Romana Extra Band 146

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

DEINE LIEBE BEFLÜGELT MICH von JULIE DEARING

Ein wunderschönes Schmetterlingshaus in einer Pariser Jugendstilvilla – darum soll sich Adrien kümmern. Das Beste daran ist Biologin Jenna, die ihn fesselt wie keine Frau zuvor. Doch als interne Pläne an die Presse geraten, ist Adrien klar: Jenna muss ihn verraten haben!

EIN NEUANFANG IN YORKSHIRE von JENNIFER TAYLOR

„Ich bin gekommen, um dich zu sehen, Beth. Dich und unser Baby.“ Jetzt taucht Callum auf und will Familie spielen – nachdem er sie verlassen hat, um die Welt zu retten! Aber Beth liebt ihren Ex-Mann noch immer. Kann es in den sanften Hügeln Yorkshires einen Neuanfang geben?

WIE MACHT MAN EINEN MILLIONÄR GLÜCKLICH? von SUZANNE MERCHANT

Das traumhafte Anwesen in Griechenland mit Infinitypool und Kunstschätzen will Loukas verkaufen? Kunstexpertin Sophia versteht den attraktiven, aber verbitterten Millionär nicht. Sie will ihn dazu bringen, sein kaltes Herz der Liebe zu öffnen – doch da erfährt sie sein dunkles Geheimnis …


  • Erscheinungstag 11.05.2024
  • Bandnummer 146
  • ISBN / Artikelnummer 9783751523868
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Julie Dearing, Jennifer Taylor, Suzanne Merchant

ROMANA EXTRA BAND 146

1. KAPITEL

Schwungvoll schob Jenna die bodenlangen Leinengardinen auseinander, und wie immer begeisterte sie die atemberaubende Aussicht: In der Ferne ragte der Eiffelturm in die Höhe, und nur wenige hundert Meter entfernt schlängelte sich die Seine durch die Innenstadt, vorbei an den sandsteinfarbenen Altbauten mit den filigranen Balkongittern und grauen Schieferdächern.

Noch stand die Sonne nicht hoch am Himmel, aber es schien ein herrlicher Sommertag zu werden – einer, der dazu einlud, die Treppen des Montmartre hinaufzusteigen, um im Schatten der schneeweißen Basilika Sacré-Cœur den Ausblick auf die Stadt zu genießen. Danach könnte man vielleicht im Louvre die Mona Lisa besuchen und am Abend zu Hause auf der Terrasse den Tag bei einem guten Essen ausklingen lassen. So in etwa hätte Jenna das französische Savoir-vivre beschrieben, die Kunst zu leben, welche vor allem die Menschen in Paris meisterlich beherrschten.

Ja, es war ein wunderbarer Morgen, der Lust auf genau all diese Dinge machte, von denen sie geträumt hatte, als sie in die Stadt der Liebe gezogen war. Für Jean-Pierre, der – wie sich schnell herausgestellt hatte – weniger der Treue als viel mehr aufregenden Seitensprüngen den Vorzug gab.

Hastig wandte sie sich ab, um den trüben Erinnerungen zu entkommen, und warf einen Blick in den Spiegel. So frisch zurechtgemacht, konnte sie sich sehen lassen, befand sie.

Gut, ihre Schultern schmerzten, aber das würde niemandem auffallen. Kurz schaute sie zum Sofa. Die dekorativen Boho-Kissen waren hübsch drapiert, und nichts ließ mehr darauf schließen, dass sie wieder einmal die Nacht hier verbracht hatte.

Hier, in ihrem Büro.

Sie straffte die Schultern, öffnete die Tür und lauschte. Um diese Uhrzeit war sie meist noch allein im Haus.

Jenna lief den Flur entlang, sie liebte die Architektur der Villa, die durchsetzt war mit überbordenden Jugendstil-Elementen, und passierte das Büro ihres Chefs, Olivier Mercier. Seit gut zehn Jahren leitete er das private Tropenhaus in Paris, das er schlicht Maison Tropical genannt hatte.

Sein Anliegen, vor allem die Jugend an den Arten- und Naturschutz heranzuführen, hatte Jenna bewogen, sich auf die nicht gerade üppig bezahlte Stelle als Biologin zu bewerben. Seit gut einem Jahr arbeitete sie nun hier und brachte Jugendlichen näher, wie Ökosysteme miteinander verwoben waren und welche Bedeutung Klimazonen zukam.

Sie betrat den Tropenbereich und passierte Schirm- und Strahlenpalmen, an denen sich Kletterpflanzen hinaufwanden. Im Vorbeigehen strich sie mit dem Finger über die fächerartigen Blätter der Panamahut-Palmen und sah Bromelien- und Orchideenblüten zwischen den Farnen leuchten. Gut gelaunt näherte sie sich dem Schmetterlingshaus, das an einen überdimensionierter Wintergarten aus Glas erinnerte – nur, dass dieser in die Villa hineingebaut war.

Als sie den „gläsernen Palast“ betrat, wie sie das Schmetterlingshaus gern nannte, erfüllte sie eine warme Glückseligkeit. Niemand in dieser Stadt, davon war sie überzeugt, hatte einen Arbeitsplatz, der mehr Freude schenkte. Die Farben der Falter schimmerten im goldenen Morgenlicht: festliches Königsblau, schwarz-rot-weiße Muster, leuchtendes Gelb und Grün sowie eine Vielzahl an Orange-, Braun- und Ockertönen. Während sie überprüfte, ob schon weitere Falter aus den Kokons geschlüpft waren, hörte sie den Holzboden knarren – das musste ihr Chef sein.

Summend betrat Olivier Mercier die Tropenhalle. Er war Mitte fünfzig, hatte einen Genießerbauch und trug stets ein gutmütiges Lächeln im Gesicht. Jeden Tag begann er, wenn möglich, mit einem kurzen Abstecher ins Schmetterlingshaus. Seit Jenna als wissenschaftliche Mitarbeiterin für ihn arbeitete, war das ihr gemeinsames morgendliches Ritual. Dabei tauschten sie sich darüber aus, welche Aufgaben an diesem Tag auf sie warteten.

Er öffnete die Tür zum Schmetterlingshaus und nahm auf einer der Bänke Platz. Dann stellte er die beiden Milchkaffee-Becher ab, die er wie jeden Morgen mitgebracht hatte. Selbstverständlich Pfandbecher, Wegwerfgeschirr gab es bei ihm nicht. Er ließ die unter den Arm geklemmte Post auf die Bank fallen und zog zwei gepolsterte Umschläge hervor. „Ich glaube, das sind die zwei Exemplare, die du für die Schmetterlingssammlung erworben hast.“

Jenna setzte sich neben ihn auf die Bank. „Vorsicht, die sind uralt! Sie stammen aus einer Sammlungsauflösung und werden unsere aufwerten.“

Olivier musterte Jenna eingehend. „Wie lange soll das eigentlich noch so weitergehen?“, fragte er unvermittelt.

Irritiert sah sie ihn an. „Was soll wie lange weitergehen?“

„Du hast wieder im Büro geschlafen.“

Verdammt, ertappt. Sie hatte gehofft, es würde ihm entgehen, dass sie in letzter Zeit regelmäßig auf dem Sofa nächtigte. Das Leben in der Wohngemeinschaft, in der sie temporär untergekommen war, ließ sich aushalten, aber der Weg zur Arbeit war lang. Zeit, die sie sich gern sparte, um auf ihrem provisorischen Nachtlager noch ein gutes Buch zu lesen. Kurz warf sie einen skeptischen Blick auf ihre Bluse. Hatte die sie verraten?

Olivier lächelte. „Ja, du hast wieder die Bluse an, die du gestern getragen hast. Ich bin Franzose, ich sehe so etwas. Als du hier angefangen hast, wechselte deine Kleidung täglich. Außerdem bist du auffällig häufig vor mir im Haus, egal, wie früh ich zum Dienst erscheine.“

Jenna wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch Olivier winkte ab. „Ich habe kein Problem damit, wenn du hin und wieder über Nacht im Büro bleibst. Du solltest aber auf deine Work-Life-Balance achten. Du bist seit der Trennung mehr oder weniger mit deiner Arbeit verheiratet.“ Olivier griff nach einem der Kaffeebecher und hielt ihn ihr entgegen. „Du machst einen klasse Job. Pass auf dich auf, versprichst du mir das?“

Jenna nickte und schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an. Bisher waren die Anstellung im Maison Tropical und ihr gutmütiger Chef mit dem großen Herzen das Beste, was ihr in Paris passiert war.

Er kannte auch Jean-Pierre, dem sie vor zwei Jahren in Paris begegnet war. Damals hatte ihr früherer Arbeitgeber, die London School of Hygiene and Tropical Medicine, sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin zu einer Klimazukunftskonferenz geschickt. Jean-Pierre betreute als Gastronom einen der Messestände. Es hatte sofort gefunkt zwischen ihnen, und so führten sie ein Jahr eine Fernbeziehung, bis sie den großen Schritt gewagt hatte und nach Paris gezogen war.

Olivier hatte miterlebt, wie sie in ihrer Anfangszeit durch die Villa geschwebt war, vor Glück, dass sich alles so gefügt hatte: Endlich mit Jean-Pierre zusammenzuleben und dazu der großartige neue Job – es waren wundervolle fünf Monate gewesen. Aber auch das jähe Erwachen war ihrem Chef nicht verborgen geblieben, als Jenna feststellte, dass Jean-Pierre eine weitere Beziehung führte. Sofort hatte sie die Reißleine gezogen und sich getrennt.

Eines war seitdem sicher: Diese französischen Filous mit ihrem umwerfenden Charme und dem weichen Akzent, durch den die Lügen klangen, als wären sie ein gehauchtes Chanson, konnten ihr gestohlen bleiben. Für sie war es undenkbar, sich irgendwann wieder auf einen Kerl einzulassen. Sie vermutete, die Zeit würde die Wunden heilen, aber sicher war sie nicht. Wenn die Zeit dies gnädigerweise erledigen wollte, dann war sie, Jenna, die mit neunundzwanzig Jahren bäuchlings in Paris gestrandete Engländerin, von einer Heilung noch immer Lichtjahre entfernt.

Jenna nahm einen Schluck Kaffee und spürte das Knistern des in sich zerfallenden Milchschaums auf ihrer Zunge. Wenn der Chef ihr vorwarf, mit der Arbeit verheiratet zu sein, hatte er recht. Hier, in ihrem gläsernen Palast, musste sie nicht fürchten, verraten und belogen zu werden.

„Heute Vormittag haben wir zwei Führungen, beides Schulklassen“, unterbrach Olivier ihre Gedanken und blätterte die Umschläge durch. Er fischte einen Brief aus dem Stapel heraus.

Etwas an seinem Blick ließ Jenna aufmerken. „Was ist?“, fragte sie. Laurent Corporated konnte sie als Absender entziffern. „Seit wann benutzt Monsieur Laurent diese Firmierung?“

Olivier öffnete den Brief und las. „Dieses Anschreiben ist nicht von Bernard Laurent“, sagte er dabei. „Offensichtlich hat er sich zur Ruhe gesetzt und die Geschäftsführung für die Villa an einen Junior übergeben.“

„Laurent Junior?“ Jenna schüttelte den Kopf. Sie konnte sich nicht erinnern, dass der alte Herr jemals einen Sohn erwähnt hätte, und er hatte regelmäßig vorbeigeschaut, im Schnitt alle sechs bis acht Wochen. Aus reiner Verbundenheit, wie er betonte. Allerdings hatten sich die Gespräche stets um die Villa und die Arbeit des Tropenhauses gedreht, auch bei seinem letzten Besuch vor knapp zwei Monaten. Monsieur Laurent hatte etwas gebrechlicher gewirkt und erstmals einen Gehstock genutzt, doch sein Verstand war klar gewesen. Seine Äußerungen waren stets durchzogen vom Charme der alten Schule, gepaart mit trockenem Witz, den Jenna sehr schätzte. Gemeinsam hatten sie die Villa besichtigt, die wunderschön, aber in die Jahre gekommen war. Es war zugig im Haus, und einige Dachziegel wirkten, als würden sie sich demnächst verabschieden. Die ausladenden Fensterläden mussten lackiert werden, der Parkettboden lechzte nach Öl, und ein neuer Anstrich der Wände hätte ebenfalls angestanden. Monsieur Laurent Senior war nichts davon entgangen, aber er war entspannt geblieben. „Das kann man noch eine Weile so lassen, das machen wir dann demnächst mal“, hatte er gesagt und das Thema gewechselt. Jenna konnte sich daran erinnern, sogar erleichtert gewesen zu sein, dass die Ruhe im Haus, die für ein konzentriertes Arbeiten mit Jugendlichen wichtig war, vorerst nicht durch den Lärm von Bauarbeiten gestört werden würde. Hatte sie – und vielleicht auch der alte Herr – die Augen vor Aufgaben verschlossen, die sich nun zu Problemen auswuchsen?

„Nun gut“, kam sie zum Thema zurück, „da schreibt der Junior. Was will er?“

„Er scheint Architekt zu sein.“ Olivier tippte auf seinem Handy herum. „Ja, tatsächlich, er ist achtunddreißig, Single, kinderlos und führt ein preisgekröntes Architekturbüro in Paris. Ich kenne sogar sein Gesicht aus den Medien.“ Er hielt Jenna das Smartphone entgegen. „Hast du ihn auch schon mal gesehen?“

Das Display spiegelte, und sie konnte nur grob einen Mann mit dunklem Haar ausmachen. „Nein, ich glaube nicht. Aber nicht einmal in London hätte ich einen Architekten namentlich gekannt.“

„Ach, der ist immer wieder in den Klatschspalten, weil er ständig irgendwelche Models datet. Aber ich habe ihn nie mit dem Senior in Verbindung gebracht.“ Olivier klickte weiter durch die Beiträge. „Hier gibt es Artikel, die sind schon steinalt, irgendwelcher Familienkram. Aber das hilft uns nicht weiter.“ Mit besorgter Miene steckte er das Handy wieder ein.

„Übernimmt dieser Laurent Junior jetzt die Geschäfte?“

„Er erklärt, dass er künftig unser Ansprechpartner ist und …“, Olivier öffnete erneut den Briefbogen, „er kündigt einen Baugutachter an.“

„Ist das jetzt gut oder schlecht?“

„Wenn der Senior die Villa saniert hätte, bin ich mir sicher, dass es nicht zu unseren Lasten gegangen wäre. Denn Modernisierungen führen oft zu Mieterhöhungen, weil die Kosten an die Mieter weitergegeben werden. Davor hatte ich immer Sorge, nun frage ich mich, ob ich nicht doch auf einige kleinere Sanierungen hätte bestehen sollen. Ich bin sicher, dass Laurent Senior da finanziell verträgliche Lösungen gefunden hätte. Aber das Vorhaben des Juniors klingt jetzt nach der Brechstange: Wenn dieses Haus unter marktüblichen Bedingungen modernisiert wird, werden wir uns die Miete nicht mehr leisten können.“

Jenna legte sich die Hand auf den Bauch, ihr Magen rebellierte. Sie hatte noch nicht gefrühstückt, und die Reaktion auf die schlechten Nachrichten war ein stechendes Ziehen unter dem Rippenbogen.

Auch wenn es Olivier nicht aussprach, wusste sie, dass ein vergleichbares Mietobjekt in Paris kaum zu finden sein würde, zumindest keines, das sie mit ihren Einnahmen finanzieren könnten. Sie brauchten einen großen Garten, denn zahllose tropische Pflanzen würden umziehen müssen. Auch das future lab benötigte Platz. In diesem Raum luden zehn Computer die Schulklassen dazu ein, von Künstlicher Intelligenz modellierte Klimamodelle auszuwerten. Zudem gab es im future lab einen riesigen Tisch mit Mikroskopen, die überwiegend von jüngeren Schülern genutzt wurden, um Wasserproben zu untersuchen. All das zu transportieren, würde eine logistische Herausforderung werden. Doch das größte Problem wäre das Schmetterlingshaus. Ob es sich überhaupt woanders aufbauen ließ? Es war schließlich für seinen Standort maßgefertigt worden. Und wie sollten die Schmetterlinge die Villa verlassen? Die Rücklagen der Einrichtung waren spärlich, sie würden nicht ausreichen, um einen derart komplexen Umzug zu stemmen.

Sie heftete den Blick auf das Papier. Dieses strahlende Weiß, das ihren Alltag ins Wanken brachte. Ohne Job würde sie das WG-Zimmer nicht mehr lange bezahlen können. „Wir lassen uns nicht vergraulen“, sagte sie und zupfte wütend mehrere trockene Blätter aus einer Passionsblume. Zwei Schmetterlinge flogen auf. Schuldbewusst sah Jenna ihnen nach, während sie sich an anderer Stelle niederließen.

„Niemand hat gesagt, dass er uns kündigt“, erwiderte Olivier. „Lass uns abwarten.“

„Der Mann hat gerade das Ruder übernommen, und schon ist ein Baugutachter angekündigt. Das kann nichts Gutes bedeuten. Wann soll er denn kommen?“

Olivier zuckte mit den Schultern. „Eine gute Frage, warte …“ Noch einmal überflog er den Brief, dann weiteten sich seine Augen. „Heute? Ja, heute! Das kann nicht sein, das wäre etwas kurzfristig …“

Ein Klingeln ließ sie zusammenzucken. Beide schauten sie zur Uhr hinauf. Es war 9 Uhr. Das Tropenhaus würde erst um 10 Uhr öffnen.

„Erwartest du jemanden?“, fragte Jenna.

„Nein“, sagte Olivier und erhob sich. „Ich gehe mal schauen, wer das ist.“

Wenige Minuten später stand er in Begleitung eines Herrn mit Aktentasche wieder vor ihr, und Jenna war sicher, dass Olivier eine Spur blasser war als zuvor. Ihr Chef nickte ihr unauffällig zu, und sie ahnte, was er zu vermitteln versuchte: Dieser sichtbar übellaunige Besucher war der Baugutachter.

Adrien Laurent trommelte mit den Fingern den Takt der Musik auf dem Lenkrad mit. Er hatte das Verdeck seines schwarzen Aston Martins heruntergefahren, und die Morgensonne wärmte bereits.

Am Ende der Rue Devierant konnte er die Villa inzwischen ausmachen. Aus der Ferne wirkte die Fassade passabel, das Dach war jedoch in einem weniger erfreulichen Zustand. Immer noch den Takt trommelnd, zuckte er mit den Schultern. Dann musste das eben gemacht werden.

Er war erstaunt, wie sehr es ihm gelang, eine professionelle Distanz zu halten, das Haus ausschließlich als eine Immobilie anzusehen, mit der er sich zu befassen hatte. Seine Mutter hatte die Villa als junge Frau von ihren Eltern vererbt bekommen, aber immer anderweitig vermietet. Meist an soziale Projekte, soweit er sich aus verschiedenen Besuchen erinnern konnte.

Nun hatte ihn sein Vater – nach Jahren des gegenseitigen Schweigens – kontaktiert, ein Anruf, der ihn selbst im Nachhinein noch seltsam berührte. Ohne auch nur im Ansatz mit einer versöhnlichen Geste eine Brücke über die Vergangenheit zu schlagen, hatte sein alter Herr ihm eröffnet, sich aus gesundheitlichen Gründen in eine Seniorenresidenz zurückgezogen zu haben. Ein Haus der Spitzenklasse, so viel hatte Adrien inzwischen im Internet recherchiert. Auf die Erkrankung hatte er nicht näher eingehen wollen, was Adrien durchaus beunruhigte. Aber so war Bernard Laurent: Er tat, was er wollte, alle anderen hatten mit seinen Entscheidungen zu leben. Genauso überraschend wie der Anruf an sich war die Bitte gewesen, die Verwaltung der Villa zu übernehmen. Adrien war nicht in der Lage gewesen, adäquat zu reagieren – was ihm selten passierte. Er hatte sich in Professionalität geflüchtet, ganz so, als würde er mit einem x-beliebigen Kunden telefonieren, der ihn wegen einer Immobilie beauftragte. Noch immer wusste er nicht, was er von dieser neuen Aufgabe halten sollte.

Als er sein Ziel erreichte, fuhr er auf den Parkplatz, schloss das Verdeck des Coupés und lief auf den Haupteingang zu. Das ehemals weiß getünchte Haus lag in einer parkähnlichen Anlage, die dicht bewachsen und von Kieswegen durchzogen war. Rechts und links der doppelflügeligen Holztür trugen zwei Säulen ein Vordach. Die dunkelgrünen Fensterläden und ein Balkon mit schmiedeeisernem Geländer rundeten die imposante Optik ab.

Im Entrée hielt Adrien kurz inne und ließ den Blick durch die lichtdurchflutete Halle schweifen. Rechts gab es einen Ticketschalter, hinter dem eine junge Frau saß und ein Buch las – dem Alter nach zu urteilen, war sie vermutlich eine studentische Aushilfe. Mehrere große Stelltafeln mit Schaubildern exotischer Landschaften verrieten den Aufbau der Ausstellung.

Ins Obergeschoss führte eine geschwungene Treppe, die in jedem Hollywoodschinken für den großen Auftritt der Diva geeignet gewesen wäre. Erstaunt schüttelte er den Kopf. Was für Gedanken machte er sich? Sicherlich war es die Erinnerung an seine Mutter, die sowohl in ihrem Auftreten als auch in ihrem Äußeren eine eindrucksvolle Erscheinung gewesen war und auf dieser Treppe überzeugend gewirkt hätte – sogar ohne Glamour und Glitter.

Er ließ den Blick weiterschweifen. Die Scheuerleisten müssen erneuert, der Boden sogar abgezogen werden, notierte Adrien gedanklich.

Eine Schulklasse kam aus einem Nebenraum, der durch ein Schild über der Tür als Garderobe ausgewiesen wurde. Die Jugendlichen versammelten sich neben der Treppe in Begleitung zweier Lehrerinnen.

Zeitgleich bemerkte Adrien eine Frau auf der Treppe. Sie war hochgewachsen und hatte schulterlanges Haar, dessen Farbe ihn an Honig erinnerte. Unvermittelt meinte er zu wissen, wie weich es sich anfühlen würde und dass es nach Sommer roch, nach Blüten und eben eine Nuance nach Honig. Irritiert über diese Gedanken beobachtete er, wie die Frau elegant die Stufen hinunterschritt. Die dunkle Hose im Marlene-Schnitt passte hervorragend zu der cremefarbenen Bluse, die ihren hellen Teint unterstrich. Auf der letzten Treppenstufe verharrte sie, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Im Affekt trat Adrien zu den Jugendlichen und musterte die Frau aus der Nähe. Ihre kastanienbraunen Augen und die zarten Sommersprossen, die sich über ihre Nase und Wangen zogen, bildeten ein perfektes Zusammenspiel, das den Blick abschließend auf ihre sinnlichen Lippen lenkte.

„Es freut mich“, begrüßte sie die Gruppe, „dass ihr heute bei uns im Maison Tropical zu Besuch seid, um in exotische Welten einzutauchen. Mein Name ist Jenna Davis, ich bin Biologin und, wie ihr an meinem Akzent hört, noch nicht lange in dieser wundervollen Stadt. Aber ich kann euch versprechen, ich kenne inzwischen in Paris einen Ort“, sie senkte die Stimme, „den werdet ihr nicht vergessen. Niemals.“

Adrien war beeindruckt: Die Schulklasse lauschte gebannt, und selbst er wollte nun unbedingt erfahren, welchen Ort diese Madame Davis ihnen zeigen wollte. So viel er wusste, gab es Schmetterlinge im tropischen Bereich, zumindest hatte ihm das die Internetseite verraten. Er hatte sich dort über die Einrichtung informiert und beschloss nun, der Schulklasse zu folgen. Die Biologin schien davon auszugehen, dass er dazugehörte – vermutlich hielt sie ihn für einen Lehrer. So schlug er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Er würde den so geheimnisvoll angekündigten Ort sehen und wurde durchs Haus geführt – eine gute Gelegenheit, um einen Eindruck zu bekommen, in welchem baulichen Zustand sich die Villa befand. Die Unterlagen, die sein Vater ihm zur Verfügung gestellt hatte, gaben wenig Aufschluss, was in letzter Zeit am Haus gemacht worden war. Oder, und diese Möglichkeit bestand, es war einfach lange nichts gemacht worden. Das Gutachten würde alles im Detail zusammenfassen und die entstehenden Kosten auflisten. Aber sich selbst einen Eindruck zu verschaffen, könnte nicht schaden.

Sein Blick blieb an Jenna Davis’ Rücken hängen, die ihnen voranlief. Schlank war sie und wirkte trotz ihrer Größe zierlich, fast zerbrechlich. Ihr Hals war schwanenhaft schön, und Adrien ärgerte sich über die wohlige Gänsehaut, die ihm bei diesem Anblick den Rücken hinablief. Er war kein Kostverächter, aber er legte Wert darauf, Vergnügen und Arbeit zu trennen. Sich während einer Objektbesichtigung von einer Frau ablenken zu lassen, das war höchst unprofessionell.

Doch seine Gedanken kehrten umgehend zu ihr zurück, denn sie wandte sich um und wies auf den Nebenraum. Der Anblick erstaunte ihn. Hier mussten irgendwann mehrere Wände entfernt worden sein, um einen Raum in Saalgröße zu schaffen, auch die großzügige Fensterfront zum Garten hin war nachträglich eingezogen worden. Einem Gewächshaus gleich drängten sich dort exotische Pflanzen. Er roch Blütensüße, vermischt mit dem Geruch nasser Torferde und nahm die höhere Luftfeuchtigkeit wahr, die es für viele der Gewächse brauchte.

Eloquent erklärte Jenna Davis, dass sie sich der Tropenhalle später widmen würden. Im Anschluss daran würden sie einen Bereich durchqueren, in dem sie unterschiedliche Klimazonen kennenlernen könnten.

Adrien erinnerte sich, auf der Internetseite Fotos von einem Raum gesehen zu haben, in dem mehrere meterhohe künstliche Berge aufragten, während in einem anderen Sandlandschaften angelegt waren, die Wüstengegenden imitieren sollten. Es waren noch weitere Themen dabei gewesen, die ihm entfallen waren. Tatsächlich hielt dieses Maison Tropical viele Überraschungen bereit, und er musste unbedingt noch einmal prüfen, wie viele Quadratmeter die Villa ursprünglich gehabt hatte und welche Anbauten im Laufe der Zeit hinzugekommen waren.

Er konzentrierte sich wieder auf die Biologin.

Sie lächelte ihn an, und er merkte, wie auch auf seinem Gesicht sofort ein warmes Lächeln als Antwort erstrahlte, eines, das nicht nur seine Augen erreichte, sondern etwas tief in ihm berührte. Sie war schön. Sie war witzig, sie war freundlich, und sie war klug. Das waren viele Eigenschaften, und er war erstaunt, dass er sie in kurzer Zeit so überdeutlich wahrnahm.

Sie war so anders als viele der Frauen, denen er bisher begegnet war.

Seine letzten Versuche, sich auf Beziehungen einzulassen, waren kläglich gescheitert. Wenn er ehrlich war, hatte dies aber weniger an seinen Partnerinnen gelegen. Die Wurzeln des Scheiterns reichten bis in dieses Haus hinein. Zumindest im übertragenen Sinne. Nach dem Tod seiner Mutter – ihr Wagen war an der Côte d’Azur in einer Serpentine ausgebrochen und in die Tiefe gestürzt – hatte sich die Presse am Schicksal seiner Familie abgearbeitet. Adrien hatte von diesem Zeitpunkt an die Öffentlichkeit gemieden, geschockt vom Verlust seiner Mutter und dem Medienrummel. Diese Erfahrungen waren damals für ihn als Siebzehnjähriger schwer zu verkraften gewesen. Aber auch das Verhalten seines Vaters in den darauffolgenden Monaten hatte ihn um seine Fassung gebracht, denn der hatte ihn, gegen seinen Willen, in ein Internat geschickt. Abgeschoben, einfach so. Er hatte sich auch nicht sonderlich für das Architekturstudium seines Sohnes interessiert, das Adrien nach einem bravourösen Schulabschluss begonnen hatte. Vermutlich hatte Bernard Zeit gebraucht. Denn zahlreiche Frauen hatten den reichen Witwer trösten wollen, und binnen kürzester Zeit erlebte der einen zweiten Frühling. Das Entsetzen darüber, dass die Trauerphase seines Vaters derart kurz war, hatte Adrien lange nicht händeln können. Er hatte die Schlussfolgerung gezogen, dass Liebe austauschbar und Vertrauen nicht einmal innerhalb der Familie möglich war. Kurzerhand hatte er den Kontakt zu Bernard auf ein Minimum reduziert und kaum, dass er auf eigenen Beinen stand, abgebrochen. Seither ließ er keine Nähe mehr zu und hielt jeden auf sicherer Distanz.

„Und nun ist es so weit“, drang die Stimme der Biologin in seine Gedanken vor, warm und weich schob sie die düsteren Bilder beiseite. Sonnig, dachte er, ihre Stimme und ihre Art sind sonnig. Wie es wohl war, mit ihr einen Abend in einem guten Restaurant zu verbringen? Sicherlich kurzweilig. Und intellektuell anregend. Wenn er sich denn, ob der reizvollen Aussicht, auf die Inhalte konzentrieren könnte. Vielleicht sollte er sie einfach mal einladen?

Erstaunt bemerkte er den Glaskasten, vor dem sie inzwischen standen und der sich erstaunlich gut in den Gesamteindruck des Hauses einfügte. Wie sein Vater die Genehmigung für all diese Ein- und Umbauten vom Denkmalschutz erhalten hatte, war ihm ein Rätsel.

„Das ist unser Schmetterlingshaus, und ihr müsstet eure Rucksäcke ablegen“, erklärte Jenna Davis.

Bereitwillig ließen die Jugendlichen alles stehen und liegen, was sie an der Garderobe nicht hatten abgeben wollen.

„Lasst bitte äußerste Vorsicht walten“, fuhr die Biologin fort. „Es ist wahrscheinlich, dass sich Schmetterlinge auf euch setzen. Sie sind harmlos, selbst wenn sie größer sind. Genießt den Moment, Fragen können wir später besprechen.“

Adrien nickte, dann erinnerte er sich, dass er eigentlich nicht zur Gruppe zählte und damit nicht angesprochen worden war. Aber was macht das schon? dachte er. Er würde es sich trotzdem anschauen.

In diesem Moment bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Ein kleiner Mann mit mittelgroßem Bauch und riesigem Lächeln kam auf ihn zugelaufen.

„Dann habe ich das ja vorhin richtig gesehen, Monsieur Laurent, dass Sie auf den Parkplatz gefahren sind. Ich habe Sie schon gesucht, ich hatte nicht damit gerechnet, Sie hier zu finden“, sagte er und breitete die Arme aus. „Aber nachdem heute Morgen schon Ihr Baugutachter zu Besuch war, überrascht mich gar nichts mehr.“

In Adrien keimte ein unwohles Gefühl auf. Ob seine Assistentin wieder die Briefe tagelang in der Handtasche mit sich herumgeschleppt hatte, anstatt sie zu versenden? „Ich hoffe, Sie waren rechtzeitig informiert?“, fragte er hastig.

Der Mann winkte ab. „Sicher, fünfzehn Minuten reichen doch“, sagte er und zwinkerte.

„Das tut mir leid“, erwiderte Adrien, „meine Assistentin, na ja …“

„Macht wirklich nichts! Nicht jeder kann so eine Fachfrau wie ich als seine Angestellte bezeichnen.“ Er wies auf die schöne Biologin, die Adrien jetzt anstarrte.

Durchaus ungläubig.

Etwas verärgert vielleicht. Oder sehr verärgert?

Eine Zornesfalte bildete sich auf ihrer Stirn, und ihre Augen funkelten gefährlich.

Adrien nickte ihr zu, angetan, wie hinreißend sie selbst in ihrer Wut aussah. „Ich wollte mich die ganze Zeit schon vorstellen, aber Ihr Vortrag war so faszinierend, da wollte ich nicht stören“, sagte er, um einen entschuldigenden Tonfall bemüht.

Nun wies der korpulente Mann, der Olivier Mercier sein musste, zum Flur. „Schön, dann folgen Sie mir doch bitte, Monsieur Laurent, damit wir uns erst einmal kennenlernen.“

„Ja“, ertönte es von Jenna Davis, deren Stimme nun gar nicht mehr sonnig klang. „Ich gehe davon aus, dass Sie warten, bis ich hier fertig bin. Eines kann ich Ihnen versprechen: Sie werden mich auch noch kennenlernen!“

Einige der Jugendlichen kicherten.

Adrien erkannte an den verstohlenen Blicken, die über ihn hinweghuschten, dass sie nicht mit ihm tauschen wollten. Er konnte ihnen nur zustimmen – die Begegnung mit dieser Frau würde sicherlich anders verlaufen als zuvor erhofft.

2. KAPITEL

Die Jugendlichen starrten Jenna an. Olivier und dieser Laurent Junior waren inzwischen aus ihrem Blickfeld verschwunden, doch die Aufmerksamkeit in der Schülergruppe blieb unverändert hoch. Selbst die Lehrerinnen musterten sie, allerdings ein wenig amüsiert.

„Das hat mich aus dem Konzept gebracht“, sagte Jenna.

„Wie so ein Stalker!“, rief einer der Jungen.

Das Gelächter seiner Mitschüler löste den unangenehmen Moment auf, selbst Jenna musste schmunzeln. „So weit würde ich nicht gehen, aber wir können jetzt fortfahren: Ihr müsst äußerst behutsam vorgehen, und ihr habt das ja gerade miterlebt“, sie hob drohend den Finger und grinste verschmitzt, „mit mir ist im Zweifelsfall nicht gut Kirschen essen.“

Einige der Jugendlichen strafften die Schultern, als wollten sie salutieren.

Die Albernheit ihrer Besucher machte es Jenna leicht, das Thema wieder auf die Schmetterlinge zu lenken, doch innerlich brodelte es in ihr.

Tatsächlich hatte sie den Feind durchs Haus geschleppt – nichtsahnend!

Kurz überlegte sie, ob das Wort „Feind“ nicht ein wenig hoch gegriffen war, aber ihre Wut ließ keine Zweifel. Da hatte dieser Laurent ihnen unangekündigt den Gutachter auf den Hals geschickt – und dann schob er die Schuld noch auf seine Angestellte!

Kurz sah sie den Gutachter vor sich. Ausgesprochen wortkarg und unfreundlich war er vorhin durchs Haus gestürmt, hatte alles vermessen, fotografiert, sich Notizen gemacht und dabei immer wieder betroffen den Kopf geschüttelt. Ja, er gab ihnen das Gefühl, sie hätten die Villa komplett verkommen lassen. Dabei kannte der alte Monsieur Laurent den Zustand des Hauses, und er hatte ihn so hingenommen. Warum, darüber konnten Olivier und sie nur spekulieren, aber dass man dem Maison Tropical nun Vorwürfe machte, brachte Jenna innerlich zur Weißglut. Als der Gutachter dann allein für die Renovierung des Daches einen sechsstelligen Betrag nannte, war ihr jedoch schwindelig geworden.

Mit strengem Blick hatte der Gutachter über seine Notizen hinweg zu ihr aufgeschaut und gesagt: „Ja, da hätte man viel früher aktiv werden müssen. Aber retten Sie doch lieber erst mal die Welt, bevor Sie sich um das Naheliegende kümmern!“

Jenna hatte nach Luft geschnappt, und Olivier hatte ihn konsterniert weiter durchs Haus geführt.

Als ihr Chef nach der Verabschiedung des Gutachters wieder zu ihr stieß, zeigte er sich allerdings ebenso erbost. Von diesem Moment an hatte anscheinend auch Olivier eingesehen, dass Laurent Junior, der neue Ansprechpartner, nichts Gutes verhieß. Sein persönliches Erscheinen – das im Übrigen auch nicht angekündigt gewesen war – hatte das deutlich unterstrichen.

Jenna schob den Gedanken an den groß gewachsenen Mann mit dem dunklen Haar und dem Dreitagebart beiseite und versuchte, sich auf die Schüler zu konzentrieren, die sich inzwischen im gläsernen Palast um sie herum versammelt hatten und von sich aus nur noch im Flüsterton sprachen.

„Ihr habt Glück“, wandte sie sich an die Jugendlichen und zeigte auf einen Schmetterling, der sich auf eine rote Blüte in ihrer Nähe gesetzt hatte. „Das ist ein Glasflügelfalter, er zeigt sich selten. Seine Flügel sind bis auf den dunklen Rand und kleinere Flächen nahezu durchsichtig. Wenn ihr genau hinschaut, könnt ihr durch seine Flügel die Blüten sehen.“

Noch immer fühlte Jenna die Unruhe des Morgens in sich, aber die Jugendlichen bemerkten es nicht, sie waren gebannt von den Schmetterlingen: Der bernsteinfarbene Atlasspinner beeindruckte mit seiner Flügelspannweite und den Flügelspitzen, die Schlangenköpfen ähnelten, während die stachelige Raupe des Kleinen Postboten, die sich gerade an einer Passionsblüte gehäutet hatte, für Rührung sorgte.

Als sie die Führung beendet und die Schulklasse im Foyer verabschiedet hatte, stürmte sie zu Oliviers Büro. Hoffentlich war dieser Laurent noch da. Eine halbe Stunde blieb ihr, ehe die nächste Schulklasse eintreffen würde, bis dahin musste sie diesem Mann die Leviten gelesen haben.

Vor der Tür hielt sie kurz inne, strich die Bluse glatt und fuhr sich noch einmal durchs Haar. Dann klopfte sie an und stieß im nächsten Moment schon die Tür auf. „Guten Tag, die Herren“, sagte sie mit einer um Nuancen dunkleren Stimme als gewöhnlich, dabei starrte sie Laurent an. Sie wusste, dass es unhöflich war, aber sein Verhalten hatte ebenfalls zu wünschen übrig gelassen.

Laurent saß entspannt im Sessel, aufmerksam erwiderte er ihren Blick.

Himmel, sieht er gut aus, durchfuhr es Jenna. So muskulös, aber nicht übertrieben. Und die dunklen, leicht gewellten Haare wirkten, als wäre gerade der Wind hindurchgefahren. Mit den lässig aus dem Gesicht gestrichenen Strähnen konnte er durchaus als jüngerer Bruder von George Clooney durchgehen, und das wusste er. Ja, er wusste, wie gut er aussah, da war sich Jenna sicher. Dieser Mann strotzte vor Selbstbewusstsein.

Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie damit ihre Irritation beiseiteschieben. „So, Monsieur Laurent spaziert also gern mal unangekündigt durchs Haus? Schaut sich ein bisschen um? Ihr Verhalten war befremdlich, und das vor den Jugendlichen! Wir haben hier eine Vorbildfunktion inne, im Umgang mit unserer Umwelt und dazu gehört auch der Umgang miteinander. Ich kann es noch immer nicht glauben, was sich hier eben zugetragen hat.“

Sie bemerkte, wie Olivier die Hände hob, vermutlich, um sie zu beschwichtigen, aber jetzt war sie in Fahrt gekommen. „Wissen Sie was? Das mache ich auch – bei Ihnen im Büro! Ich setze mich im Tross Ihrer Kunden mit in eine Ihrer Präsentationen und schaue, was passiert.“

„Jenna, bitte! Nimm Platz“, fiel Olivier ihr ins Wort. „Monsieur Laurent hat inzwischen eingeräumt, dass es sich um eine unglückliche Verkettung von Umständen gehandelt hat, die ihm äußerst unangenehm ist.“

Jenna dachte nicht daran, sich zu setzen. Es war eine interessante Perspektive – so von oben herab auf diesen Filou zu schauen.

Eine Strähne fiel ihm ins Gesicht und ließ ihn noch mehr wie den charmanten Schauspieler aussehen, der als Arzt in einer Krankenhaus-Serie weltweit die Herzen der Frauen erobert hatte. Zudem hatte er erstaunlich blaue Augen – mit beneidenswert langen Wimpern. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich inzwischen eine Zornesfalte.

Innerlich grinste Jenna. Na, ist es dir unangenehm? dachte sie und fuhr voller Elan fort: „Da hetzen Sie uns morgens einen Baugutachter auf den Hals, der uns unterstellt, wir hätten uns in keiner Form für Ihre Immobilie interessiert. Wir haben hier gestanden und die Fensterrahmen lackiert und die Türen geölt. Wir haben diese Bausubstanz gepflegt und in Schuss gehalten.“

Nun sprang Laurent auf und trat einen Schritt auf sie zu. Er war deutlich größer und roch dezent nach einem Aftershave mit Sandelholznote – ein Duft, den Jenna schon immer gern gemocht hatte. Heute verursachte er ihr ein Kribbeln, das durch ihren Bauch zog.

„Madame“, sagte Laurent und bemühte sich nicht darum, seine Verärgerung zu verbergen. „Bisher ist das Gespräch ausgesprochen zivilisiert verlaufen. Vielleicht sollten Sie erst einmal Platz nehmen und sich anhören, was wir bisher besprochen haben.“

Jenna verschränkte die Arme und bewegte sich keinen Zentimeter.

Nun blickte Laurent zu ihrem Chef: „Diese Frau haben Sie vorhin als Ihre vorbildliche Angestellte bezeichnet?“

Bevor Olivier etwas erwidern konnte, legte Jenna nach: „Wenn Sie das Haus jetzt restaurieren lassen, werden Sie die Miete erhöhen. Wir werden sie uns nicht leisten können, und dann müssen wir …“

„Wollen wir nicht erst einmal das Gutachten abwarten?“, fiel Laurent ihr ins Wort.

„Wenn das vorliegt, treffen Sie in Ihrem Büro eine Entscheidung, und wir erhalten – vermutlich erheblich verspätet –, ein knappes Anschreiben. Nein, wir können nicht abwarten. Es ist doch immer das Gleiche mit Investoren, lassen Sie uns direkt Klartext sprechen.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich habe einen Anschlusstermin. Wir können das Gespräch gern weiterführen“, dabei blickte er zu Olivier, der sich die Haare raufte, „allerdings unter vier Augen.“

Jenna sog die Luft ein. „Sie kneifen?“, fragte sie empört. „Nur weil ich meine Sorgen kritisch äußere?“

„Gegen Sorgen und Kritik habe ich nichts einzuwenden, diese können sachlich diskutiert werden. Bisher höre ich aber nichts, was auch nur im Ansatz sachlich besprochen werden kann.“ Das markante Kinn des Mannes zuckte. Er versuchte, an Jenna vorbeizugehen.

„Dann müssen wir wohl die Presse an Bord holen. Das ist doch ein Klassiker für die Medien, einer, auf den sie sich immer gern stürzen: Der fiese Immobilienhai verschlingt Bildungseinrichtung! Wie viele Jugendeinrichtungen sind schon geschlossen worden, weil ein Investor lieber teuer zu vermietende oder zu verkaufende Wohnungen bauen lassen wollte?“

„Wie bitte? Wollen Sie mir etwa drohen? Was habe ich mit geschlossenen Jugendeinrichtungen zu tun? Meinen Sie das etwa ernst?“ Laurent hielt inne, und für einen Augenblick standen sie direkt voreinander.

Viel zu dicht, dachte Jenna und war nahezu schockiert, was ihr Körper ihr signalisierte: Sie fühlte sich hingezogen zu diesem ungehobelten Kerl! Zu gern hätte sie die Finger über seinen muskulösen Oberkörper fahren lassen, der sich unter dem vermutlich maßgeschneiderten Hemd abzeichnete. Gern hätte sie über seine schmale Hüfte gestrichen, sich in seine starken Arme geschmiegt und an seiner Halsbeuge geschnuppert, um diese Sandelholznote aus der Nähe zu riechen – vermischt mit dem Duft seiner Haut.

Hatte er was gesagt? Wenn ja: Was hatte er gesagt?

Ihr Hirn schien Informationen nur noch in Zeitlupentempo zu verarbeiten. „Natürlich meine ich das ernst! Nur mit öffentlicher Aufmerksamkeit ist Firmen wie Ihrer beizukommen, im Zweifelsfall muss so lange Druck gemacht werden, bis sich die Politik einschaltet“, sagte sie, ohne abzuwägen, welche Worte über ihre Lippen schlüpften, während sie den Blick nicht von seinen abwenden konnte. Weiche Lippen, ein Dreitagebart, der sich über seine Wangen zog.

Dieser Architekt war nicht nur lässig, er war sexy.

Fast hätte sie aufgeseufzt.

Auch Laurent schien die Nähe aus dem Konzept zu bringen. Er blinzelte, trat einen halben Schritt zurück und musterte Jenna aufmerksam.

Sie hob den Kopf und reckte das Kinn. Eine wohlige Gänsehaut lief ihr über den Rücken.

Er hob lediglich eine Augenbraue in die Höhe, dann ging er. Ohne sich umzusehen, schloss er die Tür.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Jenna, wie Olivier in seinen Sessel zurücksank. „Du hast ihn verjagt!“, rief er aufgebracht. „Bist du noch bei Sinnen? So kenne ich dich gar nicht.“

„Diese ganzen arroganten Schnösel, diese Schönlinge, diese Filous mit ihren Lügen, ihrem doppelten Spiel …“

„Einen Moment“, unterbrach Olivier sie energisch. „Merkst du was? Du projizierst gerade die Wut auf deinen Ex-Freund auf unseren neuen Verwalter oder vielmehr Vermieter. Du bringst uns damit in massive Schwierigkeiten, ist dir das klar?“

„Gut, dann entschuldige ich mich halt!“ Jenna machte auf dem Absatz kehrt und lief Laurent hinterher.

„Halt, hiergeblieben! Komm sofort zurück!“, rief Olivier ihr nach, doch sie war schon zur Tür hinaus.

Adrien eilte durch das Foyer an einer Gruppe Schüler vorbei, die soeben in der Villa eintraf. Während er den Kiesweg vor dem Haus entlanglief, zückte er sein Handy und rief im Büro an.

„Laurent Corporated. Was kann ich für Sie tun?“, meldete sich seine Assistentin mit butterweicher Stimme.

„Bella, hier ist Adrien. Hast du die Post für diese Villa Kunterbunt zu spät abgeschickt?“

„Welche Villa Kunterbunt?“, fragte seine Assistentin irritiert.

„Mein Vater hat mir doch die Verwaltung für das Gebäude übertragen, das vom Maison Tropical angemietet ist. Dort haben wir den Gutachter hingeschickt.“

„Ja, das haben wir, und das Anschreiben ans Tropenhaus ging noch an dem Tag raus, an dem du es unterzeichnet hast.“

„Der Brief ist erst heute angekommen.“

„Ja, und?“

„Der Termin war heute. Das Team der Villa war nicht darauf vorbereitet und verärgert, was ich durchaus verstehen kann.“

„Und was hat das mit mir zu tun?“

Adrien konnte an Bellas Stimme erkennen, dass sie sich ungerecht behandelt fühlte. „Na, hast du den Brief vielleicht doch noch ein paar Tage in deiner Handtasche herumgetragen, oder so?“

„Ich bin inzwischen seit dreieinhalb Jahren deine Assistentin, und ich habe auch davor in renommierten Architekturbüros gearbeitet. Du kannst mir glauben: Ich bin in der Lage, einen Brief in einen Briefkasten zu werfen.“

„Vielleicht hättest du ihn besser zur Post bringen sollen, anstatt ihn in irgendeinen Briefkasten zu werfen, der eventuell nicht regelmäßig geleert wird.“

Er hörte, dass seine Assistentin mit dem Stift auf den Tisch klopfte, wie sie es immer tat, wenn ihre Anspannung wuchs. „Ich denke, du kommst jetzt erst mal wieder ins Büro zurück, und dann sprechen wir weiter.“

„Ja, das werden wir, und so wie es aussieht, müssen wir noch mal unsere Abläufe überprüfen.“

„Vielleicht kannst du ja auch noch der Post vorschreiben, wie sie ihre Arbeit machen soll“, erwiderte Bella sarkastisch. Wortkarg verabschiedete sie sich.

Adrien wandte sich um und betrachtete erneut die Villa. Die Jugendstil-Elemente des Balkongeländers und der Gesimse machten das Haus ausgesprochen attraktiv. Zudem war die Lage großartig, denn das Grundstück lag an der Grenze zum Arrondissement du Palais Bourbon. In diesem Bezirk reihten sich Sehenswürdigkeiten an Stadtpalais, eine architektonische Perle an die andere. Hier hatte sich der französische Adel seinerzeit Residenzen erbaut, die nicht nur Adriens Architektenherz begeisterten, sondern auch die Touristenströme, die über die Pariser Boulevards schlenderten und Foto um Foto schossen.

Selbstverständlich würde er in Erwägung ziehen, das Haus anderweitig anzubieten – da hatte diese Biologin durchaus recht. Eine Renovierung in dieser Größenordnung würde enorme Summen verschlingen und sich im Nachgang enorm auf die Miete auswirken. Das Geld musste wieder eingenommen werden. Und in dieser Gegend zahlten die Leute Preise, die selbst ihn manchmal schockierten. Weder sein Vater noch er waren auf eine Refinanzierung der Kosten angewiesen, aber so funktionierte diese Branche nun einmal. Aus reinem Selbstzweck zu arbeiten war nicht seine Sache. Er hatte ein Architekturbüro in der Pariser Innenstadt, er hatte Angestellte. Die es nicht einmal schaffen, Anschreiben in den Briefkasten zu werfen, dachte er und schnaubte. Um alles musste er sich selbst kümmern.

Kurz verspürte er einen Anflug von Zweifel. Warf er jetzt Bella nicht auch Dinge vor, die bisher ungeklärt waren? Verhielt er sich nicht gerade, wie diese Schmetterlings-Furie in Merciers Büro?

Diese enorm attraktive Furie, ergänzte eine Stimme in seinem Kopf.

Sofort verbat er sich die unprofessionelle Bewertung und lief weiter in Richtung Parkplatz.

Als er seinen Wagen aufschloss, hörte er Schritte auf dem Kiesweg. Auch ohne aufzusehen, ahnte er, wer ihm folgte. Wenn es tatsächlich diese Biologin war, musste er zugeben, dass ihre Hartnäckigkeit ihm Respekt abrang. Normalerweise waren Mieter – und das war sie ja noch nicht einmal, wenn man es genau nahm – weniger aufsässig, schlichtweg, weil er am längeren Hebel saß.

Kaum hatte er sich hinter das Lenkrad gesetzt, stand Jenna Davis neben seinem Wagen und klopfte an die Seitenscheibe.

Adrien ließ das Verdeck zurückfahren und fühlte sich plötzlich unwohl. Sein Wagen kostete vermutlich das Dreifache ihres Jahresgehaltes, und er nahm an, dass er damit in ihren Augen ein Klischee erfüllte.

Stopp! rief er sich selbst zur Ordnung. Diese Selbstkritik ging zu weit. Es war ihm gleichgültig, welche Klischees er erfüllte, schließlich arbeitete er hart für die Dinge, die er sich gönnte. Auch wenn er mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund geboren worden war, wie es so schön hieß, hatte er das, was er besaß, eigenständig erarbeitet. Er hatte sein erstes Architekturbüro in Barcelona eröffnet, einerseits, weil er die Stadt und ihre vielfältige Architektur liebte, andererseits hatte er damals Abstand gebraucht – zu seinem Vater und den Erinnerungen an seine Mutter. Erst Jahre später war er zurückgekehrt und hatte eine zweite Dependance in Paris eröffnet. Inzwischen unterhielt er noch ein weiteres Architekturbüro in Wien und eines in Helsinki.

Er blickte zu der Biologin auf.

Jenna Davis.

Diesen Namen würde er nicht so schnell vergessen.

Der Wind hatte aufgefrischt, und unter ihrer Bluse zogen sich ihre Brustspitzen sichtbar zusammen. Er bemühte sich, nicht darauf zu starren.

Sie schien es zu bemerken, denn sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Mein Chef meint, ich wäre ein wenig lebhaft gewesen“, sagte sie.

Adrien musste lachen, denn das war die Untertreibung des Tages. Offensichtlich hatten Madame Davis und ihr Chef Humor. Oder meinte sie das ernst?

Er betrachtete die feinen Züge ihres Gesichts, dem die Ernsthaftigkeit stand und das er trotzdem gern einmal hätte herzlich lachen sehen. Ihre Finger waren lang und schmal. Insgesamt wirkte sie, trotz ihrer Größe, grazil, was er sehr an Frauen schätzte. Dennoch war sie mit einem ordentlichen Selbstbewusstsein gesegnet, das den Eindruck erweckte, als könnte sie durchaus tüchtig mitanpacken. Vermutlich musste man auch so ticken, wenn man täglich Schulklassen mit Nachhaltigkeitsthemen berieselte.

Er spürte, dass er zu lange geschwiegen hatte. „Ich glaube, ich habe Ihrem Chef mein Entgegenkommen deutlich signalisiert, Sie haben nicht einmal zugehört. Halten wir Ihnen zugute, dass Sie aufgewühlt waren. Das würde ich noch als Entschuldigung für ‚lebhafte‘“, er betonte das Wort spöttisch, „Umgangsformen gelten lassen, aber Sie haben mir mit der Presse gedroht. Damit ist für mich jede weitere Unterhaltung beendet.“

Jenna zog die Schultern hoch und wischte sich eine der honigfarbenen Strähnen aus dem Gesicht. Alles an ihr war als Zeichen der Ablehnung zu lesen, alles, was weich gewesen war und freundlich gewirkt hatte, war verschwunden. Er konnte kaum glauben, dass er noch vor knapp einer Stunde darüber nachgedacht hatte, sie zum Essen einzuladen.

„Sehen Sie“, sagte sie, „es ist genau so, wie ich es vorausgesehen habe: Sie erkennen die Bedeutung unserer Arbeit nicht an, also die gesamtgesellschaftliche Bedeutung, die mit der Entwicklung eines Umweltbewusstseins zukünftiger Generationen einhergeht. Mit Investoren wie Ihnen ist einfach kein Gespräch möglich.“

Kurz war er versucht, ihr einen Vortrag über die Green Buildings in seinem Portfolio zu halten und über stadtplanerische Aspekte, die eine Ressourceneffizienz in den Bereichen Energie, Wasser und Baumaterialien forderten und förderten. Doch was sollte das bringen? Stattdessen konterte er: „Da sind wir dann einer Meinung: Mit Mietern, die mir gleich die Presse auf den Hals schicken wollen, finde ich auch keine Gesprächsebene. Um Ihre Vorstellungen vom bösen Investor zu bedienen, möchte ich hiermit die Kündigung des Maison Tropical aussprechen.“

Ihre Augen weiteten sich, und für einen Moment entglitten ihr die Gesichtszüge.

Das hatte gesessen.

„Richten Sie das Ihrem Chef aus, die entsprechenden Papiere werden in den kommenden Tagen auf den Weg gegeben.“ Adrien trat aufs Gaspedal und fuhr vom Hof. Doch das erhoffte Triumphgefühl blieb aus.

3. KAPITEL

Jenna klopfte an die Bürotür ihres Chefs und wartete. Als sie kein Geräusch vernahm, öffnete sie behutsam die Tür. Sie winkte sofort ab, als sie sah, dass Olivier am Telefon saß. Allerdings plauderte er nicht, wie er es sonst so gern mit nahezu allen Anrufenden tat, sondern lauschte konzentriert in den Hörer.

Er winkte sie zu sich, zeigte auf den Sessel vor seinem Schreibtisch und stellte das Gespräch auf den Lautsprecher um.

Jenna setzte sich und suchte den Blick ihres Chefs, um seine Stimmung auszuloten. Er hatte ihr gestern noch ordentlich den Kopf gewaschen, und sie musste zugeben, dass er recht hatte – sie hatte die Fassung verloren. In der Nacht hatte sie kaum ein Auge zugemacht und sich mit Selbstvorwürfen gequält.

„Sicherlich wirkte das gestern etwas grob. Aber ich weiß, dass zwischen Ihnen und meinem Vater eine jahrelange vertrauensvolle Zusammenarbeit besteht. Und Ihr Anruf, Monsieur Mercier, zeigt warum – mit Ihnen kann man reden“, hörte sie Adrien Laurents Stimme. Die Tonlage – ein samtiges Timbre zwischen Bariton und Bass – verursachte ein Kribbeln auf ihrer Haut. Sie schluckte und versuchte, sich zu konzentrieren. „Wir können einen alternativen Standort für das Tropenhaus zu vergleichbaren Mietkonditionen suchen. Da werden wir, wenn wir uns die Zeit nehmen, sicherlich fündig. Der Immobilienmarkt ist zwar angespannt, aber große Objekte lassen sich trotzdem immer ganz gut finden.“

Olivier beugte sich vor und starrte auf das Telefon. „Sie meinen also, die Bauarbeiten werden einen derartigen Umfang annehmen, dass ein Umzug unerlässlich ist?“

„So wie es aussieht, schon. Das Gutachten zeigt erhebliche Mängel, vor allem die Arbeiten am Dach werden viel Lärm und eine komplette Einrüstung des Gebäudes mit sich bringen. Alles Weitere können wir dann besprechen“, erklärte Laurent. „Es wird eine Weile dauern, bis ich eine Firma beauftragen kann. Derzeit sind gute Handwerker und Materialien nicht so einfach zu bekommen, ich werde mich melden, und wir werden einen entsprechenden Vorlauf einplanen. Wir werden uns vorab mit Ihnen verständigen, welcher Standort infrage kommt. Ich habe da ein Objekt im Auge, das muss ich aber noch klären.“

„Gut, so machen wir das! Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen, wir hören voneinander.“ Olivier legte den Hörer auf und schaute Jenna streng an. „Ich habe mit Engelszungen auf ihn eingeredet, und ich kann nur sagen: Da haben wir Glück gehabt.“

„Es tut mir leid.“

„Das hast du gestern schon gesagt.“

„Es tut mir heute immer noch leid.“

Nun musste Olivier schmunzeln. „Meine Güte, was war das gestern für ein Tag!“ Er blätterte im Kalender auf seinem Tisch. „Aber jetzt werden wir zum Tagesgeschäft übergehen. Wenn ich es richtig sehe, kommt heute ein Fernsehteam von Tele7.“

Jenna war erleichtert, dass ihr Chef sich so versöhnlich zeigte und sie sich wieder mit alltäglichen Dingen befassen konnten. „Ja, sie wollen einen Bericht über Schmetterlinge drehen.“

„Dann nimmst du sie in Empfang und holst mich dazu.“

Jenna nickte und verließ das Büro. Als sie das Foyer passierte, bemerkte sie, dass am Einlass bereits das Filmteam eingetroffen war. Die Frau, die sich interessiert umsah, war vermutlich die Journalistin. Sie trug eine Tasche und einen Notizblock unter dem Arm, während die beiden Männer, die sie begleiteten, Technik-Equipment schleppten. Silberfarbene Kamerakoffer, ein Stativ, eine Ton-Angel und zwei Kabeltrommeln konnte Jenna ausmachen.

Sie ging ihnen entgegen. „Herzlich willkommen im Maison Tropical“, sagte sie und nickte dabei der Kollegin am Einlass zu. „Das Team ist angekündigt“, erklärte sie ihr und wies die Gäste den Flur entlang.

Die Journalistin musterte Jenna. „Freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Lilly Leblanc, meine Kollegen und ich kommen von Tele7.“ Lässig schob sie hinterher: „Wie Sie sicherlich wissen, sind wir Frankreichs Hauptstadtredaktion.“

„Wo möchten Sie anfangen?“, fragte Jenna hocherfreut, die Arbeit des Hauses derart prominent vorstellen zu können. „Ihr Schwerpunkt für den Beitrag ist das Thema Schmetterlinge?“

Lilly Leblanc nickte.

„Dann kommen Sie doch erst einmal mit in unsere große Tropenhalle. Dort können Sie, wenn Sie möchten, auch schon erste Aufnahmen machen.“

„Wir brauchen außergewöhnliche Bilder, schließlich wird der Beitrag in den Abendnachrichten laufen.“

„Wir haben viel zu bieten. Das Maison Tropical ist in verschiedene Klimastationen aufgeteilt. Im Bereich Hochgebirgsklima sprechen wir darüber, warum es so wichtig ist, das Abschmelzen der Gletscher zu verhindern. Im Bereich des Mittelmeerraumes erläutern wir die Großwetterlagen in Europa, und in einem anderen Bereich befassen wir uns mit …“

Madame Leblanc winkte ab. „Ach, um Himmels willen, das ist alles sehr interessant und reizvoll, aber wir machen keine Dokumentation. Wir bereiten einen Bericht über den gerade anbrechenden Frühsommer in Paris vor, und was ist da schöner als exotische Schmetterlinge und vielleicht ein paar Kamera-Shots aus Ihrem Garten? Ich hörte, dort gibt es diverse Palmenarten und einen Mangobaum?“

Jenna musste sich bemühen, ihre Enttäuschung zu verbergen. Manchmal ist es leichter, Jugendliche für Umweltthemen zu begeistern als Erwachsene, dachte sie. „Wir haben auch eine Schmetterlingssammlung, eine sogenannte Trockensammlung, für die kein Falter sterben musste, und ein future lab mit Computersimulationen …“, ergänzte sie lahm, ohne selbst zu wissen, warum sie es noch erwähnte.

Lilly Leblanc sah an ihr vorbei. „Oh, wie hübsch, das muss es sein!“, rief sie begeistert und eilte in den Nachbarraum, in dem sich das Schmetterlingshaus befand. Das Team folgte ihr.

„Warten Sie bitte!“, rief Jenna ihnen nach. „Ich werde noch Monsieur Mercier dazu holen, den Leiter der Einrichtung. Er wollte Sie kurz begrüßen.“

Als Jenna in Oliviers Begleitung zurückkehrte, stand das Team bereits im Schmetterlingshaus und filmte. „Ich habe sie gebeten, auf uns zu warten“, zischte Jenna gereizt.

„Na, die können was erleben“, erwiderte Olivier und betrat sichtlich genervt den gläsernen Palast. Bevor er auch nur ein Wort verlieren konnte, wurde er vom Kameramann in Beschlag genommen, der mit ihm für ein Interview den passenden Ort suchte, um im Hintergrund möglichst viel tropischen Flair einzufangen, wie er es nannte. Sichtlich geschmeichelt über die Aufmerksamkeit vergaß Olivier sein eigentliches Ansinnen.

Jenna suchte am Eingang des Schmetterlingshauses hinter einem Informationstresen Zuflucht. Gedankenverloren ordnete sie Flyer und schob Unterlagen zusammen, die noch vom Vortag herumlagen.

Plötzlich stand Madame Leblanc neben ihr. Sie lehnte sich auf den Tresen, ließ den Blick schweifen und sammelte verschiedene Flyer ein. „Oh, das gehört wohl nicht dazu“, sagte sie unvermittelt und betrachtete mehrere Notizzettel in ihrer Hand.

Oh nein, durchfuhr es Jenna. Am Abend hatte Olivier ihr noch einige Standorte gezeigt, die er recherchiert hatte. Gemeinsam hatten sie am Laptop einzelne Seiten aufgerufen und sich weitere Möglichkeiten notiert. Offensichtlich hatten sie die Unterlagen nicht beiseitegeräumt.

Neugierig überflog die Journalistin die Zeilen. „Ach, Sie überlegen umzuziehen?“ Ihre Augen funkelten auf einmal.

Jenna schluckte. „Vielleicht sprechen Sie lieber mit Monsieur Mercier darüber.“

Sofort stürmte die Journalistin zu Olivier, der inzwischen gut ausgeleuchtet auf Position für das Interview stand.

„Was habe ich gehört? Sie überlegen umzuziehen?“

„Nein, natürlich nicht! Es wird Bauarbeiten geben, und es könnte sein, dass diese zu einer zeitweiligen Verlegung führen. Aber das ist alles nicht spruchreif“, erwiderte Olivier energisch, während er seinen Hemdkragen richtete. „Es würde mich freuen, wenn wir dieses Thema aus Ihrem Sommerbericht heraushalten.“

„So, wenn hier gebaut wird“, Leblanc schaute sich um, als hätte Olivier nichts gesagt, „dann müsste ja einiges gemacht werden, das ist offensichtlich. Nett formuliert hat das Haus ja inzwischen eine ordentliche Patina. Die Villa gehört doch den Laurents, oder?“ Sie wartete keine Antwort ab. „Na, der Junior wird doch nach einer Sanierung nie im Leben wieder das Tropenhaus einziehen lassen. Diese Lage ist ein wahres Juwel für Pariser Verhältnisse, da kann er das Gebäude wesentlich teurer vermieten. Was glauben Sie, wie viel Miete eine Bank oder eine Botschaft für die Nähe zum Arrondissement du Palais Bourbon in einer auf Hochglanz polierten Villa auf den Tisch legen würde?“

„Ich möchte Sie bitten, sich nicht über dieses Thema zu äußern“, wiederholte Olivier. Er wirkte nun deutlich angespannt.

Lilly Leblanc lächelte. „Machen Sie sich keine Sorgen! Eigentlich habe ich alles, was ich für den Beitrag brauche. Schalten Sie heute Abend ein, Sie werden zufrieden sein. Versprochen!“ Sie winkte ihren Kollegen zu. „Wir können uns auf den Weg machen.“

Olivier wirkte an seinem perfekt ausgeleuchteten Platz wie bestellt und nicht abgeholt. Er suchte den Blick seiner Kollegin.

Jenna, die noch immer am Informationstresen stand, gab ihm Handzeichen, dass sie mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun hatte. Oder zumindest fast nichts …

Es war erstaunlich wie schnell das Team samt seiner Technik verschwand, nachdem sie nun anscheinend alle Informationen und Aufnahmen beisammenhatten, die sie benötigten.

Olivier trat ans Fenster und sah ihnen nach. „Der Kameramann macht gerade noch Außenaufnahmen. Das war nicht abgesprochen. Mir gefällt das gar nicht. Woher weiß sie das? Hast du irgendwas vom Umzug erwähnt?“, fragte er.

„Unsere Notizen von gestern Abend lagen auf dem Info-Tresen. Madame Leblanc hat sie gesehen und gelesen. So schnell konnte ich sie ihr gar nicht abnehmen.“ Jenna fühlte sich elend – erst fuhr sie aus der Haut, und nun reagierte sie nicht schnell genug. Irgendwie lief derzeit alles schief.

„Stimmt, ich habe sie nicht ins Büro zurückgebracht!“, rief Olivier aus und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. „Wie ärgerlich. Hast du Madame Leblanc gegenüber irgendetwas dazu gesagt?“

„Nein, ich habe sie gebeten, sich an dich zu wenden. Ich habe vorhin nur versucht, sie für die verschiedenen Bereiche im Haus zu interessieren wie die Klimazonen und das future lab. Aber es war sinnlos.“ Jenna zuckte mit den Schultern.

„Dann werden wir wohl auf den Bericht heute Abend warten müssen“, sagte Olivier und seufzte.

Adrien lehnte sich in seinem ledernen Bürostuhl zurück. Der Tag war gut gelaufen. Eines seiner Projekte stand kurz vor dem Abschluss, und er war für den Chaisson-Architekturpreis nominiert worden. Nicht, dass er sich Chancen ausmalte, ihn zu gewinnen, genau genommen war er zu jung. Der Preis war bisher stets an weit erfahrenere und ältere Kollegen übergeben worden, aber schon die Nominierung brachte Renommee mit sich.

Gleich würde sein Feierabend beginnen, ein freier Abend ohne jegliche Termine. Er sah sich schon, den Wein entkorkt, ein wenig gute Musik aufgelegt, auf seiner Terrasse entspannen.

Bella betrat, ohne anzuklopfen, sein Büro. Aber Adrien war derart in Hochstimmung, dass er davon absah, sie dafür zu rügen. Sie steuerte auf den Fernseher zu und schaltete ihn an. „In der Vorankündigung zu den Abendnachrichten bei Tele7 steht, dass es einen Bericht zum Maison Tropical geben soll. Weißt du etwas darüber?“

Adrien setzte sich aufrecht hin. „Wie bitte? Nein, davon weiß ich nichts, aber Merciers Mitarbeiterin hat mir gestern gedroht, sie würde die Presse einschalten.“

„Weshalb?“, fragte Bella und blieb neben dem Schreibtisch stehen, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen.

„Es gab gestern eine unselige Diskussion um Bauarbeiten, die am Haus nötig sind, und ich habe schlussendlich die Kündigung ausgesprochen. Es war eine Überreaktion. Heute Morgen hat der Leiter des Hauses angerufen und sich wortreich entschuldigt. Wir haben das in Ruhe geklärt, ohne die Mitarbeiterin. Mit ihm kann man reden. Das sind jahrelange Mieter, die Miete kam immer pünktlich, es schien alles zu laufen. Das will ich ihnen zugutehalten. Also habe ich die Kündigung zurückgenommen, dementsprechend wüsste ich nicht, warum sie …“ Er beendete den Satz nicht und starrte auf die Nachrichten.

„Da! Tatsächlich!“, rief Bella erstaunt, als der Beitrag mit einer Großaufnahme der Villa begann. Dann schwenkte die Kamera auf Lilly Leblanc, die vor der Villa stand und ein Mikrofon in der Hand hielt.

Adrien kannte sie. Eine emsige Reporterin, deren Interviewanfragen er schon so oft hatte abblitzen lassen und die dennoch immer wieder über ihn berichtet hatte. Mit Vorliebe über seine Rendezvous, oder was immer sie für eines hielt. Sie war eine von denen, die abends vor Restaurants lauerte und bei Ereignissen – von Premierenfeiern, über politische Veranstaltungen bis hin zu Demonstrationen oder Unglücken, wie dem Brand von Notre-Dame – zuerst vor Ort war. Leblanc war bekannt dafür, journalistische Standards nur nach Belieben anzuwenden.

Sie wies mit eleganter Handbewegung auf die Villa und sprach mit ernster Miene in die Kamera: „Hier, mitten in Paris, im Herzen unserer Stadt, wird wichtige Arbeit zur Bildung von Jugendlichen geleistet. Das Angebot ermöglicht es, verschiedene Klimazonen und deren Bedeutung kennenzulernen.“ Bilder aus dem Haus wurden eingeblendet, die die angesprochenen Klimazonen zeigten.

„Ein ausgesprochen sehenswertes Schmetterlingshaus führt die Artenvielfalt vor Augen“, war Leblancs Stimme nun aus dem Off zu hören.

Aufnahmen aus dem Schmetterlingshaus zeigten Falter, die Adrien noch nie gesehen hatte.

„Im future lab ist über Computersimulationen erfahrbar, welche Auswirkungen Entscheidungen des Menschen, wie beispielsweise die Versiegelung von Flächen, die Rodung von Wäldern oder die Vernichtung von Mooren, auf die Entwicklung des Klimas haben.“

Die Bilder von Jugendlichen, die an runden Tischen vor großen Leinwänden standen und diskutierten, kannte Adrien. Er hatte sie auf der Internetseite der Einrichtung gesehen.

„Was wird das?“, fragte Bella und sprach damit aus, was auch ihn beschäftigte.

„Es ist ein Angebot, das es in Paris nicht noch einmal gibt und das auch für bildungsinteressierte Erwachsene ein lohnendes Ausflugsziel darstellt. Aber Laurent Corporated wird Bauarbeiten an diesem Schmuckstück vornehmen müssen“, fuhr Leblanc ...

Autor

Julie Dearing
Mehr erfahren
Jennifer Taylor

Jennifer Taylor ist Bibliothekarin und nahm nach der Geburt ihres Sohnes eine Halbtagsstelle in einer öffentlichen Bibliothek an, wo sie die Liebesromane von Mills & Boon entdeckte. Bis dato hatte sie noch nie Bücher aus diesem Genre gelesen, wurde aber sofort in ihren Bann gezogen. Je mehr Bücher Sie las,...

Mehr erfahren
Suzanne Merchant
Mehr erfahren