Baccara Spezial Band 9

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NEUANFANG IM FADENKREUZ von CASSIE MILES

Ihr Ex als ihr Bodyguard? Zuerst will Emily ihn sofort feuern! Aber Sean ist nicht nur genau so sexy wie damals, sondern auch ihre einzige Rettung. Denn seit Emily einen Mord beobachtet hat, kommt der Killer ihnen immer näher - und Sean und sie sind in einem Blizzard gefangen …

BLUTROTE TRÄUME von BEVERLY LONG

Ein zarter Schleier weht in einer Schneewehe: Navy SEAL Cal Hollister entdeckt eine wunderschöne Frau in einem Brautkleid bewusstlos im tiefen Schnee! Doch mit der Rettung der mysteriösen Braut und der Klärung ihrer Identität taucht gleichzeitig ein tödliches Geheimnis auf …

DEIN HERZ IST MEINE BEUTE von B.J. DANIELS

Obsidian Forester liebt das Risiko! Als Fassadenkletterin versucht sie ein Gemälde zu stehlen, das ihr sehr viel bedeutet. Doch dabei wird sie von dem äußerst attraktiven Laramie Cardwell gestört! Sie flieht - und erkennt zu spät, dass sie ihm nicht auf Dauer entkommen kann …


  • Erscheinungstag 18.12.2020
  • Bandnummer 9
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729301
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cassie Miles, Beverly Long, B.J. Daniels

BACCARA SPEZIAL BAND 9

CASSIE MILES

Neuanfang im Fadenkreuz

Ein Blick auf Emily, ihre aufregenden Kurven, ihr freches Lächeln – und Security-Experte Sean weiß, warum er sich damals in sie verliebt hat, auch wenn es nicht hielt. Jetzt ist er als ihr Bodyguard angestellt. Ein Killer ist Emily auf den Fersen, und nur wenn er sie rettet, kann es einen Neuanfang für ihn und seine schöne Ex geben …

BEVERLY LONG

Blutrote Träume

Ohne Erinnerung kommt sie verwirrt zu sich: Navy SEAL Cal nennt sie „Stormy“, weil er sie im Schneesturm, nur in einem zarten Brautkleid, gefunden hat. Fieberhaft versuchen sie gemeinsam herauszufinden, was passiert ist. Denn Stormy könnte schwören, dass sie nicht verheiratet ist – und dass mehr als ihr eigenes Leben auf dem Spiel steht …

B.J. DANIELS

Dein Herz ist meine Beute

Eine schwarz gekleidete Figur auf dem Dach des Hauses? Zufällig wird Laramie Cardwell Zeuge des berüchtigten Fassadenkletterers. Im tiefen Schnee bringt er die Gestalt zu Fall – und erkennt hinter der Maske die Augen einer Frau. Bevor er richtig begreift, was geschieht, küsst sie ihn heiß. Und flieht! Ein wertvolles Gemälde hat sie geraubt. Und Laramies Herz …

PROLOG

San Francisco

Mitte September

Eine Welle rollte unter der Luxusjacht vor der Bucht von San Francisco hindurch, als Emily Peterson auf zehn Zentimeter hohen Stilettoabsätzen die fast senkrechte Treppe an Bord des Schiffes hinunterstakste.

Das kurze, tief ausgeschnittene Glitzerkleid, das sie trug, fühlte sich für sie wie eine Verkleidung an. Dennoch flößte es ihr Respekt für die Partymädchen ein, unter denen sie sich heimlich an Bord geschmuggelt hatte. Wie schafften sie es nur, in diesen Outfits weder hinzufallen noch eine ihrer Brustwarzen zu entblößen?

Emilys Plan war, sämtliche Dateien von James Wynters privatem Computer auf einen USB-Stick zu kopieren. Zu diesem Zweck hatte sie sich auf die Geburtstagsgala für einen der Topmanager von Wynter Corporation gestohlen, während die eimerweise Champagner kippenden und johlenden Gäste den nächtlichen Anblick der Golden Gate Bridge bewundert hatten.

Einige von ihnen hatten sich beim Eintreffen darüber beschwert, ihre Handys abgeben zu müssen. Emily war ganz ihrer Meinung gewesen. Es wäre ziemlich hilfreich, Fotos von hochrangigen Politikern zu knipsen, die sich mit Wynters Handlangern verbrüderten.

Unter Deck angekommen steuerte sie auf die zweite Tür rechts zu, hinter der sich James Wynters Büro befinden sollte. Der Türgriff aus Messing ließ sich mühelos drehen. Es war also nicht nötig einzubrechen.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie den Raum betrat. Die Schreibtischlampe war ausgeschaltet, aber durch das Bullauge drang genug Mondlicht, um den aufgeklappten Laptop auf dem Schreibtisch zu erkennen. Sie würde nur wenige Minuten brauchen, um Wynters Dateien auf ihren Stick zu kopieren und damit endlich das nötige Beweismaterial für ihren Artikel über Menschenhandel in der Hand zu haben.

Als sie plötzlich aufgebrachte männliche Stimmen im Flur hörte, sah sie sich rasch um und versteckte sich in einem Schrank mit Lamellentür. Verzweifelt betete sie, dass die Männer am Büro vorbeigehen und ein anderes Zimmer aufsuchen würden.

Leider hatte sie nicht so viel Glück.

Die Bürotür wurde aufgestoßen. Ein Mann landete auf Händen und Knien auf dem Fußboden, während andere lachten. Jemand schaltete die Schreibtischlampe an, sodass Licht auf den Schreibtisch und den Boden fiel.

Emilys Herz raste, aber sie blieb mucksmäuschenstill. Wenn Wynters Männer sie entdeckten, würde sie bestimmt nichts zu lachen haben.

Vorsichtig schlüpfte sie aus ihren roten Pumps und ging in die Hocke. Durch die Lamellen in der Tür konnte sie die Beine und Schuhe von vier Männern erkennen. Derjenige, der hingefallen war, entschuldigte sich wieder und wieder und flehte die anderen an, ihm zu glauben.

Eine der Stimmen erkannte sie: die von Frankie Wynter, dem jüngsten Sohn von James Wynter. Obwohl sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, was dort vor sich ging, hatte sie den Eindruck, dass Frankie den Mann, der sich gerade entschuldigte, Richtung Schreibtisch schubste.

Ein dumpfes metallisches Geräusch erklang, als der Mann auf den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch fiel. Von ihrem Blickwinkel aus konnte Emily nur die Rücken der anderen drei erkennen. Einer von ihnen dehnte die Finger und schlug zu. Zumindest hörte sie ein klatschendes Geräusch.

Und so ging es weiter. Auch die anderen Männer schienen sich zu beteiligen. Was sollte sie nur tun? Womit konnte sie sie aufhalten? Es war schrecklich, sich nicht rühren zu dürfen, während jemand anderem Leid angetan wurde. Bei jedem Schlag krümmte sie sich innerlich. Wäre ihr Ex-Mann jetzt hier, wüsste er bestimmt, was zu tun war. Aber sie war hier ganz allein, ohne jede Verstärkung. Sollte sie etwas sagen? Durfte sie das Risiko eingehen?

Die Schläge verstummten.

„Sei endlich still!“, brüllte Frankie den Mann im Stuhl an. „Flennst wie ein kleines Mädchen! Du machst mich krank!“

„Lasst es mich doch erklären, bitte! Die Kinder …“

„Hör auf zu flennen!“

Emily sah etwas Silbernes in Frankies Hand aufblitzen. Eine Pistole! Panik stieg in ihr auf. Die anderen beiden Männer rieten ihm, auf seinen Vater zu warten, doch er zog die mittlere Schreibtischschublade auf und nahm einen Schalldämpfer heraus. „Ich erledige das selbst.“

„Aber dein Vater …“

„Er sagt doch immer, ich soll endlich mal Initiative zeigen.“ Frankie hatte den Schalldämpfer inzwischen an seiner Pistole befestigt. „Also werde ich jetzt genau das tun.“ Er feuerte zwei Schüsse auf den Mann vor sich ab.

Als er zur Seite trat, konnte Emily den im Stuhl zusammengesackten Mann deutlich erkennen. Sein Hemd war blutüberströmt.

Sie presste die Lippen zusammen, um nicht vor Entsetzen aufzuschreien. Warum hatte sie nichts gesagt? Jetzt war der Mann tot, und sie hatte nichts getan, um ihm zu helfen!

„Wir sind schon auf See“, sagte Frankie. „In internationalen Gewässern. Der perfekte Ort, um eine Leiche zu entsorgen.“

„Ich suche etwas, um ihn zu transportieren.“

Der Mann, der das gesagt hatte, richtete den Blick auf den Schrank …

1. KAPITEL

Colorado

Sechs Wochen später

Sean Timmons war überzeugt, noch nie auf der Hazelwood Ranch gewesen zu sein, und doch kam ihm die lange, von Schneehaufen und Holzzäunen gesäumte Zufahrt seltsam bekannt vor.

Er parkte seinen kirschroten Jeep Wrangler zwischen einem schneebedeckten Pick-up und einem weißen Schneehügel in der Größe eines viertürigen Sedan. Durch die Windschutzscheibe seines Wagens konnte er ein zweistöckiges Haus mit umlaufender Veranda erkennen. Anscheinend hatte jemand versucht, die Stufen zur Haustür freizuschaufeln, aber der Neuschnee hatte sie schon fast wieder verdeckt.

Als die Wettervorhersage den ersten Schneesturm der Skisaison von Colorado angekündigt hatte, war Sean noch skeptisch gewesen, aber wie es aussah, hatten die Meteorologen ausnahmsweise recht behalten. Nur gut, dass er heute nicht mehr nach Denver zurückkehren musste. Er hatte den Auftrag zwar noch nicht offiziell angenommen, jedoch wusste er nicht, was ihn davon abhalten sollte.

Die Besitzerin der Ranch, Hazel Hopkins, hatte ihn gestern in seinem Büro bei TST Security angerufen und ihm mitgeteilt, dass sie eine Woche lang einen Leibwächter brauchte, vielleicht auch länger. Nicht für sich selbst, sondern für eine „Freundin“. Um welche Bedrohung es sich genau handelte, hatte sie nicht näher erläutert, aber wenn er sie richtig verstanden hatte, war diese „Freundin“ irgendjemandem mit der Veröffentlichung eines Zeitungsartikels auf die Füße getreten. Die Situation schien nicht allzu gefährlich zu sein.

Hazel hatte sich geweigert, ihm den Namen besagter „Freundin“ zu verraten, aber das war nicht ungewöhnlich. Die Reichen und Schönen, die in der Nähe von Aspen wohnten, hielten ihre Identität oft geheim. Sean hatte kein Problem damit. Wahrscheinlich war die Frau, die er beschützen sollte, ein alternder Filmstar, hatte irgendeine „Enthüllung“ geschrieben und bereute ihre Offenheit inzwischen.

Er zog den Reißverschluss seines Parkas zu, setzte eine Mütze auf und streifte sich Handschuhe über. Der Weg zur Eingangsveranda war zwar nicht weit, aber der Schnee würde ihm bis über die Knöchel reichen. Dicke nasse Flocken wirbelten um ihn herum, als er aus seinem Jeep stieg und zum Haus stapfte.

Auch die Adirondack-Stühle und die Hängeschaukel auf der Veranda waren mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. Er klopfte sich die weißen Flocken von den Stiefeln und drückte auf die Klingel unter der Außenbeleuchtung. Eine zierliche, aber robust aussehende Frau mit kurzem grauem Haar und grünblauen Augen öffnete ihm die Tür zu einer von einem Kronleuchter erhellten Eingangshalle mit geschwungener Treppe.

„Ich bin froh, dass Sie es hierhergeschafft haben, Sean.“

Ihre Stimme klang heiser. Sie trug Jeans und dazu eine Bluse im Kimono-Stil mit einem gestickten Feuer spuckenden Drachen auf jeder Schulter. Auch die Frau kam Sean vage bekannt vor.

Sie hielt ihm eine zierliche Hand hin. „Ich bin Hazel Hopkins.“

Ihre Hand verschwand förmlich in seiner. Mit seinen einsneunzig kam Sean sich neben Hazel wie ein Riese vor.

„Hängen Sie Ihre Jacke an die Garderobe, und ziehen Sie Ihre nassen Stiefel aus“, sagte sie. „Sie sind ganz schön spät dran. Es ist schon fast dunkel.“

„Wegen des Schnees bin ich nur sehr langsam vorangekommen.“

„Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen.“

Ihm fiel auf, dass ihr Blick zu dem Gewehr wanderte, das in einer Ecke neben der Tür lehnte. „Gab es Morddrohungen?“

„Nein, nur eine tote Telefonleitung, und jetzt stört der Schneesturm auch noch den Handyempfang.“

Sean setzte sich auf die Bank neben der Tür, um seine Stiefel auszuziehen.

„Angeblich soll das Wetter ja keinen Einfluss darauf haben, aber das ist gelogen. Ich habe bei jedem Schneesturm das gleiche Problem.“

Die Absätze ihrer winzigen Stiefel hallten auf den Terrakottafliesen zwischen den Teppichen wider, als sie zu ihm ging, um ihm seine Stiefel abzunehmen, und diese auf einer Matte unter der Garderobenleiste abstellte. Die Hände in die Hüften gestützt musterte sie ihn von Kopf bis Fuß. „Sie sehen noch genauso aus wie früher.“

Dann waren sie sich also tatsächlich schon einmal begegnet. Sean stand auf, wobei er unauffällig den Saum seines beigen Wildlederhemds über das Pistolenholster zog, das er an seinem Gürtel trug. „Das klingt vielleicht seltsam, aber … war ich schon mal hier?“

„Ich glaube nicht. Aber Hazelwood Ranch ist ein beliebter Hintergrund für Fotos. Die Mädchen waren hier oft zu Besuch.“

Ihre Erklärung warf nur weitere Fragen auf. Hintergrund wofür? Welche Mädchen? Und warum sollte er irgendwelche Fotos gesehen haben? „Vielleicht könnten Sie mir ein bisschen auf die Sprünge helfen …“

Belustigt tätschelte sie ihm die Wange. „Ich bin froh, dass Sie immer noch glatt rasiert und kurzhaarig sind. Ich stehe nicht auf Wildwuchs. Den Look haben Sie sich bestimmt beim FBI angewöhnt, oder?“

„Meine Mom hat mich auch immer dazu angehalten.“

„Bei Ihrem Bruder Dylan scheint sie ja nicht viel Erfolg damit gehabt zu haben. Ich habe ein Foto von ihm auf Ihrer TST-Security-Website gesehen. Er hat einen Pferdeschwanz.“

„Ja, er ist ziemlich unkonventionell. Er hat sich auf Computer und Internetsicherheit spezialisiert.“

„Und Sie sich auf die Verbrecherjagd.“

Er musste lachen. „Anscheinend haben Sie sich gut informiert.“

„Das habe ich.“

Er zerbrach sich immer noch den Kopf darüber, woher er Hazel kannte, aber es wollte ihm partout nicht einfallen.

Plötzlich stieg ihm ein Duft in die Nase – gebratene Paprika mit Zwiebeln, Chili, Zimt, Honig und frischem Maisbrot. Wie oft er sich nach diesem Duft gesehnt hatte …

Unwillkürlich schloss er die Augen und sah plötzlich eine Frau vor sich – jung und strahlend schön. Sie trug ein blaues Jerseykleid, das ihre schlanke Figur betonte, und dazu eine weiße Rüschenschürze. Das lange glatte braune Haar reichte ihr fast bis zur Taille. Sie hielt ihm einen Holzlöffel hin, damit er von ihrem Chili probieren konnte.

Er hatte schon damals mehr gewollt als nur eine Kostprobe. Er hatte alles gewollt. Aber er konnte es nicht mehr haben. Konnte sie nicht haben. Diese Zeiten waren vorbei.

Als er die Augen wieder aufschlug und in Hazels grünblaue sah, fiel ihm plötzlich ein, wo er sie schon einmal gesehen hatte.

Sie schien es sofort zu bemerken. „Sie erinnern sich“, stellte sie fest. „An die Hochzeit.“

Seine Erinnerungen an jenen Samstag im Juni vor sechseinhalb Jahren waren nur verschwommen. „An die Scheidung kann ich mich viel besser erinnern.“

Es waren gefährliche Erinnerungen. Er sollte machen, dass er hier wegkam. Doch stattdessen folgte er dem Duft wie magisch angezogen durch die Halle und das Esszimmer in die hell erleuchtete, warme Küche.

Zwei Pfannen mit goldenem Maisbrot standen auf einer großen Kücheninsel mit Marmoroberfläche. Sie stand mit dem Rücken zu ihm am Herd und rührte in einem schweren Eisentopf. Sie trug eine Jeans, die ihre langen Beine und ihren festen, runden Po betonte, und dazu einen gestreiften Pullover. „Hat gerade jemand an der Tür geklingelt, Hazel?“, fragte sie über die Schulter.

„Ja, wir haben Besuch“, sagte die kleine grauhaarige Frau zu der jungen am Herd.

Er hielt sich an der marmornen Arbeitsplatte der Kücheninsel fest, um sich gegen ihren Anblick zu wappnen. Er wusste nicht, was ihn erwartete. Seit ihrer Scheidung vor fünf Jahren – nach nur anderthalb Jahren Ehe – war kein Tag vergangen, an dem er nicht an sie hatte denken müssen. Manchmal träumte er davon, ihren warmen Körper neben sich im Bett zu spüren, und manchmal kam sie im Traum auf ihn zu. Meistens war sie in diesen Träumen nackt, und ihr dunkles Haar fiel seiden auf ihre olivfarbene Haut.

Ihr Haar …

Fassungslos starrte er sie an. Sie hatte sich ihr schönes langes Haar abgeschnitten.

„Hallo, Emily“, sagte er leise.

Erschrocken wirbelte sie zu ihm herum. „Sean!“

Sie riss die blaugrünen Augen mit den vollen dunklen Wimpern auf und presste die Lippen zusammen. Er kannte diesen Gesichtsausdruck noch aus ihrer Ehe. Sie war wütend auf ihn. Welchen Grund hatte sie verdammt noch mal, wütend zu sein? Er war schließlich derjenige, der sich gerade durch den Schneesturm gequält hatte.

Er ließ die Arbeitsplatte los, weil er keine Stütze mehr brauchte. Sein Ärger verlieh ihm neue Kraft. „Ich weiß ja nicht, was für ein perfides Spiel ihr zwei hier spielt, aber ich finde das nicht witzig. Ich fahre wieder.“

„Gut.“ Sie reckte das Kinn und kam einen Schritt auf ihn zu. „Ich will dich nämlich nicht in meiner Nähe haben.“

„Warum bestellst du mich dann hierher?“ TST erstattete grundsätzlich keine Vorschüsse zurück, aber das hier war eine Ausnahme. Er würde das Geld aus eigener Tasche zurückzahlen. „Ach, vergiss es einfach. Du kriegst dein Geld zurück.“

„Welches Geld?“ Emily kräuselte spöttisch die Unterlippe. Wahrscheinlich wollte sie ihm damit Angst einjagen, aber sie war ungefähr so angsteinflößend wie ein Häschen mit zuckender Nase.

„Du hast mich doch engagiert.“

„Habe ich nicht.“ Emily warf ihren Kochlöffel in den Chilitopf und drehte sich zu Hazel Hopkins um. „Tante Hazel, was hast du getan?“

Die grauhaarige Frau mit den gestickten Drachen auf den Schultern hatte sie stirnrunzelnd beobachtet. „Jetzt streitet euch doch nicht. Ich fand immer, dass ihr perfekt zusammenpasst.“

„Da warst du die Einzige“, sagte Emily trocken.

Sean und Emily waren beide in Colorado geboren und aufgewachsen, waren sich jedoch in San Francisco begegnet. Sie hatte damals Englisch in Berkeley studiert und war mindestens einmal pro Woche bei Poetry Slams aufgetreten. Bei einer dieser Veranstaltungen hatte Sean sie zum ersten Mal gesehen. Es hatte ihn sehr amüsiert, wie sie „Appetit“ mit „Lied“ und „Koprolith“ gereimt hatte – Letzteres war ein Fachbegriff für versteinerte Exkremente.

Als sie ihre Hochzeitspläne verkündet hatten, hatten die meisten Leute sie gewarnt, dass ihre gegensätzlichen Lebensstile – Künstlerin versus FBI-Agent – niemals harmonieren würden. Hinzu kam ihr Altersunterschied. Sie war neunzehn gewesen, er siebenundzwanzig. Acht Jahre waren zwar nicht viel, aber ihre jugendliche Unreife hatte in krassem Gegensatz zu seiner Ernsthaftigkeit und seinem Verantwortungsbewusstsein gestanden.

„Aber hättet ihr mich damals gefragt“, fuhr Tante Hazel fort, „hätte ich euch geraten, erst mal eine Weile zusammenzuleben, bevor ihr heiratet.“

So lange hatte Sean nicht warten wollen. Er hatte darauf gehofft, dass die Ehe seinen Schmetterling zur Ruhe kommen lassen würde. „Die Hochzeit war ein Fehler.“

Emily schnaubte verächtlich.

„Siehst du das etwa anders?“, fragte er seine Ex-Frau.

„Du bist ja immer noch hier. Ich dachte, du hast es so eilig, von mir wegzukommen!“

Allmählich wurde es ihm zu bunt. Sie glaubte ja wohl nicht, dass er sich von ihr vertreiben lassen würde! Herausfordernd sah er Emily an, griff betont langsam nach einem Hocker und setzte sich, bevor er die Aufmerksamkeit wieder auf ihre Tante richtete. „Du hast uns immer noch nicht erzählt, warum du mich als Leibwächter engagiert hast.“

„Sie hat dich … als Leibwächter …“, stammelte Emily. „Bist du denn nicht mehr beim FBI?“

„Warum interessiert dich das?“

„Warum sollte mich das nicht interessieren?“

„Was machst du denn inzwischen so?“

„Schreiben.“

Er verzog den Mund. „Gedichte?“, fragte er abfällig.

Ungeduldig seufzend beugte sie sich vor. Ihre türkisblauen Augen funkelten, und ihr von kinnlangem braunem Haar umrahmtes Gesicht war gerötet. Offensichtlich brannte sie förmlich darauf, ihm etwas mitzuteilen. Die Worte lagen ihr geradezu auf der Zunge.

Sean ertappte sich dabei, sie hören zu wollen – jedes aufgeregt hervorgesprudelte Detail. Emily hatte noch nie etwas halbherzig getan, sondern sich immer voller Enthusiasmus in ihre Vorhaben gestürzt. Genau das hatte ihn immer so verzaubert.

Doch anstatt einfach mit dem herauszuplatzen, was sie ihm sagen wollte, winkte sie ab. „Ach, verschwinde einfach.“

„Was für ein Drama“, sagte Tante Hazel spöttisch. „Ihr beide seid unmöglich. Kommunikation ist doch gar nicht so schwer. Sean, du bleibst schön sitzen, und ich erzähle dir erst mal, was unser Mädchen hier angestellt hat.“

„Das muss ich mir nicht anhören“, murmelte Emily.

„Korrigier mich ruhig, wenn ich etwas nicht richtig erzähle. Also: Emily schreibt keine Gedichte mehr. Nach eurer Scheidung ist sie Journalistin geworden.“

„Damit kann man kein Geld verdienen“, sagte Sean nur. „Die Zeitungen sind fast alle pleite. Kein Mensch kann mehr davon leben, Artikel zu schreiben.“

„Ich komme gut zurecht“, widersprach Emily selbstsicher. Als sie zum Herd zurückging, stolzierte sie beinah.

Wie gebannt betrachtete Sean ihre langen schlanken Beine und ihre sexy schwingenden Hüften. Emily hatte ihn schon immer fasziniert. „Na schön“, sagte er widerstrebend. „Erzähl mir von deinem Riesenerfolg als Journalistin.“

„Gleich nach der Scheidung bekam ich einen Job beim Daily Californian, Berkeleys Studentenzeitung. Ich habe gelernt, zu recherchieren und zu bloggen, und fing an, meine Artikel an Onlinezeitschriften zu verkaufen. Bei einer von ihnen veröffentliche ich zweimal monatlich einen. Sie bezahlen sehr gut.“

„Für Beiträge über Lidschatten und Schuhe?“

Sie schlug mit einer Faust auf die Arbeitsplatte. „Nein, hochbrisante Themen. Ich war deshalb Zeugin eines Mordes.“

„Und genau deswegen habe ich dich angerufen“, schaltete Tante Hazel sich ein. „Emily ist in Gefahr.“

Das klang verrückt genug, um wahr zu sein. „In welcher Gefahr?“

„In Lebensgefahr!“

Sean erstarrte. Er wollte auf keinen Fall hierbleiben … aber er konnte Emily nicht einfach schutzlos zurücklassen.

Emily fiel es schwer, ihren Blick von Sean loszureißen. Fasziniert beobachtete sie, wie ein Muskel in seinem Unterkiefer zuckte und seine Augen so schwarz wie Obsidian wurden. Er war so unglaublich männlich.

Anders als andere Menschen schien er nicht in sich zusammenzuschrumpfen, wenn er angespannt war. Im Gegenteil – seine Statur wurde sogar noch breiter. Sie beobachtete, wie er die Hände zu Fäusten ballte, als bereite er sich innerlich darauf vor zuzuschlagen. Sie zu verteidigen. Er sah aus, als könne er es mit einer ganzen Armee aufnehmen, um sie zu beschützen.

Wenn sie es recht bedachte, war es vielleicht doch nicht so abwegig, ihn als Leibwächter zu engagieren. Er hatte schon immer einen stark ausgeprägten Beschützerinstinkt gehabt – ob er seinen netten, aber etwas schrägen Bruder vor Mobbing oder einen streunenden Hund davor bewahrt hatte, auf einer viel befahrenen Straße überfahren zu werden. Wäre Sean an ihrer Stelle in dem Schrank gewesen, hätte er den Mann gerettet, dessen Namen sie inzwischen kannte: Roger Patrone.

Sean streckte eine Hand nach ihr aus, aber sie entzog sich seiner Berührung. Sie wollte nicht, dass er ihr zu nahe kam, ganz egal, wie sehr sie sich insgeheim nach seiner Berührung sehnte. Er war die Liebe ihres Lebens gewesen. Sich von ihm scheiden zu lassen war ihr unglaublich schwergefallen. Die Vorstellung, das alles noch einmal durchmachen zu müssen, war unerträglich.

„Bist du zur Polizei gegangen?“, fragte er.

„Natürlich. Ich war auch bei deinen ehemaligen Vorgesetzten. Vor allem mit Special Agent Greg Levine hatte ich mehrere Gespräche. Ich bin überrascht, dass er dich noch nicht darüber informiert hat.“

„Levine ist immer noch in San Francisco. Fand der Mord dort statt?“

„Ja.“

„In der Stadt?“

„Nein, auf See – gleich hinter der Golden Gate Bridge.“

„Also in offenen Gewässern. Ein guter Ort, um eine Leiche loszuwerden.“

Es war erschreckend mitanzuhören, wie Seans FBI-geschulter Verstand und Frankie Wynters krimineller Instinkt ähnliche Schlüsse zogen. Aber vielleicht muss man wie ein Verbrecher denken, um einen zu fangen.

„Wie sich herausgestellt hat, war das keine so gute Idee. Das Opfer wurde fünf Tage später am Baker Beach angespült.“

„Die Zeit bis dahin muss hart für dich gewesen sein. Es ist kein Spaß, einen Mord anzuzeigen, wenn es keine Leiche gibt.“

Schon gar nicht, wenn der zuständige Beamte ein guter Kumpel ihres Ex-Manns war. Sie hatte Greg Levine gebeten, Sean nichts zu erzählen, hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass er ihr den Gefallen auch tatsächlich tun würde. Normalerweise waren FBI-Agenten ihren Kollegen gegenüber äußerst loyal. Sean hatte Emily nur ein einziges Mal belogen – als er einen seiner Mitarbeiter gedeckt hatte.

Sie fragte sich, was Sean dazu bewogen hatte, beim FBI aufzuhören. Hatte Mr. Perfect womöglich Mist gebaut und war gefeuert worden? „Warum bist du nicht mehr beim FBI?“

„Es wurde Zeit.“

Emily schnaubte. „Wie kryptisch!“

„Es stimmt.“

Konnte er ihr nicht ein einziges Mal eine vernünftige Erklärung geben? Das FBI zu verlassen musste traumatisch für ihn gewesen sein. Sean war der geborene Agent. Mit seinem schwarzen kurz geschnittenen Haar, seinem glatt rasierten Gesicht und seinem beigen Wildlederhemd sah er wie maßgeschneidert für den Job aus. Er war stolz auf seine Tätigkeit gewesen. „Mann, kannst du nerven!“

„Tue ich das?“

„Ich hasse es, wenn du eine vernünftige Frage mit einem nichtssagenden Machospruch beantwortest, wie ‚ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss‘!“

„Ich erwarte von dir nicht, dass du es verstehst.“

„Mission erfüllt!“

Emilys Feindseligkeit war nicht zu übersehen. Sean wurde wütend. Oh ja, er war wütend. Und sexy. „Ich fahre jetzt“, wiederholte er.

„Nicht in diesem Schneesturm“, widersprach Tante Hazel. „Ihr solltet euch erst beruhigen. Esst Chili und versucht, höflich zueinander zu sein.“

Emily gab den Herd frei, verschränkte ihre Arme vor der Brust und beobachtete, wie Sean und ihre Tante Schüsseln mit Chili füllten und sich ein Stück Maisbrot abbrachen. Sean schien es zu gelingen, seinen Ärger zu zügeln und sich in einen angenehmen Gast zu verwandeln. Emily wusste, dass auch sie zumindest einen Anschein von Höflichkeit wahren sollte, aber sie zog es vor zu schweigen.

Vor langer Zeit – lange bevor sie und Sean zusammengekommen waren – war sie dafür bekannt gewesen, einfach draufloszureden. Sie hatte nie etwas für sich behalten und immer gesagt, was ihr in den Kopf kam, offen und direkt.

Aber diese Zeiten waren vorbei.

Sie wusste inzwischen, dass Menschen nicht immer gut waren und es deshalb viel Leid und Verzweiflung auf der Welt gab. Sie hatte ihre Unschuld verloren.

Hazel hatte natürlich recht, sie hatte sich selbst in diese missliche Lage gebracht. Außerdem hatte sie Angst, so ungern sie sich das auch eingestand. In letzter Zeit löste fast alles Panik bei ihr aus … ein unerwarteter Anruf, eine zufallende Tür, ein Wagen, der zu dicht auffuhr. Seit sie in James Wynters Schrank Zeugin eines Mords geworden war, hatte sie keine Nacht mehr ruhig geschlafen.

Der einzige Grund, warum sie noch keinen Nervenzusammenbruch bekommen hatte, war, dass Wynter und seine Männer ihre Identität nicht kannten. Laut Levine wussten sie zwar, dass es eine Zeugin für den Mord gab, aber nicht, um wen es sich handelte. Es war jedoch nur eine Frage der Zeit, bis sie es herausfanden.

Nutz die Gelegenheit. Lass ihn dein Leibwächter sein.

„Emily, willst du auch etwas trinken?“, fragte ihre Tante.

Hazel und Sean hatten sich geriebenen Cheddar auf ihr Chili gestreut, einen Löffel Sour Cream hinzugefügt und waren auf dem Weg ins Esszimmer.

Was konnte eine gemeinsame Mahlzeit schon schaden? Je länger sie ihn betrachtete, desto mehr erkannte sie den alten Sean wieder – ihren Ehemann. Den breitschultrigen Gentleman, der ihr Herz gestohlen hatte.

Ihr fiel ein, dass er ihr die Hand hatte schütteln wollen, als sie einander zum ersten Mal vorgestellt worden waren, und sie ihn stattdessen umarmt hatte. Sie waren schon immer gegensätzlich gewesen. Wahrscheinlich hatten sie sich deshalb so zueinander hingezogen gefühlt. „Ich habe keinen Hunger“, sagte Emily.

„Sei doch nicht so stur!“, schimpfte Hazel. „Ich habe einen Leibwächter für dich engagiert. Lass den Mann einfach seinen Job machen.“

„Ich will aber keinen Leibwächter!“ Wütend funkelte sie Sean an, der so aufrecht dastand wie ein Fels in der Brandung. Die Kraft, die er ausstrahlte, zog sie magisch an … und ärgerte sie zugleich maßlos.

Sie ging zum Küchenfenster, schob den Vorhang zur Seite und sah hinaus. Draußen dämmerte es bereits, und es schneite immer noch heftig. Der Schneesturm würde anscheinend nicht so schnell aufhören. Sean würde also hier übernachten. Was hieß, dass sie die Nacht unter einem Dach mit ihm verbringen musste.

Das könnte ein Problem werden. Ein gewaltiges Problem.

„Darf ich dich mal etwas fragen? Was für ein Mord ruft das FBI auf den Plan?“

„Einer, bei dem Frankie Wynter der Täter ist.“

Entgeistert starrte er sie an. „Der Sohn von James Wynter?“

Sie hatte schon viel zu viel verraten. Am besten zog sie sich jetzt zurück. Also reckte sie sich gähnend. „Ich bin müde, Tante Hazel. Ich glaube, ich gehe schlafen.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und floh aus der Küche. Als ihr Blick auf Hazels Gewehr in der Ecke fiel, stellte sie es schnell in den Garderobenschrank. Es war viel zu gefährlich, so etwas offen herumstehen zu lassen! Zwei Stufen auf einmal nehmend schoss sie die Treppe zum ersten Stock hoch. In ihrem Zimmer knipste sie die Nachttischlampe an und warf sich aufs Bett mit dem handgenähten Quilt.

Vor ihrem inneren Auge tauchte wieder der Anblick des zusammengesackten Roger Patrone mit blutdurchtränktem Hemd auf.

Als die Männer auf den Schrank zugekommen waren, um etwas zu suchen, in das sie den armen Roger einwickeln konnten, hatte sie damit gerechnet, das nächste Opfer zu werden, und den Türgriff festgehalten, damit die Männer den Schrank für verschlossen hielten. Gott sei Dank war das überflüssig gewesen, denn Frankie hatte ihnen befohlen, den Duschvorhang aus dem Bad zu holen, weil der kein Blut durchließ.

Emily hatte sich gefragt, ob Frankie schon öfter so etwas getan hatte – Menschen ermordet und die Leichen dann über die Reling geworfen.

Sie stand auf und lief rastlos Richtung Tür, bevor sie es sich anders überlegte und zurück zum Bett ging. Eingesperrt in ihrem Zimmer zu sein wie ein ungehorsames Kind hatte den Nachteil, dass es kein Entrinnen vor den Erinnerungen gab. Ihre Brust fühlte sich so eng an, dass sie kaum Luft bekam und ihr abwechselnd heiß und kalt wurde.

Stöhnend beugte sie sich vor, steckte den Kopf zwischen die Knie und befahl sich, tief durch die Nase ein- und den Mund wieder auszuatmen, aber es klappte einfach nicht. Ihr Hals war immer noch wie zugeschnürt. Bekam sie etwa eine Panikattacke? Sie hatte keine Ahnung, wie sich so etwas anfühlte. Bisher hatte sie noch nie eine gehabt.

In diesem Augenblick ging die Tür zu ihrem Zimmer auf, und Sean trat mit einer Selbstverständlichkeit ein, als brauche er keine Erlaubnis. Als habe er jedes Recht, in ihre Privatsphäre einzudringen.

Emily hätte ihn am liebsten angeschrien, er solle verschwinden, aber sie bekam kein Wort heraus.

Er setzte sich neben sie aufs Bett und legte ihr einen Arm um die Schultern. Sein männlicher Duft – die vertraute Mischung aus Seife, Zedernholz und Schweiß – stieg ihr in die Nase, als sie den Kopf an seine Schulter lehnte.

Sie hatte die Hände immer noch zu Fäusten geballt, aber ihr Herzschlag beruhigte sich wieder, und ihre Panik ließ langsam nach. Irgendwie würde sie ihre Angst schon in den Griff bekommen.

Und diese Situation.

Sanft wiegte er sie hin und her. „Und? Geht’s dir wieder besser?“

Sie holte tief Luft. „Viel besser.“

„Willst du über das reden, was passiert ist?“

„Das habe ich doch schon getan. Ich habe alles deinem Kumpel erzählt, Agent Levine.“

„Erstens ist er nicht mein Kumpel, und zweitens – warum hat er dir keinen Zeugenschutz angeboten?“

„Hat er, aber ich habe abgelehnt.“

„Emily! Ist dir überhaupt bewusst, wie gefährlich Frankie Wynter ist?“

„Ich recherchiere schon seit über einem Jahr über Wynter Corp. Schmuggelei, Glücksspiel und Geldwäsche sind schwere Verbrechen, aber viel schlimmer ist der Menschenhandel. Letztes Jahr hat das Hafenamt einen Container mit mehr als siebzig Frauen und Kindern beschlagnahmt. Zwölf von ihnen waren tot.“

„Und Wynter Corp ist es gelungen, sich einer Anklage zu entziehen, richtig?“

„Ja. Die Unterlagen waren plötzlich spurlos verschwunden.“ Sie hatte gehofft, Beweismaterial auf James Wynters Computer zu finden. „Es gab keinen Hinweis auf den Absender oder den Bestimmungsort dieser Menschen. Sie konnten nur sagen, dass man ihnen Jobs versprochen hatte.“

„Solche Ermittlungen überlässt man besser der Polizei.“

Emily machte sich von Sean los und stand auf. „Ich weiß, was ich tue!“

„Ich stelle deine Fähigkeit ja gar nicht infrage. Aber selbst, wenn du die beste Enthüllungsjournalistin aller Zeiten bist – dir fehlen die nötigen Kontakte. Das FBI hingegen hat überall verdeckte Ermittler, ganz zu schweigen von den Überwachungsmöglichkeiten.“

„Das weiß ich alles selbst!“

Er zögerte einen Moment. „Willst du mir nicht noch mehr erzählen? Bisher weiß ich nur, dass du den Mord mit angesehen hast.“

Emily verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich vor die Frisierkommode. Ihr Spiegelbild sah blass und verängstigt aus. Sean hingegen – wie immer das genaue Gegenteil von ihr – wirkte ruhig und entspannt.

„Soll ich ganz ehrlich sein?“, fragte sie.

„Das wäre das Beste.“

Sie erwiderte seinen Bick im Spiegel. „Ich habe den Schuss nicht wirklich beobachtet, sondern nur gesehen, dass Frankie eine Pistole in der Hand hielt und einen Schalldämpfer draufschraubte. Dann habe ich zwei Schüsse gehört und hinterher die Einschusslöcher …“, sie holte zittrig Luft, „… und das Blut gesehen. Aber ich konnte nicht direkt erkennen, wie Frankie die Waffe auf das Opfer gerichtet und auf den Abzug gedrückt hat.“

„Das ist nebensächlich. Einem guten Staatsanwalt reicht das für eine Anklage.“

„Die Leiche, die fünf Tage später an Land gespült wurde, war so von Fischen zerfressen, dass man sie nicht identifizieren konnte.“ Emily ließ den Kopf hängen. „Ich hatte gehofft, es sei jemand anderes – jemand, der von der Golden Gate Bridge gesprungen ist, aber Levine hat das Opfer anhand seiner DNA identifiziert.“

„Womit?“

„Ich habe ihn auf einem Polizeifoto erkannt. Sein Name war Roger Patrone.“

Sean zuckte mit den Schultern. „Sagt mir nichts.“

„Er war fünfunddreißig und hat seinen Lebensunterhalt mit der Organisation illegalen Glücksspiels verdient. Er hat drei Jahre wegen Betrugs gesessen.“

„Du hast deine Hausaufgaben anscheinend gründlich gemacht.“

„Unverheiratet, keine Kinder. Seine Eltern starben, als er neun war, und er wuchs bei einer Familie in Chinatown auf. Er spricht die Sprache, kennt die Bräuche und soll Mittelsmann für Wynter gewesen sein.“

„Klingt nach einem nützlichen Mitarbeiter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Alte wirklich glücklich über seine Ermordung war.“

„Tja, Blut ist anscheinend immer noch dicker als Wasser. Das FBI hat Frankie verhört, aber einer der anderen Typen von Wynter Corp hat gestanden, Patrone erschossen zu haben, und behauptet, es sei Notwehr gewesen.“

Sean stand auf und stellte sich hinter sie. Er berührte sie nicht, aber wenn sie einen Schritt zurücktreten würde, wäre sie in seinen Armen. „Dann heißt das, Frankie wurde nicht verhaftet?“

„Nein.“

„Und er weiß, dass es eine Zeugin gab.“

„Ja.“

„Hast du über den Mord geschrieben?“

„Nein, Agent Levine hat mir davon abgeraten.“ Aber vorher hatte sie jede Menge sehr kritischer Artikel über Wynter Corporation verfasst.

„Kennt Frankie deinen Namen?“

„Nein. Ich schreibe unter einem Pseudonym – drei verschiedenen Pseudonymen genau genommen. Und ich habe zwei Fake-Blogs. Niemand weiß, wie ich aussehe.“

„Gut gemacht.“

„Danke.“ Sie lächelte. So weit, so gut. Vielleicht würden Sean diese Informationen reichen. Sie hätte zwar noch mehr zu erzählen, aber sie wollte nicht länger mit ihm zu tun haben als unbedingt nötig. Nie wieder.

„Es war auch eine kluge Entscheidung, Frankie und die anderen Gangster in San Francisco zurückzulassen. Hazelwood Ranch scheint ein guter Ort zu sein, um unterzutauchen, bis Gras über die Sache gewachsen ist.“

Leider war sie nicht deshalb hier. Emily blinzelte nervös und betrachtete sich dabei selbst im Spiegel.

Und natürlich wurde Sean sofort misstrauisch. „Was ist los, Emily?“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Was verschweigst du mir?“

„Frankie ist hier in Colorado“, platzte sie heraus. „Die Wynter-Familie hat ein eingezäuntes Anwesen in der Nähe von Aspen. Ich bin nicht hergekommen, weil ich meine Recherchen aufgegeben habe, sondern um weiter zu recherchieren.“

Er legte ihr die Hände auf die Oberarme. „Überlass das der Polizei.“

In diesem Augenblick hörten sie von unten einen lauten Schrei.

2. KAPITEL

Emilys erster Impuls war, Hazel zu Hilfe zu eilen, doch sie kam nicht weit. Nach zwei Schritten umfasste Sean ihre Taille und zog sie so ruckartig zu sich heran, dass sich ihre Füße vom Boden hoben. Als er sie durch das Zimmer ins angrenzende Bad zerrte, hatte er nur einen Gedanken: sie in Sicherheit zu bringen.

Er stellte sie neben der frei stehenden Badewanne ab. „Bleib hier“, befahl er, während er seine Waffe zückte. „Und verhalte dich ruhig.“

„Auf keinen Fall!“

Obwohl er nur ungern Zeit mit Erklärungen verschwendete, musste er ihr begreiflich machen, worum es ging. „Wenn hier jemand eingebrochen ist, dann deinetwegen. Und sollten sie dich in die Finger kriegen, haben wir kein Druckmittel mehr. Wenn dir die Sicherheit deiner Tante am Herzen liegt, musst du das unbedingt vermeiden!“

„Okay, hilf ihr.“ Emilys Gesicht war gerötet vor Angst und Wut. Heftig stieß sie ihn gegen die Schultern. „Na los, beeil dich!“

Als er sich an ihre geschlossene Zimmertür heranpirschte, wünschte er, er hätte noch seine Stiefel an. Sollte er ins Freie laufen müssen, würden seine Füße sofort zu Eisklumpen gefrieren.

Im Geiste ging er den Grundriss des Hauses durch. Vom Treppenabsatz hier oben konnte man die Haustür sehen. Er würde sofort erkennen, ob jemand sie aufgebrochen hatte.

Mit einem Eindringling würde er spielend fertig werden, vielleicht auch mit zweien. Aber Frankie Winter hatte jede Menge Handlanger. Vielleicht standen sogar schon welche vor Emilys Tür.

Er lauschte, hörte jedoch nichts – nur den Wind, der ums Haus pfiff. Von unten kamen gedämpfte Geräusche. Schlug da etwa jemand gegen eine Tür? Wieder hörte er einen gedämpften Schrei. Vorsichtig drehte er den Türknauf, öffnete die Tür und hob die Pistole.

Nein, hier oben war niemand.

Emily eilte ihm zur Seite. „Lass mich dir helfen. Bitte!“

Er befahl ihr, zurück ins Bad zu gehen, doch sie ignorierte ihn. Allmählich wurde sie zu einem echten Problem. „Ist die Badewanne aus Gusseisen?“

„Sie ist antik, mehr weiß ich nicht.“

„Leg dich rein und bleib liegen.“ So konnte sie zumindest nicht von einer verirrten Kugel erwischt werden.

„Nein, ich komme mit dir.“

Wollte sie ihn absichtlich in den Wahnsinn treiben, oder war sie immer schon so stur gewesen? Sean konnte sich nicht erinnern. Aber so oder so hatte er offensichtlich jeden Grund gehabt, sich von dieser Frau scheiden zu lassen. „Wir haben keine Zeit, uns zu streiten! Vertrau einfach darauf, dass ich weiß, was ich tue!“

„Ich brauche eine Waffe.“

„Von wegen, es reicht, wenn du endlich auf mich hören würdest!“

„Bitte, Sean! Du hast immer zwei Pistolen bei dir. Gib mir eine.“

Er zog seine Glock aus dem Knöchelhalfter und reichte sie ihr. „Weißt du noch, wie man sie benutzt?“ Gehorsam sagte sie die Anweisungen auf, die er ihr eines Nachtmittags vor sechs Jahren in Big Sur gegeben hatte. „Okay, du beherrschst die Grundlagen anscheinend noch.“

Damals hatte er so getan, als wäre alles nur ein Spiel. Er hatte sie nie dazu aufgefordert, während seiner oft wochenlangen Abwesenheit die Schusswaffe aus dem Safe zu holen. Bei seinen Undercover-Einsätzen hatte er sich immer große Sorgen um sie gemacht. Welche Ironie, dass sie sich selbst nun in zehnmal größere Gefahr gebracht hatte!

Er spähte durch den Türspalt auf den von einem Oberlicht erhellten Treppenabsatz und schlich zum Geländer.

Unten war alles still. Totenstill. Das gefiel ihm überhaupt nicht. Emilys Tante kam ihm nicht wie der Typ vor, der sich vor lauter Angst irgendwo verkroch. Mit einer Geste bedeutete er Emily, oben zu bleiben, während er langsam die Treppe herunterging. Als er am Fuß der Treppe ankam, schoss Hazel auf ihn zu und blieb abrupt vor ihm stehen.

Wütend funkelte sie ihn an. „Wo zum Teufel ist mein Gewehr?“

Emily spähte von oben über das Geländer. „Ich habe es in den Garderobenschrank gestellt.“

Hazel seufzte. „Ich hatte es direkt neben die Tür gelehnt“, erklärte sie Sean. „Emily hätte es nicht einfach wegnehmen dürfen.“

Die Frauen in dieser Familie verstanden einfach nicht, wie man sich in einer Gefahrensituation verhielt! Jede von ihnen brauchte mindestens einen Leibwächter.

Sie fielen einander auf der Treppe in die Arme, als wäre die Gefahr schon gebannt. Hatten sie vergessen, dass vielleicht ein Eindringling im Haus war?

„Hazel!“, bellte er. „Warum hast du geschrien?“

„Ich habe von draußen ein Geräusch gehört und durchs Fenster hinausgespäht, aber natürlich konnte ich bei dem Schneesturm draußen nichts erkennen. Ich sah nur zwei Schweinwerfer. Als ich zur Haustür ging, um mehr zu sehen, hörte ich ein lautes Geräusch an der Hintertür, so als wolle jemand einbrechen. Da habe ich geschrien.“

Sean vermutete, dass seitdem fünf Minuten vergangen waren. „Und was hast du dann gemacht?“

„Mich versteckt.“

„Gut so. Dann bist du also erst wieder herausgekommen, als du mich gesehen hast?“

Sie nickte.

„Was hast du von dem Eindringling mitbekommen? Hat er irgendwelche Geräusche gemacht? Waren es mehr als einer?“

„Na ja, mein Gehör ist nicht mehr so gut wie früher, aber ich bin ziemlich sicher, dass es nur einer war. Und es hörte sich nicht so an, als wäre es ihm gelungen, ins Haus zu kommen.“

Während Sean Emily und ihre Tante in Emilys Zimmer begleitete, überlegte er, auf welchem Weg man noch ins Haus einbrechen konnte. Abgesehen von der Vorder- und der Hintertür und den Fenstern gab es wahrscheinlich noch einen Kellereingang. Das Beste wäre, wenn die beiden Frauen im Obergeschoss blieben, auch wenn sie von dort aus keine Fluchtmöglichkeit hatten.

Er warf einen Blick aus Emilys Fenster. „Ich sehe die Umrisse eines Jeeps.“

„Und?“

„Kennst du den?“ War das Frankie Wynters Truck?

„Wir sind in den Bergen, Sean! Jeder Zweite fährt hier einen Jeep.“

Er lächelte gezwungen. „Bleib hier oben bei Hazel und kümmere dich um sie.“

„Und was machst du solange?“

„Ich überprüfe die Türen und weitere Zutrittsmöglichkeiten.“

Sie nickte genauso verkrampft, wie er gelächelt hatte. Anscheinend versuchten sie beide, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und sich nicht von ihrer Angst überwältigen zu lassen. Als sie ihm eine Hand auf die Brust legte, musste er an die frühen Tage ihrer Ehe denken, als sie sich immer so von ihm verabschiedet hatte, wenn er einen Auftrag bekommen hatte. „Pass gut auf dich auf, Sean.“

Er riss den Blick von ihren türkisblauen Augen und ihren vollen Lippen los. Ihr vertrauensvoller, dankbarer Blick gab ihm das Gefühl, ein Held zu sein, der auszog, den Drachen zu besiegen. Ein Ritter, der eine Burg beschützte. In alten Zeiten hätten sie sich jetzt geküsst.

Er verließ das Zimmer und ging die Treppe hinunter, um nachzusehen, ob jemand im Haus war.

Die Haustür war nicht aufgebrochen worden, genauso wenig die Tür zu dem langen barackenartigen Flügel, in dem im Sommer vermutlich die Hilfsarbeiter schliefen. Das Gleiche galt für die Kellertür und die Hintertür. Den Riegel könnte man zwar leicht mit ein paar Schüssen entfernen, aber soweit er sehen konnte, waren keine Schusswaffen abgefeuert worden.

Als Sean die Hintertür öffnete, wehte sofort Schnee ins Haus. Auf der Veranda konnte er die Überreste von Fußabdrücken erkennen. Von einer Person oder mehreren? Schwer zu sagen, aber Hazel hatte offensichtlich richtig gehört. Hier war jemand gewesen.

Als er die Tür wieder schloss und den Riegel vorschob, hörte er Emily von der Haustür aus seinen Namen rufen. Obwohl sie ganz ruhig klang, eilte Sean mit gezückter Waffe zu ihr. In der offenen Tür stand ein Mann in einem braunen Parka.

„Ist schon okay, Sean“, sagte Hazel. „Das ist nur mein Nachbar Willis. Er war unser Hilfssheriff, bevor er vor zwei Jahren in Rente ging.“

Willis schob die Kapuze seines Parkas zurück und zog den Reißverschluss auf. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, als ich dich telefonisch nicht erreichen konnte, also habe ich beschlossen, vorbeizufahren und nach dem Rechten zu sehen, bevor ich ins Bett gehe. Hi, Emily.“

„Hallo, Willis.“

Sean musterte den älteren Mann misstrauisch. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu verraten, warum Sie gegen die Hintertür gehämmert haben?“

„Sie ist sonst immer offen. Als ich merkte, dass der Riegel vorgeschoben war, habe ich an der Klinke gerüttelt, um mich zu vergewissern, dass die Tür nicht nur klemmt.“

„Du hast mir einen Riesenschreck eingejagt“, sagte Hazel vorwurfsvoll.

Willis senkte beschämt den Kopf. „Sorry, ich wollte dir keine Angst machen.“

Halb flirtend, halb vorwurfsvoll tätschelte sie ihm eine Wange. „Du hast Glück gehabt, dass ich mein Gewehr nicht so schnell finden konnte.“

Sean erinnerte ihre Reaktion an Emilys Art, wenn sie ihn früher zu etwas hatte überreden wollen. Er drehte sich zu ihr um. Sie saß inzwischen auf der Treppe, von wo aus sie alles gut überschauen konnte. Als sie seinen Blick bemerkte, sah sie sofort weg, aber er wusste, dass sie ihn beobachtet hatte. Er wurde einfach nicht schlau aus ihr. War sie wütend oder nervös? Unabhängig oder einsam?

Vorhin hätte sie fast eine Panikattacke bekommen. Sie hatte Todesangst gehabt, was er ihr auch nicht verdenken konnte. James Wynter und seine Genossen waren eindeutig gefährlich.

Er biss die Zähne zusammen. Warum hatte sie nur beschlossen, sich mit diesen gewalttätigen Verbrechern anzulegen? Und wieso sorgte Levine nicht für ihren Schutz? Das FBI ermittelte schon seit Jahren gegen Wynter.

„Willst du etwas Chili mit uns essen?“, bot Hazel ihrem Nachbarn an. Die beiden verschwanden in der Küche.

„Wir kommen gleich nach!“, rief Emily ihnen hinterher, stand auf und winkte Sean zu sich. Da sie auf der ersten Stufe stand, war sie fast auf Augenhöhe mit ihm, als er vor ihr stehen blieb.

„Was ist?“, fragte er.

„Ich wollte mich nur bei dir bedanken. Du hattest die Situation gut im Griff. Hast durchdacht und schnell gehandelt.“ Sie seufzte. „Das war ziemlich beeindruckend.“

Er freute sich über ihr Kompliment, auch wenn er sich das nicht anmerken ließ. „Ist schließlich mein Job.“

„Trotzdem brauchen wir keinen Leibwächter.“ Sie griff nach seiner linken Hand und drückte sie. „Es war einfach nur ein Missverständnis wegen des Schneesturms.“

„Du hast trotzdem jeden Grund, besorgt zu sein. Heute war es Willis, aber morgen könnte es schon Frankie Wynter sein.“

„Mal doch nicht gleich den Teufel an die Wand! Wir hatten nur Besuch von einem Nachbarn.“

Eigentlich war er ja froh, dass sie so ruhig und vernünftig blieb. Er warf einen Blick Richtung Esszimmer. „Ich könnte noch eine Schüssel Chili vertragen, du auch?“

„Ja.“

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Stirn. Nichts Besonderes – nur eine kleine Geste der Zuneigung, wie zwischen einer Ehefrau und ihrem Mann. Doch Sean war davon so überrumpelt, dass er, ohne nachzudenken, ihren Arm ergriff, als sie an ihm vorbei ins Esszimmer gehen wollte.

Und sie an sich zog.

Und sie küsste …

Emily hatte nicht die Absicht gehabt, Sean zu etwas zu ermutigen. Der Kuss auf seine Stirn war rein freundschaftlich gemeint gewesen. Hätte sie geahnt, dass sie so eine Reaktion damit auslösen würde, hätte sie einen großen Bogen um ihn gemacht.

Das stimmt nicht. Ich belüge mich nur selbst.

Denn von dem Moment an, als sie ihn wiedergesehen hatte, war sie von erotischen Erinnerungen überwältigt worden. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich die unterschwellige sexuelle Spannung zwischen ihnen entlud.

Ihre Ehe mit Sean war zwar längst vorbei, aber sie träumte immer noch oft von Sex mit ihm. Niemand küsste so wie er. Es war ein herrlich vertrautes Gefühl, wieder seinen Mund auf ihrem zu spüren.

Ob er ihre Lippen gleich sanft mit der Zunge teilen würde, um den Kuss zu vertiefen? Und würde er dabei einen kehligen Laut ausstoßen, so wie früher?

Sie hatte nie wirklich beschreiben können, was genau er tat, das solch überwältigende Empfindungen in ihr auslöste. Sie wusste nur, dass es diesmal nicht anders war. Oh ja, küss mich noch mal!

Sie wurde fast ohnmächtig vor Erregung. Ohnmächtig?! Nie im Leben!

Sie hatte sich verändert. Sie war keine versponnene Poetin mehr, sondern eine knallharte Journalistin – jedenfalls nicht die Art Frau, die von einem bloßen Kuss fast das Bewusstsein verlor. Doch vor ihren Augen wurde es immer schwärzer, und ihre Knie wurden so weich, dass sie sich für einen Moment an seinen Schultern festklammern musste. Dann ließ sie ihre Hände seine Brust hinabwandern. Auch das war sexy, denn durch sein beiges Wildlederhemd konnte sie seinen harten Waschbrettbauch fühlen.

Aber so angenehm dieses Intermezzo auch war – es musste aufhören, bevor sie noch komplett die Selbstbeherrschung und den Verstand verlor.

Sanft stieß sie Sean von sich weg. „Wir können das hier nicht machen!“

„Klar können wir das.“ Er schlang ihr wieder einen Arm um die Taille. „Es ist zwar schon eine Weile her, aber ich habe nicht vergessen, wie es geht.“

„Anscheinend müssen wir dringend ein paar Grundregeln festlegen“, sagte sie entschlossen.

Er küsste sie aufs Haar und trat einen Schritt zurück. „Du hast es abgeschnitten“, sagte er.

„Was?“

„Dein Haar. Es ist viel kürzer als früher.“

Verunsichert strich sie sich durch den kinnlangen Bob. „Es hat zu viel Arbeit gemacht. Außerdem sehe ich so erwachsener aus.“

„Stimmt, du bist sehr erwachsen geworden. Wie alt bist du inzwischen? Einundzwanzig? Zweiundzwanzig?“

Sie reagierte nicht auf sein Frotzeln. „Ich bin fast sechsundzwanzig.“

Der achtjährige Altersunterschied zwischen ihnen war immer ein Problem gewesen. Als sie sich kennengelernt hatten, war sie gerade mal neunzehn gewesen, Sie hatte sich immer gefragt, ob ihre Ehe länger gehalten hätte, wenn sie damals reifer gewesen wäre. Aber wahrscheinlich wären sie dann gar nicht erst zusammengekommen. Weil sie schon auf den ersten Blick erkannt hätte, dass er kein Typ zum Heiraten war.

„Deine neue Frisur gefällt mir“, sagte er. „Und du hast recht, wir brauchen ein paar Grundregeln.“

Sie zeigte Richtung Esszimmer. „Wollen wir das beim Essen besprechen?“

„Hängt davon ab, wie viel deine Tante und Willis mitkriegen dürfen.“

Da war etwas dran. Emily wollte nicht, dass ihre Tante potenziell gefährliche Informationen über Wynter Corp aufschnappte. Bisher wusste sie nur, dass Emily Zeugin eines Mords geworden war.

Schuldgefühle stiegen in Emily auf. Sie hätte nicht herkommen dürfen. Was war, wenn jemand herausfand, dass Hazel ihre Tante war? Wenn ihr etwas zustieß? Emily erschauerte bei der Vorstellung. „Ich will nicht, dass meine Tante auch in die Wynter-Sache verstrickt wird.“

„Sehe ich genauso.“

„Komm mit.“

Sie führte ihn ins Wohnzimmer, das teils mit edlen, teils mit rustikalen Möbeln eingerichtet war, und spähte durch die Glastür des Weinkühlschranks. „Weißwein oder Rotwein?“

„Gibt es auch Bier?“

„Du hast dich nicht verändert.“ Sie öffnete den unteren Kühlschrank, nahm zwei Flaschen Bier heraus und reichte ihm eine.

Sean stieß mit ihr an und trank einen Schluck. „Schmeckt gut.“

Ein wenig Schaum blieb auf seiner Oberlippe zurück, und sie kam in Versuchung, ihn wegzuwischen. Oder besser noch abzulecken. „Wir wollten ein paar Grundregeln festlegen“, rief sie ihm ins Gedächtnis.

„Erst mal will ich herausbekommen, warum ich das Gefühl habe, schon mal hier gewesen zu sein. Gibt es hier irgendwelche Fotoalben?“

Genervt sah sie ihn an. „Ehrlich gesagt habe ich keine Lust, in irgendwelchen sentimentalen Erinnerungen zu schwelgen. Wir haben dringendere Probleme.“

„Ich will der Sache ja nur auf den Grund gehen. Wie lange wohnt Hazel hier schon?“

„Die Ranch ist nicht im Besitz unserer Familie, sondern gehörte Hazels verstorbenem Ehemann. Er hat sie nach ihr benannt. Sie waren sehr glücklich, hatten aber keine Kinder, weil er schon in den Fünfzigern war, als sie heirateten.“ Emily überflog die Buchrücken im Bücherregal, bis sie zwei Fotoalben fand. Sie zog sie heraus und trug sie zum Couchtisch. „Erinnerst du dich noch an die Journale, die ich immer gemacht habe? Ich habe ein altes Buch mit einem interessanten Einband genommen und die Seiten mit eigenen Zeichnungen, Gedichten und Fotos ersetzt.“

„Ich erinnere mich“, sagte Sean mit sanfter, beinahe zärtlicher Stimme. „Dein Verlobungsjournal war das schönste Geschenk, das ich je von dir bekommen habe.“

Sie ging zurück zur Bar, holte ihr Bier und kehrte damit zum Sofa zurück, um sich neben ihn zu setzen. „Ich mache immer tolle Geschenke, wie alle Frauen in meiner Familie.“

„Wie geht es ihnen eigentlich?“

„Meine Eltern leben inzwischen in Arizona und fühlen sich sehr wohl dort.“

„Und was halten sie von deinem jetzigen Job?“

Sie trank einen Schluck Bier. „Sie finden ihn ganz schrecklich.“

„Wissen sie von dem Mord?“

Emily verzog das Gesicht. „Großer Gott, nein!“ Ihre Mutter würde ausrasten, wenn sie wüsste, dass sie in Gefahr war.

Sie schlug das ältere der beiden Alben auf, in denen jede Menge Fotos von ihr und ihren Schwestern in chronologischer Reihenfolge eingeklebt waren. Wehmut stieg in ihr auf.

Wie ihre drei älteren Schwestern hatte sie immer versucht, es ihren Eltern recht zu machen, die großen Wert auf Bildung legten. Als sie ihnen mitgeteilt hatte, dass sie Lehrerin werden wollte, waren sie begeistert gewesen. Doch an der Uni war Emily vom Pfad abgewichen und war Dichterin, Bühnendarstellerin, Aktivistin und Fotografin geworden. Ihre Ehe und ihre Scheidung waren nur eine weitere Abweichung vom vorgezeichneten Weg gewesen.

Tante Hazel hatte immer mehr Verständnis für Emilys Freigeist gehabt. Sie hatte auch Sean geschätzt, den ihre Eltern für unpassend gehalten hatten. Wahrscheinlich hatte sie ihn nicht ohne Grund damit beauftragt, sie zu beschützen.

Als sie weiterblättern wollte, hielt Sean ihre Hand fest und zeigte auf ein Foto, auf dem sie eine weiße Häkelmütze mit Bommel trug und am Tor der Hazelwood Ranch stand. Sie musste damals fünf oder sechs gewesen sein.

„Da! Du hast einen Abzug dieses Fotos in das Journal geklebt, das du mir geschenkt hast. Ich muss es hundertmal gesehen haben. Mir sind die Hügel und die Biegung in der Straße nie aufgefallen, aber mein Unterbewusstsein muss sie sich gemerkt haben.“

Womit sich sein Déjà-vu erklärte.

„Wie können wir Hazel schützen?“, fragte sie.

„Wie wär’s mit Willis? Läuft da was zwischen den beiden?“

Emily und ihre Tante hatten bisher nicht über Hazels Liebesleben gesprochen, aber ihr war aufgefallen, dass Willis mindestens einmal täglich vorbeikam. „Warum fragst du?“

„Wir könnten ihn als Leibwächter für sie engagieren. Vielleicht wäre ihnen ein Vorwand, mehr Zeit miteinander zu verbringen, ja sogar ganz willkommen.“

„Keine schlechte Idee.“

„Ich würde ihn zwar nur ungern gegen eine Armee gewalttätiger Gangster mit Maschinengewehren einsetzen, aber das dürfte nicht nötig werden. Ich glaube kaum, dass Wynter dich hier aufspürt. Bist du sicher, dass er deine Fahrt hierher nicht verfolgen konnte?“

„Ich habe mein Flugticket unter einem falschen Namen gebucht, sämtliche Dateien auf meinem Computer gesichert und mein Handy weggeworfen, um nicht gefunden zu werden.“

„Woher wusstest du, wie du deine Spuren verwischst?“

„Aus dem Internet. Ich habe ein paar Beiträge darüber gelesen, wie man untertaucht. Und einiges aufgeschnappt, als wir verheiratet waren.“

„Du hattest doch immer etwas gegen meinen Job.“ Sean lehnte sich zurück und trank sein Bier. „Du hast mir jedes Mal Unehrlichkeit unterstellt, wenn ich eine neue Identität annehmen musste.“

Damals hatte sie das für absolut gerechtfertigt gehalten. Welche junge Ehefrau reagierte schon begeistert, wenn ihr Mann ihr mitteilte, dass er die nächsten zwei Wochen weder erreichbar sein würde noch ihr mitteilen konnte, was er machte. „Ich hatte jedes Recht, wütend zu sein! Du hast mir nie erzählt, worum es ging!“

Seine dunklen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, aber er wirkte trotzdem nicht bedrohlich. Dazu sah er viel zu gut aus. „Du hättest mir auch einfach vertrauen können.“

„Dir vertrauen? Ich kannte dich doch kaum!“

„Du warst meine Frau!“

Sie hatten nicht lange dafür gebraucht, ihre alten Streitigkeiten aufzuwärmen. Machte Sean das absichtlich? Sie wollte die alte Wunde nicht wieder aufreißen. „Können wir uns bitte auf die Gegenwart konzentrieren?“

„Kein Problem.“ Er streckte die langen Beine aus und legte die Füße auf den Couchtisch. „Zur Sicherheit werde ich Dylan bitten zu versuchen, deine Identität herauszubekommen. Wenn jemand es schafft, sich in deinen Computer zu hacken, dann er.“

„Das ist zwar völlig überflüssig, aber nur zu. Wie geht es Dylan übrigens?“

„Er erledigt den Computerkram bei uns. Und er hat eine Freundin gefunden, die genauso schlau ist wie er. Sie ist Neurochirurgin.“

„Das überrascht mich nicht.“

„Ich werde auch meine alten FBI-Kontakte nutzen, um mich über den Stand der Ermittlungen zu informieren.“ Er leerte sein Bier und stand auf. „So, das müsste reichen.“

„Wofür reichen?“

„Als Grundregeln“, erklärte Sean auf dem Weg zur Bar. „Du und Hazel seid hier sicher, solange ihr hierbleibt und mit niemandem redet. Hast du ein neues Handy?“

„Nein, ich benutze nicht zu lokalisierende Wegwerfhandys.“

„Und was ist mit deinem Computer?“

Sie schluckte. Ihr war bewusst, dass man ihren Computer auch aus der Ferne hacken und sie aufspüren konnte. Aber trotzdem wollte sie nicht auf ihn verzichten. „Ich habe sämtliche wichtige Dateien auf einen USB-Stick kopiert.“

„Ich muss ihn trotzdem unschädlich machen. Keine Anrufe außer mit Wegwerfhandys. Keine Nachrichten, keine Mails, keine Treffen.“

Eine Mischung aus Ärger und Frustration stieg in ihr auf. „Und wie soll ich arbeiten, wenn ich das Internet nicht benutzen darf?“

„Dylan kann dir vielleicht ein sicheres Netz einrichten, über das du mit deinem Arbeitgeber kommunizieren kannst.“

„Und was ist, wenn ich gar nicht hierbleiben will?“

„Ich könnte dich auch in einem unserer Verstecke oder in einem Hotel unterbringen.“ Forschend sah er sie an, nachdem er seine leere Flasche weggebracht hatte. „Worum geht es hier wirklich?“

„Ach, nicht wichtig.“

„Du hast immer gesagt, du hasst Lügen, und jetzt bist du selbst nicht ganz offen zu mir. Wenn du mir nicht alles erzählst, kann ich meinen Job nicht richtig machen.“

„Ich will nur nicht einfach den Kopf in den Sand stecken.“

„Wie meinst du das?“

„Ich will herausfinden, warum Roger Patrone ermordet wurde. Und ich will den Menschenhandel aus Asien stoppen.“

Er nickte. „Das wollen wir alle.“

„Aber dafür muss ich die Spuren verfolgen, die ich gefunden habe. Wenn ich mit Wynters Leuten vor Ort spreche, bekomme ich vielleicht Antworten. Oder ich könnte Informationen von ihren Computern runterladen. Beweise finden, die für das FBI nützlich sein könnten.“

„Wirklich?“ Er klang skeptisch. „Du willst tatsächlich weiterhin nachforschen und riskieren, Wynter auf dich aufmerksam zu machen?“

„So arbeiten Enthüllungsjournalisten nun mal!“

„Das hier ist kein Witz, Emily. Du hast doch gesehen, was mit den Menschen passiert, die sich mit Frankie Wynter anlegen! Es ist natürlich deine Entscheidung, ob du das Risiko eingehen willst oder nicht. Aber dann hättest du Hazel nicht mit reinziehen dürfen.“

Sean hatte völlig recht. Sie hätte nicht herkommen und schon gar nicht mit ihm reden dürfen. Ich soll dir vertrauen? Träum weiter!

Ihr Verhältnis ging schon wieder den Bach runter, aber wahrscheinlich war das besser so. Er irritierte sie mehr als ein kratziger Wollpullover an einem heißen Tag. Außerdem lenkte die Chemie zwischen ihnen sie von ihrer Arbeit ab. Sie sollte ihn bitten zu gehen. Ihm sagen, dass sie keinen Leibwächter brauchte.

Andererseits war Sean stark und reaktionsschnell und gut ausgebildet. Er wusste viel mehr über polizeiliche Ermittlungen und verdeckte Ermittlungsarbeit als sie. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie ihn doch brauchte.

„Dann komm mit nach San Francisco“, schlug sie vor. „Gleich morgen.“

3. KAPITEL

Um fünf am nächsten Morgen öffnete Sean die Läden des Küchenfensters, um einen Blick nach draußen zu werfen, während er darauf wartete, dass der Kaffee fertig wurde.

Der Schneesturm war vorbei. Schon bald würden das Telefon und das Internet wieder funktionieren, und nichts würde Emily mehr davon abhalten, nach San Francisco zurückzukehren. Sollte er sie als Leibwächter dorthin begleiten oder nicht?

Seine spontane Antwort gestern Abend war Nein gewesen. Es war viel zu riskant.

Beim Anblick der kahlen Zweige der Bäume vor dem wintergrauen Himmel erschauerte er. So kalt … so einsam …

Ihre Scheidung lag jetzt fünf Jahre zurück. Allmählich sollte er darüber hinweg sein, aber das war er nicht. Er vermisste Emily immer noch jeden Tag. Sie wiederzusehen und ihre Stimme zu hören, auch wenn sie sich meistens mit ihm stritt, hatte etwas in ihm zum Leben erweckt, das er tief in sich vergraben hatte.

Emily bedeutete ihm immer noch viel. Er konnte sie nicht einfach allein nach Kalifornien zurückkehren lassen! Sie brauchte Schutz, und niemand konnte sie besser beschützen als er. Wenn es sein musste, würde er für sie sterben … obwohl er es natürlich vorzog, das nicht zu tun.

Die Kaffeemaschine war endlich fertig. Er schenkte sich und Emily einen Becher ein – für ihn schwarz und für sie mit einem Schuss Milch. Vorsichtig trug er den Kaffee die Treppe hoch, öffnete ihre Tür und betrat ihr Zimmer.

Für einen Moment blieb er stehen, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er konnte die Umrisse von Emilys Körper unter der Decke erkennen, die sie sich bis unters Kinn hochgezogen hatte. Er stellte sich vor, wie ihr das dunkle Haar in die Stirn fiel und ihre Wimpern dunkle Halbmonde auf ihre Wangenknochen zeichneten. Sie war noch so schön wie früher – schöner sogar.

Gestern hatte sie behauptet, sich verändert zu haben, und in mancher Hinsicht musste er ihr recht geben. Sie war härter geworden, kam direkter zur Sache.

Er stellte die Becher auf dem Nachttisch ab und setzte sich auf die Bettkante.

Blinzend schlug sie die Augen auf. „Hat es aufgehört zu schneien?“

Er nickte.

„Hast du deine Meinung geändert?“

„Hast du?“

Schlaftrunken setzte sie sich auf, in ihre Decke gehüllt wie in einen Kokon. Sie knipste die Nachttischlampe an und griff nach ihrem Becher. „Ich brauche erst mal einen Koffeinschub, bevor wir weiterstreiten.“

„Das müssen wir gar nicht. Ich habe nämlich beschlossen, dir bei deinen Nachforschungen zu helfen. Und dir außerdem die Dienste meines Bruders als Computergenie und Hacker anzubieten.“

Verblüfft sah sie ihn an. „Danke.“

„Es gibt keine Direktflüge von Aspen nach San Francisco, sodass wir in Denver zwischenlanden müssen. Wenn wir schon mal dort sind, sollten wir die Gelegenheit nutzen, mit Dylan zu reden. Er könnte sich bei Wynter Corp einhacken und dir die Informationen verschaffen, die du brauchst.“

Doch das war nicht der einzige Grund für seinen Vorschlag, einen Zwischenstopp in Denver einzulegen. Er wollte Emilys Rückkehr nach San Francisco so lange wie möglich hinauszögern, weil sie dort in großer Gefahr sein würde. Seiner Meinung nach gab es schon genug Enthüllungsjournalisten auf der Welt. Aber nur eine Emily Peterson.

Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass du mir nicht die ganze Wahrheit sagst.“

Er schnaubte. „Warum sollte ich lügen?“

„Sehr raffiniert, meine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten.“ Ihre Mundwinkel zuckten belustigt. „Diese Technik ist bei Lügnern sehr beliebt.“

„Glaub, was du willst.“ Er stand auf und stellte seinen halb leeren Becher auf den Nachttisch. „Ich halte es einfach für sinnvoll, Dylans Dienste zu nutzen. Er ist Profi, gut vernetzt und lässt sich nicht erwischen.“

Emily ließ ihre Decke los und kniete sich hin. Sie trug ein viel zu großes Flanelloberteil, das ihr fast bis zu den Knien reichte. Es kam Sean irgendwie bekannt vor. „Ist das etwa meins?“

Sie senkte den Blick. „Was, das?“ Im Gegensatz zu ihm war sie eine miserable Lügnerin. „Warum sollte ich dein Pyjamaoberteil tragen?“

„Keine Ahnung. Aber ich freue mich, dass du es behalten hast.“

„Ich trage so gut wie nie Flanell. Aber als ich nach Colorado flog, wollte ich etwas Warmes einpacken.“ Sie warf ihr Haar aus dem Gesicht. „Ich hatte vergessen, dass es dir gehört.“

Noch eine Lüge.

Er fragte sich, ob sie an ihn gedacht hatte, als sie ihren Koffer gepackt hatte. Hatte sie ihn genauso vermisst wie er sie? Hatte sie sich vorgestellt, in seinen Armen zu liegen, wenn sie mit seinem Oberteil im Bett gelegen hatte?

Instinktiv trat er näher und nahm sie in die Arme. Sie fühlte sich herrlich warm an.

Emily räusperte sich errötend. „Was machst du da?“

„Ich umarme dich, damit dir nicht kalt wird.“

Er ließ die Hände über ihren Rücken gleiten, über ihre Wirbelsäule und ihre Hüften bis hin zu ihrem prallen, runden Po. Sie fühlte sich unglaublich sexy an. Sie war sogar noch anziehender geworden, falls das überhaupt möglich war – durchtrainierter, fester.

Als er sie hochhob, keuchte sie erschrocken auf. „Grundregeln“, stieß sie hervor. „Wir brauchen definitiv welche.“

Er hob ihr Kinn und wartete, bis sie die Augen aufschlug und ihn ansah. „Du bist doch sonst immer die Spontane von uns beiden, Emily. Lass dich einfach fallen – folge deinen Instinkten.“

„Ich kann nicht.“

Der verzweifelte Unterton in ihrer Stimme hielt ihn davon ab weiterzugehen, obwohl alles in ihm dazu drängte, ihr das Oberteil auszuziehen und sich mit ihr unter die Decke zu legen. Aber er wollte ihr nicht wehtun. „Nur einen Kuss“, bat er. „Auf den Mund.“

„Okay, aber nur einen!“

„Und einen auf den Hals und einen auf deine Brüste und dann noch einen auf …“

„Vergiss es! Ich sollte gar nicht mit dir verhandeln. Es wird gar keine Küsse geben.“ Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, aber er ließ sie nicht los. „Keine Berührungen, keine Umarmungen. Überhaupt keine Intimitäten.“

„Du hast mir einen Kuss versprochen“, rief er ihr ins Gedächtnis.

Emily seufzte. „Also gut.“ Sie kniff die Augen zu und hob das Gesicht. Ihre Lippen fühlten sich steif an – wahrscheinlich, weil sie gerade die Zähne zusammenbiss. Sean beschloss, sie trotzdem weiter zu küssen. Er wusste genau, was hinter ihrem Widerstand steckte. Sie hatte immer noch Gefühle für ihn.

Er küsste sie langsam und zärtlich, fast keusch, bis er an ihrer Unterlippe zu saugen begann. Er knöpfte ihr Pyjamaoberteil auf und ließ eine Hand hineingleiten, um die Konturen ihres Oberkörpers mit den Fingerspitzen zu erforschen. Als er unter ihren Brüsten ankam, stöhnte sie.

„Ach, Sean“, flüsterte sie. „Ich kann nicht.“

Er nahm die Hände weg, vertiefte jedoch seinen Kuss, indem er die Zunge zwischen ihre Lippen gleiten ließ.

„Bitte hör nicht auf“, murmelte sie erschauernd, bevor sie seinen Kuss erwiderte und seine Hand zu ihren Brustwarzen zog. Heftiges, unaufhaltsames Verlangen ergriff sie.

Doch plötzlich war es vorbei. Sie ließ sich zurück aufs Bett fallen und deckte sich von Kopf bis Fuß zu.

Sean gefiel die Wirkung, die er auf sie hatte.

Und umgekehrt? Seinen heftigen Herzschlag und seine steinharte Erektion konnte er nicht ignorieren, aber seine Empfindungen reichten viel tiefer.

„Was die Grundregeln angeht“, sagte er. „Sag bitte nicht, dass körperliche Nähe nicht erlaubt ist. Wenn ich dich nicht berühren darf, wenn ich in deiner Nähe bin, werde ich noch verrückt.“

Sie kroch unter der Decke hervor. „Aber du machst mir Angst. Ich will mich nicht wieder in dich verlieben.“

Wäre das denn so schlimm? Er hatte sich ebenfalls verändert. Er war nicht mehr derselbe wie vor fünf Jahren. Mittlerweile war er toleranter, geduldiger und respektvoller geworden.

Diese Veränderungen hatte er zum Großteil seiner enger gewordenen Beziehung zu seinem Bruder zu verdanken. Er hatte gelernt, im Team zu arbeiten, und musste nicht mehr ständig den Ton angeben.

Inzwischen würde er auch mit Emily anders umgehen. Als sie noch verheiratet gewesen waren, hatte er oft ungeduldig und gereizt reagiert, wenn sie ihn über seine Arbeit ausgefragt hatte. Sie hatte einfach nicht verstehen wollen, dass man als verdeckter Ermittler absolut dichthalten musste. Und dass es nichts zu bedeuten hatte, wenn man undercover eine andere Frau küsste. Wie auch? Für ihn war sie immer die perfekte Frau gewesen.

„Okay, Grundregel Nummer eins: Verlieben verboten.“

„Klingt vernünftig. Schreib das auf.“

Er setzte sich an den kleinen Schreibtisch, griff nach einem Notizblock und einem Kugelschreiber und notierte die erste Regel. „Was ist mit Berührungen, Küssen, Lecken, Saugen …“ Er verstummte. „Ich kann die Worte noch nicht mal aussprechen, ohne es sofort tun zu wollen.“

„Geht mir genauso. Im Bett haben wir immer perfekt harmoniert.“

„Stimmt.“

„Wie wär’s hiermit?“, schlug sie vor. „Keine öffentliche Zurschaustellung von Zuneigung?“

Er schrieb es auf. „Damit kann ich leben.“

Sie setzte sich auf die Bettkante und griff nach ihrem Kaffeebecher. „Und kein Körperkontakt, es sei denn, ich ergreife die Initiative.“

Das gefiel ihm schon viel weniger. „Darf ich denn gar nichts sagen?“

„Du meinst Dirty Talk?“

Er grinste. „Nicht unbedingt. Aber vielleicht so etwas in der Art wie: ‚Ich will deine Wange berühren.‘“ Um zu demonstrieren, was er meinte, ging er zurück zu ihr und ließ eine Hand über ihr Gesicht gleiten. „Oder: ‚Ich will deine Stirn küssen.‘“

Als er sich vorbeugte, schob sie sein Gesicht weg. „Du darfst fragen, aber ich habe ein Veto-Recht. Ich darf jederzeit Nein sagen.“

„Aber was bleibt mir dann noch übrig?“, fragte er auf dem Rückweg zum Schreibtisch.

Sie lächelte durchtrieben. „Zu betteln?“

„Das schreibe ich auf keinen Fall auf.“ Sein Handy klingelte, und er zog es aus seiner Hosentasche hervor. „Wir scheinen wieder Kontakt zur Außenwelt zu haben.“

„Wer ist das?“

„Ich erkenne die ID nicht, aber wahrscheinlich Dylan. Er spielt gern mit den Codes herum.“

Sein Bruder kam ohne Umschweife zur Sache: „Ich habe das Signal gestört, damit niemand euch orten kann. Wir müssen uns daher kurzfassen.“

„Okay.“

„Ich hatte gerade einen Anruf vom FBI, von einem Agenten namens Levine aus San Francisco. Rate mal, wen er kontaktieren wollte.“

Autor

Cassie Miles
Cassie Miles, USA-TODAY-Bestseller-Autorin, lebt in Colorado. Nachdem sie zwei Töchter großgezogen und tonnenweise Käse-Makkaroni für ihre Familie gekocht hat, versucht sie inzwischen, bei ihren kulinarischen Bemühungen etwas abenteuerlustig zu sein. Sie hat festgestellt, dass mit Wein fast alles besser schmeckt. Wenn sie sich nicht gerade spannende Handlungen für Mills&Boon-Bücher ausdenkt,...
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