Baccara Spezial Band 6

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NUR EINEN KUSS VOM TOD ENTFERNT von CASSIE MILES

Erst wird Emilys Wagen brutal von der Straße gedrängt, dann auf sie geschossen, schließlich ein Giftanschlag verübt - jemand möchte sie tot sehen. Sie und Connor, ihr bester Freund und Beschützer, müssen den Täter finden. Denn Emily will eine Zukunft - und zwar mit Connor!

DER SCHÖNE GEIST VON KILLER COVE von CARLA CASSIDY

Ihre Schwester kann Savannah nicht mehr lebendig machen. Aber um den Mörder zu entlarven, spukt sie als Shellys Geist in Lost Lagoon. Dazu nutzt sie ein unterirdisches Tunnelsystem - wo sie eines Nachts von Deputy Josh Griffin, mit dem sie früher heiß geflirtet hat, überrascht wird …

WIE EIN SCHUSS INS HERZ von BEVERLY LONG

Megan steht kurz vor der Eröffnung ihrer Boutiquenkette. Doch irgendwer will das Event mit allen Mitteln sabotieren. Weshalb Megan den athletischen Seth Pike als Bodyguard einstellt. Ihre Geschäfte sind nun hoffentlich aus der Schusslinie - aber was ist mit ihrem Herzen?


  • Erscheinungstag 19.06.2020
  • Bandnummer 6
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729271
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cassie Miles, Carla Cassidy, Beverly Long

BACCARA SPEZIAL BAND 6

CASSIE MILES

Nur einen Kuss vom Tod entfernt

Anwalt Connor Gallagher weicht nicht von Emilys Krankenbett. Erst der Tod ihres Mannes, eines langjährigen Freundes von ihm – und nun ihr schwerer Autounfall … All das ist passiert, nachdem ihr eröffnet wurde, sie sei millionenschwere Alleinerbin! Will etwa jemand den Tod der schönen Kunsthändlerin, die Connor seit Jahren heimlich liebt?

CARLA CASSIDY

Der schöne Geist von Killer Cove

Es heißt, der Geist von Shelly Sinclair gehe in Lost Lagoon um. Aber Deputy Josh durchschaut die Scharade: Dahinter steckt Savannah, noch immer verzweifelt über den gewaltsamen Tod ihrer Schwester. Doch ihre nächtliche Aktion bringt sie selbst in tödliche Gefahr. Josh muss sie schützen! Und vielleicht wird es dann zwischen ihnen wieder so wie vor Shellys Tod …

BEVERLY LONG

Wie ein Schuss ins Herz

Er ist Megan Norths Bodyguard – er sollte sie nicht so attraktiv finden, das ist unprofessionell! Doch als Sicherheitsexperte muss Seth die schöne Designerin notfalls mit vollem Körpereinsatz vor Anschlägen bewahren. Irgendwer bedroht sie, seit sie ihre Boutiquenkette eröffnen will: durch Schüsse und sogar eine Giftschlange in ihrem Hotel!

1. KAPITEL

Sie musste aufwachen. Jemand versuchte, sie zu töten.

Schlagartig riss sie die Augen auf. Ihr Blick war verschwommen. Jedes einzelne Körperteil schmerzte.

Emily Benton-Riggs sog scharf den Atem ein. Die kalte Nachtluft stach ihr wie ein Messer in die Lungen. Ihre Rippen schmerzten. Sie versuchte, langsam ein- und wieder auszuatmen. Blinzelte.

Nach und nach konnte sie ihre Umgebung erkennen. Sie befand sich noch immer in ihrem Auto. Doch sie saß nicht länger aufrecht. Ihr kleiner Hyundai hatte sich gedreht, war den Abhang hinuntergerollt und hatte sich mindestens zweimal überschlagen, bevor er auf der Fahrerseite liegend an der Flanke des Berges zum Stehen gekommen war.

Genauso durchgerüttelt wie das Auto fühlte sich auch ihr Kopf an. Nichts schien mehr einen Sinn zu ergeben.

Nur eines empfand sie sehr deutlich: Sie war froh, noch am Leben zu sein. Froh, und gleichzeitig überrascht. In den vergangenen Jahren hatte sie so viele Schicksalsschläge einstecken müssen, dass sie gelernt hatte, mit dem Schlimmsten zu rechnen.

Obwohl es gerade in den vergangenen Monaten erstmals wieder aufwärtszugehen schien. Sie mochte ihr neues Zuhause, das kleine, gemütliche Häuschen in Denver, das sie gemietet hatte. Ihre Arbeit erfüllte sie. Außerdem hatte sie soeben erfahren, dass sie womöglich eine sehr reiche Frau war.

Ich darf jetzt nicht aufgeben.

Ein Sturz von einer engen Bergstraße in die tiefen Hänge von Aspen würde sie nicht aufhalten.

Ihre Stirn fühlte sich feucht an. Als sie die Hand hob, unter den Pony griff und die klebrige Wunde an ihrem Kopf befühlte, schoss ein scharfer Schmerz durch ihren Körper. Jede Bewegung sandte neue, noch grausamere Wellen Schmerz in ihren Leib. Sie senkte die Hand vor die Augen. Ihre Finger waren blutverschmiert.

Plötzlich stand ihr das Bild ihrer längst verstorbenen Mutter vor Augen. Das Bild einer enttäuschten, zornigen Frau, die weder an das Glück noch an die Liebe glaubte. Vor allem nicht an die Liebe.

Das Bild war so klar, als würde sie wirklich vor ihr stehen, mit ihrem wilden, platinblond gefärbten Haar und ihrer unordentlichen Kleidung, eine Flasche Wodka in der Hand. Sie nahm einen Schluck und sagte leise und heiser, sodass nur Emily sie hören konnte: „Du verdienst diesen Reichtum nicht. Deswegen bist du tot.“

„Aber das bin ich nicht“, protestierte Emily. „Und ich verdiene dieses Erbe. Ich habe Jamison geliebt. Ich habe alles getan, um seine Frau zu bleiben. Es ist nicht meine Schuld, dass er mit … praktisch jeder ins Bett gegangen ist.“

Ihre Stimme versagte. Dieses letzte erniedrigende Kapitel ihrer Ehe wollte sie nicht noch einmal heraufbeschwören. Es war vorbei.

„Du hast versagt“, höhnte ihre Mutter mit einem hämischen Grinsen.

„Geh weg. Ich streite mich nicht mit einem Geist.“

„Du bist schon bald auf meiner Seite.“ Unheimliches Gelächter erfüllte Emilys Kopf. „Sieh dich doch mal um, Mädchen. Du bist noch immer im dunklen Wald.“

Mom hatte recht. Emily atmete zwar, aber ihr Überleben hing am seidenen Faden.

Mit der rechten Hand versuchte sie, den Airbag wegzudrücken. Der chemische Staub, der sich beim Platzen im Inneren des Airbags entfaltet hatte, stob in einer dichten Wolke auf und drohte, sie zu ersticken. Sie hustete schwer, und ihr Brustkorb begann, wie Feuer zu brennen. Die Rippen schmerzten höllisch.

Sie hob den Blick und spähte durch die Windschutzscheibe. Ein Geflecht großer und kleiner Risse zog sich wie ein Spinnennetz durch das Sicherheitsglas. Jenseits davon erkannte sie Felsen und Baumstümpfe. Ja – sie war noch immer im dunklen Wald.

Aus ihrer schrägen Position heraus fiel es ihr schwer, sich zu orientieren. War sie in die Schlucht gestürzt, oder hatte ein Baum am Abhang ihren Sturz auf halber Strecke abgefangen?

In diesem Augenblick begannen die Scheinwerfer zu flackern – und erloschen. Aus der Motorhaube direkt vor ihr begann Rauch aufzusteigen.

Im Film war das das eindeutige Zeichen dafür, dass das Auto gleich explodieren würde. Oder zumindest in Flammen aufgehen.

Die Vorstellung, im Wagen zu verbrennen, war grauenerregend. Ihr Magen zog sich zusammen. Ich muss aus diesem verdammten Auto raus.

Oder sie musste Hilfe holen. Verzweifelt tastete sie nach ihrer Handtasche mit dem Handy. Sie erinnerte sich, wie sie die Tasche achtlos neben sich auf den Sitz geworfen hatte.

Als sie den Kopf wandte, schoss der Schmerz sengend in ihren Nacken. Die Beifahrerseite war bei dem Sturz zerschmettert, und die Tür aus der Verankerung gerissen worden. Ihre Handtasche lag vermutlich irgendwo zwischen hier und der Straße.

Durch die Öffnung, die einmal die Beifahrertür gewesen war, konnte sie die Sterne funkeln sehen. Ein blasser Halbmond hing am Septemberhimmel und erinnerte sie an ein Gemälde von Van Gogh.

Sie streckte den rechten Arm aus und versuchte, den leeren Türrahmen zu packen, doch sie schaffte es nicht. Bei dem Versuch, sich umzudrehen, bemerkte sie, dass mit ihrem linken Arm etwas nicht stimmte. Er ließ sich nicht bewegen, sondern baumelte einfach leblos im Ärmel des schwarzen Blazers, den sie ausgesucht hatte, um bei der Verlesung des Testaments einen seriösen Eindruck zu machen.

Gleich darauf erfüllte gleißender Schmerz die Muskeln von Schulter bis Handgelenk. Ihr weißes Shirt war blutdurchtränkt, doch sie wusste nicht, ob es von ihrem nutzlos gewordenen Arm oder der Kopfverletzung stammte.

Da hörte sie eine männliche Stimme rufen. „He, da unten!“

Sie erstarrte. Das Monster, das sie von der Straße gedrängt hatte, kam ihr nach, um die Sache zu Ende zu bringen. Die Angst legte sich wie eine kalte Hand um ihren Hals und lähmte ihre Gedanken. Sie sagte nichts.

„Emily, bist du das?“

Er kannte ihren Namen. Sie zählte keine der Personen, die sie in Aspen getroffen hatte, zu ihren Freunden. Und sie traute keinem von ihnen. Irgendwie musste sie aus diesem Auto steigen. Sich verstecken.

Vorsichtig versuchte sie, mit der unverletzten Hand den leblosen Arm zu bewegen. Sicher war er gebrochen. Wenn sie Pfadfinderin gewesen wäre – oder auch nur Erste Hilfe beherrscht hätte –, wäre es ihr vielleicht gelungen, aus einem Ast eine Schiene zu basteln.

Wenn sie ein besserer Mensch gewesen wäre, dann hätte sie sich gar nicht erst in dieser Situation befunden. Nein. Das ist nicht deine Schuld.

Sie verfluchte sich selbst, weil sie sich von nutzlosen Gedanken ablenken ließ. Zunächst einmal musste sie diese tickende Zeitbombe von Auto verlassen. Und dem Mann entkommen, der sie umbringen wollte.

Sie löste den Sicherheitsgurt und fiel gegen die Scheibe. Das Auto wurde erschüttert.

Vorsichtig drehte sie sich um, zog die Beine unter dem Lenkrad hervor und versuchte aufzustehen. Schmerz explodierte in ihrem linken Knöchel, als sie sich aufrichtete.

Sie schob den Oberkörper durch die Türöffnung und atmete tief ein. Die glasklare, kalte Nachtluft weckte sie vollends aus ihrem Schock. Mit aller Kraft zog sie sich über den Rand, stemmte sich aus dem Auto und fiel auf der anderen Seite ins Freie.

Von der Unterseite des Wagens stieg ein durchdringender Geruch nach Benzin auf, was sie daran erinnerte, sich zu beeilen.

Sie konnte den linken Knöchel nicht belasten, deshalb hüpfte sie einige Meter auf dem rechten Bein, dann zog sie das linke nach und versuchte, den Schmerz zu ignorieren.

In sicherer Entfernung ließ sie sich zu Boden sinken und wandte sich um. Das Mondlicht beschien die Szenerie, und sie konnte erkennen, dass sie etwa ein Drittel des Abhangs hinabgestürzt war, ehe ihr Sturz von einer mächtigen Tanne aufgehalten worden war. Die Motorhaube war eingedrückt, und die Rückseite des Autos schwebte bedenklich über dem Abgrund.

„Emily? Bist du da unten?“

Die Stimme kam näher. Sie musste hier weg, ein sicheres Versteck finden.

Doch ihr Körper ließ sich nicht länger kontrollieren. Ihre Knie gaben nach. Auf allen vieren kroch sie über den Waldboden schräg den Abhang hinauf, bis sie eine Ansammlung von Felsen erreichte.

Dort kauerte sie sich an die Steine und versuchte, zu Atem zu kommen. Mit dem rechten Arm brachte sie sich in eine sitzende Position. Es schien der einzige unverletzte Körperteil zu sein.

Dann spähte sie über den Abgrund hinab zu ihrem Auto. Schmerz und Erschöpfung drohten, sie zu überwältigen. Es fiel ihr schwer, die Augen offen zu halten.

Bis sie ein Geräusch hörte.

Doch es war nicht das bedrohliche Zischen einer Leitung, nicht das tödliche Aufflammen, das eine Explosion ankündigte. Es war ein brechender Zweig. Und der Laut kam ganz aus ihrer Nähe.

Entsetzen ergriff ihr Herz.

Er kam näher.

Sie musste wegrennen. Ganz gleich, wie es schmerzte, sie musste auf die Beine kommen. Doch das linke Bein wollte einfach nicht gehorchen. Es würde unmöglich, ihr Gewicht zu tragen. Frustriert sank sie zurück auf den Felsen. Ein schmerzerfülltes Stöhnen entglitt ihrem Mund.

Der Umriss eines Mannes löste sich aus den nahestehenden Tannen. Er wandte sich in ihre Richtung. Bitte sieh mich nicht. Bitte, bitte.

„Emily, bist du das?“

Er kam rasch näher. Sie hoffte, dass es schnell gehen würde. Noch mehr Schmerz würde sie nicht ertragen.

Er ließ sich auf den Felsen neben ihr sinken. Das Mondlicht fiel auf sein schönes Gesicht. Sie kannte ihn. „Connor.“

Behutsam legte er den Arm um ihre Taille. Sie hätte zumindest versuchen müssen, sich zu wehren, doch jegliche Kraft war ihr aus dem Körper gewichen. Außerdem wollte sie nicht glauben, dass Connor ihr etwas antun würde.

„Hilfe ist unterwegs“, versicherte er. „Ich habe den Notruf gewählt. Die Sanitäter werden gleich hier sein. Bis dahin solltest du dich nicht bewegen. Wir müssen warten, bis sie deinen Hals und deinen Rücken stabilisiert haben.“

Er war nicht hier, um sie zu töten – sondern um sie zu retten.

Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust und atmete den Geruch seiner Lederjacke ein. Es fühlte sich real an, trotzdem war es schwer zu glauben, dass er hier war.

Erst gestern hatten sie miteinander telefoniert. Doch zu diesem Zeitpunkt war sie in Denver und er in Manhattan gewesen.

Beide waren zur Testamentsverkündung ihres verstorbenen Ex-Mannes nach Aspen eingeladen worden, doch sie hatte Connor gesagt, er brauche sich nicht die Mühe machen, zu kommen. Warum sollte ihr Anwalt anwesend sein, wenn sie selbst nicht einmal vorhatte, dabei zu sein?

Nicht mit einem Cent hatte sie gerechnet, und es schien den Aufwand nicht wert zu sein, die Familie ihres Ex-Mannes zu besuchen.

Erst im letzten Augenblick hatte sie es sich anders überlegt. Immerhin war dies die letzte Gelegenheit, die Riggs-Familie zu sehen, und es gab durchaus ein paar Dinge, die Emily noch loswerden wollte. Nicht besonders hübsche Dinge, aber sie lagen ihr schwer auf der Seele. Für gewöhnlich war Emily ein harmoniebedürftiger Mensch und scheute Konflikte, aber die Riggs hatten einfach zu lange auf ihr herumgetrampelt.

Jedenfalls gab es nichts, wofür sie sich hätte schämen müssen. Früh am Morgen hatte sie Connor eine SMS geschickt und erklärt, dass sie doch noch fahren würde.

„Emily, bist du in Ordnung?“

„Nein“, murmelte sie.

„Dumme Frage. Tut mir leid.“ Er klang zerknirscht. „Sobald ich deine Nachricht bekommen habe, bin ich sofort aufgebrochen. Ich bin von New York nach Denver geflogen und mit einer Anschlussmaschine nach Aspen, wo ich mir ein Mietauto genommen habe.“

Seine Stimme war tief und tröstend, und am liebsten hätte Emily sich einfach dem Schlaf überlassen. Ihr Hals war wie zugeschnürt, ihre Augenlider unendlich schwer. Doch es gab etwas, das sie ihm mitteilen musste.

„Wenn ich gestern Abend schon angekommen wäre, hätten wir zusammen fahren können.“ Seine Stimme klang bitter. „Dann hättest du nicht diesen Unfall gehabt.“

Unfall? Sie wollte schreien, dass es kein Unfall gewesen war.

Da hörte sie eine Sirene aufheulen. Der Krankenwagen war da.

In ihrem Kopf wurde alles schwarz.

2. KAPITEL

Wie ein Wächter stand Connor Gallagher an Emilys Krankenbett in einem Privatzimmer der Klinik in Aspen. Nach einer vierstündigen Operation hatte man sie in ein induziertes, in ein künstliches Koma versetzt, und ihr Zustand galt noch immer als kritisch. Die Ärzte hatten sich vorsichtig optimistisch geäußert, doch niemand konnte ihm garantieren, dass sie sich wieder vollständig erholen würde.

Er hasste den Gedanken. Emily hatte bereits genug gelitten.

Ihr Atem hatte sich stabilisiert. Er sah zu, wie sich ihre Brust stetig hob und senkte. Unter der leichten blauen Decke zeichneten sich die Konturen ihres schmalen Körpers ab.

Die Atemmaske war nun nicht mehr nötig, doch es führten noch drei verschiedene Kanülen in ihre Haut. Ihr linker Arm war vom Ellbogen bis zum Handgelenk eingegipst. Eine schwere Verstauchung in ihrem linken Bein machte es nötig, dass sie einen großen klobigen Plastikschuh tragen musste. Ihr Kopf war mit mehreren Pflastern versehen.

Ihr Gesicht wirkte entspannt, aber nicht friedvoll. Ein schwarz-blauer Fleck prangte über ihrem Auge, darüber hatte man die Kopfhaut nähen müssen. Ihr Anblick erinnerte an einen Preisboxer, der die entscheidende Runde verloren hatte.

Behutsam ergriff Connor ihre Hand, die von Kratzern übersät war. Laut der Ärzte waren die Wunden und Abschürfungen an ihrem Körper das geringste Problem. Mehr Sorgen bereitete ihnen die Schwellung, die man an ihrem Gehirn festgestellt hatte.

Knochen wuchsen wieder zusammen. Wunden heilten. Aber ein Gehirnschaden konnte zu unwiderruflichen Schädigungen führen.

Nachdem der Krankenwagen eingetroffen war, war Emily ohnmächtig geworden. Auf dem Weg ins Krankenhaus war sie nur einmal zu sich gekommen. Ihre Augenlider hatten sich flatternd gehoben, und sie hatte versucht, Connor anzusehen. „Ich bin in Gefahr, Connor.“

Er wusste nicht, was sie damit meinte. „Alles wird gut“, hatte er ihr versichert.

„Bleib bei mir“, hatte sie geflüstert. „Du bist der Einzige, dem ich vertrauen kann.“

Er hatte versprochen, sie nicht alleine zu lassen, und es war ihm verdammt ernst damit gewesen. Sie brauchte ihn.

Auch wenn sich die Krankenhausangestellten über seine Anwesenheit wunderten, würde er nicht von ihrer Seite weichen.

Der zuständige Arzt hatte deutlich gemacht, dass es ihm nicht gefiel, wenn jeder seiner Handgriffe überwacht wurde. Er hatte blondes, lockiges Haar und die Statur eines nordischen Kriegsgottes. Dementsprechend war auch sein Name, Thorson – in Anlehnung an Thors Sohn.

In diesem Moment betrat Thorson den Raum. Er überprüfte die Kanülen und warf einen Blick auf die Monitore, doch Connor wurde das Gefühl nicht los, dass er bloß hereingekommen war, um seine Autorität zu behaupten.

Ohne Connor anzusehen, sagte er: „Es geht ihr besser.“

Besser als was? Tot zu sein? Connor verkniff sich eine Antwort und fragte stattdessen: „Wann wird sie verlegt?“

„Vielleicht morgen. Oder übermorgen.“

„Geht das auch etwas genauer, Doktor? Nichts für ungut, aber ich möchte sie zu einem Neurologen bringen.“

„Ich versichere Ihnen, dass sie hier in guten Händen ist.“

Connor nahm sein Mobiltelefon aus der Tasche. Während Emily operiert worden war, hatte er im Internet recherchiert. Er rief eine bestimmte Seite auf und zeigte dem Arzt einige hochmoderne Geräte aus der neurologischen Forschung. „Haben Sie die hier zur Verfügung?“

„Die brauchen wir nicht.“

„Da bin ich anderer Meinung.“

Thorson starrte ihn an. Seine stahlblauen Augen waren eiskalt. Er kreuzte die Arme vor der breiten Brust, und der Krankenhauskittel spannte sich über seinen Oberarmmuskeln.

Doch Connor ließ sich davon nicht einschüchtern. Mit über einem Meter neunzig Körpergröße überragte er diesen Möchtegern-Gott, und er hatte selten im Leben einen Kampf verloren – verbal oder physisch.

Connor erwiderte den Blick. Seine dunklen Augen waren hart und undurchdringlich wie Obsidian.

„Verraten Sie mir doch noch einmal, in welchem Verhältnis Sie zu der Patientin stehen?“, fragte Thorson kühl.

„Ich bin ihr Verlobter.“

„Ich sehe keinen Ring an ihrem Finger.“

„Ich habe ihr noch keinen gegeben.“

Es machte Connor keine Freude, Lügen zu erzählen, doch es machte es ihm sehr viel einfacher, in Emilys Nähe zu bleiben. Als Verlobter wurden ihm mehr Türen geöffnet als in der Rolle des Anwalts.

Auf diese Weise hatte er ihr ein Privatzimmer besorgt und die Sympathie der Schwestern erlangt, die von der tragischen Geschichte der verunglückten Verlobten gerührt waren.

„Kein Ring?“ Thorson hob die blonden Brauen. „Warum nicht?“

„Nicht, dass es Sie etwas angehen würde. Aber die Umstände unserer Verlobung waren kompliziert.“

Und das war nicht ganz so fern von der Wahrheit. Emily war mit seinem besten Freund verheiratet gewesen, und Connor war als ihr gemeinsamer Anwalt beauftragt. Emilys Ex-Mann war ein erstklassiger Börsenmakler an der Wall Street gewesen und hatte seine Geschäfte irgendwann einer anderen Anwaltskanzlei übertragen. Vor sechs Wochen war er gestorben. Kompliziert traf es nicht einmal annähernd.

Thorsons Lippen bildeten eine schmale Linie. Dann sagte er: „Sie hat einen auffälligen Nachnamen. Benton-Riggs. Gibt es da eine Verbindung zu Jamison Riggs?“

Aha! Jetzt wusste Connor, warum sich der Arzt so feindselig verhielt.

In Aspen waren die Briggs eine echte Hausnummer, mit Jamison als Haupterben, dem Goldjungen und Vorzeigeburschen der Familie. Sieben Jahre war er mit Emily verheiratet gewesen. Vor über einem Jahr waren die beiden dann getrennte Wege gegangen, doch erst vor drei Monaten war die Scheidung offiziell geworden.

„Halten Sie sich da raus, Thorson.“

„Ich sollte ihre Familie informieren.“

Den Riggs-Clan als ihre Familie zu bezeichnen, ließ die Wut in Connor aufflammen. Diese Leute hatten sich einen Dreck um sie geschert. Er hatte das selbst mehr als einmal erlebt.

Schon damals, als Jamison seine junge Frau zum ersten Mal der Familie vorgestellt hatte, war Connor dabei gewesen. Warum auch nicht? Jamison war sein Kumpel gewesen. Sie hatten zusammen in Harvard studiert. Und von außen betrachtet, hätten die beiden sogar Brüder sein können: Beide waren überdurchschnittlich groß, drahtig, mit braunem Haar und braunen Augen.

Außerdem waren beide extrem ehrgeizig. Und sie hatten denselben Geschmack, was Frauen betraf. Als Jamison seinem Freund zum ersten Mal Emily vorgestellt hatte, lag die Betonung auf Verlobte – und das hatte Connor beinahe das Herz aus der Brust gerissen. Emily hätte seine Frau werden sollen.

Die in Aspen lebenden Benton-Riggs’ akzeptierten Connor als einen der ihren, vermutlich, weil sie glaubten, wer eine Elite-Universität besuchte hatte, müsse aus einer vermögenden Familie stammen.

Das war weit gefehlt, aber Connor hatte ihrer Vermutung nie widersprochen. Am liebsten hätte er überhaupt nicht mit ihnen gesprochen, denn er hasste die hochnäsige Art, wie sie mit Emily umgingen.

Sie trug keine Designer-Kleidung, konnte nicht Skifahren und hätte kein reinrassiges von einem gewöhnlichen Pferd unterscheiden können. Ihr Lachen war zu laut und ihr Dialekt zu gewöhnlich, da sie aus dem Mittleren Westen stammte. Insgeheim hatte sich Connor manchmal gefragt, ob Jamison sie ausgewählt hatte, um seine Familie in den Wahnsinn zu treiben.

Er warf Thorson einen finsteren Blick zu. „Sie werden die Riggs’ nicht anrufen.“

„Ich bin sicher, dass sie informiert werden wollen.“

„Ich bin sicher, dass Sie sich Miss Benton-Riggs’ Patientenverfügung angesehen haben, richtig?“ Nach ihrer Heirat hatten Jamison und Emily ihrem Freund und Anwalt eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht überschrieben.

Nach der Scheidung – und nachdem die Männerfreundschaft verblichen war – hatte Jamison anderweitige Pläne gemacht. Doch Emily hatte an der Patientenverfügung nie etwas ändern lassen.

„Im Notfall bin ich für sie verantwortlich. Und ich möchte nicht, dass sich auch nur einer der Riggs’ ihrem Krankenbett nähert.“

„Sie sind nicht bei Sinnen.“ Der Arzt starrte ihn an.

„Und wie ich das bin.“ Es gelang Connor, nicht die Stimme zu erheben, doch innerlich begann er zu beben.

In diesem Moment klopfte jemand behutsam an die Tür, dann wurde sie geöffnet, ohne auf eine Einladung zu warten. Draußen stand ein adretter junger Mann in Uniform. Er tippte mit dem Zeigefinger an seine Dienstmütze. „Mr. Gallagher, ich bin Deputy Rafe Sandoval. Ich habe einige Fragen.“

„Ich habe den Unfall zwar nicht direkt gesehen, aber ich werde gerne versuchen, zu helfen, wenn ich kann.“ Connor schenkte Thorson ein kaltes Lächeln. „Der Doktor wollte ohnehin gerade gehen.“

Nachdem Thorson hinausgestürmt war, betrat der Polizist den Raum. Er winkte Connor zu sich an die Tür und sagte leise: „Ich möchte nicht ihren Schlaf stören.“

„Sie liegt im künstlichen Koma.“

„Aber womöglich kann sie uns hören?“

Das hatte sich Connor selbst bereits gefragt. Ob Emily mitbekam, was um sie herum vorging? Wusste sie, dass er jede Minute an ihrer Seite war und jeden vernichten würde, der ihr etwas antun wollte? „Ich wünschte mir, sie könnte mich hören, aber ich weiß es nicht.“

Sandoval hielt die Stimme gesenkt. „Warum befanden Sie sich auf dieser Straße?“

„Ich war auf dem Weg zu Patricia Riggs’ Anwesen, um bei der Verlesung des Testaments ihres Cousins Jamison dabei zu sein. Leider bin ich erst spät in New York aufgebrochen und kam nicht mehr rechtzeitig.“

So gerne Connor die Familie von Emily ferngehalten hätte, so deutlich wurde ihm jetzt, dass die Polizei auch an sie Fragen haben würde. „Haben Sie schon mit den Riggs’ gesprochen?“

„Noch nicht“, sagte Sandoval. „Warum haben Sie gehalten, Mr. Gallagher? Sie haben ausgesagt, Sie hätten den Unfall nicht gesehen, aber Sie waren sehr schnell am Unfallort.“

„Da draußen gibt es keine Straßenlaternen.“ Die schmale, zweispurige Straße zu Patricias Anwesen schmiegte sich in den Hang und wurde lediglich von einem kleinen Geländer begrenzt. „Die Scheinwerfer ihres Autos waren deutlich zu sehen.“

„Also haben Sie angehalten“, ergänzte der Deputy.

„Ich sah, dass das Geländer an der Stelle eingedrückt war. Daraufhin stieg ich aus meinem Wagen und blickte über die Böschung hinab in den Abgrund.“

Panik war in ihm aufgestiegen, als er in der Dunkelheit die Umrisse des zertrümmerten kleinen Autos gesehen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war ihm noch nicht bewusst gewesen, dass es Emilys Wagen war.

Doch als die Scheinwerfer plötzlich ausgingen und er das Knarren des Baumes hörte, hatte er gewusst, was zu tun war.

Ganz gleich, wer da unten in dem Wrack gefangen war – er musste helfen.

„Das ist jetzt sehr wichtig, Mr. Gallagher. Haben Sie noch irgendein anderes Fahrzeug gesehen?“

„Nein.“

„Sind Sie sicher?“

Connor beschlich ein dunkles Gefühl. Inzwischen war es zwei Uhr morgens. Warum konnte die Polizei mit ihrer Befragung nicht bis morgen warten? „Gibt es etwas Verdächtiges an dem Unfall?“

Der junge Mann straffte die Schultern. Er sah Connor direkt an. „Nach unseren ersten oberflächlichen Untersuchungen müssen wir davon ausgehen, dass Miss Benton-Riggs von der Straße gedrängt wurde.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Jemand hat versucht, sie umzubringen.“

3. KAPITEL

Emily wusste, dass sie träumte.

Es gab gar keine andere Erklärung für all die wirren Bilder, die sich in ihren Geist drängten und sie immer wieder ablenkten.

Aber sie musste aufwachen. Da gab es etwas, das sie finden musste. Ob es eine Sache, eine Person oder ein Ort war, wusste sie nicht. Sie wusste bloß, dass es wichtig war. Eine wichtige Suche, die über Leben und Tod entscheiden würde.

Nur wurde sie von einer grellbunten Blumenwiese abgelenkt, deren psychedelische Farben aussahen wie auf einem Peter Max Poster aus den Sechzigern. Gleich darauf glitt sie durch einen Raum, der in den wildesten Jackson Pollock Farben besprüht worden war.

Sie rauschte durch einen weiteren Raum, in dem mehrere gerahmte Bilder an den Wänden hingen. Einige davon waren berühmte Gemälde: Dalís schmelzende Uhren, das Mädchen mit dem Perlenohrring, Frauen auf Tahiti, die in einem Fluss badeten.

Andere erinnerten sie an ihre Schützlinge aus Denver, lokale Künstler, deren Werke sie in ihrer Galerie ausgestellt hatte.

Langsam flog sie in einen langen, engen Korridor, begleitet von einer nebelhaften Frau, die sich als lächelnde Mona Lisa herausstellte.

Dann wurde sie in Nebel gehüllt. Um ihre Füße bildeten sich zarte rosafarbene Wolken wie Zuckerwattebäusche. Sie versuchte, die aufsteigenden Wolken beiseite zu wischen, doch sie konnte ihren linken Arm nicht bewegen. Daraufhin spitzte sie die Lippen und pustete die Wattewolken weg.

Connor Gallagher kam auf sie zu. Es war die Manhattan-Version von Connor, in einem maßgeschneiderten, dunkelgrauen Anzug und einer seidenen Krawatte. Er wirkte gepflegt wie immer, doch sein Haar war ungekämmt und lag wild um seinen Kopf. Seine schokoladenbraunen Augen ließen ihr Herz springen.

Sie seufzte, als sie die Erinnerung an diesen Augenblick einordnete. Es war etliche Monate her, dass sie beschlossen hatte, die Scheidung einzureichen. Sie hatte Jamison und Manhattan längst verlassen, war in ihre Heimatstadt Denver zurückgezogen und arbeitete hart an ihrem neuen Leben.

Connor hatte den weiten Weg von New York nur für sie gemacht, um ihr mit den Formalitäten zu helfen. Doch in dem Moment, in dem sie ihn auf ihr kleines Häuschen zulaufen sah, vergaß sie jeden Gedanken an Papiere, Unterschriften und Eheverträge.

Sie sah nur noch Connor. Sie mochte ihn … sehr. Seit Neuestem spielte er die Hauptrolle in ihren erotischen Fantasien. Im wahren Leben hatte sie ihn nie mit weniger als einer Badehose gesehen, aber das reichte schon aus, um Michelangelos David in den Schatten zu stellen.

Abgesehen von seinem Körper, war sie fasziniert von seinem Durchsetzungsvermögen, dem Klang seines Lachens und der Form seines Mundes.

In ihrer Erinnerung hatten sie sich umarmt. Er roch angenehm, warm und würzig wie Zimt. Und dann hatte Connor nach Jamison gefragt. Und ob dieser ebenfalls die Scheidung wünschte.

Es war ihr vollkommen egal, was Jamison wollte. Es war nichts mehr übrig von der Liebe, die sie einmal für ihn empfunden hatte. Sie wohnte nicht mehr mit ihm zusammen, seit sie ihn mit der Haupt-Geschäftspartnerin seiner Investmentfirma im Bett erwischt hatte. Mit einer großen, schlanken Frau mit unglaublich roten, glatten Haaren, die niemals lächelte.

Jamison hatte tatsächlich erwartet, dass Emily ihm verzieh. Sie solle sich keine Sorgen machen, er hätte bloß versucht, einen geschäftlichen Vorteil aus der Sache zu ziehen. Als ob das in Ordnung wäre.

Emily schnaubte wütend. Sie glaubte ihm kein einziges Wort mehr. Andere hatten sie bereits gewarnt, dass Jamison nicht immer treu war, und daraufhin hatte es nicht lange gedauert, bis sie Beweise für mindestens drei weitere Techtelmechtel gefunden hatte.

Jamison hatte ein aufregendes, wildes Leben geführt. Und um ehrlich zu sein, hatte sie gehofft, es selbst einmal auszuprobieren, als sie Connor gebeten hatte, nach Denver zu kommen.

Natürlich brauchte sie keinen Vorwand, um Connor zu rufen, denn es gab tatsächlich viele Dinge zu besprechen. Doch insgeheim wünschte sie sich, Connor würde sie in den Arm nehmen, sie auf das Bett werfen und ihr jeden weiteren Gedanken aus dem Kopf brennen.

Nach allem, was sie durchgemacht hatte, dürfte sie sich selbst eine Affäre gönnen. Aber nein! Offiziell war sie noch immer verheiratet, und Connor war viel zu loyal, um seinen Freund zu hintergehen, auch wenn Jamison ein mieser Hund war, der überhaupt keine Loyalität verdiente.

Nachdem Connor nach New York zurückgekehrt war, hatte sie einen weiteren Anwalt in Denver kontaktiert und sich an die Arbeit gemacht. Die Scheidung hatte sich über Monate gezogen. Es waren so viele Dinge gleichzeitig passiert, dass sie kaum zum Nachdenken kam.

Es war, als würde sie irgendwo eine Dampforgel spielen hören. Diddel-dum-diddel-diddel-dum. Plötzlich befand sie sich auf einem Karussell und ritt auf einem bemalten Pony. Sie hatte nicht gewusst, dass Jamison krank war, und sie hatte ihn nur noch einmal gesehen, bevor er starb.

In Anbetracht seines frühen Todes erschien die Scheidung kalt und herzlos. Selbst hier im Traum nagte das schlechte Gewissen an ihr. Wenn sie gewusst hätte, dass er todkrank war, hätte sie ihm vielleicht vergeben und ihn während seiner letzten Tage gepflegt. Oder auch nicht.

Sie stieg vom Karussell und ging eine grasbewachsene Anhöhe hinauf. Auf dem Hügel befand sich ein alter Friedhof. Sie hatte zu Jamisons Beerdigung gehen wollen, doch seine alte Tante Glenda, die unangefochtene Matriarchin der Familie und eine sehr autoritäre Frau, hatte Emily klargemacht, dass sie nicht willkommen war.

Die Familie hatte sich so vehement gegen ihren Besuch gewehrt, als ob sie etwas zu verbergen hätte.

Eigentlich dürfte Jamison gar nicht mehr ihr Problem sein. Sie waren geschieden, und er war gestorben. Aber es gab irgendeine Verbindung. Man hatte ihr Auto von der Straße gedrängt, nachdem sie das Haus der Riggs verlassen hatte.

Jemand wollte, dass sie starb. Hatte versucht, sie zu ermorden. Sie musste sich wehren. Sie musste aufwachen. O Gott, ich bin zu müde.

Jemand hielt ihre Hand und tröstete sie. Für diesen Augenblick musste das genügen.

Sie driftete zurück in die Dunkelheit.

Am nächsten Morgen saß Connor an Emilys Bett und strich über ihre rechte Hand. Sie rührte sich nicht, doch einer der Bildschirme flackerte auf. Kurz darauf ertönte ein Piep-Signal, und eine Schwester kam ins Zimmer.

„Hat sie gesprochen?“, fragte sie, während sie die Bildschirme überprüfte.

„Noch nicht. Aber ihre Augenlider bewegen sich.“

„Das nennt man die REM-Phase. Rapid Eye Movement. Kein Grund zur Beunruhigung. Ich werde dem Arzt Bescheid geben. Sie sollte allerdings nicht zu früh aufwachen.“

„Warum?“

„Das künstliche Koma dient dazu, das Gehirn zu schützen und es zu entspannen, während die Schwellung zurückgeht. Sie braucht jetzt viel Ruhe.“

Connor kannte sich mit Kopfverletzungen nicht aus, deswegen hatte er einen Neurochirurgen in New York konsultiert, mit dem er seit Jahren locker befreundet war.

Dieser hatte ihn darüber aufgeklärt, was in einem solchen Fall alles schiefgehen konnte. Und dazu zählten so furchtbare Symptome wie Schlaganfall, Amnesie und sogar Epilepsie. Kopfverletzungen waren völlig unkalkulierbar und konnten zerstörerische Folgen haben.

Daher fiel es ihm schwer, den Optimismus der Krankenschwester zu teilen. Connor war Realist. „Es sieht so aus, als wollte sie aufwachen. Ist das ein gutes Zeichen?“

„Oh, bestimmt!“ Sie tätschelte seine Schulter.

Connor schenkte ihr ein gequältes Lächeln. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Emily wieder völlig gesund würde.

„Sie sollten ein wenig schlafen“, empfahl die Schwester. „Sie haben sich ebenfalls ein bisschen Ruhe verdient.“ Mit diesen Worten verließ sie das Krankenzimmer.

Schlaf klang verlockend, doch Connor wagte nicht, seinen Wachposten an Emilys Bett aufzugeben. Jemand hatte versucht, sie von der Straße zu drängen, und womöglich würde er zu weiteren Mitteln greifen, um sein Vorhaben zu Ende zu bringen.

Um dem entgegenzuwirken, hatte Connor bereits Maßnahmen ergriffen. Er hatte sich mit dem Ermittler in Verbindung gesetzt, der für Connors Kanzlei in Manhattan arbeitete. Dieser hatte Connor den Namen eines Privatdetektivs gegeben, den er sofort kontaktiert hatte.

Neben dem Detektiv hatte Connor außerdem einen Bodyguard ausfindig gemacht. Zwar schenkte er dem jungen Deputy Sandoval sein Vertrauen, doch er wollte Emilys Schutz nicht allein der örtlichen Polizei überlassen.

Die Beamten kannten die angesehen Briggs’ und würden vermutlich nicht einmal Verdacht schöpfen, wenn die Familie mit Blumenstrauß und Pistole bewaffnet in Emilys Krankenzimmer spazierte.

Connor strich über Emilys dunkelblonde Locken. Selbst mit einem Veilchen und genähter Platzwunde auf der Stirn sah sie hinreißend aus. Sie hatte eine Stupsnase und volle, fein gewölbte Lippen.

Mit dem Daumen fuhr er behutsam über ihren Mund. Er hatte diese Lippen nur einmal geküsst, in einer flüchtigen, freundschaftlichen Geste, seine Lippen hatten kaum ihre Mundwinkel berührt.

Doch jetzt dachte er daran, wie es wäre, sie wirklich zu küssen. Richtig zu küssen.

Natürlich war das kaum angebracht in der gegenwärtigen Situation. Jemanden zu küssen, der im künstlichen Koma lag, war beinahe schon gruselig.

Außerdem sollte sie im Vollbesitz ihrer Sinne sein, wenn er ihr endlich gestand, wie sehr er sich nach ihr gesehnt hatte.

„Emily“, flüsterte er in der Hoffnung, seine Worte würden in ihren Schlaf dringen. „Hier gibt es einen Deputy, sein Name ist Sandoval. Er ist zweiunddreißig und sieht sehr jung aus, aber ich glaube, er ist ein verlässlicher, intelligenter Mann.“

Emily regte sich nicht. Ihr Schweigen war beunruhigend. Vor allem, wenn man sie so kannte wie Connor: als lebendige, fröhliche junge Frau, die gerne redete – vor allem über Kunst.

„Anhand der Reifenspuren hat er herausgefunden, dass dein Auto von einem anderen Wagen abgedrängt wurde. Nach der Breite der Achsen zu urteilen, handelt es sich um einen Truck. Du wurdest von der Straße gedrängt und bist durch die Begrenzung gebrochen.“

Er stellte sich vor, dass sie in diesem Augenblick wahnsinnig vor Angst gewesen sein musste. Es würde eine Weile dauern, bis ihr kleiner Hyundai aus der Schlucht geborgen und gründlich untersucht wurde, und hoffentlich würden sie weitere Hinweise auf den Truck finden.

„Kannst du mich hören, Emily? Weißt du, warum dir jemand so etwas antun würde? Hast du den Angreifer gesehen?“ Doch die einzige Antwort war das leise, stete Piepsen der Maschinen.

„Glaubst du, dass die Riggs’ etwas damit zu tun haben?“ Er konnte sich das durchaus vorstellen, auch wenn er noch nicht wusste, aus welchem Grund. „Du wolltest nicht, dass ich zu ihnen fahre. Du hast gesagt, wenn es zwischen dir und der Familie hässlich wird, soll ich nicht gezwungen sein, Partei zu ergreifen. Aber weißt du was? Ich bin auf deiner Seite. Das war ich schon immer.“

Seine zehnjährige Freundschaft mit Jamison war für Connor in dem Moment beendet gewesen, in dem er von Jamisons Untreue erfahren hatte. Es war widerlich und demütigend für Emily gewesen, wie Jamison sich verhalten hatte, und Connor hatte ihn dafür gehasst, wie sehr er sie damit verletzt hatte.

Daher hatte er alles darangesetzt, dass sie zumindest erhobenen Hauptes aus der Scheidung herausgehen konnte. Zusammen mit ihrem Anwalt in Denver hatte er eine angemessene Summe ausgehandelt, die es ihr ermöglichte, auf eigenen Beinen zu stehen.

Sie sollte zumindest so viel von Jamisons Vermögen haben, dass sie ihre Rückkehr nach Denver finanzieren und dort neu anfangen konnte. Gemeinsam hatten sie ein hübsches kleines Häuschen zur Miete gefunden und Emilys Plan, eine Galerie zu eröffnen, in die Tat umgesetzt.

Als das Geld nicht mehr ausreichte, hatte Connor sogar in die eigene Tasche gegriffen.

Er wollte, dass sie ein schönes, glückliches Leben führte. Das hatte er sich immer gewünscht – erst als ihr Freund, jetzt als ihr möglicher Liebhaber und Partner. Allerdings hatte sie Jamison zuerst getroffen, und falls sie seine Gefühle nicht erwiderte, musste er das akzeptieren.

Er streichelte noch einmal zärtlich über ihre Wange, erhob sich und trat ans Fenster. Die Nacht wich endlich der Morgendämmerung und gab den Blick frei auf die erhabenen Berge. Die ersten Sonnenstrahlen erhellten die felsigen Bergspitzen, gossen ihr Licht auf die dunkelgrünen Nadelbäume und goldfarbenen Zitterpappeln.

Der Anblick war atemberaubend. Für einige Minuten ließ Connor sich von dem Panorama überwältigen. Er hatte die vergangenen Wochen ausschließlich in seinem Büro in Manhattan verbracht und erlaubte sich nun, sich von der herrlichen Natur trösten zu lassen.

Natürlich wartete immer Arbeit in seinem Büro, aber dieses Mal würde er einige Aufgaben delegieren. Emilys Gesundheit war wichtiger als jeder berufliche Erfolg. Zunächst musste er den besten Neurologen auftreiben und Emily nach Denver überführen lassen. Raus aus der Gefahrenzone.

Als die Tür geöffnet wurde, wirbelte Connor herum und eilte an Emilys Seite. Um sie zu beschützen, ging es ihm durch den Kopf, würde er sich eine Waffe zulegen müssen.

Da sah er Sandoval in Begleitung eines gut aussehenden, dunkelhäutigen Mannes. Er war groß gewachsen, hatte einen rasierten Schädel und einen Blick, dem nichts entging.

Nun hielt er Connor die Hand hin. „Ich bin Special Agent Jaiden Wellborn, FBI. Ich leite die Ermittlungen.“

„Ich habe Sie schon einmal gesehen“, bemerkte Connor, während er Wellborns Hand schüttelte. „Sie waren bei der Beerdigung von Jamison Riggs. Vor zwei Wochen in Manhattan.“

„Viele Trauergäste waren vor Ort. Um genau zu sein zweihundertsiebenundvierzig. Wie kommt es, dass ich Ihnen aufgefallen bin?“

„Ich mochte Ihren Anzug.“ Für gewöhnlich schenkte Connor Herrenbekleidung keine besondere Aufmerksamkeit. Doch Wellborn hatte unter all den Menschen herausgestochen. Er war nicht nur besser gekleidet gewesen als die meisten anderen, sondern hatte auch besser ausgesehen.

Selbst jetzt, um gerade einmal sechs Uhr am Morgen, war er tadellos angezogen. Klassische Krokodillederstiefel, Jeans und Lederjacke, dazu ein leichter Schal. Geschmackvoll.

„Sie trugen diesen dunkelblauen, maßgeschneiderten Anzug“, führte Connor aus. „Außerdem haben Sie Fotos gemacht. Zuerst dachte ich, Sie wären Reporter. Dann habe ich das Pistolenhalfter an Ihrem Knöchel bemerkt. Ich hielt Sie für einen Polizisten.“

„Gute Beobachtungsgabe. Hat es Sie nicht gewundert, dass ein bewaffneter Polizist zur Beerdigung Ihres Freundes erscheint?“

„Ich wusste, dass es laufende Ermittlungen gab.“ Denn wenn ein junger, gesunder Mann in kürzester Zeit einer mysteriösen Krankheit erlag, war das verdächtig. Vor allem, wenn dieser Mann stinkreich und in komplexe Investment-Geschäfte verwickelt war, und obendrein große Summen ins Ausland verlagert hatte.

Angeblich war er an einer sehr seltenen Form von Krebs gestorben, doch Connor hatte Zweifel daran.

„Offenbar wurde sein Körper vielen Tests unterzogen, und die Polizei wollte ihn lange nicht freigeben.“

„Ein entscheidender Hinweis wurde bei der Autopsie gefunden“, verriet Wellborn. „Sie haben vielleicht schon davon gehört, dass es sich um ein komplexes, nicht-nachweisbares Gift handelte, das über einen langen Zeitraum hinweg verabreicht wurde.“

„Ist das sicher?“, fragte Connor.

„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Weil Sie es nicht dürfen?“

„Weil es noch nicht einhundertprozentig bestätigt ist. Er hatte nicht lange zu leiden, außer in den letzten sieben bis zehn Tagen. Dann konzentrierten sich die Ärzte nur darauf, die Symptome zu lindern und sein Leben zu retten, als nach einem obskuren Gift im Körper zu suchen.“

Connor warf einen besorgten Blick auf Emilys schlafendes Gesicht. Es erschien ihm nicht richtig, dieses Gespräch vor ihr zu führen. Und selbst wenn sie bereits von Jamison geschieden war, so waren sie immerhin sieben Jahre lang verheiratet gewesen.

„Können wir vielleicht draußen weiterreden?“

Wellborn folgte seinem Blick und nickte. Sandoval glitt an Emilys Seite. „Gehen Sie ruhig. Ich bleibe bei ihr.“

Es war eine Erleichterung, in den Flur zu treten und einige Meter gehen zu können. Auf der Treppe streckte Connor sich, dehnte Arme und Beine und ging geradewegs auf die Wartehalle zu, wo es frisch gebrühten Kaffee gab.

Er zog zwei Schokoriegel mit Mandeln aus einem Automaten und merkte erst in diesem Moment, wie hungrig er war. „Ich habe gehört, dass sich die Ermittlungen vor allem auf Jamisons Investment-Firma an der Wall Street konzentrierten“, wandte er sich an Wellborn.

„Und dabei haben sich mehrere Behörden eingeschaltet, unter anderem die Börsenaufsicht“, bestätigte Wellborn, während er sich ebenfalls einen Becher Kaffee eingoss.

„Ich arbeite beim FBI mit der Abteilung für Wirtschaftskriminalität zusammen. Wir fanden einige Ungereimtheiten und fragwürdige Pannen in seinen Geschäften, aber noch nichts, das man direkt als Betrug bezeichnen könnte. Einige seiner Mitarbeiter verabscheuten offenbar seine arrogante Art. Und viele seiner Klienten fühlten sich übervorteilt.“

„So etwas gibt es überall.“

„Jedenfalls haben wir in mehrere Richtungen ermittelt, aber nichts gefunden, was einen Mord rechtfertigen würde.“

Connor öffnete den zweiten Schokoriegel. „Warum hat mich niemand kontaktiert? Offiziell habe ich nicht mehr für Jamison als Anwalt gearbeitet, aber ich war immer in Kontakt mit Emily. Hat man sie ebenfalls überprüft?“

„Nicht so eingehend, wie wir es hätten tun sollen. Der Angriff gestern Nacht bestätigt das.“

„Soll das heißen, dass man Emily mit dem Tod ihres Ex-Mannes in Verbindung bringt?“ Das war absurd. Davon abgesehen, hatten sich die beiden in den letzten Monaten nur selten gesehen. Emily hätte kaum die Gelegenheit gehabt, ihm Gift zu verabreichen.

„Warum sind Sie wirklich hier?“

Wellborn verzog keine Miene. „Wir untersuchen den Angriff auf Emily in Zusammenhang mit dem Tod ihres Ex-Mannes.“

Und Emily verdächtigten sie ebenfalls.

In der Rolle der rachsüchtigen und feindseligen Ex-Frau.

Connor atmete tief durch. Das FBI hatte Regeln, und daran mussten sie sich halten. „Die beiden waren seit Monaten geschieden. Soviel ich weiß, haben sie sich selten getroffen.“

„Offensichtlich wissen Sie nichts von der Verfügung. Laut Testament erbt Emily ein Anwesen mit sieben Schlafzimmern in Aspen, inklusive Möblierung und Gemälden. Allein die Kunstgegenstände sind etwa vierzehn Million Dollar wert.“

Ein ziemlich gutes Motiv für einen Mord.

Connors Mobiltelefon klingelte. Es war Sandoval.

Die Stimme des jungen Deputy klang nervös. „Connor, Sie müssen ins Krankenzimmer kommen. Sofort.“

Connor zerquetschte den Schokoriegel in der Hand, während er lossprintete. Er rannte die Treppe hinauf, den Flur entlang und stürzte in Emilys Zimmer.

Doch Emilys Bett war leer.

4. KAPITEL

Sie war verschwunden.

Die Geräte, die bis vor wenigen Minuten noch ihren Zustand aufgezeichnet hatten, waren totenstill. Connor starrte das Bett an.

Nur das zerknitterte Laken zeugte davon, dass Emily hier gewesen war.

Nackte Panik packte wie eine kalte Hand seinen Nacken. Er konnte sich weder bewegen noch atmen. Sein Herzschlag rauschte in seinen Ohren. Mit beiden Händen hielt er sich am Bettgestell fest.

Er hatte versprochen, bei ihr zu bleiben. Sie hatte ihn gebeten, auf sie aufzupassen, sie zu beschützen, und er hatte versagt.

Jetzt war sie verschwunden. Verloren.

„Mistkerl.“ Das war Wellborn. Seine Stimme war zerknirscht.

„Na, na.“ Eine andere Stimme drang in Connors Kopf. Sehr viel fröhlicher und ungemein unbeschwert. „Das ist doch wundervoll. Ein Segen. Emilys Familie hat sie abgeholt.“ Die Krankenschwester.

Connor versuchte, sich in den Griff zu bekommen. „Die Riggs’“, sagte er finster.

„Wunderbare Menschen! Wussten Sie, dass Dr. Thorson mit Patricia Riggs ausgeht? Er hat Emilys Entlassungspapiere unterzeichnet.“

„Wo haben sie sie hingebracht?“ Connor wusste von drei verschiedenen Anwesen, die infrage kamen. Und dazu zählte noch nicht einmal das Haus, das Emily von Jamison geerbt hatte. „Wie ist die Adresse?“

„Ich könnte sie Ihnen heraussuchen.“ Die Krankenschwester war fraglos hilfsbereit – und völlig geblendet. „Sie haben sogar eine private Pflegerin engagiert. Sie sind so aufmerksam! Emily liegt zwar im Koma, aber ich bin sicher, dass sie mitbekommt, wie viele liebe Menschen sich um sie sorgen.“

„Wo ist der Deputy, der auf sie aufpassen sollte?“

„Das war vielleicht eine verrückte Sache“, ereiferte sich die Schwester. „Deputy Sandoval hat doch tatsächlich versucht, sie aufzuhalten.“

„Und warum ist es ihm nicht gelungen?“

„Er hat seinen Vorgesetzten angerufen, und der Sheriff hatte bereits mit Patricia gesprochen. Patricia sagte, sie würden sich um sie kümmern, und der Sheriff hat Sandoval befohlen, sie gehen zu lassen.“

Connor hatte den Raum für höchstens fünfzehn Minuten verlassen. „Wieso ging das so schnell?“

„Wenn es um Patricia geht, machen wir Tempo.“

„Krankenwagen“, dachte Connor laut. „Befördern sie Emily in einem Krankenwagen?“

„Nun, selbstverständlich.“

Connor wusste, wo die Krankenwagen parkten und Patienten einluden. Sobald die Riggs-Familie Emily erst einmal in einem ihrer Anwesen verschwinden ließen, würde es schwer sein, sie ihren Klauen wieder zu entreißen.

Er musste sofort handeln.

Er sah Wellborn an. „Ich muss sie aufhalten.“

„Wie wollen Sie das anstellen?“

„Kommen Sie mit, dann werden Sie sehen.“

„Darauf können Sie wetten. So einen Mordsspaß lasse ich mir nicht entgehen.“

Connor war bereits zur Tür hinaus. Er ignorierte die geschlossenen Fahrstuhltüren, rannte ins Treppenhaus und flog buchstäblich die vier Stockwerke hinunter.

Die Sanitäter würden vermutlich nicht auf ihn hören, doch dem Befehl eines Bundesagenten konnten sie nicht widersprechen.

Zum Glück war Connor während Emilys vierstündiger Operation ruhelos durch das gesamte Krankenhaus getigert, sodass er nun genau wusste, welchen Ausgang er nehmen musste.

Er stieß die Tür auf und sah zwei Krankenwagen auf dem Parkplatz stehen.

Neben einem der beiden stand Dr. Thorson. Als er Connor kommen sah, warf er die Tür zu und gab dem Fahrer ein Zeichen.

Unter gar keinen Umständen durfte Connor den Krankenwagen fahren lassen.

Mit wenigen langen Sätzen überquerte er den Parkplatz, warf sich gegen den Wagen und riss die Beifahrertür auf.

Der Fahrer sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Was soll das?“

„Machen Sie den Motor aus und steigen Sie aus dem Wagen.“

„Das ist nicht meine Anweisung.“

Connor hatte große Achtung vor den Sanitätern und Männern von der Bergwacht, die ihr Leben riskierten, um Menschen wie Emily zu bergen. Sie waren schnell, effizient und in bester körperlicher Verfassung. „Tut mir leid“, sagte er daher, „aber Sie müssen aussteigen.“

„Hör mal, Kumpel, du solltest jetzt wirklich zurücktreten.“

Achtung hin oder her, jetzt brauchte Connor Unterstützung. Er drehte sich zu Wellborn um. „Ich brauche Ihre Waffe.“

„Keine Chance.“ Wellborn zog seine Marke aus der Jackentasche. „Agent Wellborn, FBI. Bitte steigen Sie aus dem Fahrzeug.“

Weitere Worte waren nicht nötig, denn in diesem Augenblick bog Deputy Sandoval mit eingeschaltetem Blaulicht auf den Parkplatz. Er brachte das Polizeiauto quer vor dem Krankenwagen zum Stehen.

Hier würde niemand irgendwohin gehen.

Connors einziger Gedanke galt Emily, als er zur Rückseite des Krankenwagens stürzte.

Da stellte sich ihm Dr. Thorson in den Weg. „Nun mal langsam, Connor.“

Einige Leute wissen einfach nicht, wann sie verloren haben.

Connor straffte die Schultern. Als Anwalt war er es gewohnt, mit aufsässigen Menschen umzugehen. Er senkte die Stimme und sagte ruhig: „Wir können diese Angelegenheit auf eine der folgenden beiden Möglichkeiten regeln. Erstens: Wir befolgen den Dienstweg und halten uns an das Gesetz. Ich habe eine Patientenverfügung von Emily, die mich in einem Fall wie diesem ganz klar zu ihrem Vormund macht. Ich treffe sämtliche Entscheidungen, die mit ihrer medizinischen Versorgung zu tun haben. Sie kennen diese Papiere. Wenn Sie sich nicht daran halten, werde ich das Krankenhaus und Sie höchstpersönlich verklagen.“

Thorsons sonnengebräunte Stirn legte sich in winzige Fältchen.

„Zweitens“, fuhr Connor fort – nun ohne die geringste Spur von beherrschter Höflichkeit –, „verpasse ich Ihrem gestählten norwegischen Körper einen Tritt in den Arsch.“

Connor hatte sich seinen Weg nach oben hart erkämpfen müssen. Nach den steinigen Jugendjahren hatte er sich in einer völlig neuen, elitären Welt zurechtfinden müssen, und als Anwalt hatte er lernen müssen, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten.

Nichts konnte ihn so leicht aus der Fassung bringen.

Doch jetzt, da es um Emily ging, lagen seine Nerven blank.

Thorson starrte ihn an. „Versuchen Sie’s doch mal.“

Das war der Augenblick, in dem Wellborn zwischen die beiden Männer trat. „Gentlemen, lassen Sie uns das Gespräch drinnen fortführen.“

„Ich lasse Emily nicht alleine.“ Connor legte die Hand auf den Türgriff. „Es gibt allen Grund zur Annahme, dass sie in Gefahr ist.“

Als er die Tür öffnete, sah er zuerst Patricia Riggs. Die hochgewachsene Frau hatte ihre langen Beine zusammengefaltet und kauerte neben Emily.

Connor erschauerte. Der Gedanke, dass sie nah genug war, um eine Kanüle abzunehmen oder eine Maschine abzuschalten, jagte ihm Angst ein. Zum Glück blieb ein Sanitäter im Transportraum, der hoffentlich schnell genug eingreifen würde.

Patricia strich sich das lange, dunkelbraune Haar aus dem Gesicht und enthüllte ihre Augen. Eine Träne löste sich aus dem Augenwinkel und rann über ihren scharfen, wie gemeißelt wirkenden Wangenknochen.

„O mein Gott, Connor“, begann sie, „ich kann nicht glauben, dass unserer lieben, süßen Emily so etwas zugestoßen ist.“

Connor nahm ihr die Tränen nicht ab.

Patricia war eine eiskalte, knallharte Geschäftsfrau, die ebenso viel vom Investment-Business verstand wie ihr Cousin Jamison. Die einzige Form von Tragödie, die sie zu Tränen rühren könnte, war ein in den Keller stürzender Aktienkurs.

Doch vorerst musste Connor das Spiel mitspielen. Irgendwie musste er sie dazu bringen, von Emily wegzugehen. „Du bist aufgebracht, Patricia.“ Er ergriff ihre lange, perfekt manikürte Hand. „Komm, wir besorgen dir einen schönen heißen Latte macchiato.“

„Willst du mich bevormunden?“

„Sagen wir einfach, ich bin genauso aufrichtig wie deine Tränen.“

„Du verstehst das nicht.“ Sie stemmte die hochhackigen Schuhe auf den Boden des Krankenwagens. „Ich muss bei Emily sein, wenn wir sie nach Hause begleiten. Auf ihrer letzten Reise.“

Ihre letzte Reise? Emilys Zustand galt als kritisch, aber kein Arzt hatte gesagt, dass sie in Lebensgefahr schwebte. Außer Thorson, Patricias Liebhaber.

„Schluss mit den Spielchen“, grollte er. „Steig aus dem Wagen.“

„Aber ich …“

„Emily wird wieder gesund.“

„Aber Eric hat gesagt …“

„Dr. Thorson ist nicht gerade der beste Ansprechpartner. Ich habe ihn gewarnt, und dich warne ich ebenfalls, Patricia. Wenn ihr euch in Emilys medizinische Versorgung einmischt, handelt ihr gegen das Gesetz.“

„Sei doch kein Dummkopf.“ Ihre Lippen kräuselten sich zu einem spöttischen Lächeln, als sie aus dem Wagen stieg. Ihre Tränen waren getrocknet, und ihre Augen waren so schwarz und kalt wie Obsidian. „Wir wollen bloß Emilys Bestes. Auch wenn sie sich von meinem Cousin scheiden ließ und dabei ein hübsches Loch in das Familienvermögen gerissen hat.“

Connor wusste sehr genau, welche Summe Emily bei der Scheidung erhalten hatte, und es entsprach nicht einmal dem Satz, der ihr laut Ehevertrag zugestanden hätte. Und gemessen am Familienbesitz handelte es sich um Kleingeld. „Du sprichst von dem Haus, das Jamison ihr hinterlassen hat.“

„Es ist ein Anwesen“, blaffte sie. „Warum zur Hölle sollte er ihr das Anwesen vermachen? In den vergangenen Jahren waren sie fast nie in Aspen. Und nach der Trennung überhaupt nicht mehr. Mein Bruder Phillip musste dort einziehen, um sich um alles zu kümmern. Wenn es jemand erben sollte, dann ist es Phillip.“

„Ich erinnere mich daran, wie Emily und Jamison nach der Hochzeit dort gewohnt haben“, sagte Connor. „Damals haben sie jede freie Minute dort verbracht. Sie hatten sogar einen Namen für das Haus.“

„Jamies Geheimversteck“, murmelte sie. „Das passt wohl eher zu einem Bankräuber.“

Oder zu einem Mann, der einen sicheren Ort braucht.

Connor verstand, warum er Emily das Haus hinterlassen hatte. Jamison verband damit die glücklichere Zeit ihrer Ehe. Vielleicht glich diese Geste der Sentimentalität den Ehebruch nicht aus, doch es erinnerte sie daran, dass Jamison auch viele gute Seiten hatte. Und warum Connor ihn einmal gemocht hatte.

„Hör mal, Patricia. Ich treffe die Entscheidungen, was Emilys Versorgung angeht. Und wenn ihr mir auf irgendeine Weise dazwischenfunkt, wird es euch sehr leidtun. Jamison war einmal ein guter Freund von mir, aber das wird mich nicht davon abhalten, gegen euch vorzugehen.“

„Du wirst uns verklagen?“

„Darauf kannst du dich verlassen.“

Patricia wandte sich ab und ging mit langen, steifen Schritten zu Thorson hinüber. Mit ihren dunklen und Thorsons hellen Haaren gaben sie ein gut aussehendes Pärchen ab. Connor hätte gerne gehört, wie sie von Wellborn vernommen wurden, doch jetzt galt seine Sorge allein Emily.

Als er in den Krankenwagen zurückkehrte, erkannte er nun auch den Sanitäter wieder. Es war einer der Jungs vom Rettungsteam, die Emily gestern Nacht in den Krankenwagen getragen hatten.

„Sie sind Adam, richtig? Wie geht es ihr?“

Der Mann nickte ihm freundlich zu. „Dafür, dass sie den halben Berg hinuntergepurzelt ist, geht es ihr gut. Ihre Werte sind okay.“

Connor atmete auf. Er betrachtete Emilys friedliches Gesicht. Ein Schlauch führte in ihre Nase, um ihre Sauerstoffzufuhr sicherzustellen. Connor meinte zu sehen, dass ihre Wangen schon ein wenig mehr Farbe zeigten als am Morgen.

„Waren Ihnen die Riggs’ im Weg?“, hakte er nach.

„Das können Sie laut sagen. Diese schicke Lady, ihr Bruder und eine Dame namens Glenda sind um sie herumgeflogen wie … na ja, ehrlich gesagt, kamen sie mir vor wie Geier. Aber sagen Sie’s nicht weiter.“

Connor nickte grimmig. Irgendjemand hatte Emily von der Straße gedrängt, und es lag nahe, dass es einer der Riggs’ gewesen war. Oder ihrer zahlreichen Lakaien. Sie würden nichts unversucht lassen, ihr Vorhaben zu Ende zu bringen. Deswegen musste er Emily so schnell wie möglich von hier wegbringen.

„Sagen Sie, Adam, können Sie einen Krankentransport nach Denver organisieren? Oder würde ein Flug im Helikopter ihren Zustand verschlechtern?“

„Wenn man es richtig macht – nein“, erklärte Adam entschieden.

„Gut. Ich vertraue Ihnen, Adam. Und es würde mich sehr freuen, wenn Sie uns nach Denver begleiten.“

Adams Miene hellte sich auf. „Das mache ich gerne. Wird auch Zeit, dass ich mal aus Aspen rauskomme. Den Transport muss ich nur noch mit meinem Fahrdienstleiter besprechen. Dauert eine Stunde.“

„Vielen Dank.“ Connors Blick ruhte bereits wieder auf Emilys Gesicht. Seltsamerweise erinnerten ihn die weißen Bandagen um ihren Kopf an den Brautschleier, den sie zu ihrer Hochzeit getragen hatte.

Sie war gerade einmal zweiundzwanzig gewesen, als sie Jamison geheiratet hatte, und sie hatte so jung und süß ausgesehen.

Zu diesem Zeitpunkt waren er und Jamison fünfundzwanzig und beide auf dem Weg nach oben gewesen. Jamison war bereits Junior-Vize-Präsident bei einer Börsenmaklerfirma und hatte sich ein Apartment in Bitter Park leisten können, der beliebten Parkanlage an der Südspitze Manhattans.

Connor hatte in dem weniger teuren Stadtteil Brooklyn gelebt und gearbeitet, war von einer Anwaltskanzlei zur nächsten gegangen und hatte hart daran gearbeitet, sich einen Kundenstamm aufzubauen und seinen Ruf zu festigen.

Während der Einrichtung seiner Wohnung war Jamison durch Zufall in einer Kunstgalerie gelandet, in der er Emily getroffen hatte.

Es war reines Glück gewesen, dass er sie dort gefunden hatte – noch vor Connor.

Am Hochzeitstag hatte Connor sich zwingen müssen, eine fröhliche Miene aufzusetzen. Immerhin war er Trauzeuge. Er musste einen Toast aussprechen und dem Paar alles Gute wünschen.

Auf dass ihr für immer glücklich miteinander seid.

Nicht unbedingt gelogen, aber auch nicht das, was er sich im Innersten gewünscht hatte.

Er hatte sich furchtbar gefühlt, so viel Interesse an der Angetrauten seines Freundes zu haben.

Als es für den Trauzeugen an der Zeit gewesen war, die Braut zu küssen, hatte er ihr nur einen flüchtigen Kuss auf die Stirn gegeben – aus Angst, er könne sonst nie mehr damit aufhören.

„Connor, haben Sie sich überlegt, wo Sie Emily hinbringen möchten?“ Das war Agent Wellborn. Er zeigte Adam seine Dienstmarke und warf einen strengen Blick auf die schlafende Emily.

„Ja. Ich lasse sie mit dem Helikopter nach Denver bringen. Dort warten bereits einige Spezialisten auf uns.“

Wellborn nickte. „Schön. Ich möchte die Riggs’ noch mehr fragen, ehe sie ihre Anwälte einschalten. Und ich möchte, dass Sie dabei sind, Connor. Sie kennen diese Leute. Vielleicht fällt Ihnen etwas auf, das mir sonst entgehen würde.“

Connor nickte grimmig. „Nichts lieber als das.“ An Adam gewandt, sagte er: „Bitte behalten Sie sie im Auge. Niemand darf sich ihr nähern.“

„Verstanden.“

Emily war in Gefahr. Und es war Connors Aufgabe, sie zu beschützen.

Emily hätte nicht sagen können, wo sie sich befand, aber sie spürte, dass man sie an einen anderen Ort gebracht hatte.

Durch die geschlossenen Augenlider bemerkte sie Licht und Schatten, die sich abwechselten. Es wurde hell, dann wurde es wieder dunkel.

Die Dampforgel spielte noch immer irgendwo ihr endloses Diddel-dum-diddel-diddel-dum. Dann wurde sie leiser, und stattdessen hörte sie eine tiefe, sanfte Stimme.

Connors Stimme. Tröstlich und sanft.

Rede weiter, Connor.

Doch der Klang seiner Stimme schien sich zu entfernen.

Da gab es etwas, das sie ihm erzählen musste. Es hatte mit der Verlesung des Testaments zu tun.

Als sie in Patricias super-schickem, imposanten Berg-Chalet mit neun Schlafzimmern angekommen war, war ihr eine Welle der Feindseligkeit entgegengeschlagen. Patricia hasste sie. Tante Glenda hatte sie immer von oben herab behandelt.

Und Phillip und seine reichen Freunde, mit denen auch Jamison befreundet gewesen war, hatten sie immer mit einer Mischung aus Misstrauen und Verachtung angesehen.

Wenn Connor dabei gewesen wäre, hätte man sie anders behandelt. Er hätte zumindest etwas von der offenen Feindseligkeit abgefangen, die sie ihr entgegenbrachten.

Auch wenn Emily durchaus in der Lage war, sich zu behaupten, hatte sie einfach keine Lust, sich mit diesen Leuten anzulegen.

Kurz nach ihrer Ankunft hatte sie sich in eines der Badezimmer zurückgezogen, um sich zu sammeln. Es war ein unglaublich luxuriöses Bad mit Marmorboden, drei Waschbecken und goldfarbenen Fliesen. Am liebsten hätte sie sich die gesamte Nacht darin versteckt.

Dann hatte sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtet und versucht, sich selbst Mut zuzusprechen. Du hast ein Recht, hier zu sein. Immerhin wurdest du eingeladen. Du könntest diesen Leuten endlich einmal sagen, wie gemein und übergriffig sie sind. Nach dieser Nacht musst du sie niemals wieder sehen.

Sie reckte das Kinn. Sie wusste, dass sie stark und gesund aussah. Während der vergangenen Monate hatte sie die Galerie in Denver renoviert, und wahrscheinlich war sie noch nie im Leben so gut in Form gewesen.

Unter der gleißenden Sonne hatte sich ihr kinnlanges, dunkelblondes Haar aufgehellt. Weißblonde Strähnchen durchzogen ihre Frisur – ein Look, für den andere Frauen Hunderte von Dollar bezahlten.

Emily hatte korallenfarbenen Lippenstift aufgetragen und die Tür zum Flur geöffnet.

Vom Foyer her waren Stimmen und Lachen an ihr Ohr gedrungen. Es war ihr seltsam laut und grell vorgekommen, und sie hatte sich zunächst in die Bibliothek begeben, um der Familie noch einige Minuten länger aus dem Weg zu gehen.

Hier roch es angenehm nach Leder, und die Schränke waren gefüllt mit schweren, alten Büchern. Auf einem Regal hatte Emily ein Dutzend gerahmte Fotos entdeckt.

Sie zeigten Patricia mit irgendwelchen Promis, mit einem Staatschef und mit Familienmitgliedern.

Auf keinem der Fotos war Patricias Ex-Mann zu sehen. Der Mann, der laut Jamison für sie gestorben war.

Ebenso wenig gab es ein Bild, auf dem Emily zu sehen war. Nicht einmal auf einem der Gruppenbilder.

Ob sie für Patricia ebenfalls zu der Kategorie gestorben zählte?

Vermutlich. Patricia machte mit Menschen kurzen Prozess – und radierte dann alle Spuren an ihre Existenz einfach aus.

In diesem Augenblick hatte sich die Tür geöffnet, und eine Frau war eingetreten.

Peinlich berührt, dass man sie dabei erwischt hatte, wie sie sich Fotos ansah, wich Emily vom Regal zurück. „Geht es schon los?“, fragte sie.

„Noch nicht“, erwiderte die Frau. „Ich habe dich hier reingehen sehen. Ich hatte gehofft, mit dir zu reden, bevor sie mit der Verlesung des Testaments anfangen.“

Emily musste sich zwingen, den Blick von dem hübschen Teppich auf das Gesicht der Frau zu richten. Sie hätte sich am liebsten von allen ferngehalten.

Beklommen betrachtete sie die Frau. Sie hatte endlos lange Beine und war elegant gekleidet – wie die meisten Damen in dem exklusiven Ort Aspen. Ihr Haar war lang, glatt und glänzend rotbraun.

Auf ihrer Miene lag ein harter Ausdruck, den Emily nie mehr vergessen sollte.

„Wir sind uns schon einmal begegnet“, sagte Emily.

„Nicht, dass ich wüsste.“ Nicht einmal der Hauch eines Lächelns. Diese Frau verbreitete in etwa die Wärme einer gefrorenen Regenbogenforelle.

Beim ersten Mal, als Emily sie gesehen hatte, war sie eben zu beschäftigt gewesen – beim heißen Sex mit Jamison. „Sie sind Kate Sylvester.“

„Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“

Emily hatte es ihr nicht verweigert, auch wenn sie bezweifelt hatte, irgendeine Hilfe sein zu können. Seit Monaten hatte sie nicht mit Jamison gesprochen, aber es war ihr zu Ohren gekommen, dass er mit Kate zusammenlebte.

Warum hatte Kate nun so viele seltsame Fragen zu Jamisons Finanzen?

Jetzt, im Zustand der Bewusstlosigkeit, war es ihr, als würde sie von weit her Alarmglocken läuten hören.

Aber damals, in Patricias Chalet, war ihre einzige Sorge gewesen, heil aus der Testamentsverlesung zu kommen, ohne das Ziel weiterer Gemeinheiten der Riggs-Familie zu werden.

Sie hatte Kates Fragen keine weitere Beachtung geschenkt.

Jetzt, nach dem missglückten Mordversuch, nahmen die Dinge neue Gestalt an.

Ein finsteres Licht lag nun auf den Geschehnissen.

Sobald sie aufwachte, musste sie Connor davon berichten. Sie musste sich unbedingt daran erinnern.

Da gab es eine Verbindung, und sie reichte von Aspen bis zu Jamisons Investment-Firma in New York.

5. KAPITEL

In einem leer stehenden Büroraum nahe des Notausgangs nahm Special Agent Wellborn hinter dem Schreibtisch Platz und verbreitete unwillkürlich eine Aura der Autorität.

Connor blieb an der Tür stehen und musterte die Riggs’, die sich – ganz offensichtlich missmutig – mit einfachen Klappstühlen zufriedengeben mussten.

Patricia und Tante Glenda hielten Kaffeebecher in ihren perfekt manikürten Händen. Er hatte Glenda seit mindestens vier Jahren nicht mehr gesehen, und doch schien sie um keinen Tag gealtert.

Das war allerdings das Ergebnis plastischer Chirurgie und eines straffen Gesundheits- und Schönheitsplans. Immerhin wusste Connor aus erster Hand, dass die Dame bereits Ende siebzig war.

Trotzdem war sie noch immer eine Erscheinung. Ihre glatten, rabenschwarzen Haare waren straff zurückgekämmt und zu einem hohen Zopf zusammengefasst, was ihre scharfen Gesichtszüge noch mehr zur Geltung brachte.

Sie war das unangefochtene Familienoberhaupt, hatte nie geheiratet und herrschte mit strengem Regiment. Man hätte sie als gut aussehende Frau bezeichnen können, doch ihr Anblick erinnerte Connor viel eher an eine Krähe mit glänzenden schwarzen Federn und wachsamen, durchdringenden Augen.

„Wo ist Phillip?“, verlangte er zu wissen.

„Kümmert sich um eine andere wichtige Angelegenheit“, erwiderte Patricia knapp. Ihre Lippen bildeten eine spöttische Linie. Sie konnte Connor wirklich nicht ausstehen.

Dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit, und Connor konnte es sich nicht verkneifen zu sagen: „Dein kleiner Bruder sollte hier sein. Was kann wichtiger sein, als mit dem FBI reden zu müssen.“

„Phillip ist bei Dr. Thorson.“ Sie warf ihm einen bösen Blick zu. „Wegen deiner absurden Vorwürfe hat Eric jetzt Ärger mit der Verwaltung. Phillip hilft dabei, die Wogen wieder zu glätten.“

Connor, der die Riggs’ gut genug kannte, um zwischen den Zeilen zu lesen, ahnte, dass Phillip gerade dabei war, Thorson freizukaufen – mit einer hübschen saftigen Spende an das Krankenhaus.

Die Riggs’ waren nicht nur reich, sie hatten auch einen bedeutenden Einfluss in Aspen. Phillip hatte Cousins im Stadtrat, und er selbst hatte einst daran gedacht, sich als Bürgermeister aufstellen zu lassen.

Die Art und Weise, wie sie Menschen manipulierten und regelmäßig ihre Macht demonstrierten, machte Connor rasend vor Wut. Sie zu verklagen, war nicht genug. Jetzt wollte er Blut sehen.

Wellborn hatte ein kleines Diktiergerät aus der Tasche genommen. „Ich werde dieses Gespräch aufzeichnen“, erklärte er. Dann nannte er Datum, Ort und die Namen der anwesenden Personen.

Bevor er fortfahren konnte, klopfte Patricia mit ihren spitzen Fingerknöcheln auf die Schreibtischplatte. „Entschuldigung, aber sollten wir nicht einen Anwalt hier haben?“

„Das wird nicht nötig sein“, verkündete Tante Glenda gewohnt selbstbewusst. „Wir möchten auf jede erdenkliche Weise behilflich sein. Ich habe das Gefühl, dass ich am Unfall von Emily eine Mitschuld trage. Ich hätte sie nicht alleine fahren lassen dürfen. Ich hätte ihr einen Fahrer mitschicken sollen.“

„Warum das?“, fragte Wellborn.

„Ist das nicht offensichtlich? Nachdem sie von ihrem Erbe erfahren hatte, war sie so aufgeregt, dass sie ihr kleines Auto nicht mehr auf der Straße halten konnte.“ Glendas Stimme verriet feste Überzeugung. „Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um für Emily zu sorgen. Mein Haus steht ihr offen, und selbstverständlich engagieren wir eine private Krankenschwester.“

Daraufhin lieferte Patricia eine ausführliche Beschreibung des Anwesens ihrer Tante. Die florierende Rinderfarm umfasste ein Haupthaus, mehrere Nebengebäude und sogar einen Hangar mit Privatflugzeug – nichts, das einer Frau im künstlichen Koma von Nutzen sein könnte.

Doch Patricia war kaum aufzuhalten. Sie plauderte von ihrer Beziehung zu Emily, wie viel sie gemeinsam hatten und viele weitere farbenfrohe Lügen.

Dann wurde sie von Wellborn unterbrochen. „Warum haben Sie sich nicht mit Mr. Gallagher in Verbindung gesetzt, bevor Sie versucht haben, die Patientin zu verlegen?“

Glenda hob die Hand. Diese Geste reichte aus, um ihre Nichte zum Schweigen zu bringen. „Darauf bin ich gar nicht gekommen. Ich weiß nicht, was Connor Ihnen erzählt hat, aber er steht in keiner Beziehung zu Emily.“

Wellborn sah zu Connor hinüber. „Ich dachte, Sie wären ihr Verlobter.“

„Nein.“

Patricia ergriff sofort die Gelegenheit. „Du hast gelogen! Das ist erbärmlich. Du warst schon immer eifersüchtig auf Jamison. Du hast ihn um seinen Erfolg beneidet, um seinen Stil und um seine Frau. Was ist los mit dir, Connor? Kannst du dir keine eigene Freundin suchen?“

Anstatt sich zu verteidigen und seine Lüge zu rechtfertigen, lenkte Connor vom Thema ab: „Tante Glenda hat recht. Meine Beziehung zu Emily ist hier völlig irrelevant. Entscheidend ist, dass ich Emilys Patientenverfügung habe. Sie hat mich bevollmächtigt, im Krankheitsfall darüber zu entscheiden, was mit ihr geschieht. Ich habe alle notwendigen Dokumente bei mir und kann Sie Ihnen zeigen.“

„Was mich zur Ausgangsfrage zurückbringt“, lenkte Wellborn ein. „Warum haben Sie Connor nicht darüber informiert, dass Sie eine bewusstlose Frau auf Ihre Ranch bringen wollten?“

Glenda schien den Agent von oben herab zu betrachten, obwohl er größer war. „Woher sollte ich wissen, dass er verantwortlich war?“

„Thorson wusste es“, sagte Connor hilfreich. Und das konnte er nicht leugnen.

„Aber ich wusste es nicht.“ Glenda rümpfte die Nase, als ob sie etwas Schlechtes riechen würde. Ganz offensichtlich hatte sie kein Problem damit, den blonden Arzt den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen. Sie wollte ihm die gesamte Schuld für den Vorfall zuschieben.

Zumindest Patricia versuchte, ihn zu verteidigen. „Mein Verlobter hat Emily das Leben gerettet. Er ist …“

„Sie sind mit Dr. Thorson verlobt?“, wiederholte Wellborn.

„Ja, das bin ich.“ Sie streckte die Hand aus und präsentierte einen funkelnden Tiffany-Verlobungsring. „Nächstes Jahr werden wir heiraten.“

„Oder früher“, korrigierte Glenda. „Patricia sollte nicht noch länger warten. Wer möchte schon Fältchen bei seiner Hochzeit haben. Sie ist vierzehn Jahre älter als der Doktor, wissen Sie.“

„Bitte, Tante Glenda.“ Patricia kniff die Lippen zusammen. „Das FBI interessiert sich nicht für unsere persönlichen Belange.“ Sie strich sich über das Haar. „Außerdem musst du gerade reden. Du hast dir schon immer jüngere Männer geangelt.“

„Wie kannst du es wagen!“

„Ist doch so.“

Ihre Streitereien widerten Connor an. Er hasste den Gedanken, dass Emily die besten Jahre ihres Lebens in der Gesellschaft dieser Hyänen verschwendet hatte. Und er nahm sich vor, sich nie wieder über seine große, laute irische Familie in Queens zu beschweren.

Bei den Gallaghers ging es immer laut zu, und mitunter ein bisschen ruppig, doch unter all dem Gepolter gab es Liebe. Echter Streit ebenso wie echte Entschuldigungen, Tränen und Umarmungen.

Bei den Riggs’ dagegen gab es nichts als Heuchelei.

„Ladys“, nahm Wellborn das Gespräch wieder auf, „ich möchte die entscheidende Frage klären: Haben Sie Emily auf Dr. Thorsons Anweisung hin mitgenommen?“

Dieses Mal war Patricia schneller. „Wir waren so besorgt um Emily, dass wir seinen Rat nicht angenommen haben. Wir wollten sie nach Hause holen. Sie sollte die Gelegenheit haben, friedlich im Kreis ihrer Familie zu gehen.“

„Sie liegt nicht im Sterben“, widersprach Connor.

Patricias Gesicht wurde zu einer Maske von Mitgefühl. „Ich verstehe, dass du das nicht wahrhaben willst, Connor. Aber während der Operation hatte sie einen Herzstillstand. Die Geräte haben zweimal die Nulllinie gezeigt. Technisch gesehen war sie bereits tot.“

Das hatte ihm niemand gesagt. Es hätte zu Thorson gepasst, sich diese Geschichte auszudenken, weil es ihm in den Kram passte, aber immerhin waren auch andere Ärzte anwesend gewesen. Und niemand hatte von Herzstillstand gesprochen. „Du lügst.“

„Glaub, was du willst“, mischte sich Glenda ein. „Aber das Leben dieses Mädchens hängt an einem seidenen Faden.“

Es hätte ihm nichts genutzt, die Fassung zu verlieren, daher machte Connor einfach dicht. Er würde diese kalten, habgierigen Frauen ausblenden und sich auf das Wesentliche konzentrieren.

Glenda und Patricia wollten Emily in ihre Kontrolle bringen. So viel hatten sie bereits zugegeben. Aber warum?

„Wenn Emily stirbt“, begann er, und seine eigenen Worte schnitten wie ein Messer in sein Herz, „was passiert dann mit dem Anwesen, das sie geerbt hat?“

„Du benimmst dich doch wie ihr Anwalt“, sagte Patricia zuckersüß. „Das musst du doch wissen.“

Das war ein Problem, mit dem er sich noch nicht auseinandergesetzt hatte. Soweit er wusste, hatte Emily keine lebenden Verwandten. Sie war Einzelkind, und ihre Eltern hatten sie erst in späten Jahren bekommen.

Beide waren an natürlichen Todesursachen gestorben, während Emily im Teenageralter gewesen war.

Er bezweifelte, dass Emily ein aktuelles Testament aufgesetzt hatte. Irgendwo musste es eine Verfügung geben, die zum Zeitpunkt der Hochzeit festgehalten worden war, doch Connor würde die Papiere raussuchen müssen.

Ein weiteres Problem war, dass Emily keine Übertragungsurkunde für das geerbte Anwesen besaß. Mit Sicherheit würde sich das Nachlassgericht einschalten, bevor das Haus in ihren Besitz überging.

Connor hatte regelmäßig mit solchen Fällen zu tun, und der Papierkram war überaus aufwändig und zeitintensiv.

Er beobachtete Agent Wellborn, der keine Miene verzog, während sich Patricia in einer weiteren Litanei darüber erging, wie aufopfernd sich ihr Bruder Phillip um das Anwesen gekümmert hatte.

Offenbar war Wellborn es gewohnt, sich mit affektierten reichen Leuten herumzuschlagen.

Irgendwann fiel er ihr einfach ins Wort: „Vergangene Nacht“, begann er, „wurde das Testament von Jamison Riggs verlesen. Erzählen Sie mir genau, was vorgefallen ist. Von Anfang an.“

Patricia nippte an ihrem Kaffee. „Ich sollte wohl damit anfangen, wer alles eingeladen war. Mein Assistent hat eine Kopie der Gästeliste. Ebenso unser Familienanwalt.“

Autor

Carla Cassidy
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Beverly Long
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Cassie Miles
Cassie Miles, USA-TODAY-Bestseller-Autorin, lebt in Colorado. Nachdem sie zwei Töchter großgezogen und tonnenweise Käse-Makkaroni für ihre Familie gekocht hat, versucht sie inzwischen, bei ihren kulinarischen Bemühungen etwas abenteuerlustig zu sein. Sie hat festgestellt, dass mit Wein fast alles besser schmeckt. Wenn sie sich nicht gerade spannende Handlungen für Mills&Boon-Bücher ausdenkt,...
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