Bianca Exklusiv Band 348

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DIE VERSUCHUNG EINES SOMMERS von LISA RUFF
Das Leben ist nicht fair! Mimi begegnet ihrem Traummann gerade, als er Amerika verlassen und die Welt umsegeln will. Soll sie die kurze Zeit mit dem attraktiven Ian genießen – oder bricht der Abschied dann ihr und ihrem Sohn das Herz?

MAN KÜSST SICH IMMER ZWEIMAL von HELEN MYERS
Eve erschauert vor Lust, als Derek sie mit einem verlangenden Kuss überrascht. Doch Derek erinnert sie an alles, was sie eigentlich vergessen möchte: Ihr Ex ist mit seiner Ex durchgebrannt!

EIN QUILT, EIN KUSS - EIN HEIRATSANTRAG von PATRICIA THAYER
„Meine Mama ist im Himmel. Hilfst du mir, ihren Quilt zu Ende zu nähen?“ Natürlich will Jenny der Kleinen helfen, die in ihrem Handarbeits-Shop steht. Aber dazu muss sie deren Papa überzeugen, den distanzierten, aber attraktiven Witwer Evan …


  • Erscheinungstag 29.04.2022
  • Bandnummer 348
  • ISBN / Artikelnummer 9783751510554
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lisa Ruff, Helen R. Myers, Patricia Thayer

BIANCA EXKLUSIV BAND 348

1. KAPITEL

Nervös ging Mimi im Gastraum auf und ab. Immer wieder trat sie an den vordersten Tisch an der Seitenwand und schaute aus dem Fenster, durch das sie die Straße sehen konnte. Keine Spur von Jack, und es war schon Viertel nach drei. Wo steckte ihr Sohn bloß?

In der Lachmöwe – der Hafenbar, die ihre Eltern seit über dreißig Jahren betrieben – war es ruhig, ganz normal für einen Dienstagnachmittag. Später würde es voller werden, wenn die Arbeiter des umliegenden Jachthafens Feierabend hatten. Auch die Einheimischen kamen dann gern auf ein Feierabendbier vorbei oder aßen eine Kleinigkeit.

Die Theke befand sich gleich vorn am Eingang, dahinter lag die kleine Küche. Links von der Theke ging eine Seitentür auf eine wenig benutzte Terrasse hinaus. Die Lachmöwe lag an einer belebten Straße, doch durch die Fenster in der Gaststube hatte man einen herrlichen Blick auf den Crab Creek und die Chesapeake Bay. Ihr Elternhaus, in dem Mimi aufgewachsen war, stand links hinter einer üppigen Hecke aus Hortensien.

Seufzend wandte sich Mimi vom Fenster ab und ging zum Tresen. Es fühlte sich gut an, wieder zu Hause zu sein, auch wenn sie über die Umstände nicht glücklich war.

Zehn Jahre, einfach so verschwendet.

Sie nahm ein Tuch und wischte die Theke zum dritten Mal ab. Hoffentlich kamen ihre Eltern bald zurück, denn dann konnte sie sich auf die Suche nach Jack machen. Oder ihr Sohn kam endlich von selbst nach Hause.

Kurz darauf öffnete sich die Tür, und Mimi atmete auf.

„Hey, Jacky!“, rief sie. „Ich habe mich schon gefragt, wo du …“

Sie unterbrach sich, als sie sah, dass ihr Sohn von einem Fremden begleitet wurde. Er überragte Jack um einiges, und sein dunkles lockiges Haar umrahmte ein kantiges Gesicht. Die Nase war groß und gebogen, die dunkelbraunen Augen lagen unter dichten schwarzen Brauen. Als ihr Blick auf seine vollen Lippen fiel, dachte sie peinlicherweise sofort daran, wie es wäre, den Mann zu küssen.

Verlegen blickte sie ihm in die Augen, doch das machte die Sache auch nicht besser, denn sein Blick hielt ihren fest und schien ihr etwas sagen zu wollen, was sie jedoch nicht verstand. Schließlich senkte sie den Kopf und betrachtete dabei seinen hochgewachsenen schlanken Körper.

Als sie sah, dass er sehr ähnlich gekleidet war wie ihr Sohn, musste sie fast lachen. Dem Fremden standen die Klamotten allerdings eindeutig besser als Jack, der mit seinen neun Jahren darauf bestand, alles eine Nummer zu groß zu tragen. Bei dem Mann hinter ihm betonte das Kapuzenshirt die breiten Schultern, und das weiße T–Shirt spannte sich über einer muskulösen Brust. Die verblichenen Jeans saßen perfekt.

Mimi schloss kurz die Augen. Als sie den Fremden wieder anblickte, lächelte er kurz. So kurz, dass sie sich nicht sicher war, ob sie sich das nur eingebildet hatte.

„Ich muss wohl nicht fragen, ob Sie mit diesem jungen Mann hier verwandt sind“, sagte der Mann mit wohlklingender tiefer Stimme.

Sie hörte oft, dass Jack und sie einander sehr ähnlich sahen. Sie hatten dieselbe Haarfarbe – ein helles Braun mit dunkelblonden Strähnen. Auch die dunkelblauen Augen hatte Jack von ihr geerbt. Was die Form des Gesichts anging, ähnelte er Mimis Meinung nach allerdings mehr seinem Vater. Sein Kinn war kantiger als ihres, und je älter ihr Sohn wurde, desto ausgeprägter zeigten sich die hohen Wangenknochen.

Jack kletterte auf einen der Barhocker und starrte den Mann mürrisch an. „Ich habe überhaupt nichts gemacht, ich …“

Unauffällig ließ Mimi das Tuch in die Spüle fallen, das sie bislang umklammert gehalten hatte. Sie trocknete sich die Hände ab, trat hinter dem Tresen hervor und streckte dem Fremden die Hand hin.

„Hallo, ich bin Mimi Green, Jacks Mutter.“

„So heißt er also, Jack.“ Der Fremde warf ihrem Sohn einen Blick zu und wandte sich dann wieder an sie. „Ian Berzani ist mein Name.“

Er nahm ihre Hand, drückte sie kurz und ließ sie wieder los. Mimi spürte warme, etwas raue Haut, und ihre Handfläche begann ein wenig zu kribbeln.

Danach steckte Ian beide Hände in die Taschen seines Kapuzenshirts, bot aber keinerlei Erklärung an. Mimi, die ihm nun näher stand, fing einen leichten Duft nach frisch geschnittenem Holz auf. Ein paar Holzspäne hingen in seinem dichten schwarzen Haar, und sie musste sich zurückhalten, um sie nicht herauszuzupfen. Vorsichtshalber schob sie die Hände in die hinteren Jeanstaschen und widerstand somit der Versuchung.

„Dann ist Anna Berzani Ihre Schwester?“, fragte sie, als das Schweigen anhielt.

Ian nickte kurz, sagte aber nichts.

„Wir sind zusammen zur Schule gegangen“, bemerkte Mimi. „Wir waren gute Freundinnen.“

„Mmmm.“

Sie lachte etwas unbehaglich, als er so gar nichts zu der Unterhaltung beitrug.

„Ist sie noch in der Gegend?“, fragte sie.

„Nein. Sie lebt an der Westküste.“

Das freute Mimi, denn Anna hatte schon in der Schule immer gesagt, dass sie so schnell wie möglich aus Crab Creek wegziehen wollte, sobald sie ihren Abschluss hatte. Ihr Plan war also aufgegangen.

„Richten Sie ihr bitte schöne Grüße aus, wenn Sie sie wieder mal sprechen“, bat sie.

„Die können Sie ihr gleich selber ausrichten. Sie kommt nämlich am Freitag zu Besuch.“

„Oh, das ist ja eine tolle Neuigkeit. Ich würde mich riesig freuen, Anna wiederzusehen!“

Wieder nickte er, und wieder breiteten sich eine unangenehme Stille und eine unterschwellige Spannung aus, bis Jack ungeduldig wurde.

„Mom, sag ihm, er soll verschwinden. Ich habe überhaupt nichts …“

„He, sprichst du immer so mit Erwachsenen?“, fragte Ian. Er zog eine Augenbraue hoch und blickte Jack streng an.

Mimi wurde rot, als ob der Tadel ihr gegolten hätte.

„Jack, entschuldige dich sofort für deine Unhöflichkeit.“

Ihr Sohn zog einen Flunsch und starrte sie beide missmutig an. Ungeduldig presste Mimi die Lippen aufeinander. In den letzten Wochen hatte sie diesen störrischen Blick allzu oft erdulden müssen. Der Mann vor ihr schüttelte den Kopf, was ihre Verlegenheit noch steigerte.

„Vorsicht, mein Junge“, sagte er mit tiefer Stimme. „Wenn du nicht aufpasst, dann bekommst du eine Gesichtslähmung.“

„Es tut mir leid“, sagte Mimi zu Ian gewandt. „Hat er was angestellt?“

„Unerlaubtes Betreten eines Grundstücks“, erklärte Ian gelassen. „Und außerdem benimmt er sich wie ein Rüpel.“ Seine dunklen Augen ruhten einen langen Moment auf Jack. „Der erste Punkt ist nicht so gravierend, aber der zweite stört mich gewaltig.“

„Auf welchem Grundstück war er denn?“, fragte Mimi besorgt.

„Auf der Werft.“ Ian deutete mit dem Kopf zu den Schuppen und Anlegestellen der A&E Marina, die durch die Fenster zu sehen waren.

„Hat er was kaputt gemacht? Ich werde jeden Schaden …“

„Nein“, unterbrach Ian sie. „Er sollte nur nicht ausgerechnet dort spielen. Es ist einfach zu gefährlich.“

Jetzt fühlte sich Mimi in ihren Erziehungsmethoden angegriffen. „Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich ihm verboten, dorthin zu gehen“, erwiderte sie schroff.

„Ja, wahrscheinlich.“

Er sagte es ganz neutral, doch sie fühlte sich trotzdem angegriffen.

„Was wollen Sie denn damit sagen?“

Wieder hob Ian leicht die Brauen. „Was denken Sie denn, was ich sagen wollte?“

„Ich kann sehr gut auf mein Kind aufpassen.“

„Habe ich was anderes behauptet?“

„Hören Sie, Mr. Berzani …“

Mr. Berzani ist mein Vater.“ Der Mann runzelte die Stirn. „Nenn mich Ian, du bist ja schließlich mit meiner Schwester befreundet.“

Wieder wurde Mimi rot. Es fiel ihr schwer, die Beherrschung zu bewahren. Wieso forderte sie alles, was er sagte, derart heraus? Normalerweise war sie nicht so empfindlich, aber dieser Ian Berzani brachte sie gehörig aus der Fassung.

Sie studierte sein attraktives Gesicht und versuchte herauszufinden, was er in diesem Moment dachte, doch sein Gesichtsausdruck verriet nichts. Anders als die Musiker, mit denen sie die letzten zehn Jahre zu tun gehabt hatte, trug dieser Mann seine Gefühle nicht zur Schau. Sein Gesicht, sogar seine Augen, wirkten unbeteiligt. Er strahlte keine unbändige Energie aus und würde nicht wild herumgestikulieren. Er stand einfach nur da – distanziert, unnahbar, abgehoben.

„Kann ich jetzt gehen?“, fragte Jack.

„Nicht, bevor du dich bei Mr. Berzani entschuldigt hast.“

Jack verzog das Gesicht. „Tschuldigung.“

„Wow“, sagte Ian. „Ich spürte echte Reue und Zerknirschung.“

Sein trockener Sarkasmus reizte Mimi zum Lachen. Jack senkte schnell den Kopf, doch sie sah, dass auch er grinsen musste. Offenbar hatte Ian schon öfter mit Jungs in diesem Alter zu tun gehabt. Allerdings verdrängte die amüsante Situation ihren Ärger nicht völlig. Jack nahm sich zu viel heraus.

„Jack, sei nicht so …“

Sie unterbrach sich, als die Tür erneut aufging und ihre Eltern hereinkamen. Sie waren bester Laune. Triumphierend wandte sich Jack von ihr ab und ging auf seine Großeltern zu. Für ihn war die Sache damit erledigt.

Ian schaute zu ihr und zuckte die Achseln, während sie frustriert den Kopf schüttelte. „Lass es gut sein“, sagte er leise.

Sie seufzte. Später, wenn sie allein waren, würde sie Jack noch einmal darauf ansprechen.

„Hallo, ihr zwei“, begrüßte sie dann ihre Eltern mit gespielter Lässigkeit. „Das wird aber auch langsam Zeit, dass ihr euch wieder blicken lasst.“

„Wir hatten nach dem Essen noch Lust auf einen Spaziergang“, sagte ihr Vater und küsste sie auf die Wange. „Und wo wir schon in der Stadt waren, haben wir noch einiges erledigt. Wenn wir dank dir schon mal freihaben …“

Mimi legte einen Arm um ihn. „Jederzeit gern, alter Herr.“

Alt? Du wagst es, mich alt zu nennen?“

Mit gespielter Strenge blickte er auf sie hinunter, während er sie an sich drückte, doch seine blauen Augen funkelten vergnügt. Die freie Hand streckte er Ian hin.

„Na, mein Junge, hast du dich von der Arbeit auf der Werft weggeschlichen für ein Gläschen?“, fragte er augenzwinkernd.

Die beiden schüttelten sich die Hände, und wieder zeigte Ian ein kurzes Lächeln. „Na ja, ich habe nicht so viel zu tun um diese Jahreszeit, da dachte ich, ich vertreibe mir hier ein wenig den Nachmittag.“

Ihr Vater lachte über den trockenen Humor. „Jedenfalls schön, dich zu sehen. Es ist schon eine Weile her, dass du hier warst.“

„Mein Tag ist einfach zu kurz“, sagte Ian achselzuckend. „Abends bin ich meistens völlig erledigt.“

Mimis Mutter tätschelte seinen Arm. Wie immer war sie tadellos frisiert und angezogen. Ihr pinkfarbener Blazer ließ sie jünger wirken, als sie war.

„Ian, wie geht’s dir?“, fragte sie. „Ich habe letzte Woche deine Mutter auf der Post getroffen. Sie ist begeistert von ihrer neuen Enkelin.“

Ian lachte. „Ah, das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Sie vergöttert die Kleine geradezu. Mein Bruder Patrick bringt sie zum Glück oft mit auf die Werft, da kann Oma sich dann ausgiebig um das Baby kümmern.“

Schweigend hörte Mimi dem Gespräch zu. Es überraschte sie, wie fröhlich und unbeschwert der Mann mit ihren Eltern plaudern konnte – vor wenigen Minuten noch hatte er sie selbst mit seinem beharrlichen Schweigen hart an ihre Grenzen gebracht.

„Und ihr zwei unterhaltet euch über alte Zeiten?“, fragte Claire ihre Tochter Mimi.

Stirnrunzelnd schüttelte Mimi den Kopf. „Wir haben uns vorher nie getroffen, oder?“, fragte sie Ian.

Es war eine rhetorische Frage, die er auch nicht beantwortete. Wenn sie ihm jemals begegnet wäre, würde sie sich definitiv daran erinnern.

„Na, so was“, sagte Claire. „Mimi und Anna waren doch die letzten beiden Highschooljahre geradezu unzertrennlich. Sie hat fast so viel Zeit bei euch verbracht wie bei uns.“

Ian zuckte die Achseln. „Anna ist das Nesthäkchen. Wir anderen waren da schon aus dem Haus. Zu ihrer Abschlussfeier waren nur Ma und Pa da“, fügte er hinzu. „Deswegen ist sie übrigens heute noch sauer.“

Claire und George lachten beide, während Jack auf dem Barhocker Karussell spielte, weil ihn das Gespräch offenbar langweilte. Jedes Mal, wenn er sich von dem Gestell abstieß, gab es einen metallischen Laut, und George legte ihm seine große Hand auf die Schulter.

„Was machst du denn an der Bar, junger Mann?“

Jack grinste verschmitzt – für Mimi eine willkommene Abwechslung. In den letzten Wochen hatte sie ihn selten fröhlich gesehen.

„Wird man in dieser Kneipe denn nicht bedient?“, fragte Jack mit verstellter Stimme und schlug mit der Faust auf den Tresen.

Auch George blickte finster drein. „Runter von dem Stuhl, Mister. Leute wie Sie bekommen bei uns nichts zu trinken.“

Jack versuchte, sich das Lachen zu verkneifen, was ihm jedoch nur halb gelang. Wieder ließ er die Faust auf den Tresen sausen. „Das ist Diskriminierung, das lasse ich mir nicht gefallen! Ich sollte Sie alle verklagen, damit …“

Blitzschnell schnappte sich George den Jungen, klemmte ihn unter einen Arm und zog ihn vom Hocker.

„Entschuldigen Sie mich“, sagte er zu den anderen, während Jack kicherte. „Ich muss mich mal um das freche Gesindel hier kümmern.“

Er trug Jack in Richtung Tür und kitzelte ihn dabei durch. Lachend schaute Mimi zu. Sie war so froh, dass Jack seine schlechte Laune nicht auch an seinen Großeltern ausließ. Als sie zu Ian blickte, stellte sie fest, dass er sie beobachtete. Den Ausdruck in seinen dunklen Augen konnte sie nicht deuten, doch sein Gesichtsausdruck verriet Ärger oder Schmerz. Was genau, ließ sich nicht sagen, aber er war jedenfalls sehr angespannt. Ihr Lächeln verschwand. Sollte sie ihn fragen, was mit ihm los war?

Ians Blick ruhte jetzt auf ihrem Mund, und an seinem Kiefer zuckte ein Muskel. Er neigte den Kopf ein wenig in ihre Richtung und zuckte dann zurück, als Jack laut aufkreischte.

„Ich muss wieder an die Arbeit“, sagte Ian mit seiner ruhigen tiefen Stimme, wobei er es vermied, ihr in die Augen zu sehen.

Mimi nickte nur, da sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Seine Stimme und seine Art erzeugten bei ihr eine Gänsehaut.

„Schön, dass du da warst. Und grüß deine Eltern von mir“, sagte Claire.

„Mach ich.“ Ian legte ihrem Vater eine Hand auf die Schulter. „Bis dann, George.“

Damit ging er hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.

Ihr Vater stellte Jack auf den Boden. „Genug jetzt. Du wirst zu schwer für mich. Oder ich zu alt. Komm mit in die Küche, dann bekommst du was zu trinken.“

Mimi blickte noch immer wie hypnotisiert auf die Tür, durch die Ian gerade verschwunden war. Was war gerade passiert? War er wirklich kurz davor gewesen, sie zu küssen?

„Er ist ein netter Kerl“, sagte ihre Mutter.

„Wie bitte?“

„Ian.“ Claires Augen blitzten. „Und ein hübscher Bursche. Aber das ist dir ja vielleicht schon aufgefallen.“

Mimi spürte ihre Wangen rot werden. „Ähm, ja, ich denke schon.“

Doch ihre Mutter war noch nicht fertig. „Soweit ich weiß, ist er Single. Ich kann ja Elaine noch mal fragen.“

„Nein! Tu das nicht.“ Abwehrend hob Mimi die Hände. „Ich bin nicht interessiert.“

„Ja, das sehe ich …“

„Was wollte Ian eigentlich hier?“, fragte George, als er wieder zu ihnen kam. „Ich dachte, seine Eltern haben ihn bis September in der Werft angekettet.“

„Er hat Jack nach Hause gebracht“, erklärte sie. „Mein lieber Sohn hat sich auf der Werft herumgetrieben. Und wo steckt er jetzt schon wieder?“

„Ich hab ihn nach drüben geschickt, damit er seine Hausaufgaben macht.“

„Ich habe noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Er war sehr unhöflich zu Ian.“

Es war ungewohnt für sie, den Namen auszusprechen. Die ganze Begegnung hatte etwas Unwirkliches gehabt.

George schüttelte nachsichtig den Kopf. „Mach kein Drama draus, Mim. Er muss sich eben erst eingewöhnen. Ich bin sicher, dass Ian es ihm nicht krummgenommen hat.“

„Darum geht’s auch nicht. Aber wir sind jetzt schon seit sechs Wochen hier. Wie lange dauert es denn noch, bis Jack sich eingewöhnt hat?“

„Gib ihm einfach ein bisschen Zeit“, sagte ihre Mutter.

Mimi nickte seufzend. „Ich versuch’s. Besser, ich seh mal nach ihm.“

Auf dem Weg ins Nachbarhaus dachte Mimi über die Worte ihrer Eltern nach. Sie wünschte, sie könnte ihnen recht geben, doch in den letzten sechs Wochen hatte sich an der mürrischen Haltung ihres Sohnes nichts geändert. Irgendetwas stimmte nicht, und er weigerte sich, mit ihr darüber zu reden.

Das waren die Momente, in denen sich Mimi wünschte, Jack hätte einen Vater – einen Mann in seinem Leben, der ihn auf einer ganz anderen Ebene erreichen konnte. Ian Berzanis Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf, doch sie schob den Gedanken beiseite. Er wirkte überhaupt nicht wie eine Vaterfigur – offenbar war es ihm ja vorrangig darum gegangen, Jack vom Werftgelände fernzuhalten.

Und an ihr war er sicherlich auch nicht interessiert, sonst hätte er sich ja nicht so abweisend verhalten. Mimi rieb sich über die nackten Oberarme, als die Erinnerung an die Begegnung ihr wieder einen seltsamen Schauer verursachte.

Mit langen Schritten eilte Ian zurück zur Werft. Es kam ihm vor, als fliehe er, wenn er auch nicht wusste, wovor.

Auf dem Hof standen mehrere Boote in verschiedenen Herstellungsphasen. Es wurde Sommer an der Chesapeake Bay, und die A&E Marina hatte Mühe, die ganzen Aufträge der Bootseigner abzuarbeiten.

Angestellte, die ihm auf dem Weg zu seiner Werkstatt grüßten oder ihm zuwinkten, ignorierte er bis auf ein kurzes Nicken. Sollten sie ruhig glauben, er wäre zu beschäftigt für einen Plausch.

Als er seine Werkstatt endlich erreicht hatte, schloss Ian die Tür hinter sich und lehnte sich von innen dagegen.

Was zum Teufel ist gerade passiert?

Er legte den Hinterkopf gegen die kühle Metalltür und schloss die Augen. Sofort stand ihm das Bild von Mimi wieder vor Augen: blaue Augen mit langen schwarzen Wimpern, Sommersprossen auf der Nase und volle Lippen, die zum Küssen einluden. Unwillkürlich rieb er die Finger aneinander, als er sich vorstellte, wie es wäre, sie durch ihr schulterlanges goldbraunes Haar gleiten zu lassen. Kopfschüttelnd öffnete er die Augen, um das Bild zu vertreiben, und versuchte, sich auf das Projekt auf seiner Werkbank zu konzentrieren.

Wie konnte eine Frau ihn nur so durcheinanderbringen?

Von draußen wurde die Tür geöffnet und drückte gegen seinen Rücken. Er stolperte in den Raum und drehte sich um. Sein Bruder stand vor ihm.

„Wo hast du gesteckt?“, fragte Patrick. „Ich dachte, du arbeitest an Buckmanns Boot. Du weißt doch, wie eilig er es hat. Ich kann …“ Er unterbrach sich und blickte Ian stirnrunzelnd an. „Stimmt was nicht?“

„Nein, alles okay.“

Patrick kniff die Augen zusammen. „Bist du krank oder so?“

„Nein.“ Ian wandte sich ab und öffnete eine Schublade seiner Werkbank, damit er seinem Bruder nicht erklären musste, was er selbst nicht verstand. „Ich wollte mir nur einen Meißel holen“, sagte er dann und hielt das Werkzeug hoch.

„Geht’s dir wirklich gut?“

„Ja, klar. Bin nur ein bisschen müde. Das muss an der vielen Arbeit liegen. Aber mit Buckmanns Boot bin ich wahrscheinlich heute Nachmittag fertig.“

Ian ging an Patrick vorbei und öffnete die Tür. „War sonst noch was?“

Gemeinsam überquerten sie den Hof.

„Vergiss den Segelkurs am Samstag nicht!“, erinnerte ihn Patrick.

„Brauchst du mich wirklich so dringend? Ich habe jede Menge zu tun bis Oktober.“

„Ja, aber wir haben erst Anfang Juni. Außerdem hab ich dir schon eine Menge abgenommen. Evan hilft am Samstag auch mit, und der Kurs dauert nur zwei Stunden. Maximal drei.“

„Und geht über zwölf Wochen! Das sind insgesamt mindestens sechsunddreißig Stunden!“, sagte Ian vorwurfsvoll.

„Wie auch immer, am Samstagmorgen stehen hier zehn Kinder auf der Matte, die segeln lernen wollen. Die willst du doch wohl nicht enttäuschen, oder?“

Seufzend rieb sich Ian die Stirn. „Na gut“, sagte er. „Ich werde hier sein.“

„Wunderbar. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.“ Wieder blickte Patrick ihn prüfend an. „Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?“

„Alles bestens. Aber jetzt muss ich mich wieder an Buckmanns Boot machen. Sag den Lackierern, dass sie morgen anfangen können.“

Patrick nickte. „Super. Dann ruf ich auch gleich Buckmann an. Sag mal, Evan und ich wollen nachher ein Bier trinken gehen. Kommst du mit?“

Ian blieb noch einmal stehen. „Ich weiß nicht. Ich hab wirklich viel zu tun …“

„Ach, komm schon. Wenn ich mich schon mal einen Abend von Frau und Kind loseisen kann, dann wirst du mich doch nicht hängen lassen, oder!? Wir treffen uns in der Lachmöwe.“

Ausgerechnet. Allein der Gedanke, noch einmal in die Bar zu gehen, machte Ian nervös.

„Nein, lass gut sein. Ich bleibe lieber mal zu Hause.“

„Als ob du in den letzten Monaten überhaupt ausgegangen wärst!“

„Ich wünsch euch beiden viel Spaß.“

Patrick hob eine Augenbraue. „Und du bist dir wirklich sicher, dass du uns beide allein um die Häuser ziehen lassen willst?“

Ein guter Einwand. Widerwillig nickte Ian. „Hast recht, das ist vielleicht keine gute Idee.“

„Siehst du. Wir treffen uns also mit Evan in der Lachmöwe, und dann gehen wir vielleicht noch ins Tiki am Magothy River.“

„Na gut, und wann?“

„Um sieben.“

Ian winkte und ging dann zum Dock hinunter. Auf keinen Fall wollte er Mimi Green wiedersehen – jedenfalls nicht, bevor er nicht wusste, was da zwischen ihnen vorgefallen war.

Da war überhaupt nichts, sagte er sich, als er auf das Boot kletterte.

Ein kurzer Moment des Verlangens – kein Wunder bei dem hübschen Gesicht und dem relativ engen T-Shirt, das sie getragen hatte. Er bauschte das viel zu sehr auf.

Unter Deck griff Ian nach seiner Bohrmaschine und einem Stück Teakholz und hoffte darauf, dass die Arbeit die letzten Gedanken an diese Frau vertreiben würde. In vier Monaten stach er in See, und diesmal würde ihn nichts aufhalten. Vor allem keine Frau.

Er hatte schon einmal seine Pläne geändert, weil eine Frau ihm wichtiger geworden war als sein Traum, um die Welt zu segeln. Fast ein Jahr lang hatte er sein Leben nach Caroline ausgerichtet. Doch eines Tages war ihm klar geworden, dass sie überhaupt nicht daran dachte, dasselbe für ihn zu tun. Sie hatte im Gegenteil jegliches Interesse an ihm verloren und traf sich bereits mit anderen Männern, ohne ihm vorher zu sagen, dass sie die Beziehung für beendet ansah.

Daher hatte er beschlossen, in Zukunft nur noch für seine eigenen Träume zu leben. Keine Umwege mehr, keine Verzögerungen. In vier Monaten würde er aufbrechen. Mutterseelenallein.

Während er das Holz durchbohrte, verdrängte er alle Vorstellungen von blauen Augen und einladenden Lippen aus seinem Kopf. Ein Anfall von Lust, das war alles. Mimi Green bedeutete ihm rein gar nichts, und daran würde sich so schnell auch nichts ändern.

Lächelnd trat Mimi zu den beiden Männern an den Tisch. „Guten Abend, was darf’s sein?“

„Ein Heineken“, sagte der Dunkelhaarige der beiden. Sein Gesicht und das Lächeln kamen ihr bekannt vor.

„Sind Sie ein Berzani?“, fragte sie.

Der Mann lachte. „Hundert Punkte. Patrick Berzani.“ Er streckte ihr die Hand hin. „Woher wussten Sie das denn?“

„Das war nicht schwer zu erraten“, warf der andere Mann ein, der blond war und auffallend grüne Augen hatte. „Ihr seht alle gleich aus.“

„Ich bin Mimi Green“, stellte Mimi sich vor. „Ich bin mit Anna zur Schule gegangen.“ Von Ian sagte sie lieber nichts.

„Ach, das ist ja schön. Sie kommt dieses Wochenende“, sagte Patrick. „Ich sag ihr, dass du hier bist.“

„Danke, das ist nett. Es wäre toll, sie wiederzusehen.“

„Und ich bin der einzigartige Evan McKenzie!“, warf der Blonde mit einem Augenzwinkern ein. „Ich stehe Ihnen zu Diensten, meine Verehrteste.“

Schmachtend lächelte er zu ihr auf.

„Ja, er ist wirklich der Einzige seiner Art“, fügte Patrick trocken hinzu. „Zum Glück.“

„Schön, euch beide kennenzulernen“, sagte Mimi. „Was soll es sein?“, fragte sie dann Evan.

„Ein Ale und deine Telefonnummer“, erwiderte Evan.

„Na, so originell ist er auch wieder nicht“, bemerkte Mimi lachend an Patrick gewandt.

„Hey, gib mir wenigstens eine Chance!“, protestierte Evan.

Kopfschüttelnd verließ Mimi den Tisch. „Ich bringe euch gleich die Getränke.“

Das Gelächter hinter ihr verriet ihr, dass die beiden sie durchaus verstanden hatten. Evan würde es vielleicht noch ein bisschen weiter versuchen, aber keiner der beiden Männer würde aufdringlich werden, da war sie sich sicher. Vielleicht hatte sie diese Gabe von ihrem Vater geerbt – sie wusste immer im Voraus, welche Gäste Schwierigkeiten machen würden und welche nicht.

Natürlich konnte das auch daran liegen, dass sie in den letzten Jahren eine Menge Zeit in Bars verbracht hatte. Zwar hatte sie da auf der Bühne gestanden und gesungen, statt Drinks zu servieren, aber ein Gefühl für die Gäste brauchte sie bei beiden Aufgaben.

Wenn sie ihr Publikum richtig einschätzte, seine Reaktion auf die Musik studierte, konnte sie ihren Liedern mehr emotionale Kraft geben, ohne kitschig zu klingen. Das Gefühl, mit ihren Zuhörern im Einklang zu sein, war berauschend. Wenn sie im Flow war, übertrug sich das und die Gäste kamen immer wieder, Abend für Abend.

Seufzend schob Mimi die Erinnerung beiseite. Die Musik war Vergangenheit, jetzt arbeitete sie als Kellnerin. Sie hatte ihr Leben als Sängerin zum einen Jack zuliebe aufgegeben, zum anderen aber auch deshalb, weil es keine sichere Zukunft bot. Und sie würde diesen Schritt nicht bereuen. Das hoffte sie zumindest.

Sie ging zu einem anderen Tisch und nahm die Bestellung auf, dann brachte sie das Bier und eine Schale Erdnüsse zu Evan und Patrick.

„Du kommst mir bekannt vor“, sagte Evan verschmitzt lächelnd. „Vielleicht würde ich deine Telefonnummer wiedererkennen? Wie lautete die noch mal?“

Er war wirklich hartnäckig, das musste man ihm lassen, und nicht uncharmant, aber sie fühlte sich kein bisschen zu ihm hingezogen. Nicht wie zu Ian Berzani, sagte ihre innere Stimme, doch sie verdrängte den Gedanken sofort.

„Ich gebe meine Telefonnummer nicht an seltsame Männer heraus“, sagte sie gespielt streng.

„Ich bin nicht seltsam“, beschwerte sich Evan. „Sag’s ihr, Patrick.“

„Das stimmt. Ehrlich gesagt bist du mehr als seltsam“, erwiderte Patrick mit besorgtem Kopfschütteln.

Mimi lachte. „Schon gut, ich schaue nachher noch mal nach euch.“

„Mein Herz wird aufhören zu schlagen, bis du zurück bist“, erklärte Evan, eine Hand auf die Brust gepresst. Dann entdeckte er jemanden hinter ihr und lachte. „Ian, du kommst gerade recht, um mir das Leben zu retten. Sag dieser wunderbaren Frau, sie muss mir ihre Telefonnummer geben, sonst sterbe ich auf der Stelle.“

Als Mimi hörte, dass von Ian die Rede war, erstarrte sie und hielt das Tablett fester. Dann wandte sie langsam den Kopf und sah, wie sich Ian Berzani dem Tisch näherte. Wie bei ihrem ersten Treffen konnte sie sich nicht rühren, und ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Als er näher kam, trafen sich ihre Blicke. Wieder war sie von seinem umwerfenden Aussehen beeindruckt. Er trug ein weißes Hemd und khakifarbene Cargohosen, dazu allerdings dieselben abgewetzten Segelschuhe wie am Nachmittag. Als er näher kam, bemerkte Mimi, dass sein Haar noch etwas feucht war und er sich frisch rasiert hatte. Seine Wangen wirkten glatt und seidig. Wie würde es sich wohl anfühlen, die Fingerspitzen darüber gleiten zu lassen?

Ian trat an den Tisch, blieb neben ihr stehen und blickte zu Boden. Wieder konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Als sie einatmete, stieg ihr der würzige Duft seines Aftershaves in die Nase, und am liebsten hätte sie ihr Gesicht an seinen Hals geschmiegt. Zum Glück hielt sie das Tablett in den Händen, sodass sie gar nicht erst in Versuchung kam.

Ian warf Evan einen langen Blick zu. „Ich dachte, dein kleines schwarzes Buch ist voll“, sagte er.

„Was für ein Buch? Als ich Mimi gesehen habe, habe ich es sofort weggeworfen“, erwiderte Evan unschuldig.

„Geht er dir auf die Nerven, Mimi?“, fragte Ian. „Wenn er dich belästigt, setze ich ihm den Maulkorb wieder auf.“

„Nein, geht schon“, gab Mimi zurück. Es klang atemlos, und sie verzog das Gesicht.

„Was darf ich dir bringen?“, fragte sie mit einem kleinen Räuspern.

„Ein Helles. Danke.“

Mimi nickte und eilte zur Bar. Im Gehen hörte sie noch, wie Patrick sagte: „Wow, womit hast du sie so erschreckt?“

Ein paar Minuten später kam sie mit dem Bier zurück und stellte es vor Ian ab, ohne ihn anzusehen. „Darf es sonst noch etwas sein?“

„Bleib einfach da stehen, damit ich dich bewundern kann“, sagte Evan. Er griff nach ihrer Hand und drückte einen Kuss darauf.

Kopfschüttelnd machte Mimi sich los. „Nur gucken, nicht anfassen, ja!?“

„Evan, es reicht jetzt!“, sagte Ian.

Verwundert blickte Mimi zu ihm hinüber. War sein Tonfall gerade sehr ungehalten gewesen? Es musste auch Evan und Patrick aufgefallen sein, denn sie zuckten zusammen und wechselten einen Blick. Doch während Ian seinen Freund finster anstarrte, stahl sich ein wissendes Lächeln auf Evans Lippen, und er blickte vielsagend von Mimi zu Ian und wieder zurück.

„Oh, offensichtlich bin ich zu spät dran. Jemand hat deine Telefonnummer bereits“, sagte er.

„Ich habe meinen Anschluss gekündigt“, gab Mimi abweisend zurück. Sie hatte keine Lust, auf Evans Spielchen einzugehen. Ian wirkte noch immer verärgert, und Evan schien die Situation mit Freude auszukosten. Schweigen breitete sich aus, dann lehnte sich Ian unvermittelt zurück und schaute aus dem Fenster.

„Tja dann, zum Wohl“, sagte Mimi schwach.

Als sie ging, hörte sie Evan lachen. Sie warf einen Blick über die Schulter. Ian schaute noch immer unverwandt aus dem Fenster, Patrick starrte ihn nachdenklich an, und Evans Augen ruhten auf ihr. Er fing ihren Blick auf und zwinkerte ihr zu, was sie noch verlegener machte. Schnell drehte sie sich wieder um und ging zur Theke. Offenbar hatte sie sich in Evan schwer geirrt. Er würde ihr jede Menge Ärger machen.

Ian nahm einen großen Schluck Bier und stellte sein Glas dann sorgfältig auf dem Bierdeckel ab, den Mimi vor ihm auf den Tisch gelegt hatte. Er vermied es dabei, Patrick oder Evan anzusehen, denn er wusste genau, dass er überreagiert hatte. Als Evan mit der Hand Mimi berührt hatte, waren die Pferde einfach mit ihm durchgegangen, und er hatte sich ohne nachzudenken eingemischt.

Aber natürlich hatte Evan jetzt Blut geleckt und würde nicht lockerlassen. Irgendwie würde er seine Seitenhiebe ertragen müssen. Schließlich hob er langsam den Kopf.

„Sie ist ein heißer Feger, was?“, fragte Evan prompt.

Die Bemerkung ging Ian durch und durch, doch er unterdrückte seine Reaktion.

„Sie ist ganz okay.“

„Da ich glücklich verheiratet bin, enthalte ich mich der Stimme“, sagte Patrick lachend.

„Du Armer“, sagte Evan.

„Lasst uns woanders hingehen“, schlug Ian vor.

„Du hast ja noch gar nicht ausgetrunken“, sagte Patrick und trank selbst einen Schluck.

„Und ich sollte noch bleiben. Ich glaube, Mimi steht auf mich. Meinst du nicht?“, fragte Evan.

„Ich hab Hunger, ich hatte kein Mittagessen“, sagte Ian, ohne auf ihn einzugehen. „Lasst uns zu Gritty gehen und einen Hamburger essen.“

„Hier gibt’s auch was zu essen, und die Bedienung sieht viel besser aus. Obwohl … sie ist ziemlich dünn. Meinst du, die Brüste sind echt?“

Ian biss die Zähne zusammen, schaffte es aber, ihn zu ignorieren. „Hier gibt’s nur Snacks. Ich will was Richtiges.“

Ein Pärchen kam herein und setzte sich an den Tisch hinter Evan. Mimi ging vorbei, um sie zu begrüßen. Ihr Lachen klang herüber, als sie mit den beiden scherzte. Ian konzentrierte sich auf sein Bier und vermied es, in ihre Richtung zu blicken. Doch das nützte auch nichts. Ihr Gesicht stand ihm klar vor Augen, genau wie ihre wunderbare Figur und ihr strahlendes Lächeln.

„Und ein Hamburger ist für dich richtiges Essen?“, fragte Evan.

„Hier steht jedenfalls keiner auf der Karte.“

„Mimi würde uns bestimmt einen machen, wenn ich sie freundlich darum bitte“, sagte Evan lächelnd und folgte ihr mit dem Blick, als sie zurück zum Tresen ging. „Sie kann bestimmt gut kochen.“

So langsam bekam Ian Kopfschmerzen. Evan würde keine Ruhe geben, solange sie hier saßen, bis er Ians wunden Punkt gefunden hatte. Wahrscheinlich würde es nicht mehr lange dauern. Sie waren schon lange befreundet, aber heute Abend hatte Ian gute Lust, Evan jedes Mal einen Kinnhaken zu versetzen, wenn er den Mund aufmachte. Er musste die Frotzelei beenden.

„Was immer du dir wegen Mimi und mir in den Kopf gesetzt hast, du irrst dich!“, sagte er und blickte Evan dabei direkt an. „Ich habe keinerlei Interesse daran, mit irgendjemandem etwas anzufangen. Sie könnte wie Jessica Biel aussehen oder wie Angelina Jolie, und ich würde trotzdem im Oktober in See stechen.“

„Tatsächlich? Mir kommt es eher so vor, als ob da schon was zwischen euch läuft.“

„Quatsch.“

„Dann kann ich mich also an sie heranpirschen?“

„Mach, was du denkst“, erwiderte Ian achselzuckend.

Evan betrachtete ihn eine Weile abschätzend, als wäre er noch nicht bereit, aufzugeben. Er hatte einfach zu viel Spaß am Necken. Ian nahm noch einen Schluck Bier und wartete auf die nächste Spitze.

Doch vorher mischte sich Patrick ein. „Warum gehen wir nicht ins Portside?“, schlug er vor. „Ich glaube, die haben heute Spareribs.“

„Klar, warum nicht“, sagte Evan und wandte endlich den Blick von Ian ab.

Er stand auf, zog einen Zwanzigdollarschein aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. „Ich lad euch ein. So viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr.“

Seine Worte reizten Ian, doch er reagierte nicht, sondern erhob sich ebenfalls, gefolgt von Patrick. Auf dem Weg zur Tür bog Evan zum Tresen ab, wo Mimi ihr Tablett mit Gläsern belud.

„Wir gehen mal vor die Tür, um auf die altbewährte Art auszumachen, wer deine Telefonnummer haben darf“, erklärte er. „Der Gewinner kommt dann nachher wieder.“

Mimi verdrehte die Augen und winkte Patrick zu. „Es war nett, dich kennenzulernen. Bring doch nächstes Mal einen Freund mit und lass diesen Affen im Käfig.“

Zu Ian sagte sie gar nichts, und das störte ihn seltsamerweise. Doch auch das verdrängte er. Wenn sie ihn nicht beachtete, konnte ihm das nur recht sein. Es machte sein Leben leichter. Und leicht bedeutete Gutes.

2. KAPITEL

Mit vor der Brust verschränkten Armen stand Mimi am Fenster und blickte auf den Crab Creek hinaus, wo drei Enten durchs Wasser schwammen. Heute war es ruhig in der Lachmöwe – kein Wunder bei einem so verregneten grauen Tag. Ihr Vater stand hinter dem Tresen und las den Sportteil der Tageszeitung. Sie seufzte, wandte sich vom Fenster ab und ging zu ihm hinüber, wo sie sich auf einen der Barhocker setzte.

Ihr Vater warf ihr einen langen Blick zu. „Warum gehst du nicht nach Hause? Ich komme hier heute schon klar. Du hast nicht eine Note gespielt oder gesungen, seit du zurück bist.“

„Ich mache keine Musik mehr.“

Als er nur vielsagend schwieg, fügte sie nach einer Weile hinzu: „Ehrlich.“

Kopfschüttelnd legte George die Zeitung weg. „Du hast zwanzig Jahre lang gesungen und dich selbst auf der Gitarre begleitet, Mim. Vielleicht hast du die Musik aufgegeben, aber das Verlangen danach wird dich nie verlassen.“

„Ich hab’s doch versucht“, erwiderte Mimi. „Zehn Jahre lang habe ich alles getan, was ich konnte, um den Durchbruch zu schaffen. Ich habe Jack quer durch die ganze Weltgeschichte geschleift. Und was hat es mir gebracht? Nichts, rein gar nichts.

„Na schön, du bist kein Weltstar geworden. Na und? Das schaffen nicht viele, das musst du zugeben. Aber hören sie deshalb auf, gute Musik zu machen? Nur, weil sie keinen Plattenvertrag bekommen?“

„Ich habe aufgehört zu spielen, weil ich diesem Traum nicht mehr hinterherlaufen kann. Es geht einfach nicht mehr“, sagte sie leise.

George stützte die Hände auf den Tresen und beugte sich zu ihr. „Dann such dir einfach ein anderes Ziel. Aber gib nicht die Musik auf, weil du nicht berühmt geworden bist. Mit etwas, das man so liebt, darf man erst aufhören, wenn man selbst keinen Spaß mehr daran hat.“

Tränen traten ihr in die Augen und liefen ihr über die Wangen. Ungeduldig wischte sie ihr Gesicht trocken.

„Meine Güte, Dad, beiß dir bloß nicht auf die Zunge. Sag schon, was du wirklich denkst!“, sagte sie mit zitternder Stimme – bemüht, die Stimmung aufzuhellen.

Doch George lachte nicht. Er lehnte sich an den Kühlschrank und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du hängst jetzt seit Wochen hier rum und trauerst deinem alten Leben nach, als wäre es für immer unerreichbar geworden. Aber du bist und bleibst Musikerin. Du solltest auftreten. Und zwar hier!

„Wie bitte?“ Verblüfft starrte Mimi ihn an.

„Ich würde dich an Auftrittsabenden sogar an den Einnahmen beteiligen“, sagte er lächelnd. „Ich mache dir ein besseres Angebot als jede andere Bar in der Stadt.“

Bevor sie etwas sagen konnte, stürmte Jack herein. Er schüttelte seine nassen Haare aus wie ein Hund.

„Hi Mom, hi Granddad.“

Er ließ seinen Rucksack fallen und warf seine nasse Regenjacke achtlos darüber. Dann kletterte er auf den Barhocker neben Mimi und fragte: „Von was für einem Angebot redet ihr?“

„Ich hab deiner Mom gesagt, dass ich sie bezahle, wenn sie in der Bar auftritt.“

„Du willst wieder singen?“, fragte Jack mit glänzenden Augen.

„Nein! Ich …“

„Wir müssen noch etwas Überzeugungsarbeit leisten“, sagte George und zwinkerte Jack zu. „Sie hat Angst, dass sie ausgebuht wird.“

„Nie im Leben, Mom! Das wäre so toll! Wann geht es los? Du musst unbedingt den Meerjungfrauensong singen. Und …“

„Langsam, langsam“, sagte Mimi lachend, doch die Begeisterung ihres Sohnes war ansteckend. „Ich denk darüber nach, okay?“

Doch die Idee war so verlockend, dass sie ganz kribbelig wurde. Was, wenn ihr Vater recht hatte? Ganz langsam machte sich eine Lebensfreude in ihr breit, die sie in den letzten Monaten nicht mehr gespürt hatte. Sie versuchte, sie zu dämpfen, doch das war gar nicht so einfach.

„Du solltest wirklich wieder auftreten, Mom.“ Jack blickte sie so ernst an, dass es ihr schwerfiel, ihm zu widerstehen.

„Da hat er recht“, fügte George hinzu. „Du solltest allerdings nicht an der Bar sitzen, Kleiner.“

Mimi streckte die Hand aus, um ihm das Haar aus der Stirn zu streichen, doch er duckte sich unter ihr weg. Er kam langsam in das Alter, wo er sich nicht mehr gern von ihr anfassen ließ, und ihr brach jedes Mal das Herz, wenn er einer Liebkosung auswich.

„Wie war’s eigentlich in der Schule?“, fragte sie.

„Wie immer.“ Jack zuckte die Achseln. „Blöd.“

Wieder ging die Tür auf, und diesmal kamen vier Gäste herein, die sich an einen der Tische an der Fensterfront setzten. Jack nutzte die Gelegenheit, rutschte vom Hocker und griff nach seinem Rucksack und der Regenjacke. „Ich geh Computerspielen.“

„Aber erst machst du deine Hausaufgaben, bitte.“

„Och, Mom, die kann ich auch noch später machen.“ Und schon war er draußen.

Stirnrunzelnd blickte Mimi ihm nach.

„Geh und hilf ihm bei den Hausaufgaben“, schlug George vor. „Ich rufe an, wenn es doch noch voll wird.“

„Danke, Dad.“

Mimi rutschte vom Barhocker und folgte ihrem Sohn. Jeden Tag, wenn sie ihn nach der Schule fragte, bekam sie dieselbe Antwort. Jeden Nachmittag kämpften sie mit den Hausaufgaben. Wir brauchen nur noch die nächste Woche zu überstehen, dachte sie, als sie ihre Regenjacke überzog. Dann würden sie sich in den Sommerferien ein paar Wochen erholen können, bevor die Quälerei im nächsten Schuljahr von vorn losging.

Vielleicht sollte sie einen Nachhilfelehrer für Jack suchen? Doch sie wusste schon jetzt, wie Jack darauf reagieren würde. Seine schulischen Leistungen waren einfach nicht so, wie sie es sich vorstellte. Sie hatte so gehofft, dass ihm die Schule leicht fallen würde.

Mimi ging nach draußen, wo es noch immer schüttete. Wie immer, wenn sie über Jack nachdachte, hatte sie mit Schuldgefühlen zu kämpfen. Auch wenn ihre Eltern das Gegenteil behaupteten – dass Jack solche Schwierigkeiten hatte, war allein ihre Schuld. Wie hätte er sich als neunjähriger Junge, dessen Mutter nie sesshaft geworden war, auch anders entwickeln sollen? Sie würde noch einmal mit seinen Lehrern reden. Vielleicht hatten sie Vorschläge, wie sie ihm noch besser helfen konnte, die Schule ein klein wenig zu mögen.

In der Zwischenzeit würde sie ihn so gut sie konnte darin unterstützen, sich in dieser neuen ungewohnten Welt zurechtzufinden. In den Ferien würden sie gemeinsam Crab Creek zu ihrem neuen Zuhause machen. Und sie würde damit anfangen, wieder die Musik zu spielen, die immer ihr Leben begleitet hatte. Jack liebte sie genauso wie Mimi. Vielleicht würde es ihm ein Stück seiner alten Unbeschwertheit zurückgeben.

Sie verzog das Gesicht. Jetzt benutzte sie schon Jack als Grund, um wieder Musik zu machen. Dennoch lag sie vielleicht gar nicht so verkehrt. Sie waren beide unglücklich, das musste sie zugeben. Es war Zeit, etwas an der Situation zu verändern.

Ian setzte seine Sonnenbrille auf und überquerte den Hof der Werft in Richtung der Docks. Es war ein klarer Morgen, eine willkommene Abwechslung nach dem Regen der letzten drei Tage. Eine leichte Brise kräuselte das Wasser und trug den charakteristischen Geruch nach Seetang und Muscheln zu ihm. In einer Stunde fing Patricks Segelkurs an. Hoffentlich konnte er noch ein paar Sachen erledigen, bevor die Kinder kamen.

Als er sich dem Wasser näherte, sah er eine bekannte Gestalt am Ufer hocken – an fast derselben Stelle, an der er den Jungen am Dienstag erwischt hatte. Heute hatte Jack Green etwas anderes an, aber wieder wirkten seine Sachen zu groß für ihn. Ian bog ab und ging auf ihn zu.

„Hey, Jack. Was gibt’s?“

Jack erstarrte und stand auf. „Nichts, ich habe überhaupt nichts gemacht!“

„Ja, das habe ich irgendwo schon mal gehört.“

Ian schob sich die Sonnenbrille ins Haar und betrachtete den Jungen. „Ich dachte, wir waren uns einig, dass du nicht mehr hier spielst.“

„Ich spiele doch nicht“, sagte Jack verächtlich. „Ich bin neun Jahre alt.“

„Hm, ja.“ Ian unterdrückte ein Lächeln. „Was machst du dann hier? Wenn ich das fragen darf.“

Jack zuckte die Achseln und starrte auf seine Schuhe.

„Was denn, hast du nichts Besseres zu tun, als im Schlamm rumzustochern?“

„Natürlich, ich habe eine Menge zu tun.“

„Ach ja?“ Ian verschränkte die Arme vor der Brust, überrascht über den Anflug von Gefühlen, der über Jacks Gesicht gehuscht war. War es Angst? Wut? Nein, eher kam es ihm vor wie Traurigkeit, vielleicht Einsamkeit. Das weckte wiederum sein Mitgefühl. Es war bestimmt nicht leicht, an einen unbekannten Ort zu ziehen und neue Freundschaften schließen zu müssen. Besonders, wenn man ständig so schlechte Laune hatte wie Jack. „Komm mal mit.“

„Sie müssen es nicht gleich meiner Mom sagen“, erklärte Jack missmutig. „Ich komme nicht wieder.“

Ian schüttelte den Kopf. „Schau, wenn du auf der Werft sein willst, dann musst du arbeiten. Wie jeder andere hier auch.“

Arbeiten? Ich bin neun.“

„Dann machst du eben etwas, was für einen Neunjährigen geeignet ist“, erwiderte Ian gelassen. Er drehte sich um und ging ein paar Schritte, bevor er sich wieder zu Jack umwandte. „Komm mit, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.“

Misstrauisch starrte ihn Jack unter seinen langen Ponyfransen an. Ian wartete geduldig, bis sich der Junge entschieden hatte. Offenbar gewann die Neugier schnell die Oberhand, doch so schnell gab sich Jack nicht geschlagen.

„Ich mache aber hier nicht den Sklaven!“, erklärte er.

„Keine Sorge, keiner würde so einen Knirps wie dich kaufen wollen.“

„Ich bin kein Knirps.“ Doch Jacks Aufbegehren war nur halbherzig.

Mit zwei Schritten war Ian bei ihm, legte eine Hand auf Jacks Kopf, die andere auf seinen eigenen und maß den Abstand zwischen beiden mit den Augen.

„Also ich würde sagen, du hast die durchschnittliche Größe für einen Knirps.“

„Ich bin groß für mein Alter!“

„Und mager, aber das ist kein Verkaufsargument.“

Jack grinste, und Ian fühlte sich, als hätte er einen Orden bekommen. Er schob seine Sonnenbrille wieder über die Augen, damit man ihm sein Triumphgefühl nicht ansah.

„Komm, Knirps, wir haben jede Menge zu tun.“

Er führte Jack zu den Anlegestegen, wo Patrick die elf Miniboote für den Segelkurs vorbereitete. Sie dümpelten in einer Reihe hinter einem großen Haufen Segeln, Masten und Rudern.

„Hey, ich hab dir eine Arbeitskraft mitgebracht!“, rief Ian zu Patrick.

Sein Bruder, der gerade dabei war, einen Mast in einem der Dingis festzumachen, blickte auf. „Sieht ein bisschen mager aus.“

„Tja, auf die Schnelle konnte ich nichts Besseres finden.“ Ian gab Jack einen Rippenstoß und zwinkerte ihm zu. „Aber ein paar Muskeln hat er schon.“

Er legte Jack eine Hand auf die Schulter und stellte ihm Patrick vor. Die beiden schüttelten sich feierlich die Hände.

„Sehr erfreut, Jack. Machst du heute beim Segeln mit?“

Jack schüttelte den Kopf. „Nein, ich muss arbeiten.“

„Jack ist neun. Er spielt nicht mehr“, erklärte Ian. „Er kommt immer auf die Werft, also dachte ich mir, er sucht einen Job.“

„Kennst du dich mit Segelbooten aus?“, fragte Patrick.

„Na ja, sie haben keine Motoren und sind sehr langsam“, erwiderte Jack achselzuckend.

Patrick lachte laut. „Oh, da irrst du dich aber. Einige Segelboote sind so schnell wie Motorboote und sie machen viel mehr Spaß.“

„Patrick fährt Segelregatten“, sagte Ian.

„Wo?“

„Auf dem offenen Meer und hier in der Bay.“

Jack blickte zu ihm auf. „Und die Segelboote sind wirklich schnell?“

„Wirklich richtig schnell. Ich kann dir nachher ein paar Videos zeigen, wenn du willst.“

„Und was muss hier noch getan werden?“, fragte Ian.

„Die restlichen Masten müssen gesteckt werden, dann können wir auftakeln. Ich will alle Boote fertig haben, bevor die Kinder anrücken. Nächste Woche zeigen wir ihnen dann, wie sie es selbst machen.“

Schon bald entstand aus Ian und Jack ein gutes Team. Jack lernte schnell, hörte gut zu und befolgte Anweisungen exakt oder beobachte Ian und machte es dann genauso nach. Nach einer Weile schien er sogar ein Gefühl dafür zu entwickeln, was als nächster Schritt kam, was Ian beeindruckte. So übel war der Junge also doch nicht. Wahrscheinlich war er nur so schwierig, weil ihm langweilig war. Ian beschloss, ihn dauerbeschäftigt zu halten.

„Okay, alles auf einem Boot hat einen Namen“, erklärte er. „Das spitze Ende zum Beispiel ist der Bug und das runde Ende das Heck. Verstanden?“

Jack betrachtete das kleine Boot eingehend.

„Sie sehen beide eher rund aus.“

„Das breitere runde Ende ist das Heck“, sagte Ian. „Klugscheißer.“

Jack kicherte, nickte dann. „Bug und Heck.“

„Genauso wichtig sind die Namen für rechts und links, nämlich Steuerbord und Backbord. Backbord ist immer die linke Seite des Bootes vom Heck aus gesehen, egal, wie herum du stehst.“

Sie fuhren fort, die Boote zu takeln, und Ian benannte jetzt immer die einzelnen Teile. Als er bemerkte, dass Jack die Worte halblaut wiederholte, lächelte er verstohlen. Doch tatsächlich benutzte Jack die Bezeichnungen nach dem ersten Hören fast immer korrekt.

„Ist A&E jetzt schon so verzweifelt, dass ihr auf Kinderarbeit zurückgreifen müsst?“ Evan McKenzie stand grinsend auf dem Steg, die Hände in die Hüften gestemmt. Wie Ian und Jack trug er weite Shorts, ein T–Shirt und Flipflops.

„Da du ja nicht pünktlich aufgetaucht bist, haben wir schon mal angefangen.“ Ian richtete sich auf und streckte ihm die Hand hin. „Und er schuftet härter als du.“

Evan hob eine Augenbraue. „Ich schufte nie. Ich bin hier, um die Verantwortung zu tragen.“

„Jack, das ist Evan. Er ist einer der Segellehrer. Evan, das ist Jack Green.“

Die Sonnenbrille tief auf die Nase geschoben, schüttelte Evan dem Jungen die Hand. „Deine Mutter ist Mimi Green?“

Als Jack nickte, lächelte Evan. „Sie ist cool.“

Jack zuckte die Achseln, doch es war ihm anzusehen, dass er sich über das Kompliment freute.

Mit einem teuflischen Funkeln in den Augen blickte Evan zu Ian hinüber. „Ich dachte, du hättest kein Interesse an ihr?“

Ian verzog das Gesicht, schwieg aber. Vor Jack konnte er nichts dazu sagen.

Evan grinste selbstgefällig, schob seine Sonnenbrille wieder hoch und wandte sich den Booten zu. „Sehr schön, ihr seid ja fast fertig.“

Wie aufs Stichwort kamen drei Jungen und ein Mädchen den Steg entlanggerannt. Patrick ging ihnen entgegen und erklärte ihnen, dass sie auf den Stegen nicht rennen sollten. Als Ian auf die Uhr sah, stellte er fest, dass es Zeit für den Kurs war.

„Hilf mir bitte mal mit den Schwimmwesten“, bat Ian und reichte Jack fünf, während er selbst sechs nahm und auf die aufgeregt plappernde Kindergruppe zuging, die Patrick umringte. Evan blieb zurück und betrachtete das Chaos skeptisch.

Mittlerweile waren noch mehr Kinder mit ihren Eltern herangekommen und wurden von Patrick begrüßt. Ian blieb mit Jack etwas abseits stehen und bemerkte, wie ernst Jack die anderen Kinder betrachtete. Sein Gesichtsausdruck verriet nicht, was er dachte.

Nachdem Patrick die Eltern verabschiedet hatte, erklärte er den Kindern kurz, was sie in der heutigen Stunde erwartete. Ian musste lachen, denn keines der Kinder hörte ihm zu. Sie waren viel zu fasziniert von den kleinen Booten, die fröhlich auf dem Wasser tanzten.

Ian verteilte die Schwimmwesten, und als er alle losgeworden war, machte Jack ohne Aufforderung weiter, bis nur noch eine einzige übrig war. Während Patrick zeigte, wie man die Westen anlegte, hielt Jack die letzte Schwimmweste Ian hin.

„Die ist zu klein für mich“, sagte Ian.

„Wem soll ich sie denn dann geben?“

„Sieht aus wie eine Knirpsgröße. Probier du sie doch mal an.“

„Ich?“

„Ohne Schwimmweste besteigt niemand ein Boot. Egal, ob du schwimmen kannst oder nicht“, erklärte Ian. Als Jack den Mund aufmachte, um zu protestieren, fügte er hinzu: „Hey, ich mache die Regeln nicht, ich setze sie nur durch.“

„Aber ich steig doch gar nicht in ein Boot“, sagte Jack.

„Warum nicht?“

„Ich bin nicht für den Kurs angemeldet.“ Er vermied es, Ian anzusehen.

Ian legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter und drehte ihn zu den anderen Kindern, die sich unter Patricks Anweisung jeweils am Bug eines Dingis aufgestellt hatten. Ein Boot war noch frei. Das rot-gelb gestreifte Segel flatterte im Wind.

„Schau, ein Boot ist übrig. Offenbar wusste jemand, dass du heute kommst.“

Jack stand wie gebannt da und blickte dann zweifelnd zu Ian auf. „Ehrlich?“, fragte er flüsternd. In seinen blauen Augen stand sehnsüchtige Hoffnung, und Ian hätte ihn am liebsten in die Arme gezogen. Stattdessen nahm er Jack die Schwimmweste ab und hielt sie ihm zum Hineinschlüpfen hin.

„Los jetzt“, sagte er rau. „Die anderen warten schon.“

Ein paar Sekunden später stand Jack wie die anderen Kinder am Bug seines kleinen Segelboots. Ian schluckte, als er sah, wie aufmerksam er Patricks Erklärungen zuhörte. Als Jack sich über die Schulter zu ihm umsah, strahlte er wie ein Honigkuchenpferd, und Ian musste lachen.

So langsam fing er an, den Jungen zu mögen.

3. KAPITEL

In Panik lief Mimi die Straße entlang und blieb immer wieder stehen, um in jede Seitenstraße und jede Hauseinfahrt zu schauen.

„Jack!“, rief sie immer wieder.

Nichts.

Eigentlich hätte Jack heute Morgen nach dem Frühstück auf sein Zimmer gehen sollen, um für die Schule zu lernen. Oder zumindest so zu tun. Gegen zehn hatte Mimi nach ihm geguckt, und in seinem leeren Zimmer seinen Rucksack mit dem Mathe- und Physikbuch unter der Schmutzwäsche vom Vortag gefunden. Er hatte nicht mal angefangen mit den Hausaufgaben. Stattdessen hatte er sich verdrückt. Verärgert hatte sich Mimi auf die Suche nach ihm gemacht.

Nun hielt sie schon über eine Stunde nach ihm Ausschau, und so langsam wich ihr Unmut einem Anflug von Panik. Keine Spur von Jack. Nirgendwo.

Wieder überquerte sie die Straße und näherte sich dem Haupteingang der Werft. Eigentlich stand der Jachthafen ganz unten auf ihrer Liste – schließlich hatte Jack versprochen, dort nicht wieder herumzulungern. Allerdings hatte er dieses Versprechen nicht freiwillig gegeben. Vielleicht fand er es gerade reizvoll, sich auf das Werftgelände zu schleichen, weil es verboten war.

Das Tor stand weit offen, doch Mimi zögerte. Sie war hier bestimmt schon hundert Mal vorbeigekommen, aber sie hatte den Hafen noch nie betreten. Nicht mal zu Highschoolzeiten, als sie mit Anna unterwegs gewesen war. Und jetzt war es Ian Berzanis Reich. Sie würde sich fernhalten.

Was, wenn sie ihn traf? Oder er sie?

Sei doch nicht so ein Feigling, sagte sie zu sich. Was, wenn Jack da drin ist?

Entschlossen überquerte sie zuerst den mit Schotter gedeckten Parkplatz und ging dann an den Schuppen vorbei in Richtung Wasser. Jedes Gebäude war beschildert: Segelwerkstatt, Holzwerkstatt, Maschinenwerkstatt. Neben dem kleinsten Gebäude, auf dem Büro stand, parkten etwa zehn Autos, doch auch hier war niemand zu sehen.

Hinter dem Büro stand ein blauer Travellift. In den Schlingen des fahrbaren Krans hing ein Motorboot. Dahinter war das Brummen eines Außenbordmotors zu hören. Jemand rief etwas. Dort mussten Leute sein. Sie ging über den Steg, der zu den Liegeplätzen führte, und entdeckte im Uferschlamm sofort die Schuhabdrücke ihres Sohnes.

Die Rufe wurden lauter, und jetzt hörte sie auch Kinderstimmen. Sie wandte sich nach links und sah an die zehn bunte Segel auf dem Wasser tanzen. Die Boote kreuzten in einem geschützten Bereich der Bay. Mit zwölf Jahren hatte sie im Sommercamp auch auf so einem Miniboot segeln gelernt.

Mimi eilte den Bootssteg entlang. Bestimmt hatten die Boote ihren Sohn hergelockt. Hoffentlich hatte er sich deshalb keinen Ärger eingehandelt. Am Ende des Stegs entdeckte sie eine große Gestalt, die ihr den Rücken zuwandte. Ian Berzani. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Plötzlich wurde ihr heiß, und ihr Herz schlug schneller.

Er trug weite Shorts und ein graues T–Shirt, unter dem sich seine beeindruckenden Rückenmuskeln abzeichneten, weil er die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Auch seine Beine, soweit sie sie unterhalb der Shorts sehen konnte, waren muskulös und gebräunt. In Flipflops stand er breitbeinig da wie ein Fels in der Brandung. Der Impuls, sich ihm von hinten zu nähern und die Arme um ihn zu schlingen, war übermächtig.

Unvermittelt wandte Ian den Kopf und blickte sich zu ihr um. Wegen der dunklen Sonnenbrille konnte sie seine Augen nicht sehen, doch er presste die Lippen aufeinander. Er sah umwerfend aus – und war offenbar nicht besonders erfreut, sie zu sehen. Diesen Ausdruck von Irritation, Widerwillen und irgendetwas anderem sah sie jetzt schon zum dritten Mal an ihm. Mimi biss sich auf die Unterlippe und zwang sich, auf ihn zuzugehen.

„Morgen“, sagte er mit einem kurzen Nicken und steckte die Hände in die Taschen seiner Shorts.

„Guten Morgen. Ich suche Jack.“

Ian antwortete nicht, sondern wandte sich wieder ab und betrachtete die kleine Flotte, die im Wasser schaukelte. Es gab nicht viel Wind, doch die Kinder nutzten jede kleinste Brise, kreuzten und halsten, was das Zeug hielt – sie bemühten sich, den Kurs ihrer Boote zu ändern, indem sie die Dingis mit dem Heck durch die Richtung drehten, aus der das bisschen Wind wehte. Es war ein einziges Chaos, doch bei den zahlreichen Beinahezusammenstößen gab es nur großes Gelächter. Zwei kleine Motorboote umkreisten die Dingis, und Mimi erkannte Patrick in dem einen und Evan McKenzie in dem anderen. Sie riefen den Kindern Anweisungen zu, von denen die meisten unbeachtet verhallten.

Noch immer wartete sie auf eine Antwort oder zumindest ein Anzeichen dafür, dass Ian sie nicht völlig vergessen hatte.

„Hast du ihn gesehen?“, fragte sie schließlich, als es ihr zu dumm wurde, ignoriert zu werden.

Langsam nahm er eine Hand aus der Tasche und deutete auf die Dingis. „Das dritte Boot von rechts. Das mit dem rot-gelb gestreiften Segel.“

Sie beschattete ihre Augen und erkannte Jack sofort. Er hatte eine Hand an der Ruderpinne und die andere am Segel, stand breitbeinig da und wirkte sehr konzentriert.

„Was macht er da draußen?“, fragte sie entsetzt.

„Er lernt segeln.“

„Das sehe ich. Aber wie kommt er dazu?“

„Vorhin lungerte er wieder auf dem Werftgelände rum. Und wenn er jetzt nicht schnell wendet, dann wird er … Au Backe, da ist er aus Versehen gehalst. Aber immerhin hat er dabei das Segel nicht an den Kopf bekommen. Gute Arbeit, Knirps!“, rief er aufs Wasser hinaus, die Hände als Trichter um den Mund gelegt.

Jack richtete das Segel, setzte Kurs auf ein paar Pfähle und blickte zu Ian hinüber. Er strahlte über das ganze Gesicht und ließ sich von Ians Kommentar nicht aus der Ruhe bringen. Als er Mimi entdeckte, winkte er fröhlich, wobei er das kleine Boot zum Schaukeln brachte.

Mimi winkte zurück und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, vorsichtiger zu sein. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und wandte sich Ian zu.

„Du hast ihn also auf das Boot steigen lassen?“

Er würdigte sie keines Blickes. „Wir hatten noch eins frei, und ich dachte mir, er hätte vielleicht Spaß am Segeln.“

„Du hättest mich erst anrufen sollen.“

„Ich habe nicht damit gerechnet, dass du was dagegen haben könntest. Er trägt eine Schwimmweste und Patrick achtet …“

„Er sollte jetzt aber eigentlich zu Hause sein und für die Schule lernen.“

„An einem Samstagvormittag?“

Seine Frage deutete an, dass er sie für viel zu streng hielt, und das regte sie auf. „Ich habe gerade zwei Stunden damit verbracht, nach ihm zu suchen.“

„Und woher sollte ich das wissen?“ Sein Achselzucken machte sie nur noch wütender.

„Du hättest es leicht herausfinden können, wenn du angerufen und mich um meine Meinung gefragt hättest.“

„Ich habe ihn gefragt, und er meinte, er hätte nichts zu tun. Von Hausaufgaben hat er nichts gesagt!“

„Natürlich nicht! Er ist neun!“

Ian schob die Sonnenbrille ins Haar, stemmte die Hände in die Hüften und wandte sich ihr wieder zu. „Was willst du …“

„Mom! Hast du das gesehen?“ Jacks durchdringender Schrei erschreckte sie beide. Irgendwie hatte er es geschafft, die Pfähle zu umschiffen. Jetzt hielt er geradewegs auf den Bootssteg zu, auf dem sie standen.

Mimi hielt den Atem an und trat vor, doch Ian war schneller. Gelassen streckte er den Arm aus und hielt den Mast des Dingis mit einer Hand fest. Das kleine Boot stupste den Steg sacht an und blieb stehen.

„Das war die schludrigste Halse, die ich je gesehen habe, Knirps“, sagte Ian. „Du hättest dir fast das Segel an den Kopf geknallt.“

Knirps? Mimi runzelte die Stirn. Wie kam ihr Sohn zu diesem Spitznamen? Beinahe hätte sie Einwände erhoben, doch Jack schien sich nicht daran zu stören. Der Wind hatte ihm das Haar aus der Stirn geweht, und seine blauen Augen strahlten glücklich.

„Das war nur aus Versehen“, sagte Jack. „Ich hab am Ruder gezogen, statt es wegzudrücken.“

„Versuch es das nächste Mal mit Absicht.“ Ian würzte seinen Rat mit einem ironischen Lächeln, das Jack mit einer Daumen-hoch-Geste quittierte.

„Du hast noch zwanzig Minuten Zeit. Oder hast du keine Lust mehr?“

„Von wegen. Bitte stoßen Sie mich mal ab. Mom, schau!“

Mimi wollte ihn eigentlich an seine Hausaufgaben erinnern, überlegte es sich aber anders. Zum ersten Mal seit Langem schien Jack all seine Sorgen vergessen zu haben.

Ian griff nach dem Ausleger, drehte das Boot herum und gab ihm mit dem Fuß einen leichten Stoß. Jack bewegte das Ruder und zog am Segel. Eine leichte Brise füllte es, und sein Boot schoss übers Wasser auf den Pulk der anderen zu.

„Ist er früher schon mal gesegelt?“, fragte Ian, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

„Nein, nicht, dass ich wüsste.“

„Er lernt wirklich schnell. Ein echtes Naturtalent.“

Dass Ian auf seine Entdeckung geradezu stolz zu sein schien, verstärkte Mimis Ärger nur noch.

„Na wunderbar. Warum bringst du ihm nicht Bruchrechnen bei oder wie man eine Buchbesprechung über Die Schatzinsel schreibt?“

Endlich wandte er sich wieder zu ihr um und blickte ihr einige Sekunden lang in die Augen. Schließlich seufzte er.

„Er braucht diesen Segelkurs, Mimi.“

„Du willst mir erzählen, wie ich meinen Sohn erziehen soll? Na, dann sag mir doch mal, du Supernanny, was wichtiger ist – die vierte Klasse zu schaffen oder segeln zu lernen.“

„So einfach ist das nicht.“

„Natürlich nicht. Erziehung ist nämlich kein Kinderspiel. Ich muss darauf achten, dass er bestimmte Regeln einhält. Und gleichzeitig muss ich seine beste Freundin sein. Versuch du doch mal, das alles unter einen Hut zu kriegen.“

Ian schüttelte den Kopf, blickte kurz übers Wasser, dann wieder zu ihr. Dann sagte er gelassen: „Jack ist unhöflich, hat keinen Respekt vor Erwachsenen und ignoriert alles, was er nicht hören will. Wenn er dieses Verhalten nicht abstellt, wird er sich irgendwann richtigen Ärger einhandeln.“

Mimi setzte zu einer Antwort an, doch Ian war noch nicht fertig.

„Sein Problem liegt darin, dass er hochintelligent ist und sich zu Tode langweilt. Vielleicht fällt mir das besonders auf, weil es mir in dem Alter genauso ergangen ist. Er braucht eine Herausforderung, und weil die Schule ihm offenbar keine bietet, wäre Segeln vielleicht das Richtige für ihn.“

„Du hast eine Stunde mit meinem Sohn verbracht und bist jetzt plötzlich der Experte für ihn?“, fragte Mimi aufgebracht. „Was gibt dir …“

Bevor sie den Satz zu Ende bringen konnte, erreichten die ersten Dingis den Bootssteg. Während ihres Gesprächs hatte der Wind aufgefrischt. Das Mädchen im ersten Boot schrie auf, ließ das Ruder los und hielt sich die Augen zu. Das Dingi schoss sofort in den Wind, wurde langsamer und trieb längsseits auf den Steg zu. Ian griff nach dem Mast und hielt es fest. Das Mädchen nahm die Hände von den Augen.

„Ich hab’s geschafft!“

„Sehr gut gemacht“, sagte Ian und ging in die Hocke. „Und nächstes Mal versuchen wir es mit offenen Augen.“

Das Mädchen kicherte und kletterte aus dem Boot. Wider Willen musste Mimi zugeben, dass Ian einen guten Draht zu Kindern hatte. Mit seiner Mischung aus gutmütigem Spott, Lob und konstruktiven Ratschlägen schaffte er es, ihnen fast unbemerkt etwas beizubringen.

Na gut, vielleicht verstand er etwas von Kindern und vom Segeln. Doch das machte ihn noch lange nicht zum Experten für Jack.

Ian reichte dem Mädchen die Leine und zeigte zum Pier. „Gut festhalten. Zieh das Boot noch ein Stück nach da drüben. Wir heben es dann gleich auf den Steg.“

Sie gehorchte, und kurz darauf kamen ein zweites und ein drittes Boot auf den Steg zu. Mimi beschloss spontan, mitzuhelfen, obwohl sie immer noch verärgert war. Sie griff nach einem Mast und schob ein Boot zur Seite, bevor es mit seinem Nachbarn zusammenstieß. Das Kind darin sah verängstigt aus.

Sie lächelte beruhigend. „Du hast vergessen, die Notbremse zu ziehen.“

Autor

Lisa Ruff
Lisa Ruff wurde in Montana geboren und ist in Idaho aufgewachsen. Als Tochter eines Försters lebten sie und ihre Familie in einer kleinen Stadt aus Holzhütten. Einige von ihnen waren so in die Berge eingebaut, dass sie das Sonnenlicht niemals erreichte. Lisa Ruff besuchte die Universität von Idaho und machte...
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