunternehmens, die in der Region aufgewachsen war und den Menschen dort etwas zurückgeben wollte. Sie sah in der jungen Generation eine Ressource, die unterstützt und gefördert werden musste.

Da sie außerdem der Ansicht war, dass Kinder aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen mehr Chancen verdienten, vergab die Schule Vollstipendien an unterprivilegierte Mädchen, aus denen die gesamte Schülerschaft bestand.

Die sechsundzwanzig Schülerinnen im Alter von neun bis vierzehn Jahren waren auf dem stattlichen Campus untergebracht. Die Schulleiterin Dr. Olivia Wright wurde von sechs Lehrerinnen unterstützt. Außerdem gab es Köche und Reinigungspersonal und sechs Frauen, die bei den Schülerinnen wohnten und sich um sie kümmerten.

Evan las sich die Informationen aufmerksam durch. Hochrisiko-Verhandlungen waren sein Job, aber wenn Kinder im Spiel waren, war der Einsatz immer noch brenzliger. Und Annalise …

Ihr Name drang wie ein Flüstern immer wieder in seinen Kopf, aber er schob jeden Gedanken an sie beiseite. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen, und dafür spielte es keine Rolle, wer in dieser Schule festgehalten wurde. Und er war fest entschlossen, alle wohlbehalten da rauszuholen.

„Hendrick zufolge hat immer noch niemand herausgefunden, was die Geiselnehmer wollen“, sagte Evan und durchbrach die Stille, die sich unter ihnen ausgebreitet hatte.

„Was erhoffen sie sich wohl davon, eine Schule einzunehmen?“, fragte Nick.

„Ich habe nicht die geringste Ahnung“, gab Evan zurück. „Hendricks Unterlagen zufolge wird an der Schule kaum Bargeld aufbewahrt.“

„Vielleicht wollen sie sich Lösegeld für die Kinder holen“, schlug Daniel vor.

„Aber woher?“, konterte Evan, während er weiter die Zusammenfassung durchsah. „Die meisten dieser Kinder stammen aus ärmlichen Verhältnissen.“ Er sah auf. „Hoffen wir mal, dass uns die örtlichen Behörden mehr Informationen liefern können. Es geht ja schon die ganze Nacht lang.“

Sie verstummten wieder. Mit jeder Minute, die verging, wuchs ihre Anspannung. Er wusste, dass alle Agenten unter Druck standen, die Situation zu lösen, aber als Verhandlungsführer lag die Verantwortung letztlich allein auf seinen Schultern.

Als das Flugzeug landete, war Evan bereit und voller Tatendrang. Sie luden ihr Gepäck in den bereitgestellten Van und machten sich gleich auf den Weg zum Tatort.

„Hendrick hat mir noch Infos zu dem Chief von Pearsons Police Department geschickt“, sagte Rowan vom Beifahrersitz. „Er heißt Walter Cummings und ist seit sieben Jahren im Amt. Seinem Ruf nach ist er ein Angeber und Blender, aber hat seine Abteilung fest im Griff.“

„Ich bin sicher, du wirst mit ihm klarkommen“, sagte Evan. „Wir werden die Unterstützung der örtlichen Polizei brauchen.“

Er lehnte sich in seinem Sitz vor, als er die zwei Backsteingebäude in der Ferne erblickte. In dem größeren befanden sich die Unterkünfte, in dem kleineren die Klassenzimmer, in denen sich die Schülerinnen täglich – an den Wochenenden halbtags – aufhielten. Hier waren die bewaffneten Männer eingedrungen und hatten ihre Geiseln genommen.

Eine breite gepflasterte Auffahrt führte zur Schule. Der kleine Parkplatz war bereits belegt mit einer Flotte von Einsatzfahrzeugen und – personal und einer großen Menschenansammlung – allem Anschein nach Schaulustige.

Evan brachte den Wagen zum Stehen. „Bringen wir die Lage unter Kontrolle“, sagte Evan und sie stiegen gemeinsam aus.

Evan und Rowan brauchten mehrere Minuten, bis sie sich durch die Menge gekämpft und Walter Cummings gefunden hatten. Er war ein gedrungener Mann mit vorgewölbtem Brustkorb, grau meliertem Haar und geplatzten Adern an Nase und Wangen.

„Chief Cummings?“, sagte Rowan und reichte ihm die Hand. „Rowan Cooper von der TCD. Das ist Specialagent Evan Duran, unser bester Verhandlungsführer.“

Er reichte zuerst Rowan, dann Evan die Hand. Der harte, eiserne Händedruck sollte wohl einschüchternd sein, verfehlte aber sein Ziel. „Ich würde ja sagen, schön, Sie zu sehen. Aber ich will ehrlich sein. Wir hatten eigentlich gedacht, dass wir hiermit alleine klarkommen.“

„Wir wollen sicher niemandem auf den Schlips treten“, gab Rowan freundlich zurück. „Wir haben doch alle dasselbe Ziel: Die Geiseln wohlbehalten da rausholen und die Geiselnehmer hinter Gitter bringen.“

„Ich brauche mehr Informationen zu den Geiseln“, sagte Evan, um endlich zur Sache zu kommen.

Der Chief wippte auf den Fersen. „Wir haben eine Schulleiterin, zwei Lehrerinnen, vier Schülerinnen und einen Wachmann.“

„Wissen Sie, wie viele Geiselnehmer es sind?“, fragte Evan.

„Nein“, gab er zurück. „Wir haben versucht, im Sekretariat anzurufen, aber erreichen niemanden. Wir wissen nur, dass der Wachmann tot ist. Er liegt da vorne im Eingangsbereich.“ Cummings verzog das Gesicht. „Bert Epstein war ein Freund von mir.“

„Das tut mir leid“, gab Evan zurück. Für mehr als eine oberflächliche Beileidsbekundung war jetzt keine Zeit. „Sie haben eine Telefonnummer der Schule?“

Cummings nickte und gab sie ihm. „Das ist die einzige Nummer, die ich habe.“

„Und Sie haben keine Vermutung, wer diese Männer sind und was sie wollen?“, fragte Evan. Das Ganze lief nun schon seit vierundzwanzig Stunden und der Mann wusste überhaupt nicht, was hier vor sich ging? War er wirklich so inkompetent?

Cummings zuckte mit Schultern. „Keinen blassen Schimmer.“

Evan sah hinüber zu dem anderen Gebäude. „Und das ist wohl das Wohngebäude. Ich nehme an, Sie haben Ihre Kräfte an den Türen positioniert und das Gebäude abriegeln lassen?“

„Jawohl“, bestätigte Cummings.

„Wer sind all diese Leute?“, fragte Evan und deutete auf die umstehenden Zuschauer, die nicht nur zu dem Chaos am Tatort beitrugen, sondern es auch darauf ankommen ließen, eine Kugel abzubekommen, wenn die Situation außer Kontrolle geriet.

„Ein paar sind Lehrer von der Schule, aber die meisten sind aus dem Ort und wollen einfach wissen, was hier los ist“, erklärte Cummings.

„Wir müssen sie so schnell wie möglich von hier wegschaffen“, sagte Evan. Er sah Rowan an. „Vielleicht könntest du mit Chief Cummings ein Team mobilisieren, um die Zivilpersonen in Sicherheit zu bringen.“

„Sind Sie sicher, dass Sie keinen weiteren Input brauchen?“, fragte Cummings.

„Im Moment nicht“, gab Evan zurück. Seine Hoffnung war, dass er irgendwie mit einer der Geiseln Kontakt aufnehmen konnte. Ohne weitere Informationen über die Männer, die sie gefangen hielten, wüsste er nicht, wie er ihre Freilassung verhandeln sollte. Das Wichtigste war jetzt, herauszufinden, warum sie in der Schule waren und was sie wollten, damit sie die Geiseln unbeschadet da rausholen konnten.

Er sah zu dem Gebäude. Wie viele Tote gab es wohl? War Annalise unter den Opfern? Er sah den toten Körper eines Mannes im Eingangsbereich liegen. Das musste der Wachmann sein, den Cummings erwähnt hatte.

Ihm wurde mulmig. Der Einsatz war hoch. Wenn diese Männer bereits Menschen umgebracht hatten, hatten sie nichts zu verlieren und es gab keine Garantie, dass sie nicht noch mehr Menschen töten würden.

Es war eine schlimme Nacht gewesen. Während der langen, dunklen Stunden waren immer wieder Männer ins Zimmer gekommen, hatten aus dem Fenster gespäht und geflucht. Die Mädchen hatten geweint und gejammert, und aus dem Zimmer nebenan hatte Annalise ihre Kollegin Belinda Baker und eine andere Schülerin schreien und stöhnen gehört.

Irgendwann waren die Mädchen erschöpft eingeschlafen, und auch Annalise war für ein oder zwei Stunden in einen traumlosen Schlaf gesunken.

Aber jetzt lag der Tag vor ihnen, ein Tag voller Angst und Unsicherheit. „Die Mädchen müssen noch mal auf Toilette“, sagte sie zu dem stämmigen Mann, der anscheinend das Sagen hatte. Einige der anderen Männer hatten ihn Jacob genannt.

Er wirbelte auf seinem Stuhl vor dem eingeschlagenen Fenster herum und sah sie grimmig an, als wäre es ihre Schuld, dass die Mädchen mal mussten.

„Gretchen“, brüllte er.

Annalise horchte auf. Gretchen? Eine Frau war mit von der Partie? Ein kleiner Funken Hoffnung stieg in ihr auf. Vielleicht konnte sie die Frau überreden, die Kinder freizulassen.

Eine Frau mit gräulichem, zu zwei Zöpfen geflochtenem Haar kam ins Zimmer. Sie hatte eine Pistole und lächelte Jacob an. „Hey, Baby, hast du mich gerufen?“

„Ja, sie müssen aufs Klo. Kannst du sie begleiten?“

„Klar.“ Sie drehte sich zu Annalise und den Kindern um. „Aufstehen“, sagte sie barsch. „Los geht’s.“

Gretchen war eine dünne ältere Frau mit hellblauen Augen und einem verhärmten Gesicht. Es war schwer zu sagen, ob man mit dieser Frau vernünftig reden konnte.

Die Toiletten waren gleich links neben dem Klassenzimmer. Annalise wollte nach Belinda und der anderen Schülerin im Zimmer gegenüber sehen, aber dazu gab es keine Gelegenheit, denn Gretchen führte sie ohne Umwege zu den Toiletten.

Sie blieb draußen stehen, während Annalise mit den Mädchen hineinging. Als sie allein waren, wischte sie ihnen die Tränen aus dem Gesicht und versicherte ihnen, dass sie alles tun würde, um sie zu beschützen. „Aber wir müssen jetzt tapfer sein“, sagte sie.

Während die Mädchen sich die Hände wuschen, ging Annalise zu Gretchen hinaus. „Kann ich dich irgendwie überreden, die Kinder freizulassen?“, fragte sie. „Ihr hättet immer noch mich als Geisel. Das hier ist kein Ort für Kinder.“

Gretchen zuckte mit den Schultern. „Sorry. Bei dieser Aktion hat mein Mann das Sagen, es sind seine Regeln.“

„Dein Mann?“

„Jacob.“ Gretchen reckte stolz das Kinn vor. „Er ist der Anführer der Bruderschaft des Jacob, und wir alle vertrauen darauf, dass er uns auf den rechten Weg führt.“

„Einen Weg des Mordes und Verbrechens?“ Die Worte platzten aus Annalise hervor und verrieten den Ärger, der seit Beginn der ganzen Geschichte in ihr schwelte.

Gretchen trat auf Annalise zu und verpasste ihr ohne Vorwarnung eine saftige Ohrfeige. Annalise hob die Hand an die brennende Wange, ihre Augen begannen zu tränen. „Etwas mehr Respekt“, zischte Gretchen.

Annalise spürte die Wut in sich aufkochen, musste sie aber sofort hinunterschlucken, denn in dem Moment kamen die Mädchen aus der Toilette. Außerdem hatte Gretchen eine Pistole und Annalise wusste nicht, ob sie sie einsetzen würde. Als sie wieder an ihre Plätze an der Wand zurückkehrten, brannte Annalises Wange immer noch.

„Alles in Ordnung?“, fragte Jacob.

„Ja. Ich musste der Lehrerin nur eine kleine Lektion in Sachen Respekt erteilen“, gab Gretchen zurück. Sie sah Annalise scharf an. „Hoffen wir mal, dass sie schnell lernt.“

Kurz darauf verließ Gretchen das Zimmer, und Annalise sah die Mädchen an. Tanya und Emily weinten immer noch, aber um Sadie machte Annalise sich am meisten Sorgen.

Sadie kam nicht nur aus ärmlichen Verhältnissen, sondern hatte auch körperliche und seelische Gewalt erfahren. Ihre junge Mutter war drogenabhängig und getrieben von einer Sucht nach Heroin und schlechten Männern gewesen.

Als Sadie zu ihnen an die Schule gekommen war, war sie ein ernstes, in sich gekehrtes Kind gewesen und war bei jedem Fehler zusammengezuckt. In den letzten Monaten hatte sie oft mit Annalise über ihre Gefühle gesprochen, wodurch sie eine besondere Bindung aufgebaut hatten.

Zu sehen, wie das kleine Mädchen aufblühte und sich zu einer altklugen, kichernden Neunjährigen entwickelte, die gerne umarmt wurde und stolz war auf ihre Leistungen, war Annalises größte Freude gewesen. Sie war die Jüngste und zugleich die Klügste von den dreien, aber nun war aller Glanz aus ihren Augen verschwunden.

Ihr Blick war starr, und in ihren großen blauen Augen lag eine Leere, die Annalise das Herz brach. Was richtete diese Situation in ihr an? In ihr, und den anderen Mädchen?

„Bitte lassen Sie die Kinder gehen“, sagte sie zu Jacob. „Dann haben Sie immer noch mich als Geisel. Aber lassen Sie die Kinder frei.“

„Das kommt nicht infrage, also keine weiteren Diskussionen“, gab er zurück und fuhr sich durch das schwarze Haar.

„Was ist die Bruderschaft des Jacob?“, fragte sie. An einer Steckdose hinter dem Schreibtisch war ihr Handy angeschlossen und lag halb verdeckt von Rätselbüchern in einem Regal. Zum Glück war es lautlos gestellt und die Benachrichtigungen waren deaktiviert. Bei der ersten Gelegenheit würde sie die Polizei anrufen, dann könnte sie ihnen zumindest sagen, wer diese Leute waren und was sie wollten.

„Wir sind die Bruderschaft des Jacob“, antwortete er. „Wir haben einen Plan, und den werden wir auch ausführen.“

„Der Plan war doch sicher nicht, von der Polizei umzingelt in diesem Gebäude festzusitzen. Was wollt ihr? Warum seid ihr hier?“

„Das geht dich überhaupt nichts an, also halt gefälligst die Klappe und lass mich in Ruhe.“ Er wandte sich wieder zum Fenster.

In der Stille hörte sie jemanden leise stöhnen, dann klingelte ein Telefon. Es musste das Telefon im Sekretariat sein, denn das war das einzige im ganzen Gebäude.

Sie machte sich Sorgen um Belinda, sie musste wohl verletzt sein. Wurde irgendetwas unternommen, um ihr zu helfen? Wer war bei ihr im Zimmer?

Jacob drehte sich wieder zu ihr um. „Gibt’s hier irgendwo was zu essen?“

„Nur ein paar Snacks im Schrank auf dem Flur. Würden Sie den Mädchen auch etwas zu essen besorgen? Sie sind sicher sehr hungrig.“

„Ich dachte, das wäre alles nur ein böser Traum“, flüsterte Tanya.

„Ich auch“, meinte Emily.

„Macht euch keine Sorgen. Mr. Jacob hat gesagt, er wird euch gleich etwas zu essen besorgen“, sagte Annalise leise. „Was ist mit dir, Sadie? Hast du Hunger?“

Sadie griff nach einer Haarsträhne und fing an, sie zu zwirbeln, eine alte Angewohnheit, um sich zu beruhigen. Sie starrte Annalise aus ihren großen blauen Augen an und schüttelte den Kopf.

„Jacob, wollen Sie die Mädchen nicht endlich gehen lassen?“

„Sie gehen nirgendwo hin. Was glaubst du denn, warum die Bullen nicht schon längst das Gebäude gestürmt haben? Die Mädchen sind unser Ticket in die Freiheit.“

Gretchen betrat das Zimmer. „Die Leute haben Hunger.“

Jacob erzählte ihr von dem Vorratsschrank. „Wirf den Mädchen hier auch was hin.“

„Danke, Mr. Jacob“, sagte Sadie. Annalise war überrascht. Anscheinend bekam Sadie viel mehr mit, als sie gedacht hatte.

Jacob grunzte nur. Ein paar Minuten später kam Gretchen mit drei abgepackten Mini-Muffins zurück. Sie warf jedem der Mädchen einen hin. „Was ist mit Miss Annalise?“, fragte Sadie.

„Die kommt schon klar“, sagte Gretchen und warf Annalise einen kühlen Blick zu.

Sadie runzelte die Stirn und sah Annalise an. „Wir können uns meinen Muffin teilen, Miss Annalise.“

„Ist schon in Ordnung, Liebes. Iss ruhig. Ich habe gerade keinen Hunger.“ Annalise wollte ihre lieben Mädchen einfach nur hier rausholen. Sie würde alles dafür tun, sie in Sicherheit zu bringen.

Die Morgenstunden flossen zäh dahin. Was wollten die Leute von dieser Bruderschaft nur und wie stellten sie es sich vor, hier jemals wieder rauszukommen?

Der große Dünne namens Thomas kam herein. „Jacob, ein paar unserer Leute beschweren sich immer noch über das klingelnde Telefon“, sagte er.

Jacob atmete hörbar aus, er war offenbar verärgert. „Klingt ja, als hätte ich lauter Jammerlappen und Memmen dabei. Bald fangt ihr noch alle an, rumzuschreien wie hysterische Frauen, und du weißt, wie sehr ich hysterische Frauen hasse.“

„Jacob, wir waren alle einverstanden mit deinem ursprünglichen Plan, aber ewig in dieser Schule festzusitzen, gehörte nicht dazu“, gab Thomas zurück.

„Zweifelt ihr etwa an unserer Mission?“, donnerte Jacob, und in seinen Augen loderte der Zorn auf. „Zweifelt ihr daran, dass wir die Auserwählten hierfür sind? Zweifelt ihr an mir?“

„Natürlich nicht.“ Thomas wich zurück, wie getrieben von der schieren Kraft in Jacobs wuterfüllter Stimme. „Wir glauben an all das … wir glauben an dich, aber wann wirst du endlich anfangen zu verhandeln, damit wir hier rauskommen?“

Jacob stand auf, sein Gesicht war zornerfüllt. „Ich werde verhandeln, wenn ich es für richtig halte.“ Er drehte sich um und feuerte ein paar Schüsse durchs Fenster ab. Annalise fuhr erschrocken zusammen, die Mädchen schrien auf.

Er drehte sich zu ihnen um. „Ruhe da! Hört auf zu schreien!“

Selbst von Angst gepackt, zog Annalise die Mädchen enger an sich und versuchte, sie zu beruhigen. Dieser Mann war offensichtlich labil und unberechenbar.

„Hört auf, hier anzurufen“, rief Jacob aus dem Fenster. „Wenn ihr nicht aufhört, fliegen hier bald tote Mädchen aus dem Fenster.“

Eine eisige Kälte durchfuhr Annalise. Würde er eine solche Drohung wirklich wahrmachen? Offensichtlich hatte jemand von draußen versucht, Kontakt aufzunehmen. Das Telefon hörte auf zu klingeln.

„Wie wollt ihr denn hier rauskommen, ohne mit jemandem von draußen zu sprechen?“, fragte Annalise frustriert. „Und warum seid ihr hier?“

„Das geht dich überhaupt nichts an“, knurrte Jacob. „Je länger wir sie zappeln lassen, desto eher werden sie sich auf Verhandlungen einlassen.“

„Aber Sie wissen doch, dass hier kein Bargeld gelagert wird, und die meisten Schülerinnen kommen aus verarmten Familien.“

„Was ich weiß oder nicht, kann dir egal sein“, entgegnete Jacob.

„Ich spreche zu den Leuten in der Schule. Ich bin Specialagent Evan Duran von der Tactical Crime Division des FBI“, ertönte eine tiefe Stimme durch ein Megafon.

Annalises Herz schien einen Moment lang stehen zu bleiben. Evan …? Evan war hier? Mit einem Mal brachen Erinnerungen über sie herein … Erinnerungen an Glück und Leidenschaft, an Liebe und Verlust.

Er war einmal die Liebe ihres Lebens gewesen – jetzt lag ihr Leben in seinen Händen. Sie konnte nur hoffen, dass er besser damit umging als sie damals mit seinem Herzen.

2. KAPITEL

Als aus dem Fenster der Schule geschossen worden war, hatten sie alle schnell in Deckung gehen müssen. Aber die gute Nachricht war, dass auch jemand aus dem Fenster gerufen hatte und das hieß vielleicht, dass sich die Geiselnehmer auf ein Gespräch einlassen würden.

Die zweite gute Nachricht war, dass die Unbeteiligten erfolgreich vom Tatort entfernt worden waren und Evan jetzt freie Hand hatte.

Mit dem Megafon in der Hand stand er hinter einem Streifenwagen für den Fall, dass noch mal aus dem Fenster geschossen wurde und er in Deckung gehen musste.

Er hatte überlegt, den Strom im Gebäude abzustellen, um es den Geiselnehmern etwas unangenehmer zu machen, hatte sich aber, da Kinder im Spiel waren, dagegen entschieden. Aus demselben Grund hatten sie auch das Wasser nicht abgestellt.

Im Moment war er einfach nur wütend darüber – mehr als wütend –, dass offenbar irgendjemand immer wieder im Schulbüro angerufen hatte. Dieser Jemand war nicht er gewesen, und er hatte auch niemandem die Anweisung dazu erteilt. Er hatte einen leisen Verdacht, wer dahintersteckte.

Er wandte sich Nick zu, der neben ihm stand. „Tu mir einen Gefallen und bring den Chief zu mir.“

„Wird gemacht.“ Nick zog ab und Evan richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Schule. Regina Sandhurst war im Augenblick verreist, wurde aber später am Nachmittag zurückerwartet. Hoffentlich würde sie ihnen mehr Informationen geben können.

„Sie wollten mich sehen?“ Die dröhnende Stimme des Chiefs ertönte hinter Evan.

Er drehte sich zu ihm um. Der Mann sah mittlerweile ziemlich mitgenommen aus. Auf seiner breiten Stirn zeichneten sich tiefe Falten der Erschöpfung ab und seine Uniform war zerknittert und fleckig. Direkt hinter ihm stand Rowan, bereit, jegliche Unstimmigkeiten, die unvermeidbar waren, sofort zu schlichten.

„Waren Sie es, der immer wieder in der Schule angerufen hat?“, fragte Evan.

„Ja. Ich hatte gehofft, ein Gespräch aufzubauen“, antwortete er.

„Sie haben gerade damit gedroht, ein totes Kind aus dem Fenster zu werfen, wenn das Klingeln nicht aufhört“, gab Evan zurück und versuchte, seine Wut unter Kontrolle zu bringen. „Sie haben entgegen meinen Anweisungen gearbeitet. Das darf nicht passieren. Es kann hier nur einer die Führung übernehmen, und im Moment bin ich das.“

Cummings runzelte die Stirn, offenbar gefiel ihm nicht, was Evan zu sagen hatte. „Ich bin hier immer noch der Chef“, setzte er an.

Rowan legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Und wir respektieren Ihre Stellung“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Wir haben dasselbe Ziel wie Sie … die Geiseln in Sicherheit und die Täter hinter Gitter zu bringen. Agent Duran ist ein hochqualifizierter Verhandlungsführer, und wir müssen ihn jetzt seine Arbeit machen lassen.“

Cummings grunzte und fuhr sich durchs Haar. „Wenn Sie sicher sind, dass Sie hier klarkommen, fahre ich gleich nach Hause. Es war eine lange Nacht.“

Es war seine Art, Evan gewähren zu lassen, ohne dabei das Gesicht zu verlieren.

„Wenn Sie wiederkommen, wird das Ganze hoffentlich vorbei und die Geiseln in Sicherheit sein“, gab Evan zurück. Es würde alles besser laufen, wenn der Mann nicht vor Ort war und Evan nicht befürchten musste, dass er alles vermasselte.

Evan hielt das Megafon wieder an den Mund. „An die Personen in der Schule. Können Sie mir sagen, mit wem ich spreche?“

„Sie sprechen mit dem Verantwortlichen“, dröhnte eine tiefe Stimme aus einem der zerbrochenen Fenster.

Evan kniff die Lider zusammen, um vielleicht einen Blick auf die Person zu erhaschen, die gesprochen hatte, aber der Mann blieb gerade außer Sichtweite. Daniel war ein erfahrener Scharfschütze, und Evan wusste, dass er bereits nach einem geeigneten Standort suchte, um wenn nötig einen tödlichen Schuss abzufeuern.

„Sagen Sie mir Ihren Namen“, rief Evan zurück.

„Den sag ich Ihnen, wenn es so weit ist“, rief der Mann zurück.

„Also gut. Ich bin sicher, Sie hatten nicht vor, in diese Lage zu kommen. Ich möchte Ihre Position besser verstehen. Können Sie mir sagen, warum Sie hier sind?“

„Ich bin noch nicht zu einem Gespräch bereit.“

„Wir werden uns sicher irgendwie einigen, solange die Geiseln nicht verletzt werden. Zuerst möchte ich, dass Sie die Verletzten freilassen.“

„Warum ziehen Sie nicht erst mal Ihre Leute ab?“, rief die Stimme barsch vom Fenster her.

„Das würde ich gern für Sie tun, aber könnten Sie mich erst zu den Verletzten lassen?“, fragte Evan.

„Wir haben nichts zu besprechen.“ Mit einem weiteren Schuss wurde der Satz beendet.

Evan fluchte und ging wieder hinter dem Streifenwagen in Deckung. „Wenigstens hat er mit dir gesprochen“, sagte Davis, der sich neben Evan gehockt hatte.

„Es hat uns nicht wirklich weitergebracht, aber wenigstens haben wir das Eis gebrochen.“ Evan seufzte frustriert. „Ich wünschte, wir könnten den Namen des Anführers herausfinden. Wenn ich mehr Infos über ihn hätte, wüsste ich, wo ich ansetzen könnte. Im Moment tappe ich völlig im Dunkeln.“

Davis klopfte ihm auf die Schulter. „Du wirst es schon schaffen, Evan. Du hast es schon hundertmal hinbekommen.“

Evan nickte, obwohl der Frust weiter in ihm anstieg. Sie hatten einfach nicht genügend Informationen. Wenn er es vermasselte, würden Menschen sterben. Kinder waren in Gefahr.

Der Name eines anderen kleinen Mädchens ging ihm durch den Kopf. Maria. Ein tiefer, altbekannter Schmerz durchfuhr ihn. Sie war seine kleine Schwester gewesen. Wenn es ihm gelang, die Kinder aus der Schule zu befreien, würde es vielleicht seine Schuldgefühle darüber lindern, dass er Maria nicht hatte retten können.

Die Stunden flossen zäh dahin, während die Mädchen und Annalise an die Wand gelehnt dasaßen. Tanya und Emily nickten hin und wieder ein, aber Sadie war hellwach.

„Werden wir sterben?“, flüsterte sie Annalise zu.

„Nein, Liebes, alles wird gut. Aber wir müssen jetzt tapfer sein. Hast du draußen den Mann mit dem Megafon gehört?“ Sadie nickte. „Er wird uns alle hier rausholen.“

Endlich lehnte sich Sadie an Annalises Schulter und nickte ein. Annalise wünschte, sie wäre wirklich so zuversichtlich, wie ihre Worte anscheinend auf Sadie gewirkt hatten.

Evan war ein erfahrener Verhandlungsführer, aber mit einem Wahnsinnigen konnte selbst er keinen vernünftigen Kompromiss ausarbeiten.

Evan hatte alle fünfzehn Minuten über das Megafon zu Jacob gesprochen, aber Jacob antwortete nicht. Er saß einfach nur auf seinem Stuhl neben dem zerbrochenen Fenster und sah hinaus. Manchmal kam einer der anderen Männer oder Gretchen ins Zimmer, um sich flüsternd mit Jacob zu unterhalten.

Als einer der Männer das Zimmer verließ, stand Jacob schließlich auf und streckte sich. „Ich werde euch kurz allein lassen, aber wenn du versuchst, abzuhauen oder den Mädchen zur Flucht zu verhelfen, werde ich euch sofort erschießen. Verstanden?“ Er sah sie durchdringend aus seinen dunklen Augen an. Sie hielt seinem Blick stand und nickte. Beinahe erschauderte sie, als er sie noch einen fürchterlichen Augenblick lang ansah, bevor er endlich das Klassenzimmer verließ.

Was dachte er denn, was sie tun würde? Die traumatisierten Mädchen durch das zerbrochene Fenster zwängen? Das wäre viel zu gefährlich. Die Kinder konnten versehentlich für die Täter gehalten werden und verletzt oder gar erschossen werden. Außerdem wusste sie nicht, ob sie nicht jemand aus einem anderen Fenster beobachtete und auf sie schoss, wenn sie versuchten davonzurennen. Nein, das war viel zu riskant.

Aber es gab zwei Dinge, die sie jetzt, da sie unbeobachtet waren, unternehmen musste. Sie wollte ihr Handy holen und versuchen, die Polizei oder irgendjemanden da draußen zu erreichen, und sie musste nach Belinda sehen.

Sobald Jacob das Zimmer verlassen hatte, sprang sie auf. Sie rannte durch das Zimmer, schnappte sich ihr Handy und wählte 911. „Ich bin eine Geisel in der Sandhurst-Schule in North Carolina“, sagte sie, so schnell und leise sie konnte, sobald der Anruf durchgestellt wurde. „Ich heiße Annalise Taylor, ich bin mit drei Schülerinnen in Zimmer 106 in der Sandhurst-Schule. Die Gruppe, die uns hier festhält, nennt sich die Bruderschaft des Jacob.“ Dann gab sie ihre Telefonnummer durch und legte auf.

Sie legte ihr Handy zurück, rannte zur Tür und sah vorsichtig hinaus. Es war niemand zu sehen, und da sie Jacobs Stimme aus einem Zimmer am anderen Ende des Flurs hören konnte, rannte sie in den nächsten Raum.

Belinda Baker, die Mathelehrerin, saß kraftlos an der Wand, ihre blutigen Hände auf eine Bauchwunde gepresst. Neben ihr saß Amanda Ingraham, eine andere Schülerin, die zu Tode verängstigt aussah. „Belinda …“ Annalise ließ sich neben ihre Kollegin zu Boden sinken. „Wie schlimm ist es?“

„Ich weiß nicht, aber ich habe starke Schmerzen“, presste sie atemlos hervor. „Annalise, du musst dich um Amanda kümmern … versprich es mir.“

„Ich verspreche es, aber erst werde ich versuchen, dich hier rauszubringen, damit du versorgt werden kannst.“

Belindas trockenes Lachen ging in einem erstickten Schluchzen unter. „Als ob. Die haben mich zum Sterben hierhin gebracht. Wissen sie, dass du bei mir bist?“

„Nein. Jacob ist weggegangen, also bin ich schnell rübergekommen.“

Belindas braune Augen weiteten sich. „Annalise, geh sofort zurück, bevor sie dich erwischen. Du musst auf dich aufpassen, damit du dich um die Kinder kümmern kannst. Bitte … geh jetzt.“

Annalise wusste, dass sie recht hatte, aber sie konnte die verwundete Frau nicht einfach so zurücklassen, ohne ihr irgendwie zu helfen. Sie stand auf und ging zum Wandschrank, wo die meisten Lehrer ein Erste-Hilfe-Set aufbewahrten. Im obersten Regal fand sie die kleine Metalldose und rannte damit zurück zu Belinda. Tränen vernebelten ihr die Sicht, als sie die Dose öffnete und auf deren Inhalt hinabsah. Bandagen, eine antibakterielle Salbe, Pflaster … alles für kleine Wunden und Schrammen. Nichts, womit man eine Schusswunde behandeln konnte.

„Geh, Annalise“, sagte Belinda. „Geh, bevor sie dich erwischen.“

Sie erhob sich widerwillig und stürmte zurück über den Flur und an ihren Platz an der Wand, wenige Augenblicke, bevor Jacob zurück ins Zimmer kam.

Ihr Herz raste so schnell, dass ihr fast schlecht wurde. War ihre Nachricht angekommen? Sie war so darauf fixiert gewesen, ihre Informationen loszuwerden, dass der Telefonist vom Notdienst gar keine Gelegenheit gehabt hatte, etwas zu erwidern. Würde die Nachricht ihren Weg zu Evan finden?

Und was war mit Belinda? Sie musste irgendetwas tun, um der Frau zu helfen. „Jacob, ich weiß, dass im Zimmer nebenan jemand verletzt ist. Wir können sie stöhnen hören. Können Sie sie nicht bitte freilassen, damit sie medizinisch versorgt werden kann?“

„Kümmer dich um deinen eigenen Mist“, blaffte er. „Ich lasse hier niemanden frei, und ich will das nicht noch mal diskutieren.“

Annalise seufzte frustriert. Da kamen auf einmal zwei Männer ins Zimmer, die sie noch nicht gesehen hatte. Wie viele waren denn hier?

Die Männer unterhielten sich leise, aber sie bekam nichts von der Unterhaltung mit. Heckten sie einen Plan aus? Ihr gefror das Blut in den Adern, als einer der Männer sich zu den Mädchen umdrehte.

Wollten sie die Mädchen als menschliche Schutzschilde benutzen, um zu fliehen? Oder schlimmer noch, wollten sie sie entführen und waren eigentlich Menschenhändler? Nein, sicher nicht. So traurig es war, es gab viel leichtere Wege, kleine Kinder von der Straße aufzugabeln. Das hier war eine Nummer zu groß. Sie wollten irgendetwas anderes, aber was bloß?

Sie versuchte, sich nicht in wilden Horrorszenarien zu verlieren, aber in ihrer Lage war das nicht so leicht.

Einer der Männer verließ das Zimmer. Sadie wachte auf und bevor Annalise sie aufhalten konnte, sprang sie auf und ging zu Jacob. „Habe ich gesagt, dass du aufstehen darfst?“, fuhr er sie an.

„Nein, aber ich wollte Sie fragen, ob Sie uns nicht bitte etwas zu essen bringen können. Mein Magen knurrt schon die ganze Zeit vor Hunger. Und was ist mit Miss Annalise? Sie muss auch etwas essen.“

„Du heißt Sadie, oder?“

„Sadie Louise Brubaker. Wie heißen Sie, außer Jacob?“, fragte sie, die großen blauen Augen weit aufgerissen.

„Jacob Joseph Noble. Also, Sadie, setz dich wieder hin und steh erst wieder auf, wenn ich es dir sage. Verstanden?“

Sadie nickte eifrig und ging schnell zurück an ihren Platz. Annalise schlang den Arm um sie. Sie konnte kaum glauben, was das kleine Mädchen getan hatte.

Jacob drehte sich zu dem Mann um, der neben ihm stand. „Mick, hol Sadie was zu essen aus dem Vorratsschrank.“

„Und den anderen auch“, sagte Sadie. „Wir brauchen alle was zu essen. Wenn die anderen nichts bekommen, esse ich auch nichts.“

Jacob sah sie einen langen Augenblick an. „Okay, Sadie. Wenn du dann zufrieden bist, holt Mick euch allen was zu essen.“

Mittlerweile waren auch Tanya und Emily wieder aufgewacht. Der Mann namens Mick ging los und kam ein paar Minuten später zurück. Er hatte Karottensticks und Äpfel für sie dabei. Das war zwar keine richtige Mahlzeit, aber immerhin etwas.

„Haben Sie viele Freunde dabei, Mr. Jacob?“, fragte Sadie.

„Einige, und du redest zu viel“, gab Jacob zurück.

Annalise zog Sadie enger an sich. „Am besten lässt du Mr. Jacob jetzt in Ruhe“, sagte Annalise zu ihr.

„Wenn wir richtig nett zu ihm sind, wird er uns vielleicht nicht töten“, sagte Sadie in einem so nüchternen Ton, dass Annalise sich fragte, wie oft Sadie wohl damit gerechnet hatte, von ihrer gewalttätigen Mutter umgebracht zu werden. Annalise nahm sie in die Arme. „Ich glaube, wir können am besten nett zu Mr. Jacob sein, indem wir nur mit ihm sprechen, wenn er uns angesprochen hat.“

„Ja, denk mal drüber nach, was deine Lehrerin da sagt“, brummte Jacob.

„An die Leute in der Schule.“ Evans tiefe Stimme ertönte von draußen. „Wir möchten uns mit Ihnen darüber einigen, wie wir die Verstorbenen vom Gelände holen können.“

Annalise erstarrte, als Gretchen das Zimmer betrat. „Hey, Baby, du musst dich darum kümmern, dass sie die Leichen hier wegschaffen.“

Jacob runzelte die Stirn. „Jaja.“

„Aber sei vorsichtig, was du mit ihnen ausmachst. Diese Cops da draußen werden uns bei der ersten Gelegenheit erschießen. Jeden von uns.“

„Schafft die Leichen in die Eingangshalle, so nah wie möglich an die Tür“, sagte Jacob. „Und dann geht ihr dort alle zusammen mit den Gewehren in Position. Wenn sie irgendwelche dummen Spielchen versuchen, knallen wir sie ab, auf der Stelle. Sag allen, dass sie in fünfzehn Minuten an ihren Posten sein sollen.“

„Alles klar“, flötete Gretchen und verließ den Raum.

„Agent Duran“, rief Jacob durch das zerbrochene Fenster. „In fünfzehn Minuten können Sie mit Ihren Männern zum Haupteingang kommen und die Toten holen. Unbewaffnet! Wenn ich auch nur eine Pistole sehe, schießen wir. Sie nähern sich der Tür auf mein Kommando.“ Jacob stand auf und verließ das Zimmer.

Fünfzehn Minuten. Annalise musste irgendwie dafür sorgen, dass Belinda mit den Toten nach draußen befördert wurde. Sonst könnte Belinda bald selbst zu den Toten gehören, und das hier war vielleicht ihre einzige Chance.

„Ihr bleibt hier, egal was passiert“, wies Annalise die Mädchen an. Sie wusste nicht, welche Folgen es hätte, wenn sie Belinda zu helfen versuchte. Vielleicht würde man sie umbringen. Aber was auch immer geschah, sie musste sicher sein, dass die Mädchen blieben, wo sie waren.

Die Minuten zogen sich unerträglich langsam dahin. Allmählich begann es zu dämmern, violette Schatten fielen durch das Fenster ins Zimmer.

„Ziehen Sie die Hosenbeine hoch, ich will sehen, dass Sie keine Knöchelhalfter tragen“, hörte sie Jacob schließlich aus einem anderen Fenster rufen.

Annalise stand auf und warf einen Blick in den Flur, der zur Eingangstür führte. Mehrere Männer standen dort mit dem Rücken zu ihr. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf die Tür zur Eingangshalle gerichtet.

Es war gleich so weit. Die FBI-Agenten wären in wenigen Minuten an der Tür, und es war vielleicht die einzige Gelegenheit, Belinda hier rauszubringen.

Sie rannte über den Flur ins andere Zimmer. „Belinda, du musst aufstehen.“

„Ich kann nicht, Annalise.“ Tränen liefen ihr über die Wangen. „Ich bin zu schwach, und die Schmerzen sind zu stark.“

„Du musst es versuchen. Amanda, geh und setz dich zu den anderen Mädchen. Du warst sehr tapfer.“

Amanda stand auf, ihr Gesicht war tränenüberströmt. „Wird Miss Belinda wieder gesund?“

„Ich werde versuchen, ihr zu helfen. Jetzt geh, Liebes. Ins Zimmer gegenüber“, sagte Annalise.

Sobald Amanda gegangen war, beugte sich Annalise zu Belinda. „Komm, wir müssen dich auf die Beine bringen.“ Mit Annalises Hilfe schaffte Belinda es, aufzustehen, wenn auch vornübergebeugt mit der Hand auf ihrer Wunde.

„Was machen wir? Wo gehen wir hin?“, fragte Belinda und stöhnte laut auf.

„Wir versuchen, dich hier rauszubringen“, sagte Annalise.

Sie hörte, wie Jacob die Männer draußen anwies, auf das Gebäude zuzugehen.

„Lehn dich auf mich“, sagte sie zu Belinda. „Wir müssen zur Eingangstür.“

„Ich kann nicht“, gab Belinda zurück.

„Du musst. Komm, stütz dich auf mir ab und dann gehen wir los.“ Belinda fühlte sich fiebrig an, was Annalises Sorge um sie noch verstärkte.

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg durchs Zimmer und in den Flur. Belinda schnappte nach Luft, als sie die bewaffneten Männer sah. Sie blieb stehen, und ihre Augen weiteten sich vor Angst.

„Komm schon, Belinda. Das ist deine einzige Chance.“ Sie trieb sie weiter an. Annalises Herz raste.

Das Timing musste perfekt sein. Die FBI-Agenten mussten bereits in der Eingangshalle sein, wenn Annalise Belinda zu ihnen schob. Sie blieb stehen und hörte, was Jacob den Agenten zurief.

„Die Leichen liegen direkt hinter der Tür. Eine falsche Bewegung und wir schießen“, sagte er. „Kommt langsam rein.“

Bei diesen Worten durchfuhr Annalise ein Adrenalinstoß. Sie packte Belinda am Arm und stürmte auf die Tür zu.

„Hey, was ist denn jetzt los!“, rief einer der Männer, als sich Annalise an ihm vorbei in die Eingangshalle drängte.

Sie erhaschte einen Blick auf Evan, der sie einen kurzen Moment ansah, und zwei andere Männer. Hastig schob sie Belinda in ihre Richtung. „Nehmt sie mit, sie braucht einen Arzt“, rief sie.

Sie seufzte erleichtert auf, als Evan Belinda am Arm nahm und nach draußen führte. Im selben Moment packte jemand Annalise am Haar und zog sie mit aller Kraft zurück.

Ein stechender Schmerz fuhr ihr durch die Kopfhaut und schoss ihr in den Rücken, als sie hintenüberfiel. Über ihr stand Gretchen. Sie holte mit ihrem bestiefelten Fuß aus und trat ihr in die Rippen. Einmal … zweimal … dreimal. Als Annalise versuchte aufzustehen, rang sie immer noch nach Atem. Sie warf einen kurzen Blick zurück und konnte Belinda nicht mehr sehen.

Trotz der quälenden Schmerzen durchströmte sie ein wunderbares Gefühl des Triumphs. In diesem Moment konnte Belinda wenigstens ärztlich versorgt und ihr Leben hoffentlich gerettet werden.

Gretchen packte sie am Arm und schleuderte sie an die Wand. Sie drückte den Lauf ihrer Pistole direkt unter Annalises Kinn. Annalise bewegte sich nicht. Sie wagte kaum zu atmen.

„Ich sollte jetzt gleich abdrücken“, zischte Gretchen. In ihren Augen brannte der Zorn.

„Gretchen“, rief Jacob aus der Eingangshalle. „Bring sie zurück ins Klassenzimmer. Ich nehme sie mir später vor.“

Gretchen hielt einen langen Augenblick inne, dann ließ sie die Pistole sinken und packte Annalise wieder am Arm. Sie schubste sie durch den Flur und zurück ins Klassenzimmer.

„Setz dich da hin, du Schlampe, und keine Bewegung mehr“, bellte Gretchen.

Annalise ließ sich neben den Mädchen an die Wand sinken, die alle weinten. „Ist schon gut“, sagte sie, als Gretchen aus dem Zimmer war. „Alles gut.“

Sie schloss die Augen. Ihre Kopfhaut schmerzte und sie fühlte sich wie gerädert. Sie wusste nicht, was passieren würde, wenn Jacob zurückkam, aber wenigstens war sie sicher, dass sie das Richtige getan hatte.

Rowan Cooper hatte es im Laufe ihrer Karriere schon mit so einigen egoistischen, starrköpfigen Kleinstadt-Polizisten zu tun gehabt. Genauso hatte sie immer versuchen müssen, gut mit den FBI-Agenten auszukommen, die manchmal arrogant und unnachgiebig und wenig umgänglich sein konnten.

Evan zählte zu den Agenten, die sie nicht nur respektierte, sondern mit denen sie auch gern zusammenarbeitete.

Er war kein bisschen egoistisch und machte nie unnötiges Aufsehen. Das einzig Negative, was sie über Evan sagen konnte, war, dass er manchmal ein kleiner Kontrollfreak war.

Er war oft nicht besonders gut darin, Aufgaben an seine Kollegen zu delegieren, und nicht immer fielen ihre Ratschläge bei ihm auf fruchtbaren Boden, aber seine Erfolgsquote sprach definitiv für sich.

In diesem Fall war aber gar nicht Evan das Problem, sondern vielmehr Chief Walter Cummings. Er hatte eindeutig ein Problem damit, die Kontrolle an Evan und die anderen TCD-Agenten abzugeben.

Rowan hatte lange genug mit Evan zusammengearbeitet, um zu wissen, dass er keine Pause machen würde, bis die Lage unter Kontrolle und die Geiseln befreit waren. Er würde zielstrebig und konzentriert bleiben, egal wie viele Stunden oder Tage vergingen. Wenn das Ganze vorbei war, würde er in sein Hotelzimmer gehen und ins Koma fallen, bevor er zurück nach Knoxville fuhr.

Es war ihre Aufgabe, alles dafür zu tun, dass die Agenten vor Ort gut versorgt und keinen zusätzlichen Stressfaktoren ausgesetzt waren. Das bedeutete, dass sie sich um die Angelegenheiten mit der örtlichen Polizei kümmern musste. Ihre wichtigste Aufgabe war es jetzt, dafür zu sorgen, dass Cummings sich nicht in den Einsatz einmischte oder Evan unterminierte.

Sie duckte sich und lief mit einem Sandwich und einer Packung Chips zu dem Streifenwagen, in dem Evan saß. „Evan, du hast den ganzen Tag nichts gegessen.“

„Ich habe keinen Hunger“, gab er zurück.

„Aber du weißt doch, dass du was essen musst“, tadelte sie ihn.

Er nahm ihr das Essen ab. „Da wir in Amerika sind: Mom.“ Sein verschmitztes Lächeln hielt nur einen kurzen Augenblick an, bis sein Blick wieder zum Schulgebäude wanderte.

Mittlerweile war die Dunkelheit hereingebrochen, aber das ganze Areal war durch Dutzende Flutlichter taghell ausgeleuchtet. In der Schule war alles dunkel, abgesehen von dem gelegentlichen Aufleuchten einer Taschenlampe.

„Kein leichter Fall, Ro“, sagte er leise. „Es geht schon so lange, und ich weiß immer noch nicht, was sie wollen.“

„Es ist gut, dass du die Toten und die verletzte Lehrerin da rausholen konntest“, sagte Rowan.

Evan runzelte die Stirn und war eine lange Minute still.

„Du wirst deine Sache gut machen, Evan. Wie immer“, sagte sie voller Zuversicht. „Wenn du noch was brauchst, lass es mich wissen. Bis später.“

Wieder duckte sie sich, um sich an ihren Posten zurückzuziehen. Sie stöhnte in Gedanken auf, als sie Cummings schnurstracks auf Evan zugehen sah. Was denn jetzt schon wieder? fragte sie sich.

„Chief Cummings“, rief sie, um ihn abzufangen, bevor er Evan erreichen konnte. Sie rannte auf ihn zu.

Er hob abwehrend die Hand. „Ich habe eine wichtige Information für Agent Duran.“

Die abschätzige Geste gefiel Rowan gar nicht, aber sie blieb gelassen. „Was für eine Information?“

„Ein Notruf, der uns heute erreicht hat.“ In der einen Hand hielt er einen Zettel, in der anderen Hand ein kleines, in Alufolie gewickeltes Paket. „Ich habe hier eine Transkription von dem Anruf. Agent Duran muss sich das sofort ansehen.“

Rowan lief Cummings hinterher und hoffte, dass, was auch immer er da in der Hand hielt, es wert war, Evan zu stören. „Evan, Chief Cummings hat eine Information für dich“, sagte sie.

Evan sah den Mann skeptisch an. „Worum geht es?“

„Wir haben heute einen Anruf von einer der Geiseln erhalten. Sie hat gesagt, dass sie und drei Schülerinnen in Raum 106 festgehalten werden, von einer Gruppe, die sich die Bruderschaft des Jacob nennen. Die Anruferin war Annalise Taylor, sie hat uns ihre Nummer gegeben. Und sie hat gesagt, dass ihr Handy lautlos ist.“

Evan nahm Cummings den Zettel ab und runzelte die Stirn. „Warum werden wir erst jetzt darüber informiert? Der Anruf ist schon eine ganze Weile her.“

„Ehrlich gesagt, ich weiß nicht genau, wie die Verzögerung zustande gekommen ist. Ich werde dem sofort nachgehen“, antwortete Cummings. „Oh, und das hier ist für Sie.“ Er hielt ihm das in Alufolie gewickelte Päckchen hin. „Ein kleines Friedensangebot. Meine Frau kann wirklich gut backen. Sie hat immer gesagt, dass sie damals bei ihrer Pflegefamilie nur wegen ihrer Backkünste nicht verprügelt wurde. Wie auch immer, es ist ein Cranberry-Orangen-Brot. Sie gibt mir immer gern etwas Selbstgebackenes mit für die Leute, mit denen ich zusammenarbeite.“

Mit angehaltenem Atem wartete Rowan auf Evans Reaktion. Sie war erleichtert, als er nur ein Dankeschön murmelte, das Brot annahm und sich auf den Weg zu dem Transporter machte, der ihnen heute Morgen von einem FBI-Büro in der Nähe zur Verfügung gestellt worden war und mit der nötigen Kommunikationsausrüstung ausgestattet war, um mit Hendrick und den anderen in Verbindung zu bleiben. Aber noch erleichterter war Rowan, dass Cummings Evan nicht folgte, sondern zurück zu seinem Dienstwagen ging.

3. KAPITEL

Evan hatte es geschafft, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten und nicht daran zu denken, dass Annalise, die Frau, die er einmal sehr geliebt hatte, unter den Geiseln war.

Als sie die Eingangshalle betreten hatten, um die Toten zu bergen, und sie plötzlich aufgetaucht war und ihnen die verletzte Belinda Baker in die Arme gestoßen hatte, hatte er sie einfach nur packen und da rausholen wollen.

Aber dann hatte irgendwer sie an den Haaren nach hinten und aus seinem Blickfeld gezerrt, und Evan war von einer rasenden Wut und Angst um sie ergriffen worden. Es hatte ihn erstaunt, wie unerschrocken sie ihrer Kollegin geholfen hatte, aber er hoffte, dass es sie nicht teuer zu stehen kam.

Als er sie gesehen hatte, das Gesicht von den langen blonden Strähnen umrahmt, die strahlend grünen Augen voller Verzweiflung, hatte er ihr zurufen wollen, dass sie zu ihm rennen sollte, in seine Arme, in Sicherheit.

Annalise war der zweite schlimme Verlust in seinem Leben gewesen. Der erste hatte ihn von Grund auf und für immer verändert. Annalise zu verlieren, hatte jedoch eine tiefe Narbe hinterlassen, eine Narbe, die selbst nach all der Zeit immer noch nicht ganz verheilt war.

Mit einem Mal war er wieder im Hier und Jetzt. Er durfte nicht ständig über die Vergangenheit nachdenken. Er hatte eine Aufgabe, die seiner ganzen Aufmerksamkeit bedurfte, wenn die Geiseln unverletzt aus dieser schrecklichen Lage befreit werden sollten.

Die Bruderschaft des Jacob … irgendwie kam ihm der Name bekannt vor, aber er wusste nicht, woher. Wenigstens konnte er nun vielleicht an nützliche Informationen kommen.

Er eilte zu dem Transporter, aktivierte sofort einen der Computer und Hendrick erschien auf dem Bildschirm.

„Schieß los, Evan“, sagte Hendrick.

„Ich brauche alle Infos, die du über die Bruderschaft des Jacob finden kannst.“

„Schon dabei“, gab Hendrick zurück und Evan hörte sofort das Klackern der Tastatur. Er stieg aus dem Transporter. Wenn Hendrick die Informationen zusammengetragen hatte, würde er ihm eine Nachricht schicken.

Als sie die Toten aus dem Gebäude geholt hatten, hatte er versucht, so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Er hatte sechs, vielleicht sieben Männer und eine Frau in der Eingangshalle gezählt, mehr als genug, um die zwei Türen zum Gebäude zu bewachen. Jeder von ihnen war mit einem Gewehr oder einer Pistole bewaffnet gewesen. Feuerkraft hatten sie also.

Er ging zurück an seine Stellung bei dem Streifenwagen und holte sein Handy hervor. Mit Annalises Handynummer hatten sie nun wenigstens die Möglichkeit, Kontakt zu den Geiseln aufzunehmen. Er gab ihre Nummer ein und schrieb eine Nachricht.

Annalise, hier ist Evan. Ich weiß, dass du nicht ans Telefon gehen kannst. Aber jede Information, die du uns geben kannst, hilft uns weiter. Wir arbeiten mit einem ganzen Team daran, euch alle da rauszuholen.

Er zögerte einen Moment und schrieb dann noch dazu,

Denk an den Mond.

Er drückte auf Senden und bereute es sofort. Warum hatte er diese letzte Zeile noch dazuschreiben müssen? Es war wohl ein Versuch gewesen, sie, wenn auch nur für einen kurzen Moment, an etwas Schönes zu erinnern.

Er glaubte, dass sie damals glücklich gewesen war bei ihrem Mitternachtspicknick in seinem Garten, im Licht des Vollmonds. Dann drängte sich ein anderes Bild in seinen Kopf, und ihm fiel ein, wie sie an den Haaren aus der Empfangshalle gezerrt worden war.

Ging es ihr gut? Hatte man sie geschlagen … oder Schlimmeres? Bevor er die düsteren Gedanken weiterspinnen konnte, griff er nach dem Megafon. „An die Leute in der Schule … Würden Sie mir sagen, warum Sie hier sind und was Sie wollen, damit wir eine Lösung für alle Beteiligten finden können?“

„Die Leute hier versuchen zu schlafen. Ich will Sie nicht die ganze Nacht quasseln hören“, rief die bekannte tiefe Stimme aus dem Fenster.

„Können Sie uns sagen, was Sie wollen? Ich möchte mich gerne mit Ihnen einigen“, sagte Evan.

„Dann ziehen Sie Ihre Leute von hier ab.“

„Das kann ich nicht tun, das wissen Sie“, gab Evan zurück. „Wenn Sie ein oder zwei Leute freilassen – oder wenigstens die Kinder –, könnten wir vielleicht ein paar Leute abziehen.“

„Ich habe Ihnen für heute nichts mehr zu sagen.“ Die Aussage wurde mit einem Schuss untermalt.

Evan fluchte. Der Mann war so unvorhersehbar und unkooperativ. Er wandte sich um und lächelte gequält, als Daniel, der FBI-Scharfschütze, auf ihn zukam.

„Ich habe einen guten Platz hinter dem Baum da gefunden, mit klarer Sicht auf das Fenster, wo sich ihr Boss aufhält. Aber er ist ziemlich gut darin, nicht in die Schusslinie zu kommen“, sagte Daniel.

„Im Moment möchte ich noch nicht auf ihn schießen“, gab Evan zurück. „Ich hoffe immer noch, dass ich mit ihnen verhandeln kann. Wir haben jetzt ein paar Informationen, die uns helfen könnten.“

Als Daniel weg war, kam Nick auf Evan zu. „Vielleicht sollten wir uns noch mal den Gebäudeplan ansehen, den Hendrick uns geschickt hat. Wir könnten etwas übersehen haben … irgendeine Möglichkeit, ins Gebäude zu kommen.“

Evan runzelte die Stirn. „Ich habe ihn mir schon mehrmals angesehen. Er ist relativ simpel … eine Vorder- und eine Hintertür, leicht von innen zu bewachen. Es gibt kein Untergeschoss, und wir können nicht nah genug ran, um unsere Männer aufs Dach zu bekommen. Im Moment überlege ich, ob wir versuchen sollen, ihren Van von der Schule wegzuschaffen.“

„Das würde ihnen ihr einziges Transportmittel wegnehmen. Andererseits wären sie schön dumm, wenn sie bei dem Polizeiaufgebot versuchen würden, damit abzuhauen.“

„Ja, aber sie sind verzweifelt“, gab Evan zurück. Sein Handy meldete eine neue Nachricht. „Ich muss gehen“, sagte er zu Nick und eilte zurück zu dem Transporter. Hendrick hatte Informationen für ihn.

Hendrick lehnte sich in seinem Stuhl vor und griff nach dem Knetball, den er manchmal zum Stressabbau benutzte. Denn was er über die Bruderschaft des Jacob herausgefunden hatte, ließ sein Stresslevel in die Höhe schnellen.

Jetzt sah er Evan auf seinem Bildschirm. „Die Bruderschaft des Jacob wurde vor acht Jahren von einem Mann namens Jacob Noble gegründet.“

„Was für eine Organisation ist das?“

Hendrick sah seinen Kollegen besorgt an. „Es deutet alles darauf hin, dass es sich um eine Sekte handelt, die sich als kirchliche Wohltätigkeitsorganisation ausgibt. Zu ihren Mitgliedern zählen etwa dreißig Männer, fünfzehn Frauen und zehn Kinder. Sie leben abgeschnitten von der Zivilisation in einer Siedlung in den Bergen vor Pearson. Einige der Männer wurden schon wegen verschiedenen Straftaten verhaftet, darunter Bankraub, Waffendiebstahl, Inlandsterrorismus und Mord. Jacob Noble hat allerdings noch keine Vorstrafen.“

Hendrick atmete tief durch und fuhr fort. „Ihre Mission ist es, den Welthunger zu beenden und die Gerechten an die Macht zu bringen.“

„Und, lass mich raten … dieser Jacob entscheidet, wer zu den Gerechten gehört“, antwortete Evan trocken. „Was kannst du mir über Jacob Noble sagen?“

„Nicht viel“, gab Hendrick zurück. „Seine Eltern waren arm und lebten in bescheidenen Verhältnissen auf einer Farm in der Nähe von Raleigh. Vor drei Jahren hat er Gretchen Owens geheiratet.“

„Hast du noch mehr Mitgliedernamen für mich?“

„Nur ein paar.“ Er nannte Evan die wenigen Namen, die er noch gefunden hatte. „Alles rund um die Mitglieder, die Gruppe und die Siedlung selbst scheinen sie geheimzuhalten. Ich bin gerade dabei, mir ihre Finanzen anzusehen, und versuche auch, noch mehr über Jacob Noble herauszufinden. Wenn ich etwas finde, melde ich mich.“

„Danke, Hendrick.“

„Evan, wenn dieser Mann wirklich ein Sektenführer ist, dann ist er ein echter Narzisst. Er wird seinen Mitgliedern viele tolle Versprechungen gemacht haben und ist wahrscheinlich sehr charismatisch.“

„Davon merkt man im Moment nicht viel“, antwortete Evan trocken.

„Wahrscheinlich ist er wütend, weil er die Lage nicht unter Kontrolle hat. Und er wird noch wütender werden. Evan … du musst die Kinder da rausholen, um jeden Preis.“

Evan stand in dem Waldstück hinter der Schule, wo Dutzende Polizisten aufgestellt waren. Sein Blick war auf den schwarzen Van gerichtet, der am Hintereingang geparkt war. Davis und Nick hatten sich angeboten, ihn wegzuschaffen, aber Evan wusste, dass es gefährlich war und wollte die Sache lieber selbst erledigen.

Die Scheinwerfer, die rund ums Gebäude aufgestellt waren, gingen plötzlich aus, genau wie Evan angeordnet hatte. Bevor er seinen Zug machte, würde er aber noch ein oder zwei Stunden warten. Er ging davon aus, dass die Gruppe in der Schule während der unerwarteten Dunkelheit nichts unternehmen würde. Und hoffte, dass sie müde und hungrig und nicht mehr so wachsam waren wie noch am Tag.

Zu seiner Linken hörte er ein paar Polizisten leise reden. Das Summen und Surren der Nachtinsekten umgab ihn, und ein Rascheln im Gebüsch hinter ihm verriet die Anwesenheit eines Kaninchens oder anderen kleinen Getiers.

Der Mond lag zum Glück hinter einer dichten Wolkendecke, und sein weißes T-Shirt hatte er gegen einen schwarzen Pullover ausgetauscht, den Rowan ihm besorgt hatte.

Gegen zwei Uhr beschloss er, dass die Zeit für seinen Einsatz gekommen war. Über das Funkgerät verständigte er die anderen, dass es losging. Er atmete tief durch.

Er duckte sich und rannte, so schnell er konnte, auf einen Baum zu, der auf halbem Weg zum Van stand. Als er ihn erreichte, warf er sich flach auf den Boden und wartete.

Er sah keine Bewegung an der Rückseite der Schule, wo sechs der Fenster zerbrochen waren. Vielleicht wurde diese Seite des Gebäudes nachts nicht bewacht. Er atmete noch einmal tief durch, ging in Deckung und bewegte sich langsam auf den Van zu.

Er war nicht weit gekommen, als auch schon Schüsse zu hören waren. Die Kugeln hagelten förmlich um ihn herum nieder und wieder warf er sich zu Boden. Noch mehr Schüsse kamen von der Schule und die Polizei hinter ihm schoss zurück, um ihm Deckung zu geben. Er robbte sich zurück zum Waldrand, wo Davis ihn schon erwartete.

Der breitschultrige Afroamerikaner sah ihn stirnrunzelnd an. „Du hättest den Job nicht selbst machen sollen, Mann“, sagte er. „Ich weiß, du hast gern alles selbst unter Kontrolle, aber wenn dir was passiert, sind die Geiseln aufgeschmissen. Wir haben keinen zweiten Verhandlungsführer parat.“

„Sie sind wachsamer, als ich dachte, nach all der Zeit“, gab Evan frustriert zurück.

„Vielleicht solltest du dich mal ausruhen, jetzt, wo Gelegenheit dazu da ist“, sagte Davis.

„Ja, da hast du wahrscheinlich recht.“ Wenige Minuten später waren die Scheinwerfer wieder an und Evan saß im Beifahrersitz des Streifenwagens. Er lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und kämpfte nicht nur mit der Müdigkeit, sondern auch mit dem Frust.

Er konnte nur hoffen, dass Jacob morgen zu einer Einigung bereit war. Wenn nicht, würde Evan andere, gefährlichere Optionen erwägen müssen. Dieser Gedanke hielt ihn noch lange Zeit wach.

4. KAPITEL

Die Schüsse vom hinteren Teil des Gebäudes ließen Annalise aufschrecken. Glücklicherweise waren die Mädchen durch den Lärm nicht wach geworden, wahrscheinlich waren sie psychisch und körperlich einfach zu erschöpft.

Sie hob die Hand an ihre geschwollene Unterlippe. Als Jacob nach ihrer Aktion mit Belinda zurück ins Zimmer gekommen war, hatte er ihr eine Ohrfeige mit dem Handrücken verpasst, dass ihr Hören und Sehen vergangen war. Wahrscheinlich hatte er sie nur am Leben gelassen, damit sie sich um die Mädchen kümmerte und sie ruhig hielt.

Als die ersten Schüsse fielen, stürmte Jacob fluchend aus dem Zimmer, und Annalise nutzte die Chance und rannte los, um ihr Handy vom Ladegerät zu holen. Mit klopfendem Herzen, das Handy fest umklammert, lief sie zurück an ihren Platz. Sie hielt ihr Handy hoch, sodass sie das Display sehen konnte.

Eine neue Nachricht. Sie öffnete sie und las Evans Mitteilung. Gott sei dank hatte ihr Notruf ihn erreicht. Es spendete ihr etwas Trost, dass ihr Leben und das der Mädchen in seinen Händen lag. Sie wusste genau, wie gut er seine Arbeit machte, dass er bei seinen Einsätzen alles gab.

Denk an den Mond.

Tränen verschleierten ihr die Sicht, als sie die Worte las. Es waren Tränen der Erschöpfung und der zärtlichen Erinnerung an eine starke Liebe. Denk an den Mond. Sie fragte sich, warum er ihr ausgerechnet diese Worte geschickt hatte. Und noch während sie darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass er ihr wahrscheinlich eine schöne Erinnerung mitgeben wollte, um ihr durch diese Hölle zu helfen.

Tatsächlich war die Erinnerung an jene Vollmondnacht in seinem Garten für sie mehr als nur ein glücklicher Ort in ihrem Herzen, es war ein Ort der Wärme und Liebe des Mannes, mit dem sie geglaubt hatte, für immer durchs Leben zu gehen.

Sie sah zur Tür und fragte sich, wie viel Zeit ihr wohl noch blieb, bevor Jacob zurückkam. Ihr Verlangen, mit Evan Kontakt aufzunehmen und seine Stimme zu hören, war überwältigend, aber genau so groß war ihre Angst, erwischt zu werden.

Leise fing sie an zu summen, ihr Blick wanderte noch einmal zur Tür. Sie sah wieder auf ihr Handy und Evans Nachricht, und ihr Finger wanderte zu dem Anrufsymbol.

Er meldete sich noch vor dem ersten Klingeln. „Annalise.“

Sie schloss fest die Augen, als sie seine vertraute tiefe Stimme hörte. „Evan“, flüsterte sie, und sah wieder auf, um die Tür im Blick zu behalten.

„Geht es dir gut? Kannst du reden?“ In seiner Stimme lag dieselbe Dringlichkeit, die auch in ihr brannte.

„Es geht mir gut … Es sind vier Schülerinnen bei mir. Wir sind hungrig und müde und wollen einfach nur hier raus.“ Tränen trübten ihr die Sicht. „Wie geht es Belinda? Hast du irgendwas gehört?“

„Leider nein, aber ich weiß, dass sie im Krankenhaus ist.“

„Sie wollten sie gar nicht gehen lassen, aber ich hatte Angst, dass sie sterben könnte, wenn ich sie nicht hier rausbringe.“

„Ich habe gesehen, wie dich jemand an den Haaren gepackt hat … wurdest du verletzt?“

„Nein, es geht mir gut“, sagte sie und fuhr sich mit der Zunge über die geschwollene Lippe. „Jacob ist völlig durchgedreht, aber seine Frau, Gretchen … sie ist durch und durch böse.“

„Annalise, weißt du, was diese Leute wollen? Hast du mitbekommen, warum sie überhaupt in die Schule gekommen sind?“

„Ich habe immer und immer wieder gefragt, aber ich weiß nicht, was sie wollen oder warum sie hier sind“, antwortete sie hilflos.

„Ich setze alle Hebel in Bewegung, um euch da rauszuholen“, sagte er. „Ihr müsst noch Geduld haben und auf euch aufpassen.“

„Ich weiß. Ich will einfach nur die Mädchen hier rausbringen. Wenn du sie überreden kannst, Geiseln freizulassen, müssen es die Mädchen sein.“

„Ich will euch alle da rausholen“, gab er zurück. „Ähm … Ich muss dich noch etwas fragen … Hast du einen Lebensgefährten, den wir für dich kontaktieren sollen?“

„Nein, niemanden.“ Sie sah wieder zur Tür, um sicherzugehen, dass sie immer noch reden konnte. Es gab so viel, was sie ihn fragen wollte. Aber es waren persönliche Fragen, die hier nicht hingehörten.

„Evan, glaubst du, dass wir hier wieder rauskommen?“

„Wir setzen alles daran.“ Sie hörte die Entschlossenheit in seiner Stimme.

Sie presste das Handy an ihr Ohr und sah nach, ob die Mädchen noch schliefen. „Evan, ich habe Angst.“ Die Worte brachen aus ihr heraus, bevor sie wusste, dass sie in ihrem Kopf waren. „Ich versuche, mutig zu sein für die Kinder, aber im Grunde habe ich genauso große Angst wie sie.“

„Es ist gut, dass du Angst hast, Annalise. Es ist diese Angst, die dir Kraft gibt und dich wachsam hält“, sagte er.

„Ich habe es immer gehasst, wenn du so schonungslos ehrlich warst“, sagte sie und lachte nervös auf. Darauf folgte ein peinlich berührtes Schweigen.

Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit blitzten in ihr auf. Sie hatte sich immer wie eine unwiderstehliche, leidenschaftliche Frau gefühlt, wenn er sie mit Verlangen in den dunkelbraunen Augen betrachtet hatte.

„Bist du noch da?“ Seine Stimme drang in ihre Gedanken.

„Ja, aber wenn Jacob zurückkommt, muss ich schnell auflegen. Er weiß nicht, dass ich das Handy habe, und er hat ein übles Temperament.“

„Um Himmels willen, Annalise, geh bitte keine unnötigen Risiken ein.“

„Ich weiß, es ist alles lange her. Aber wenn ich hier rauskomme, brauche ich, glaube ich, eine dicke Umarmung.“ Wieder brannten ihr Tränen in den Augen. „Tut mir leid, das klingt richtig armselig.“

„Nein. Du musst einfach nur stark bleiben bis dahin.“

„Ich gebe mir Mühe.“

„Kannst du mir sagen, ob es irgendwelche Schwachstellen bei den Wachen gibt, irgendwas, was wir ausnutzen können, um euch da rauszuholen?“

„Ich weiß nur, dass das Ganze nicht geplant war. Sie wollten wieder abhauen, bevor die Polizei kommt. Sie essen die Snacks, die wir hier für die Schülerinnen lagern, aber die werden nicht lange reichen. Und ich glaube, es gibt Streitereien in der Gruppe.“

„Das hilft uns alles weiter. Noch irgendwas?“

Sie runzelte nachdenklich die Stirn. „Mir fällt nichts mehr ein.“

„Okay. Du machst das wirklich super“, sagte er aufmunternd.

Sie lehnte den Kopf an die Wand. „Evan … Es tut mir leid, wie die Sache zwischen uns zu Ende gegangen ist.“

„Ich bereue auch einiges“, sagte er leise. „Ich …“

Sie hörte Schritte aus dem Flur und legte sofort auf. Schnell ließ sie das Handy unter ihrem Bein verschwinden, Sekunden bevor Jacob ins Zimmer kam.

Autor

Amanda Stevens
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