Bianca Exklusiv Band 333

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DAS GEHEIMNIS VON HEARTLANDIA von LYNNE MARSHALL

Was soll Desi mit den zärtlichen Gefühlen machen, die ihr neuer Nachbar in ihr weckt? Sie will doch nicht für immer in Heartlandia bleiben, will hier nur einem Familiengeheimnis auf die Spur kommen! Doch wenn sie wieder geht, lässt sie ihr Herz bei dem smarten Arzt Kent Larson …

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  • Erscheinungstag 26.02.2021
  • Bandnummer 333
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501118
  • Seitenanzahl 236
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lynne Marshall, Susan Fox, Donna Alward

BIANCA EXKLUSIV BAND 333

1. KAPITEL

Desi wünschte, sie hätte eine Taschenlampe, als sie im Dunkeln um das alte Haus schlich. Ein Dorn eines ebenso alten und knorrigen Busches drang durch ihr T-Shirt und bohrte sich ihr in die Haut.

„Autsch!“ Sofort bereute sie den Aufschrei, denn es war fast Mitternacht. Was hat Gerda gesagt, wo der bemalte Stein liegt?

Ihre Großmutter, der Desi in ihren 28 Lebensjahren nur selten begegnet war, hatte ihr vorhin am Telefon beschrieben, wo der Zweitschlüssel zu ihrem Haus versteckt war. Entschlossen, Grandma Gerda nicht zu wecken, stapfte Desi durch das hohe Gras.

Da war er! Der gesuchte Stein lag am Pfosten der Holztür und leuchtete im hellen Mondschein wie Neonfarbe bei Schwarzlicht. Vorsichtig tastete Desi darunter nach der kleinen Schachtel, die den Hausschlüssel enthielt. Kaum hatte sie ihn herausgenommen, stieg ihr der Jasminduft aus dem Garten in die Nase, und sie musste niesen. Sie ließ den Schlüssel fallen und suchte auf Händen und Knien danach.

Wirklich ein Glück, dass der Mond schien. Sekunden später eilte sie mit dem Schlüssel zur Veranda. Sie stolperte über einen lockeren Pflasterstein und verlor fast das Gleichgewicht. Als sie sich wieder aufrichtete, blendete sie ein heller Lichtstrahl.

„Wer ist da?“, fragte eine tiefe Stimme.

Sie hielt sich die Arme vor die Augen. „Ich bin Mrs. Rasks Enkeltochter. Wer sind Sie?“

Der Lichtstrahl senkte sich, und Desi sah einen hünenhaften Umriss. Hätte sie doch bloß mit dem Kickboxen weitergemacht …

„Ich bin Kent, Gerdas Nachbar.“ Der Mann musterte sie misstrauisch. „Sie hat mir nie etwas von einer Enkelin erzählt.“

Natürlich nicht. Niemand sollte etwas von ihr wissen. Schon gar nicht in einer skandinavischen Hochburg wie Heartlandia am Columbia River in Oregon, wo Menschen wie sie sofort als Exoten auffielen.

„Soll das heißen, Sie sind Esters Tochter?“

Offenbar wusste er, wer ihre Mutter war … oder gewesen war. „Ja. Könnten Sie bitte die Taschenlampe ausschalten und leiser sprechen? Ich will meine Großmutter nicht wecken. Ich hatte keine Ahnung, dass die Fahrt von Portland nach Heartlandia so lange dauern würde.“ Sie hatte spontan einen Umweg durch die Großstadt gemacht. Vielleicht lebte ihr Vater noch dort. Um sich kein Motel leisten zu müssen, war sie durchgefahren. „Ich habe zweieinhalb Stunden gebraucht. Was hat Oregon eigentlich gegen Straßenbeleuchtung?“, flüsterte sie. „Auf dem Highway 30 wimmelt es von schwarzen Löchern.“

Sie zupfte sich die Blätter aus dem Haar und wischte Staub von ihren Händen, bevor sie ihm eine entgegenstreckte. „Übrigens, ich heiße Desi Rask.“

Erst jetzt registrierte sie, wie groß der Mann war. Mit eins fünfundsiebzig musste sie nicht oft zu jemandem aufsehen. Er war mindestens eins neunzig. Und blond. Wie ein nordischer Gott. „Kent Larson.“ Er schüttelte ihre Hand, die sich in seiner geradezu winzig anfühlte. „Ihre Mutter hat auf mich aufgepasst, bevor …“

Bevor sie von zu Hause weggelaufen ist. Desi kannte die Geschichte. Ihre Mutter, die Pianobar-Königin des Mittleren Westens, hatte es ihr erzählt, bevor sie gestorben war.

„Desdemona? Bist du das?“, rief eine dünne Stimme. „Kent?“

Desi unterdrückte ein Seufzen. „Ja, ich bin es. Dein Empfangskomitee von nebenan musste mich erst noch verhören.“

„Das stimmt nicht“, widersprach der Wikinger namens Kent. „Da Mrs. Rask unsere Bürgermeisterin ist, habe ich ein Auge auf ihr Haus, das ist alles.“

Er hatte ihr nicht geglaubt. Wunderte sie das? Nein, schließlich war sie halb schwarz und sah ganz anders aus als der Nordmann oder ihre ebenso hellhäutige Großmutter, die Bürgermeisterin von Heartlandia.

Kent brauchte nicht lange, um eins und eins zusammenzuzählen. Ester Rask war als Teenager von zu Hause weggelaufen. Er war damals acht gewesen, so alt wie sein Sohn Steven jetzt, und erinnerte sich noch daran, dass man erfolglos nach Ester gesucht hatte. Sie war nie für tot, sondern nur für verschollen erklärt worden. Irgendwann hatten seine Eltern nicht mehr darüber gesprochen und ihm einen neuen Babysitter besorgt. Das war jetzt achtundzwanzig Jahre her.

Jetzt ahnte er, warum Ester davongelaufen war – sie musste schwanger gewesen sein.

Als Gerda das Verandalicht einschaltete, konnte Kent die nächtliche Besucherin erstmals genauer betrachten. Desdemona oder Desi, wie sie sich nannte, war groß und sportlich und hatte ausdrucksvolle braune Augen, einen vollen Mund und ebenmäßige, milchkaffeefarbene Haut.

Das gelbe Oberteil war ihr von einer Schulter gerutscht und gab den Blick auf den Träger eines schwarzen Tanktops frei. Zur mitternachtsblauen Jeans trug sie flache schwarze Schuhe. Dichtes dunkles Haar umspielte die Schultern, und unwillkürlich stellte Kent sich vor, wie er in den aufregenden Wellen und Locken wühlte. Mit acht hatte er für seine Babysitterin geschwärmt, und jetzt erging es ihm mit ihrer Tochter nicht anders.

Sie hatte sich als Desi Rask vorgestellt, also hatte Ester vermutlich nicht geheiratet.

„Wollen Sie nicht hereinkommen?“, fragte die Bürgermeisterin.

„Steven schläft. Ich muss zurück.“

Desi umarmte ihre Großmutter nicht, sondern lächelte ihr nur höflich zu. „Ich muss meine Sachen holen“, sagte sie und eilte zu einem mindestens zwanzig Jahre alten Kombi.

„Ich helfe Ihnen“, bot er spontan an und folgte ihr. Sie hatte zwei Koffer, einige Kartons, diverse Haushaltsgegenstände und eine Topfpflanze dabei. Wollte sie etwa hier einziehen?

„Ich brauche nur den kleinen Koffer.“

Oder war sie auf der Durchreise?

„Den Rest kann ich morgen früh holen.“

Würde sie noch da sein, wenn er von der Arbeit kam?

„Nehmen wir den hier auch noch mit“, sagte er und brachte beide Koffer ins Haus seiner Nachbarin, um dafür zu sorgen, dass Gerda länger als nur eine Nacht etwas von ihrer Enkeltochter hatte. „Alles in Ordnung?“

Gerda nickte. „Sie kann Esters altes Zimmer haben. Nach oben und den Flur entlang.“

Kent trug die Koffer um den Flügel im Wohnzimmer herum, auf dem er – wie Steven jetzt – Klavierspielen gelernt hatte, und ging die Treppe hinauf. Er stellte das Gepäck ins dritte Zimmer auf der linken Seite, in dem er als Kind so manchen Abend mit Ester verbracht hatte.

Als Arzt und Teilhaber der örtlichen Notfallklinik hatte er morgen Frühschicht. „Willkommen in Heartlandia, Desdemona. Ich muss wieder los.“

Ihr Blick war so misstrauisch wie seiner vorhin.

„Gerda, ich schaue morgen wieder vorbei.“

„Sagen Sie Steven, er soll fleißig üben“, erinnerte sie ihn daran, dass sein Sohn sich alle möglichen Ausreden einfallen ließ, um sich vor der Klavierstunde zu drücken.

Kent lag im Bett, starrte an die Decke und dachte daran, wie Ester Rask davongelaufen und nie zurückgekommen war. Damals war er acht gewesen und erst jetzt begriff er, dass sie es getan hatte, weil sie schwanger gewesen war. Im letzten Jahr war sie gestorben, und Gerda war zutiefst erschüttert gewesen, hatte jedoch kaum darüber gesprochen.

Jetzt war Esters Tochter aufgetaucht.

Obwohl er so heftig auf ihre exotische Schönheit reagiert hatte, waren es vor allem die großen, fragend und wachsam blickenden Augen, die ihm nicht aus dem Kopf gingen. Warum quälte er sich damit? Es hatte doch keinen Sinn. Nach sieben Jahre Ehe hatte er es nicht mal geschafft, seine eigene Frau zum Bleiben zu bewegen. Nicht einmal Stevens wegen. Er biss die Zähne zusammen, drehte sich auf die Seite und befahl sich, nicht länger an die geheimnisvolle Besucherin zu denken, damit er endlich einschlafen konnte.

Am nächsten Morgen zog Desi ein altes Sweatshirt und ausgebeulte Jeans an und ging nach unten. Gerda las Zeitung und sprang sofort auf, als ihre Enkelin die Küche betrat. Wie Fremde nickten sie einander zu.

„Ich trinke keinen Kaffee, aber ich habe welchen, falls du möchtest.“

„Zeig mir, wo er ist, dann koche ich mir einen.“

Ihre Großmutter zeigte auf einen Wandschrank. „Deine Mutter hat schon als junges Mädchen Kaffee getrunken. Ich hatte immer Angst, dass sie deshalb nicht weiterwächst, und sie war auch ja auch nur eins fünfzig, als sie davonging. Ich weiß, es ist albern, aber auch danach habe ich immer noch ihre Lieblingsmarke gekauft. Selbst als ich wusste, dass sie nie zurückkehrt.“

Desi eilte zu ihr und legte die Hände auf die schmalen Schultern. Zaghaft tastete die alte Frau mit knochigen Fingern nach einer Hand und tätschelte sie. „Ich habe sie so oft angefleht, nach Hause zu kommen.“

„Mom hat es mir erzählt.“ Ihre Mutter hatte sich in den letzten Monaten ihres Lebens so zerbrechlich angefühlt wie Gerda jetzt. „Um mich musst du dir keine Sorgen machen. Ich bin eins fünfundsiebzig.“

Gerda lächelte matt. Desi kochte Kaffee, während ihre Großmutter Tee trank und Toast mit Marmelade aß. Orangenmarmelade, wie ihre Mom.

Da Gerda in ihre Morgenzeitung vertieft zu sein schien und Desi ohnehin nicht wusste, worüber sie reden sollte, ging sie mit ihrem Becher ins Wohnzimmer. Nach dem ersten Schluck stellte sie ihn ab und klappte den Deckel des alten Flügels hoch.

Fast zärtlich strich sie über die Tasten. Zusammen mit dem Haus in Los Angeles hatte sie auch das Klavier ihrer Mutter verkaufen müssen, um die Behandlungskosten zu bezahlen. Die Musik und das Talent ihrer Mutter hatten ihnen geholfen, in harten Zeiten zu überleben. Und von denen hatte es viele gegeben.

Als Desi alt genug war, um zu arbeiten, konnten sie sich endlich ein eigenes Dach über dem Kopf leisten. Sie hatte sich immer gefragt, woher das Geld für die Anzahlung gekommen war. Vermutlich von ihrer Großmutter. Dann wurde Ester Rask krank und vier Jahre später erlag sie dem Krebs. Selbst danach hatte Desi hohe Rechnungen begleichen müssen.

Wie so oft, wenn sie traurig oder melancholisch war, fand sie Trost in der Musik. Zuerst spielte sie Beethovens „Für Elise“, dann eine Nocturne von Chopin, bis sie ihre Sorgen und Ängste vergaß und ihre Hände ermüdeten. Es war nicht perfekt gewesen, schließlich hatte sie vier Monate kein Klavier mehr berührt, trotzdem tat es gut.

Sie nippte am lauwarmen Kaffee, und als sie den Kopf hob, sah sie Gerda in der Küchentür stehen. In ihren blassen Augen glitzerten Tränen.

„Deine Mutter hat dir viel beigebracht.“

Desi nickte. „Ja, das hat sie. Sie hat die Musik geliebt, aber das weißt du bestimmt.“

„Sie hat das Klavierspielen von mir gelernt. Sie war ein Naturtalent.“

Fast hätte Desi die Fragen ausgesprochen, die ihr im Kopf herumschwirrten: Warum musste Mom weglaufen? Warum hat sie so selten über dich gesprochen? Warum gab es für sie nur uns beide? Was war so schrecklich, dass sie alle Brücken hinter sich abgebrochen hat?

„Spielst du noch?“, fragte sie stattdessen.

Mit leuchtenden Augen ging Gerda zum Flügel. „Ich bin nicht nur amtierende Bürgermeisterin von Heartlandia, sondern auch die meistbeschäftigte Klavierlehrerin der Stadt.“ Ein stolzes Lächeln glättete ihre eingefallenen Wangen, als sie sich zu Desi auf die Bank setzte. „Für Schüler unter zwölf, um genau zu sein.“

Gerda schmunzelte, und Desi fröstelte, denn bei ihrer Mutter hatte es genauso geklungen. Auch wenn Gerdas blaue Augen jetzt milchig waren, so ähnelten sie doch denen ihrer Tochter, und das weiße Haar war bestimmt einmal blond gewesen.

Desis Mutter hatte selten über die Familie gesprochen. In ihrer Kindheit hatte es für sie nur die Straße, Hotels und ihre Mom gegeben. Sie hatte immer den Verdacht gehabt, dass sie beide allein waren, weil ihr Vater schwarz war. Ihre Mutter arbeitete für eine Hotelkette und zog von Stadt zu Stadt, daher hatte sie nie Freunde gefunden. Erst am Sterbebett ihrer Mutter hatte Desi nach Gerda gefragt und erfahren, dass der Vater, den sie nie kennengelernt hatte, Victor Brown hieß.

Gerda stimmte ein Duett an, das Desi von ihrer Mutter kannte. Ohne dass ihre Großmutter sie dazu auffordern musste, spielte sie ihren Part in den höheren Lagen.

Sie lächelten einander zu, und Desi war froh, dass die Musik sie beide ein wenig näherbrachte. Abgesehen davon fühlte sie sich in Heartlandia wie in einem fremden Land.

„Du bist also die Bürgermeisterin?“, fragte sie danach.

„Ich habe mich nicht darum gerissen, aber sie wollten jemanden aus einer alteingesessenen Familie. Ich bin nur eingesprungen. Es bringt viel Arbeit mit sich.“

„Und jetzt bin ich auch noch da.“

„Desdemona, ich wünschte, wir beide könnten noch mal ganz von vorn anfangen. Deine Mutter ist weggelaufen, weil sie sich ihrer Schwangerschaft geschämt hat. Wir haben sie erst nach deiner Geburt gefunden, und ich gebe zu, Edvard und ich waren überrascht, als wir dich gesehen haben. Ester war immer sehr empfindlich, und ich wollte nicht, dass sie dachte, ich würde … Du warst meine Enkeltochter. Ich habe dich sofort geliebt. Aber Edvard …“

„… konnte nicht akzeptieren, dass ich dunkelhäutig bin?“

„So einfach ist es nicht, Desdemona. Bitte glaub das nicht.“

Was denn sonst?

„Ich wollte dich und Ester mit nach Hause nehmen. Aber sie hat sich geweigert.“ Gerda sah ihrer Enkelin in die Augen. „Ich habe auf euch aufgepasst, so gut ich konnte, selbst aus der Entfernung. Und wenn Ester in Not war, habe ich Geld geschickt.“

Desi konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals anders als aus der Hand in den Mund gelebt hatten. Aber dann hatten sie sich plötzlich ein kleines Haus gekauft. Gerade noch rechtzeitig, denn wegen der Chemotherapie hatte ihre Mutter nicht mehr umherreisen können. Hatte sie das Geld dafür gespart, oder hatte Gerda geholfen? Danach hatte Ester sich etwas erholt und wieder arbeiten können, doch der Krebs war zurückgekehrt. Selbst dann war Ester nie nach Heartlandia gefahren.

„Warum haben wir dich nie besucht?“ Das war die Frage, die ihre Mutter niemals beantwortet hatte.

„Ich habe euch immer wieder eingeladen. Aber deine Mutter … wollte wohl mit ihrem Zuhause nichts mehr zu tun haben.“

Desi wurde noch schwerer ums Herz. Sie plauderten noch ein wenig und spielten einige Duette, bis Gerda ins Rathaus musste. Desi duschte, zog sich an und ging in den Garten.

Weiße, rote, lachs- und roséfarbene Rosen verströmten ihren Duft, in einer Ecke des Gartens wuchs ein fast drei Meter hoher Hibiskus, und mit dem spitzen Dach und dem Erker mit rundem Fenster wirkte das leuchtend gelbe Haus wie aus einem Märchen. Desi ging darum herum und schaute zu dem teilweise überdachten Balkon an der Vorderfront hinauf. Was für ein malerischer Ort … das Zuhause, von dem ihre Mutter weggelaufen war.

Das Gebäude nebenan war weiß, nur die blaue Tür an der Seite sorgte für etwas Farbe. Kents Haus wirkte fast klinisch. Wie eine Kirche. Sie ging zur Pforte, um es genauer zu betrachten. Warum hatte der Mann das langweiligste Haus im Viertel? Sie ließ den Blick dorthin wandern, wo der imposante Columbia River an den Eisenbahnschienen und den Hafenanlagen vorbeiströmte. Das Wasser glitzerte in der Sonne, und in der Ferne ragte die längste Brücke auf, die sie je gesehen hatte.

Obwohl es Juni war, fröstelte sie in ihrem dünnen Pullover. Die Blockhäuser, die zwischen den viktorianischen Häusern am Ufer standen, erinnerten sie an ihre skandinavische Herkunft. Ihr Nachname, Rask, war dänisch, aber von ihrer Mutter wusste sie, dass in Heartlandia auch Norweger, Schweden, Finnen, Isländer und Nachfahren der Ureinwohner vom Stamm der Chinooks lebten. Ester hatte einem Idyll den Rücken gekehrt, einer Kleinstadt, die aus der Zeit gefallen zu sein schien. Heartlandia. Oder Hjartalanda, wie sie auf dem Willkommensschild am Ortseingang hieß. Darunter stand: Finde dein Zuhause in Heartlandia.

Konnte sie das? Konnte dieser malerische Ort die Leere in ihr füllen?

Sie ging in ihr Zimmer. Sie war nicht nur hier, um endlich ihre Großmutter kennenzulernen, sie war auch ihres Vaters wegen hergekommen. Zwei Stunden später klappte sie den Laptop zu und machte sich mit knurrendem Magen auf die Suche nach etwas Essbarem. Gerda war zurück und kämpfte gerade mit dem störrischen Verschluss eines Einmachglases.

„Lass mich das machen.“

Gerda lächelte betrübt. „Meine Arthritis ist heute mal wieder besonders schlimm.“ Sie rieb sich die Hände. „Ich glaube, ich sollte die Klavierstunden morgen absagen.“

„Wie viele Schüler hast du?“

„Morgen vier. Dienstags und donnerstags unterrichte ich von zwei bis sechs. Montags, dienstags und freitags bin ich Teilzeitbürgermeisterin.“

„Alles Kinder?“

Ihre Großmutter nickte und suchte im Wandschrank nach dem richtigen Medikament.

„Fortgeschrittene?“

„Du meine Güte, nein, alles Anfänger.“ Sie schüttelte zwei Tabletten auf ihre Handfläche. „Die nächste Generation der großen Talente, wie ich den Eltern immer erzähle.“

„Soll ich dich vertreten?“

„Das kann ich nicht von dir verlangen.“ Gerda füllte ein Glas mit Wasser und schob die Tabletten in den Mund.

„Du lässt mich hier wohnen, solange ich will, da ist das das Mindeste, was ich tun kann.“

„Na gut, wenn du darauf bestehst.“

Am nächsten Nachmittag um fünf klopfte der letzte Schüler zaghaft an die Haustür. Desi öffnete und sah einen Jungen mit hellblondem Haar und blauen Augen vor sich. „Hi! Bist du Steven von nebenan?“

Er nickte. „Ist Mrs. Rask da? Ich habe jetzt Unterricht.“ Er wedelte mit seinen Übungsbüchern.

„Ich vertrete sie heute. Sie ist meine Großmutter.“

Seine Augen wurden groß. „Wirklich? Wow. Sie sehen gar nicht aus wie sie. Sie sind hübsch.“

Desi lachte. Der Junge war ein Charmeur. Sein Vater konnte noch viel von ihm lernen.

Gerda hatte ihr erzählt, dass Steven acht Jahre alt und durchaus begabt war, aber sich nicht genug anstrengte, um größere Fortschritte zu machen. Ihre Aufgabe war es, in ihm Begeisterung für die Musik zu wecken. Keine leichte Sache für eine Aushilfslehrerin.

Desi ging mit ihm zum Flügel, zog die Sitzbank heraus und legte ein Bonbon so hin, dass der Junge es sehen konnte. „Den bekommst du, wenn du mir deine schriftlichen Hausaufgaben zeigst.“

Steven zog eine Grimasse. „Die habe ich vergessen.“

Sie unterdrückte ein Lächeln, legte das Bonbon in die Schale zurück und schlug sein Übungsheft auf. „Dann machen wir sie zusammen, okay?“

Unter ihrer Anleitung trug er Notennamen in den Fragebogen ein und zeichnete Notenschlüssel. Danach strahlte er, und sie klebte zwei Sterne ins Heft. Dann nahm sie das Bonbon wieder aus der Schüssel. „Spielst du jetzt etwas für mich?“

Er schlug die Noten auf und rang dem Flügel unbeholfen und mit zu hartem Anschlag die richtigen Töne ab, aber Desi sah ihm an, dass er sich große Mühe gab. Geduldig arbeitete sie mit ihm, bog seine Finger, begradigte die Handgelenke und stieß ihn behutsam an, bis er sich gerade hinsetzte. Als er die Schultern immer wieder hängen ließ, ging ihr auf, dass er es zu genießen schien, wie sie die Fingerspitzen an seiner Wirbelsäule nach oben wandern ließ.

„Das kitzelt“, sagte er nach der dritten Ermahnung und lächelte sie an.

Als sie ihm die schwierigeren Passagen vorspielte, legte er den Kopf an ihren Oberarm. Der Junge sehnte sich nach Zuwendung, und vielleicht konnte sie das nutzen, um einen anständigen Klarvierspieler aus ihm zu machen.

„Möchtest du ein anderes Stück lernen?“

„Ja, das hier ist irgendwie blöd.“

Sie spielte ihm einen einfachen Blues-Song vor. Sofort setzte Steven sich gerade hin. Sie schlug die Seite mit den Noten auf und zeigte ihm, wie man die ersten Takte spielte. Der Rhythmus schien ihm zu gefallen, und schon bald bewegte er die Schultern dazu.

„Du wohnst doch nebenan, nicht wahr?“, fragte sie nach einer Weile.

Er nickte.

„Wenn du unter der Woche nach der Schule herkommst, darfst du auf dem Flügel üben, okay?“

„Sind Sie dann auch hier?“

„Klar. Wenn du möchtest, helfe ich dir sogar.“

„Okay!“

Kaum hatte sie ihm die Hausaufgaben notiert, läutete es, und sie sprang auf. Es war der Wikinger, athletisch, mit einem durchdringenden Blick, der erst sie, dann das Innere des Hauses erfasste. Sie hatte ganz vergessen, wie groß Kent war. Bei Tageslicht raubten seine markanten Züge und strahlend blauen Augen ihr fast den Atem. Schade, dass er immer so ernst dreinschaute. Er trug ein dunkelblaues Polohemd, dessen Ärmel seine muskulösen Oberarme fest umschlossen. Auch die Jeans betonten seine sportliche Figur.

Sie ignorierte das Kribbeln im Bauch. „Kommen Sie herein, wir sind fertig.“

„Hi, Dad!“

„Hey, Sohn.“

Steven sammelte seine Sachen zusammen und eilte zu ihm. „Mrs. Desi ist eine echt coole Lehrerin!“ Sie umarmten sich, und Desi sah ihnen an, wie gern sie einander hatten. Es war die Wir-beide-gegen-den-Rest-der-Welt-Liebe, die auch sie und ihre Mom füreinander gefühlt hatten. Ihr wurde warm ums Herz. Vielleicht sollte sie nicht gar so streng zu dem Hünen sein.

„Das freut mich“, erwiderte er und warf Desi einen besorgten Blick zu. „Übernehmen Sie ab jetzt für Mrs. Rask?“

„Nur heute. Ihre Arthritis macht ihr wieder zu schaffen.“

„Unterrichten Sie mich nächste Woche nicht?“ Steven klang enttäuscht.

„Warten wir ab, wie es Gerda geht, okay?“ Sie ging zum Flügel, holte das Bonbon und gab es ihm. „Ich habe versprochen, dir beim Üben zu helfen, erinnerst du dich?“

Er nahm die Süßigkeit entgegen, als wäre sie das größte Geschenk der Welt. „Wow, danke!“ Dann umarmte er sie, die Wange an ihren Bauch gedrückt. Was für ein süßer Junge. Sie fragte sich, wo seine Mutter war.

Ihr Blick traf sich mit Kents. In seinem lag eine unverhohlene Warnung. Hastig ließ sie Steven los.

Offenbar hatte sie eine unsichtbare Grenze übertreten. Er sagte nichts, und als sie sich höflich voneinander verabschiedeten, fragte Desi sich, was sie falsch gemacht hatte.

2. KAPITEL

„Dad!“ Steven zog an Kents Arm, als er ihre Haustür aufschloss. „Mrs. Desi ist die coolste Klavierlehrerin aller Zeiten!“

„Bürgermeisterin Rask ist deine Klavierlehrerin. Mrs. Desi hat sie nur vertreten“, antwortete Kent, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen.

Steven rannte zum Keyboard im Wohnzimmer, und als er es einschaltete, war die Begeisterung in seinen leuchtend blauen Augen fast ansteckend. Steven wehrte sich dagegen. Er durfte nicht zulassen, dass sein Sohn eine enge Beziehung zu jeder Frau entwickelte, die nett zu ihm war. Das tat Steven, seit seine Mutter gegangen war.

Wo war der Junge geblieben, der zu jeder Klavierstunde geschleift werden musste? Jetzt hämmerte er ein einfaches Blues-Stück in die Tasten, und es hörte sich gar nicht mal so übel an. Kent liebte es, seinen Sohn glücklich zu sehen, vor allem nach den schweren Jahren, die sie durchgemacht hatten.

Verdammt. Das Letzte, was er brauchte, war, dass Steven für seine neue Klavierlehrerin schwärmte – eine Frau, die mitten in der Nacht aus dem Nichts aufgetaucht war und bestimmt ebenso spurlos wieder verschwinden würde.

Wie zum Teufel sollte der Junge jemals verkraften, dass seine Mutter nicht mal zu seinem Geburtstag anrief?

Wäre es nach Kent gegangen, hätte sein Sohn jetzt Geschwister gehabt, aber für Diana war das nicht infrage gekommen. Statt im kleinen Heartlandia hatte sie sich in der Großstadt verwirklichen wollen, als Frau eines Arztes, der ein Vermögen verdiente. Sie hatte von Partys und Shoppingcentern voller Designer-Outlets geträumt und nicht von einem Mann, der in seiner Notfallpraxis Überstunden machen musste, um am Monatsende schwarze Zahlen zu schreiben.

Manchmal hatten sie am Monatsende fast nichts mehr übrig gehabt. Aber Stevens Mutter fand, es stünde ihr zu, im Geld zu schwimmen.

Zum Glück wohnte Kent in dem Haus, in dem er aufgewachsen war und das seine Eltern ihm überlassen hatten, bevor sie nach Oregon gezogen waren, um ihren Ruhestand zu genießen.

„Siehst du, Dad? Ich kann fast alle Noten spielen.“

Er applaudierte. „Wenn du jeden Tag übst, kannst du es nächste Woche vielleicht auswendig.“

„Das wäre das Coolste. Ich könnte sie damit überraschen.“

„Nun mal langsam. Vielleicht ist sie nächste Woche schon gar nicht mehr da.“ Kent ging in die Küche, um das Abendessen zuzubereiten. Steven folgte ihm.

„Können wir Mrs. Desi zum Festival am Wochenende einladen?“

Kent war überzeugt, dass jemand wie sie sich auf einem Kleinstadtfestival unsäglich langweilen würde. „Ich weiß nicht.“

„Ich könnte ihr von meinem Taschengeld aebleskiver spendieren.“

Dänische Krapfen auf einem Fest, das Diana immer viel zu kitschig gewesen war? Am liebsten hätte er seinen Sohn in die Arme genommen und ihn davor gewarnt, sich falsche Hoffnungen zu machen.

„Dad? Dad! Können wir?“

„Mal sehen.“

„Bitte, bitte, bitte.“

„Ich denk darüber nach, okay? Jetzt geh und wasch dir die Hände.“

„Ja!“, rief Steven triumphierend.

Der Junge wusste, wie er seinen Vater um den Finger wickelte. Lächelnd beugte Kent sich über den Herd.

Beim Abendessen erzählte Steven aus der Schule und dass Mrs. Desi nach seinen Lieblingsbonbons duftete. Kent beschloss, nach nebenan zu gehen und Desi zu fragen, ob sie am Samstag mitkommen wollte. Steven würde er nichts davon erzählen, damit der Junge nicht enttäuscht war, falls sie ablehnte.

Ein Stunde später war die Küche aufgeräumt, und sein Sohn saß im Schlafanzug vor dem Fernseher. Kent starrte in den Badezimmerspiegel und fragte sich, warum er sich die Zähne putzte und mit Mundwasser gurgelte, bevor er das Haus verließ. Wenn er nicht aufpasste, würde er demnächst Gänseblümchen für die neue Klavierlehrerin pflücken.

Desi saß im Korbsessel auf der Veranda. Trotz eingeschalteter Beleuchtung war es kaum hell genug, um in der Music Today zu lesen, die sie auf dem Couchtisch ihrer Großmutter gefunden hatte.

Wenn sie noch länger draußen blieb, würde sie ihren E-Reader holen müssen, um den Roman weiterzulesen, den sie zu Hause begonnen hatte. Und sie wollte auf der Veranda bleiben, um der angespannten Stimmung im Haus zu entgehen. Zwischen ihr und Gerda gab es so viele Fragen, die keiner auszusprechen wagte.

Desi wünschte, sie wüsste, wie sie das Schweigen brechen konnte. Was für ein Kind war ihre Mutter gewesen? Hatte sie schon immer Chili-Cheeseburger geliebt? Warum war sie von zu Hause weggelaufen, als sie schwanger gewesen war?

Sie atmete die nach Jasmin duftende Abendluft ein. Irgendwie wirkte dieses alte Haus beruhigend, als hätte es eine Botschaft für sie. Hey, vielleicht gehörst du hierher. Hier ist deine Mutter aufgewachsen. Diese Zimmer, diese Düfte, diese Farben, diese Geräusche sind deine Wurzeln.

Als sie Schritte hörte, hob sie den Kopf, und ihr Blick traf auf den großen blonden Mann aus dem Nachbarhaus. Der überfürsorgliche Vater, der etwas gegen sie zu haben schien.

Unwillkürlich hielt sie den Atem an.

Als er sich räusperte, schlug sie die Musikzeitschrift zu. „Schöner Abend, was?“, fragte er.

Sie unterdrückte ein belustigtes Lächeln. „Mir kommt er ziemlich kühl vor.“

„Typisch Oregon.“

Wann hatte der arme Kerl das letzte Mal privat mit einer Frau gesprochen? „Ist das so?“

„Das Wetter ist unberechenbar. Nur auf den Regen kann man sich verlassen.“ Er stellte einen Fuß auf die Verandatreppe und stützte die Hände aufs Knie. „Ich möchte mich entschuldigen, falls ich vorhin griesgrämig rübergekommen bin.“

Sie lachte. „Griesgrämig? Nein, Sie haben eher besorgt gewirkt.“

Er kratzte sich eine Augenbraue. „Tut mir leid.“

„Ich hatte nicht vor, Ihren Sohn zu entführen. Ich war nur nett zu ihm.“

„Er hat gar nicht mehr aufgehört, davon zu schwärmen, was für eine tolle Lehrerin Sie sind.“

Ja, ich bin eine gute Klavierlehrerin. Vielen Dank. „Ist das schlimm?“

„Wohl kaum.“

Als er die Veranda betrat, atmete sie schneller.

Er musterte sie interessiert. „Jedenfalls … haben wir hier jeden Juni dieses skandinavische Fest zur Sommersonnenwende. Hat Ihre Großmutter Ihnen davon erzählt?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Als Bürgermeisterin eröffnet sie den Umzug.“

„Davon hat sie mir kein Wort gesagt.“

„Wirklich nicht?“

„Nein.“

„Nun ja, Steven würde sich riesig freuen, wenn Sie mit uns zur Parade und zum Festival am Samstag gehen.“

Desi genoss seine Verlegenheit. „Er hat Sie hergeschickt, um mich einzuladen?“

Endlich ein Lächeln. Ein halbes. „Nicht ganz.“

„Er weiß nicht, dass Sie hier sind, und Sie würden lieber sterben, als eine wildfremde Frau einzuladen, deshalb haben Sie sich heimlich herübergeschlichen und möchten, dass ich ablehne?“

„Nein, ganz und gar nicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich dachte nur, Sie würden lieber Unkraut jäten, als einen Nachmittag mit mir zu verbringen. Aber Steven … will sein Taschengeld für Sie ausgeben.“

Sie legte den Kopf auf die Seite. „Es passiert nicht jeden Tag, dass ein Mann sein Taschengeld für mich ausgeben will. Wie könnte ich da ablehnen?“

Kent kratzte sich einen Mundwinkel. „Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich Sie frage. Damit er nicht enttäuscht ist, wenn Sie nicht mitkommen.“

„Das ist sehr rücksichtsvoll.“ Vielleicht war er doch nicht so übel. „Danke, dass Sie mich nicht unter Druck setzen … aber ich würde sehr gern mitkommen.“

Er riss die Augen auf. Der Mann hatte sexy Schlafzimmeraugen, anders konnte man sie nicht nennen. Sein Blick löste tief in ihrem Bauch etwas aus. „In diesem großen alten Haus fällt mir jetzt schon die Decke auf den Kopf. Ich würde mir gern den Rest der Stadt ansehen.“

Sein Lächeln erstarb, bevor es die Wangen erreichte. „Bevor Sie wieder abreisen?“

Hoffte er das etwa? „Nein, ich freue mich darauf, mehr Zeit mit Steven zu verbringen.“

„Er wird begeistert sein.“

Und sein Vater?

Besaß dieser Wikinger überhaupt eine Seele? War er vielleicht sogar zu so etwas wie Leidenschaft fähig? Irgendetwas musste ihn dazu gebracht haben, sich mit unsichtbaren, aber hohen Mauern zu umgeben.

Wenigstens hatte er seinen Sohn nicht mit seiner kühlen, unnahbaren Art verdorben. Noch nicht.

Kent wandte sich zum Gehen.

„Sagen Sie Steven, dass ich mich darauf freue, okay?“

Über die Schulter warf er ihr einen nachdenklichen Blick zu und musterte sie von Kopf bis Fuß. Es war das erste interessante Lebenszeichen, das sie an ihm wahrnahm.

„Das mache ich“, erwiderte er. „Wir holen Sie am Samstag gegen zehn ab.“ Und dann ging er die Stufen hinab und über den dunklen Weg nach Hause.

„Bis dann“, antwortete Desi leise und froh darüber, dass er und sie nicht zu zweit auf das Festival gingen.

Am Samstagvormittag war es kühl und feucht, deshalb band Desi ihr Haar zu einem Knoten zurück und setzte eine Strickmütze auf. Dann zog sie den Reißverschluss ihrer Kapuzenjacke bis zum Hals hoch und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Als es läutete, eilte sie nach vorn.

Gerda hatte schon geöffnet. Steven und Kent standen auf der Veranda und unterhielten sich leise.

„Oh, gut, du bist fertig“, sagte Gerda, als Desi die Treppe herunterkam. „Ich will nämlich los. Ich muss eine halbe Stunde vor dem Beginn der Parade da sein.“ Sie hastete zum Wagen. „Bis nachher!“

Desi winkte ihr nach. „Ich juble dir zu!“ Als ihre Großmutter davonfuhr, sah sie Kent an. „Brauche ich einen Regenschirm?“

„Nein, ich habe einen dabei.“ Seine blauen Augen funkelten belustigt, als er sie musterte. „Sie sehen aus wie eine skandinavische Flagge.“

Wegen der hellblauen Mütze und des roten Sweatshirts? „Danke. Genau das möchte ein Mädchen hören.“

„Sie sehen cool aus, Mrs. Desi“, warf Steven strahlend ein.

Vielleicht sollte sie den Vater ignorieren und den Vormittag mit dem Jungen verbringen. „Danke, Steven.“

„Wir sollten auch aufbrechen.“ Kent schob seinen Sohn zur Treppe.

Desi folgte ihnen zum weißen Pick-up.

„Die Söhne und Töchter von Heartlandia haben das Fest vor fünfzig Jahren ins Leben gerufen“, begann Steven wie ein Fremdenführer. „Wir feiern damit unsere norwegischen, isländischen, schwedischen und dänischen Wurzeln. Unsere Vorfahren wurden als Schiffbrüchige von den Chinook-Indianern gerettet und haben von ihnen das Jagen und das Angeln im Columbia River gelernt.“

„Steven, du brauchst für Mrs. Desi nicht alles zu wiederholen, was du in der Schule vorgetragen hast.“

„Das war sehr interessant. Danke, Steven.“

„Wir feiern auch ein Fest, mit dem wir die Chinooks ehren. Im Oktober. Dann gibt es auch Bierstände, damit die alten Knacker kommen.“

Desi lachte.

„Achte auf deine Ausdrucksweise“, tadelte Kent gutmütig. „Und das ist nicht der einzige Grund, aus dem es Bierstände gibt.“

„Aber das hast du doch selbst gesagt, zu Officer Gunnar.“

„Das war nur für seine Ohren bestimmt. Außerdem habe ich ‚Burschen‘ gesagt, nicht ‚Knacker‘.“

Steven kicherte. „Ich finde Knacker lustiger. Knacker, Knacker, Knacker …“

„Das reicht.“ Kent versuchte, streng zu klingen, aber sein zuckender Mundwinkel verriet ihn.

Desi lächelte. Wenn sie den Mund hielt, würde sie mehr über Heartlandia erfahren, als ihre Großmutter ihr bisher erzählt hatte. Kurz darauf parkten sie im Zentrum und schlenderten zur Hauptstraße namens Heritage. An einem Ende stand ein offiziell aussehendes Gebäude, vielleicht das Rathaus, mit einem Monument davor, das einem Totempfahl glich, am anderen erstreckten sich Geschäfte und Restaurants, die in den 1950er Jahren erbaut worden waren.

Sie ging langsamer, um nichts zu verpassen, und Steven nahm ihre Hand. An den Straßenecken standen die Menschen dicht gedrängt, und viele hatten es sich auf Wolldecken und Klappstühlen bequem gemacht.

„Macht Platz, Leute“, forderte ein stämmiger, breitschultriger Polizist eine besonders große Gruppe auf.

„Hören Sie auf, die Einheimischen zu schikanieren, Sergeant“, mischte Kent sich ein. Verblüfft starrte Desi ihn an. Wollte er sich ausgerechnet mit diesem Muskelpaket anlegen?

Der Polizist drehte sich um, und seine grimmige Miene entspannte sich. „Halten Sie sich raus, sonst nehme ich Sie fest“, erwiderte er mit einem breiten Lächeln.

Die Männer gaben sich die Hand, und Desi verstand erleichtert, dass sie gut befreundet waren.

Der Sergeant mit hellbraunem Haar und blitzenden grünen Augen beugte sich zu Steven hinab. „Wie hast du es denn geschafft, dass dein Dad dich in diesem Jahr zur Parade begleitet?“

„Ich habe meine Klavierlehrerin eingeladen.“ Steven zeigte auf Desi.

Verlegen schob sie die Hände in die Taschen ihrer Jeans. Als der Officer sie interessiert musterte, nickte sie ihm zu.

„Das ist Desdemona, die Enkeltochter unserer Bürgermeisterin“, sagte Kent. „Gunnar Norling, mein bester Freund seit der Grundschule.“

„Hallo. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“ Norling warf Kent einen kurzen Blick zu, bevor er sie anlächelte.

„Nennen Sie mich Desi.“

„Gern.“ Er schüttelte ihre Hand.

Eine Marschkapelle begann zu spielen, und sofort konzentrierte der Polizist sich wieder auf seine Aufgabe. „Viel Spaß, Leute. Ich bin im Dienst“, sagte er und ging weiter, in der dunkelblauen Uniform zugleich eine Respektsperson und ein attraktiver Mann.

An der Spitze der Parade schwenkten sechs Teenager die Flaggen der fünf skandinavischen Länder und das Sternenbanner der USA. Sie trugen Westen in den Farben ihres Landes und marschierten im Rhythmus der drei Trommler direkt hinter ihn. Denen folgte Desis Großmutter in einer offenen Kutsche.

Desi winkte ihr begeistert zu.

Neben den geschmückten Festwagen und Oldtimern liefen Frauen in traditionellen Kostümen, die Männer trugen bunte Westen und Strickmützen. Die vorherrschenden Farben waren Blau, Rot und Gelb.

Kent zeigte auf eine Gruppe. „Das sind Wikinger.“

Als Steven inmitten der Erwachsenen einen Freund entdeckte, winkte er ihm jubelnd zu, und sein Vater legte den Arm um seine Schultern. Die beiden halten zusammen und kommen auch ohne Mutter zurecht, dachte Desi.

„Da kommen meine Leute, die Schweden“, sagte Kent und zeigte auf den nächsten Festwagen.

Aufgeregt sprang Steven auf und ab. „Seht mal, die Isländer! Die haben immer die lustigsten Hüte auf.“

Nach einer Stunde endete der Umzug, und eine kleine, verschwitzte Hand schob sich in Desis und holte sie aus der nostalgischen Atmosphäre in die Gegenwart zurück.

„Gehen wir zu den Ständen, bevor die Schlangen zu lang werden“, schlug Steven vor und zog sie weiter. Die grauen Wolken hatten einem strahlend blauen Himmel Platz gemacht.

„Hier tobt also das Leben der Stadt?“, fragte sie Kent.

„Unten am Hafen gibt es viele Touristenläden für die Kreuzfahrtpassagiere, aber die meisten Gäste essen hier oben. Wir haben einige tolle Restaurants.“

Ein roter Backsteinbau beherbergte ein Restaurant mit Bar, und an einem der Tische unter der schwarz-weißen Markise saß ein älterer Afroamerikaner und trank Kaffee. Er trug ein weißes Kochhemd und einen schief aufgesetzten Hut. Als er Desi bemerkte, nickte er ihr ernst zu. Lächelnd erwiderte sie den Gruß und merkte sich den Namen des Restaurants. Lincoln Place. Gutes Essen seit 1948. Livemusik und Happy Hour an der Bar.

Ein paar Häuser weiter kamen sie zu einem kleinen Restaurant mit einer blau-gelben Markise. Es hieß Husmanskost.

„Was gibt es denn hier?“

„Das Restaurant ist auf schwedische Küche spezialisiert. Ich hole Ihnen mal einige Kostproben von den Ständen.“

Desi ging weiter, den Blick noch immer auf das malerische Restaurant gerichtet, und fragte sich, was für ungewöhnliche Gerichte es darin wohl gab.

Als sie zu dem Stand kamen, an dem Desis Großmutter jetzt dänische Backwaren verkaufte, lächelte Gerda ihnen zu und griff nach einer Schachtel mit Krapfen. „Steven hat mir eine SMS geschickt, dass ihr auf dem Weg hierher seid. Ich habe euch welche mit Apfel und Himbeere und verschiedene Soßen zum Dippen eingepackt. Vergesst nicht, Puderzucker drüberzustreuen.“

Sie setzten sich an einen kleinen Tisch, Steven öffnete die Schachtel ehrfürchtig, und Kent griff sofort zu und schob sich einen in den Mund.

„Hey, kauf dir selbst welche, Dad. Die hier sind nur für mich und Mrs. Desi.“

Kent sah seinen Sohn so verblüfft an, dass Desi lachen musste. Dann zuckte er mit den Schultern und gab mit vollem Mund etwas Unverständliches von sich. Sie musste sich beherrschen, um ihm nicht den Puderzucker von den Lippen zu lecken. Was um alles in der Welt war los mit ihr?

Natürlich war Kent ein erstaunlich attraktiver Mann, und sie eine gesunde junge Frau, die schon lange kein Date mehr gehabt hatte. Aber dass sie so heftig auf ihn reagierte, überraschte sie.

Finger weg. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war ein Flirt – oder gar eine Affäre – mit dem Nachbarn ihrer Großmutter.

Kent ging davon und kehrte wenig später mit zwei Behältern zurück.

„Was ist das?“

„Ich habe ein paar Fischfrikadellen geholt.“

Sie bezweifelte, dass sie noch einen Bissen herunterbekam.

„Na los, probieren Sie.“

Als er ihr eine Frikadelle an den Mund hielt, konnte sie an nichts anderes denken als daran, dass sie beide in der Öffentlichkeit ein viel zu intimes Bild abgaben. Trotzdem biss sie ab. „Lecker.“

„Es gibt noch viel mehr.“ Wie von selbst fiel ihr Blick auf seinen Mund. „Man hat nicht richtig gelebt, bevor man ein Mitternachtsmahl genossen hat.“

Allein bei der Vorstellung, so spät noch mit ihm zusammen zu sein, wurde ihr noch wärmer. „Ich brauche etwas zu trinken.“

„Steven, holst du Desdemona bitte ein Wasser?“

Ihr Name schien auf seiner Zunge zu zergehen. Ein Eiswasser wäre jetzt nicht schlecht. „Danke.“

„Wenn Sie möchten, gehe ich irgendwann mal mit Ihnen richtig schwedisch essen.“

„Danke, aber bestimmt haben Sie in Ihrer Praxis zu viel zu tun.“

„Sie wissen, was ich mache?“

„Meine Großmutter könnte nicht stolzer auf Sie sein, wenn Sie ihr eigener Sohn wären.“

„Habe ich da gerade meinen Namen gehört?“ Gerda bog um die Ecke und legte eine Hand um Desis Ellbogen. „Steven, Kent, darf ich Desi für einige Minuten entführen?“

„Ich bin gleich zurück“, versprach Desi, als Steven sie enttäuscht ansah.

„Wir wollen nur kurz über den Markt bummeln. Du würdest dich langweilen“, sagte Gerda. „Aber du kannst gern mitkommen, wenn du möchtest.“

Steven schüttelte den Kopf. „Ich will mit meinen Freunden spielen.“ Er zeigte auf eine Gruppe von Jungen, die sich ohne ersichtlichen Grund eine lautstarke Verfolgungsjagd lieferten.

Kent nickte ihm zu und unterhielt sich weiter mit seinem Polizistenfreund, der sich mit einem Kaffee zu ihnen gesellt hatte.

Gerda schlenderte mit Desi über den Platz und stellte sie stolz an jedem Stand vor. „Hallo zusammen, dies ist meine Enkeltochter Desdemona.“

An den Schmuckständen entdeckte Desi Halsketten und Broschen, wie sie viele Teilnehmerinnen an der Parade getragen hatten. Zwei Stände weiter leuchteten ihre Augen, als ihr Blick auf handgestrickte Pullover und Mützen fiel.

„Oh, ich liebe den rot-weißen Pulli“, platzte sie heraus.

„Probier ihn an. Ich kaufe ihn dir“, sagte Gerda.

„Das kann ich nicht zulassen.“

„Ich habe so viele deiner Geburtstage und Weihnachtsfeste verpasst. Ich möchte ihn dir schenken.“

Gefühle, auf die nicht vorbereitet war, stiegen in Desi auf. Spontan nahm sie ihre Großmutter in die Arme. „Danke.“

„Wir nehmen ihn“, sagte Gerda zu der Verkäuferin.

Als sie sich voneinander lösten, waren nicht nur Desis Augen feucht. „Das ist so süß von dir. Vielen Dank“, flüsterte sie.

„Gern geschehen.“

Kent kam vorbei und blieb abrupt stehen. „Oh, Entschuldigung, ich wollte nicht stören.“

„Grandma hat mir gerade den schönsten Pullover von allen gekauft.“

Die Verkäuferin reichte ihr eine Tüte mit den Flaggen der fünf skandinavischen Länder.

„Sie müssen ihn mir bald mal vorführen.“ Sein Lächeln ging ihr unter die Haut. Gewöhn dich nicht daran. Du bleibst nicht lange genug hier.

„Ich muss zurück an meinen Stand“, sagte Gerda. „Könnten Sie Desi zeigen, was es sonst noch alles gibt?“

„Sehr gern. Vorausgesetzt, Steven wird nicht eifersüchtig.“

Gerda lächelte Kent zu. „Als Sie in seinem Alter waren, haben Sie für Ester geschwärmt. Ich habe ihr gesagt, sie soll besonders nett zu Ihnen sein. Erinnern Sie sich?“

„Sehr gut sogar, Ester war meine erste große Liebe.“

Gerda senkte den Blick, und als sie den Kopf wieder hob, sah Desi den Schmerz in ihren Augen. Ihre Großmutter eilte davon.

Kents Mund wurde schmal. „Da bin ich wohl in ein Fettnäpfchen getreten, was?“

„Es ist so lange her. Wer konnte ahnen, dass die Erinnerung für sie noch so schmerzhaft ist?“

„Ich glaube, ich würde es nicht überleben, mein Kind zu verlieren.“

Desi wünschte, ihre Mutter wäre noch am Leben und könnte ihr all die Fragen beantworten, die ihr auf der Seele brannten.

Kent schaute auf die Uhr. „Möchten Sie einen Kakao mit Schuss? Ich weiß, wo es den besten gibt.“

„Klingt verlockend.“ Sie brauchte dringend eine Aufmunterung. Was wäre aus ihr geworden, wenn ihre Mutter und ihre Großeltern sich versöhnt hätten?

Sie gingen die Straße entlang zu einem Stand, der in den schwedischen Farben dekoriert war. Ohne um Erlaubnis zu fragen, nahm Kent ihre Hand, und obwohl er es ganz sanft und fast zaghaft tat, fühlte sie es bis in die Zehenspitzen.

3. KAPITEL

„Der ist für Sie.“ Kent reichte Desi einen Becher.

„Danke.“ Sie atmete den köstlichen Duft von Schokolade und Pfefferminz ein.

Steven nahm einen Schluck und stellte seinen alkoholfreien Kakao gleich wieder ab. „Danke, Dad! Ich muss los.“

„Warte mal.“ Desi hielt den Jungen am Ärmel fest. „Ich dachte, ich bin heute dein Gast. Bleib hier und trink deinen Becher aus, sonst bin ich gekränkt.“

Ungeduldig rutschte Steven auf der Stuhlkante hin und her. „Ich muss zurück zu meinen Freunden.“

„Die sehen dich doch jeden Tag in der Schule.“ Sie ließ sich die heiße Schokolade schmecken. „Hast du schon mal bei der Parade mitgemacht?“

„Noch nicht“, erwiderte Steven, mit dem Blick schon bei seinen wartenden Spielkameraden. „Aber jedes Jahr schmückt die vierte Klasse einen Wagen und trägt Kostüme. Und ich bin nächstes Jahr in der vierten.“

Desi sah Kent an. „Haben Sie auch in der vierten Klasse mitgemacht?“

„Natürlich.“ Er lächelte und wirkte plötzlich viel jünger, beinahe unbeschwert.

Steven dagegen starrte betrübt in seinen Becher. „Soll ich die schwedischen oder die norwegischen Farben tragen, Dad?“

„Beide, wenn du möchtest.“

Auch Kent war jetzt ernster, und Desis Fantasie ging mit ihr durch. Schwedisch oder norwegisch? Hatte das mit der fehlenden Mutter und Ehefrau zu tun?

Steven hatte seinen Becher halb geleert. „Kann ich jetzt los?“

„Und was ist mit mir?“, fragte sie und kitzelte ihn an der Brust, um die Stimmung wieder aufzulockern.

„Ich bringen Ihnen Kaugummi mit.“

„Wow! Danke.“ Sie warf Kent einen Blick zu. „Ich hoffe, er hat seine Dating-Techniken nicht von Ihnen.“

„Jetzt weiß ich!“, rief Steven mit leuchtenden Augen. „Ich bringe Ihnen SweeTarts mit!“

Fruchtbonbons? Sie durfte nicht zulassen, dass ein Junge sein Taschengeld für sie ausgab.

Kopfschüttelnd sah Kent seinem Sohn nach.

„Sie zahlen es ihm doch zurück, oder?“, fragte Desi. „Ich möchte nicht, dass Ihr Sohn sein schwer verdientes Geld für mich ausgibt.“

„Dann wäre es unser Date.“ Er lächelte. „Vorgestern Abend hat er mir erzählt, dass Sie wie seine Lieblingsbonbons riechen. Deshalb will er Ihnen SweeTarts kaufen.“

„Das muss an meinem Parfüm liegen.“

Sie hielt ihm ein Handgelenk hin. Er beugte sich vor, schnupperte und ließ den Blick am Arm hinauf zu ihren Augen wandern. Schlagartig wurde ihr so warm, dass ihr fast die Luft wegblieb. Hastig zog sie den Arm zurück.

„Erstaunlich, dass er das bemerkt hat“, flüsterte sie.

„Er ist ein schlaues Kind.“

„Das stimmt.“ Sie nippte an ihrer Schokolade und hielt das Gesicht in die Sonne.

„Er stammt aus einer gemischten Ehe.“

Sie neigte den Kopf in seine Richtung. Steven war flachsblond.

Kents Augen glitzerten. „Seine Mutter ist Norwegerin.“

„Aha. Es muss hart gewesen sein, mit zwei völlig verschiedenen Kulturen unter einem Dach zu leben“, scherzte Desi.

Er streckte die langen Beine aus. „Sie glauben nicht, wie oft wir uns darüber gestritten haben, ob es lefse oder ganz normale Kartoffelpuffer geben soll.“

„Was sind lefse?“

„Ganz dünne Pfannkuchen aus Kartoffeln. Sie sehen aus wie Tortillas. Sehr lecker. Möchten Sie sie probieren? Dort drüben ist ein Stand.“

Sie hob die Hand. „Danke, ich habe gerade ein halbes Dutzend aebleskiver gegessen. Und dann noch die Fischfrikadelle. Vielleicht ein anderes Mal.“

Er betrachtete ihr Gesicht. Wenn der Mann seine Maske abnahm, konnte sein atemberaubendes Lächeln jede Frau dahinschmelzen lassen. Hatte Gerda nicht erzählt, dass er seit einem Jahr geschieden war?

Und wenn schon. Sie war nur auf der Durchreise. Trotzdem wollte sie mehr über ihn wissen.

„Was tun Sie so, wenn Sie nicht gerade Ihre Großmutter besuchen?“, kam er ihr zuvor.

„Schwierige Frage.“ Sie inspizierte die Risse in der Glasur ihres Bechers. „Ich bin ein vielseitiger Mensch. Ich habe gekellnert und Bücher verkauft. Ich habe für meine Mutter Auftritte organisiert.“ In den Ohren eines Arztes klang das alles vermutlich nicht sehr seriös.

„Ich habe die Kostüme für eine Retro-Girl-Group entworfen, die eine Weile mit meiner Mutter auf Tour war. Ich kann ganz gut nähen. Meine Mutter hat mir mal eine tragbare Nähmaschine zum Geburtstag geschenkt.“ Sie dachte an ihren sechzehnten Geburtstag. „Dann habe ich noch ein paar andere Jobs gemacht, aber damit will ich Sie nicht langweilen.“

Mehr als einen Highschool-Abschluss hatte sie nicht vorzuweisen. Nicht sehr beeindruckend für jemanden, der Medizin studiert hatte.

„Sie sind also der künstlerische Typ.“ Sein prüfender Blick machte sie nervös.

„Ja, das könnte man sagen.“

„Was waren das für andere Jobs?“

„Keine Angst, nichts Verbotenes.“

„Gut zu wissen.“ Er lehnte sich zurück. „Wo sind Sie aufs College gegangen?“

„Gar nicht. Da wir dauernd unterwegs waren, hat meine Mutter mich zu Hause unterrichtet, und danach kam immer wieder etwas dazwischen, also habe ich nie studiert.“

Kent setzte sich auf. „Hey, wir haben hier ein großartiges Community College.“

„Tatsächlich? Na ja, ich bleibe nicht lange genug, um ein Studium zu beginnen, aber danke, dass Sie …“

Er zuckte mit einer Schulter. „Warum schließen Sie es aus?“

Sie trank ihren Becher aus. „Warum soll ich mich festlegen? Mal sehen.“

Ihre Antwort schien ihm nicht zu gefallen, aber das war ihr egal.

Steven kam angerannt. „Hier sind Ihre Bonbons.“ Er drückte ihr eine Tüte in die Hand und verschwand wieder.

„Danke“, rief sie ihm nach. „Was für ein Date“, sagte sie und schaute wieder in Kents hinreißendes Lächeln. Galt es ihr oder seinem Sohn?

„Für Steven hoffe ich, dass Sie noch eine Weile bleiben.“

Ging es ihm wirklich nur um den Jungen? Desi konnte sich nicht daran erinnern, dass irgendjemand sie gebeten hatte, dort zu bleiben, wo sie gerade war. Sicher, ihre Großmutter hatte sie nach Heartlandia eingeladen, aber bisher hatte kein Mann Interesse an einer längeren Beziehung gezeigt.

Gegen neun gelang es Kent endlich, Steven ins Bett zu bringen. Der Junge hatte unaufhörlich vom „schönsten Tag meines Lebens“ geschwärmt, nachdem sie Desdemona bei ihrer Großmutter abgesetzt hatten. So unbeschwert hatte er seinen Sohn schon lange nicht mehr erlebt.

An diesem Abend hatte Steven sogar noch am Keyboard geübt, bevor er sein Bad genommen hatte. Das war nicht gut. Steven war dabei, Gefühle für eine Frau zu entwickeln, die nicht mal lange genug in Heartlandia bleiben wollte, um sich am College einzuschreiben. Und dann würde sie gehen … genau wie seine Mutter. Trotzdem brachte Kent es nicht fertig, etwas dagegen zu unternehmen. Es war herrlich, seinen Sohn endlich wieder glücklich zu sehen. Außerdem verstand er, welcher Reiz von dieser rätselhaften Frau ausging. Auch er war nicht immun dagegen.

Er ging nach draußen, um frische Luft zu schnappen und nachzusehen, ob er den Pick-up abgeschlossen hatte. Wie von selbst zuckte sein Blick zum großen Fenster des Nachbarhauses. Das Wohnzimmer der Rasks war hell erleuchtet. Desi ging darin auf und ab und sprach in ein Handy. Sie trug das Haar offen und ein farbenfrohes Kleid, das ihre Figur betonte. Gegen seinen Willen registrierte er, dass sie darunter keinen BH anhatte.

Eine fast vergessene Reaktion durchzuckte ihn. Verdammt, sie sah wirklich gut aus. Vorsicht, Larson, pass auf, dass ihre Schönheit dir nicht zu Kopf steigt. Wie oft hatte er heute ihre schimmernde, dunkle Haut, die Sommersprossen an der Nase und die dunklen Augen bewundert? Ganz zu schweigen von den vollen Lippen, die er … Kent schüttelte den Kopf. Sie lebt von der Hand in den Mund, jobbt mal hier, mal dort, hält es nirgendwo länger aus. Sie ist eine Nomadin.

Nur mit Mühe schaffte er es, den Blick von Desdemona loszureißen und zum Wagen zu gehen.

Er dachte kurz daran, die nächste Klavierstunde abzusagen. Aber das würde Steven niemals zulassen. So motiviert wie jetzt war der Junge noch nie gewesen. Es war lange her, dass er seinen Sohn so begeistert und sorglos erlebt hatte.

Kent fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Desi ging ihm unter die Haut, obwohl sie das genaue Gegenteil dessen war, was er in seinem Leben brauchte. Typisch, dachte er, ich muss mal wieder alles überanalysieren. Jedes warme, sinnliche Gefühl wird chirurgisch entfernt. Nicht zum ersten Mal.

Er umklammerte den Türgriff, als wollte er ihn herausreißen. Larson, kannst du dich nicht einfach mal gehen lassen?

Er überprüfte, ob der Wagen abgeschlossen war, und marschierte zum Haus zurück, ohne einen einzigen Blick nach nebenan zu riskieren. Aber er wurde das Bild nicht los … Desdemona. Ohne BH.

Am Tag darauf kam Kent erst spät nach Hause, weil der Andrang der Patienten in der Notfallpraxis ungewöhnlich hoch gewesen war. Er musste sich dringend angewöhnen, seinen Terminplan einzuhalten. Dies war das dritte Mal in zwei Wochen, dass der Babysitter eine Überstunde machen musste.

Desdemona saß wieder auf der Veranda. Sie schaute nicht herüber, sonst hätte er gewunken. Er eilte zur Tür und betrat das halb dunkle Haus.

Amanda saß mit Steven in der Küche und half ihm bei den Schulaufgaben.

„Tut mir leid, dass ich so spät bin. Ab jetzt kann ich Steven helfen.“

„Nicht nötig, Mr. Larson. Wir sind fertig.“

Steven klappte das Buch lauter als nötig zu. „Hi, Dad. Darf ich fernsehen?“

„Eine halbe Stunde, länger nicht. Dann können wir essen.“ Kent ging an den Schrank. Was zum Teufel sollte er kochen?

„Ich habe ihm schon etwas gemacht“, sagte Amanda und sammelte ihre Sachen zusammen.

„Danke.“

„Ich war am Verhungern“, erklärte Steven. „Sie hat mir zwei Hotdogs gemacht.“

„Du bist immer am Verhungern.“ Kent lehnte sich gegen die Arbeitsfläche.

„Eigentlich dürfte ich zwei Stunden fernsehen, weil ich auch schon Klavierspielen geübt habe.“

„Er war richtig gut.“ Amanda klang überrascht.

„Ich habe mich auf die Stunde morgen vorbereitet“, verkündete der Junge stolz, bevor er aufsprang und ins Fernsehzimmer ging.

„Gut gemacht, Partner.“

Kent brachte Amanda zur Haustür. Es war warm geworden, er hatte den ganzen Tag in der Praxis verbracht, und da eine gewisse Nachbarin eben noch auf ihrer Veranda gesessen hatte, dachte er …

Amanda winkte ihm zu und fuhr davon. Kent blickte nach nebenan, aber Desdemona war nicht mehr zu sehen. Schade. Er ging ein paar Schritte und hielt nach ihr Ausschau. Zwei halbe Weinfässer mit Sommerblühern standen an den Seiten der Veranda. An einem Balken hing ein großer Farn und nahm ihm fast die komplette Sicht.

Am anderen Ende entdeckte er auf dem Geländer zwei Stiefel, die zu Desi gehörten. Sie saß im Schaukelstuhl und starrte exakt dorthin, wo er stand. Erwischt.

Tja, Observation war das Fachgebiet seines Polizistenfreundes Gunnar, nicht seins. Verlegen winkte Kent ihr zu und ging hinüber. Sein Herz schlug schneller.

„Schöner Abend, nicht wahr?“, sagte er.

„Ja, der Sommer kommt. In L. A. hätten wir schon die Klimaanlage an.“ Sie hielt etwas in der Hand. „Möchten Sie ein Glas Bowle? Selbstgemacht.“

„Gern. Wo ist Gerda?“

Desi stand auf. „Sie musste zu einer dringenden Besprechung mit dem Stadtrat.“

Steven war mindestens eine halbe Stunde beschäftigt, daher folgte Kent ihr ins Haus. In der Küche mixte Desi japanischen Pflaumenwein mit Soda, tat Eiswürfel hinein, füllte ihr eigenes Glas auf und reichte ihm beide Drinks. Auf dem Weg nach draußen nahm sie ein großes Kissen von der Couch. Auf der Veranda nahm sie darauf Platz und klopfte neben sich. So nahe war er ihr noch nie gewesen, also ließ er sich nicht zweimal bitten.

Er trank einen Schluck. „Schmeckt sehr gut.“

„Finde ich auch.“ Desi wirkte entspannter, als er sie jemals erlebt hatte, und nach dem langen, anstrengenden Tag war er froh darüber.

Schweigend genossen sie ihre Drinks. Der Wind ließ die Bäume vor dem Haus rauschen und kühlte sein Gesicht. Der Duft der Pinien auf den Bergen hinter der Stadt drang bis hierher. Ein Windstoß hob Desdemonas Haar an, und Kent drehte sich zu ihr, um den Anblick zu genießen.

Hatte er jemals eine so zarte Haut gesehen? Es wäre so einfach, sich vorzubeugen und sie zu küssen. Er beschränkte sich darauf, eine Locke hinter ihr Ohr zu streichen.

Sie lächelte. „Danke.“

Unwillkürlich stellte er sich vor, wie er den Finger in ihren Nacken gleiten ließ und ihren langen, anmutigen Hals küsste.

Es wurde windstill, und in der Luft zwischen ihnen lag plötzlich eine geradezu erotische Anspannung.

Desi fröstelte.

Hastig wandte er sich ab, bevor sie das Verlangen in seinem Blick sah.

„Wie geht es Steven?“

Harmloses Thema. Okay, gehen wir auf Nummer sicher. „Er freut sich auf die Klavierstunde morgen.“

„Schön zu hören.“ Sie trank mehrere Schlucke, und er musste sich beherrschen, um sein Glas nicht in einem Zug zu leeren.

„Ja, eine hübsche Lady bewirkt bei einem Mann so manches Wunder.“

Desdemona musterte ihn belustigt. „Soll das etwa ein Kompliment sein?“

„Sie wissen nicht, wie Sie auf Männer wirken?“

Sie lachte. „Wie wirke ich denn auf Sie?“

„Ich bin nicht blind.“ Er starrte in sein Glas und hoffte, dass sie ihm nicht anmerkte, wie verlegen er sich fühlte.

Sie tippte auf seine Schulter. Er drehte sich zu ihr. „Möchten Sie noch eins?“, fragte sie.

Weil er nicht wollte, dass sie aufstand, schüttelte er den Kopf. „Ich bin neugierig, was für Jobs Sie noch so alles gemacht haben.“ Vielleicht hatte sie mal im Büro gearbeitet, und er konnte ihr eine Stelle besorgen. In einer Notfallpraxis, zum Beispiel.

„Die Gelegenheitsjobs?“

„Ja.“

„Mein letzter Job war in dem Seniorenzentrum in L. A., in dem meine Mutter und ich gewohnt haben.“

„Wie sah er aus?“

„Ich habe für Zeichenkurse posiert.“

„Hmm. In verschiedenen Kostümen?“

„Nein.“ Sie sah ihm in die Augen. „Nackt.“ Sie sog am Strohhalm, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen.

Er verschluckte sich fast. „Was haben Sie getan?“

„Nack posiert.“ Sie lehnte sich zurück. „Hey, in dem Kurs war niemand unter sechzig, und es waren fast nur Frauen. Außerdem war es für die Kunst.“

„War es Ihnen nicht unangenehm?“

„Zuerst ja, aber es war ein Kurs im Aktzeichnen, keine Peepshow. Es hat mich gereizt, mal etwas Außergewöhnliches zu tun.“

Etwas Außergewöhnliches. Das Gegenteil von dem, was er und Steven waren. Diana war es irgendwann auch zu langweilig geworden.

„Machen Sie sich keine falsche Vorstellung von mir. Bei meinem ersten Auftritt vor dem Aktzeichenkurs war ich so aufgeregt, dass ich mich fast übergeben hätte, aber ich schäme mich nicht für meinen Körper.“

„Gut zu wissen.“

„Vielleicht sollten wir das für uns behalten. Meine Großmutter ist die Bürgermeisterin, und ich möchte keinen Skandal verursachen.“ Das Haar fiel ihr von den Schultern, als sie den Kopf in den Nacken legte, um den nächtlichen Himmel zu betrachten. Wieder fiel sein Blick auf ihren schlanken Hals. Und auf die Brüste darunter. Er schluckte. Verdammt, er hätte nicht herkommen dürfen.

Ohne zu überlegen, schob er eine Hand unter das mahagonifarbene Haar.

Sie schloss die Augen.

Entweder er küsste sie jetzt oder er ging, eine dritte Möglichkeit gab es nicht. Der Ehrenmann in ihm trat auf die Bremse, aber die Versuchung war zu groß.

Mit leichtem Druck auf ihre Schulter drehte er sie zu sich, bis ihre Blicke sich trafen. Er versank in ihren dunklen Augen und legte die Lippen an ihre.

Weich. Voll. Warm. Ihre Lippen fühlten sich sogar noch besser an, als er es sich ausgemalt hatte. Er schmeckte den Pflaumenwein, als er den Kuss vertiefte, und schob die Finger in ihr Haar. In ihm stiegen Empfindungen und Sehnsüchte auf, die er verdrängt hatte, seit Diana ihn verlassen hatte. Er begehrte Desdemona, und die Leidenschaft, mit der sie ihn zurückküsste, verriet, dass sie nichts dagegen hatte.

Als seine Zunge ihre fand, hörte er auf zu denken und überließ sich dem, was sie in ihm auslöste.

Desdemona brach den Kuss ab. Sie wich zurück und starrte in seine Augen. Es dauerte einen Moment, bis er sie deutlich erkennen konnte. „Das war nett.“ Ihre Stimme klang atemlos.

Nur nett? Er rang sich ein Lächeln ab. „Ich kann es auf den Pflaumenwein schieben, wenn es die Sache leichter macht.“

„Worauf sonst?“

Sag ihr die Wahrheit. „Auf deine Unwiderstehlichkeit.“

Sie lachte leise. „Gibt es das Wort überhaupt?“

„Auf dich trifft es zu.“

Ihr Blick war warm und einladend. Es hatte ihr gefallen. Eindeutig. Sollte er sie wieder küssen?

Desi schaute zum Fluss hinüber. Kent stützte die Ellbogen auf die Knie.

„Ich bin auch deshalb nach Oregon gekommen, weil ich meinen leiblichen Vater finden will.“

Der Kuss hatte das Eis gebrochen, und er mochte es, wie sie sich ihm öffnete. „Stammt er aus dieser Gegend?“

„Nein, ich glaube, er lebt in Portland. Meine Mutter hat mir erst von ihm erzählt, als sie im Sterben lag. Ich habe das Gefühl, dass ich ihn finden muss – die andere Hälfte von mir.“

„Was ist mit Gerda?“

„Oh, ich will lange genug bleiben, um sie richtig kennenzulernen. Sie gehört ab jetzt zu meinem Leben, aber …“

Da hast du ihn, Larson. Dieses Aber ist der Grund, aus dem du nichts mit ihr anfangen darfst.

„Dad?“ Von nebenan drang eine Stimme herüber. „Bist du hier draußen? Es ist Zeit für mein Bad.“

Kent stand auf. Plötzlich war ihm der Kuss peinlich. Gut, dass es dunkel war.

„Ich muss los“, sagte er heiser, vielleicht etwas frustriert und vollkommen aus der Übung, wenn es um attraktive Frauen ging.

Von der Treppe aus sah Desi ihm nach, wie eine Göttin in langem Kleid und Stiefeln, die einem Maler Modell stand. Im Lichtschein aus dem Haus zeichnete sich ihre Figur unter dem dünnen, fast durchsichtigen Stoff ab. Ein Windstoß erfasste den Rocksaum, als sie ihm lächelnd zuwinkte. Das Verlangen durchzuckte ihn so heftig, dass seine Knie fast nachgaben.

„Dad!“

Er räusperte sich. „Ich komme.“

Zu Desdemona zu gehen war leichtsinnig gewesen. Er ging schneller und rieb sich den Nacken. Warum musste immer alles so kompliziert sein?

„Hi, Mrs. Desi!“

„Hallo, Steven.“

Kent drehte sich noch einmal um und winkte, bevor er in sein Haus flüchtete und tief durchatmete.

4. KAPITEL

Am Dienstag rannte Steven über Gerdas Rasen, dicht gefolgt von seiner Babysitterin. Desi sah sie durchs Wohnzimmerfenster, während neben ihr eine Schülerin mit den Tasten kämpfte.

„Spiel weiter, Dagney.“ Sie sprang auf und öffnete die Tür, bevor Steven klopfen konnte. „Du bist früh dran.“

„Ich weiß!“ Der Junge hatte Schlamm an den Knien seiner Jeans, sein Gesicht war voller Staub und Schweiß.

„Ich war mit ihm im Park, um ihn abzulenken, aber er konnte es gar nicht erwarten“, erklärte die junge Frau mit einem verlegenen Lächeln.

„Warum setzt du dich nicht auf die Veranda, Steven?“ Desi zeigte auf das Korbsofa. „Sobald Dagney fertig ist, hole ich dich herein.“

„Okay“, murmelte er enttäuscht.

„Es sind nur noch ein paar Minuten.“ Sie strich ihm übers Haar und setzte sich wieder zu dem Mädchen, das zu spielen aufgehört hatte, um die Szene zu beobachten.

„Entschuldige die Unterbrechung. Fangen wir hier noch mal an.“ Desi zeigte auf die Mitte der Seite.

Zehn Minuten später schickte sie die Schülerin nach Hause und ließ Steven herein. Er eilte sofort zur Klavierbank. Nach dem Einspielen und einem kurzen Vorgespräch begann die Stunde.

„Wow, du hast deine Hausaufgaben gemacht“, lobte sie.

Er strahlte bis über beide Ohren, als sie auf sämtliche Seiten seines Übungshefts goldene Sticker klebte. „Okay, spiel mir jetzt dein neues Stück vor.“

Steven setzte sich aufrecht hin, legte die Finger auf die Tasten, die Handgelenke leicht angehoben, und begann mit dem Blues. Schon nach den ersten Takten sah sie, dass er aus dem Gedächtnis spielte, und staunte über die Fortschritte, die er seit der letzten Woche gemacht hatte.

Sie rief ihre Großmutter. Gerda hörte aufmerksam zu und applaudierte begeistert. „In dieser Woche hat er sich zwei Süßigkeiten verdient“, sagte sie, nickte Desi anerkennend zu und umarmte Steven, bevor sie in die Küche zurückkehrte.

Steven gab auch weiter sein Bestes, und als Desi ihm einige Dreiklänge beibrachte, arbeitete er konzentriert mit. Am Ende der Stunde spielte sie ihm ein weiteres kurzes Stück vor, das er zu Hause allein üben konnte.

„Das hier ist sogar noch cooler als das letzte“, schwärmte er.

„Ich bin gespannt, wie du damit zurechtkommst.“ Sie klebte Sticker auf seine Notenblätter und gab ihm eine Tüte SweeTarts. „Da ich weiß, wie sehr du die magst, habe ich einen Vorrat besorgt.“

Seine himmelblauen Augen leuchteten. Er umarmte sie gerade, als es an der Haustür läutete. „Herein!“, rief sie nach vorn.

Es war Kent, und auch diesmal raubte sein klassisch maskuliner Look ihr den Atem. Er trug eine dunkelgraue Hose und ein gelbes Button-down-Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Das dunkelblonde Haar war zurückgegelt. Normalerweise fand sie einen Mann in der Erinnerung wesentlich attraktiver, als er tatsächlich war. Wenn sie ihn dann wiedersah, blieb die Enttäuschung nicht aus. Auf Kent traf das nicht zu. Er sah immer so aus, als würde er von nordischen Göttern abstammen.

Sei nicht so oberflächlich. Er ist auch ein großartiger Vater. Und ein allseits geschätzter Arzt.

„Hi“, sagte er und wirkte zaghaft und distanziert, ganz anders als auf ihrer Veranda.

Sie hatte ihm nachgeschaut und kaum glauben können, dass er sie gerade geküsst hatte. Doch jetzt erschien er ihr reserviert, fast ein wenig unglücklich. Bereute er den Kuss?

„Hi.“ Sie versuchte, ihn mit einem strahlenden Lächeln aufzuheitern. „Steven war heute richtig gut.“

„Schön zu wissen.“ Er nickte und lächelte seinem Sohn zu.

„Sie hat gesagt, dass ich alles perfekt gespielt habe, Dad!“

„Fantastisch.“ Sein Lächeln reichte noch immer nicht bis zu den Augen, und er blieb in der Tür stehen.

Steven ließ Desi los und rannte zu seinem Vater, der ihm einen Klaps auf den Po verpasste, bevor der Junge nach draußen verschwand.

„Ich will das neue Stück ganz allein probieren. Bis dann, Mrs. Desi!“

Sie legte eine Hand an den Mund. „Ohne deine Noten kommst du nicht weit.“

Er machte kehrt, schnappte sich die Hefte und rannte wieder hinaus.

„Sag Bescheid, wenn du meine Hilfe brauchst.“

Kent und Desi blieben allein zurück und starrten einander an. Ihr wurde warm.

„Darf ich dich um einen Gefallen bitten?“, begann er schließlich.

„Natürlich“, erwiderte sie hoffnungsvoll. Wollte er sich mit ihr verabreden? Nur sie beide, vielleicht sogar zu dem Mitternachtsmahl, das er erwähnt hatte?

Er nahm eine Hand aus der Hosentasche und kratzte sich eine Augenbraue. „Könntest du dich etwas von Steven zurückziehen?“

„Zurückziehen?“, wiederholte sie verdutzt. „Aber wir verstehen uns blendend, und er macht große Fortschritte.“

„Ich weiß. Das freut mich auch, aber sein Herz ist noch sehr empfindlich. Bitte versteh das.“

„Hat das etwas damit zu tun, dass du mich geküsst hast?“

„Nein. Das war schön.“ Seine Miene hellte sich ein wenig auf, und sie atmete leichter. „Glaub mir, es fällt mir schwer dich darum zu bitten.“

„Warum tust du es dann?“ Kopfschüttelnd betrachtete Desi ihre Schuhe.

„Das ist eine lange Geschichte. Ich will dich nicht damit belasten.“

„Steven und ich arbeiten gern zusammen. Ich begreife nicht, warum du das abbrechen willst. Aber du bist sein Vater, also muss ich es akzeptieren.“

Autor

Lynne Marshall
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Donna Alward

Als zweifache Mutter ist Donna Alward davon überzeugt, den besten Job der Welt zu haben: Eine Kombination einer „Stay-at-home-mom“ (einer Vollzeit – Mutter) und einem Romanautor. Als begeisterte Leserin seit ihrer Kindheit, hat Donna Alward schon immer ihre eigenen Geschichten im Kopf gehabt. Sie machte ihren Abschluss in Englischer Literatur...

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Susan Fox
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