Bianca Gold Band 58

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LIEBE IM LAND DES LÄCHELNS von ALLISON LEIGH

Wieso schlägt Helens Herz in Tokio auf einmal so schnell? Liegt es an dem zärtlichen Blick des attraktiven Top-Managers Tom Taka? Dabei hat sie der Liebe doch abgeschworen. Diesen Entschluss muss sie bei dem faszinierenden Mann aus dem Land des Lächelns aber noch einmal überdenken …

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  • Erscheinungstag 24.07.2020
  • Bandnummer 58
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749736
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Allison Leigh, Christine Flynn, Barbara Hannay

BIANCA GOLD BAND 58

1. KAPITEL

Sie würde nie wieder glücklich sein.

Der Gedanke verfolgte und quälte sie.

Unauffällig stand Helen Hanson auf und verließ den Saal, in dem die Hochzeitsgesellschaft feierte. Niemand beachtete sie. Kein Wunder, schließlich hatte sie die meisten noch nie zuvor gesehen. Das Brautpaar war – dem Brauch entsprechend – bereits zur Hochzeitsreise aufgebrochen, und die wenigen Menschen hier, die sie kannte, waren wahrscheinlich froh, wenn sie sich nicht mit ihr abgeben mussten.

Sie fühlte sich schwach, das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und ihr war heiß. Das konnten doch wohl keine Hitzewallungen sein? Mit einundvierzig war sie eigentlich zu jung für die Wechseljahre. Ein Nervenzusammenbruch?

Mit angestrengtem Lächeln suchte sie sich zwischen den Tischen hindurch einen Weg nach draußen. Niemand sollte merken, wie schlecht es ihr ging.

Doch sie würde nie wieder glücklich sein.

„Hör auf damit“, flüsterte sie, als sie endlich den Flur erreicht hatte. Am liebsten wäre sie einfach gegangen, hätte sich in ihrem Hotelzimmer eingeschlossen, das teure Abendkleid mit ihrem alten Flanellschlafanzug vertauscht und sich im Bett verkrochen. Dort konnte sie wenigstens aufhören, die anstrengende Rolle der selbstbewussten, entscheidungsfreudigen und kompetenten Geschäftsfrau zu spielen, für die sie alle hielten.

Nimm dich zusammen, Helen, dies ist schließlich ein glücklicher Tag, sagte sie sich, doch sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.

Es gab wirklich keinen Grund zum Weinen. Sie befand sich auf der Hochzeit ihrer Tochter Jenny, die sie nach der Geburt zu Adoption hatte freigeben müssen und nach über zwanzig Jahren endlich wiedergefunden hatte – und sie heiratete einen Mann, den Helen gut kannte und sehr schätzte. Dennoch brannten ihre Augen.

„Mrs. Hanson.“

Helen erkannte die tiefe Stimme sofort an dem leichten Akzent und straffte die Schultern. Sie hätte wissen müssen, dass sie hier in Tokio nirgends vor ihm sicher war. Wie dumm von ihr, sich trotzdem in der Öffentlichkeit so gehen zu lassen!

Hastig blinzelte sie die Tränen weg und setzte ihr eingeübtes Lächeln wieder auf. „Mr. Taka“, sagte sie freundlich. „Ich hoffe, Sie und Ihre Begleitung verbringen schöne Stunden hier.“

Thomas Taka – der sich von manchen Tom nennen ließ, aber zu diesem Kreis gehörte Helen nicht – sah jedoch ebenfalls nicht sehr glücklich aus. Wie bei den geschäftlichen Treffen wirkte er gelangweilt, unnahbar und kühl.

„Wir alle fühlen uns durch Ihr Kommen sehr geehrt“, fügte sie so herzlich wie möglich hinzu. Immerhin war Thomas Taka der Firmenchef von TAKA, dem japanischen Konzern, mit dem Helen für ihre marode Verlagsgruppe eine Fusion anstrebte.

„Sie wirken traurig“, sagte Thomas Taka. Forschend sah er sie an.

Obwohl die Fusionsverhandlungen sich nun schon Monate hinzogen, hatte sich Helen noch immer nicht an diesen durchdringenden Blick gewöhnt. Auch der Rest des Mannes schüchterte sie ein, dabei wusste sie nicht einmal genau, warum.

Thomas Taka war zwanzig Jahre jünger als ihr verstorbener Mann George und etwas kleiner als er, wenn auch für einen Japaner ungewöhnlich groß. Das lag vielleicht an seiner amerikanischen Mutter, von der das Gerücht ging, dass sie eine strahlende Schönheit gewesen war. Trotz seiner siebenundvierzig Jahre war sein volles Haar immer noch tiefschwarz.

Man konnte Thomas Taka wohl als gut aussehend bezeichnen. Helen jedoch kümmerte das nicht. Ihre einzige Sorge war die Fusion, die er immer wieder hinauszögerte.

„Frauen weinen nun einmal bei Hochzeiten“, erwiderte sie leichthin. „Das ist sicherlich nicht nur in den USA so.“

Er zeigte den Anflug eines Lächelns – das hoffte sie zumindest. Bei seinen so strengen Gesichtszügen war das schwer zu sagen. Im Gegensatz zu den stets freundlich lächelnden TAKA-Mitarbeitern wirkte er immer verschlossen und ernst.

Vielleicht hatte sie deshalb letzte Nacht von ihm geträumt – von ihm als Krieger, der sie als nicht ganz unwillige Beute verschleppte.

Heute trug er einen maßgeschneiderten Smoking, doch in ihrem Traum hatte er …

Sie unterdrückte den unwillkommenen Gedanken. Natürlich tauchte der Mann nur deshalb schon seit Wochen in ihren Träumen auf, weil er die Macht hatte, über Bestehen oder Untergang ihrer Firma zu entscheiden. Das war alles.

„Sie sitzen nicht bei Ihrer Familie am Tisch“, bemerkte er.

Eisern lächelte sie weiter. Sie freute sich ehrlich, ihre drei Stiefsöhne und deren Frauen zusammen zu sehen. Es war nicht immer so gewesen – zu Georges Lebzeiten hatte keiner der drei mit dem Vater etwas zu tun haben wollen. Helen hatte sie nach seinem Tod wieder zusammengebracht. Jetzt arbeiteten alle drei in der Firma und hatten dabei sogar privat ihr Glück gefunden – was sie zum Teil ebenfalls Helen verdankten.

Dennoch war ihr klar, dass die drei sie nur widerwillig tolerierten. Von Anfang an hatten sie Helen als „böse Stiefmutter“ abgelehnt.

„Ich sitze mit Freunden von Jennys Eltern zusammen“, antwortete sie.

„Aber nicht bei Ihren Söhnen.“

Danke für den Hinweis. „Es sind die Söhne meines Mannes“, korrigierte sie automatisch. Das wusste er natürlich, ebenso, wie er über fast alle anderen Details ihres Privatlebens informiert war. Als sich herausgestellt hatte, dass Jenny ihre leibliche Tochter war – von der niemand außer Helen etwas wusste –, hätte er deshalb fast die Fusionsverhandlungen gestoppt. Eine Firma wie TAKA wollte mit Skandalen dieser Art nichts zu tun haben.

„Richtig“, sagte er. „Die Söhne Ihres Mannes. Es muss schwer für Sie sein.“

Weil sie nicht genau wusste, was er mit „es“ meinte, schwieg sie, und er fuhr fort: „Der Verlust Ihres Mannes. Es ist noch nicht lange her, Sie leiden offenbar noch darunter.“

George war vor neun Monaten gestorben, und auch das wusste er. Schließlich war ihr ja ebenso bekannt, dass Taka verwitwet war und er die Firma erst vor zwei Jahren von seinem Vater Yukio übernommen hatte.

„Ja, es ist nicht einfach“, erwiderte sie. „Auch Sie haben Ihre Frau verloren.“

„Vor vielen Jahren schon.“

„Das tut mir leid.“

Statt einer Antwort senkte er kaum merklich den Kopf. Schon dieses Gefühlseingeständnis überraschte Helen. Normalerweise wirkte der Mann wie ein Eisblock. „Ihre Begleiterin sucht Sie sicherlich schon“, sagte sie in der Hoffnung, dass er endlich verschwinden würde.

„Sind Sie hier draußen, weil es Ihnen nicht gut geht?“, fragte er.

„Nein, es ist alles in Ordnung.“

„Man flüchtet normalerweise nicht, um Freudentränen zu vergießen. Sie wirken verstört.“

Dass ausgerechnet ihm das auffiel, gefiel ihr gar nicht – und noch schlimmer war, dass ihre Augen schon wieder brannten. Sie schluckte und merkte, dass ihr Lächeln zu zittern begann.

Thomas Taka kniff die Augen zusammen und streckte ihr eine Hand hin. „Kommen Sie.“ Seine Finger waren schlank, aber kräftig. „Ich weiß einen ruhigen Platz.“

Eigentlich war ihr der Flur ruhig genug. Mit Thomas Takas Mitleid konnte sie nichts anfangen. Sie wollte nur eins von ihm: die Zustimmung zu der Fusion, die Hanson Media retten würde.

Er legte eine Hand unter ihren Ellenbogen.

Die erste Berührung überhaupt seit Tagen, und das ausgerechnet von ihm. Helens Augen brannten stärker, doch sie versuchte, die dazugehörigen Gefühle zu ignorieren. Das tat sie schließlich schon seit Monaten – wenn nicht Jahren.

Sie blickte zu ihm auf und bemerkte völlig unzusammenhängend, wie dicht seine Wimpern waren. „Danke“, flüsterte sie.

Er nickte knapp und unpersönlich, doch sein Blick blieb kurz und vielsagend an ihren Lippen hängen.

Beinahe wäre sie gestolpert, als sie ihm den Korridor entlang folgte. Vielleicht verlor sie ja wirklich den Verstand? Dass Männer ihr lüsterne Blicke zuwarfen, war sie gewohnt. Doch ausgerechnet Thomas Taka …

Sie war verrückt geworden, ganz eindeutig.

Hinter ihnen wurde die Musik aus dem Festsaal immer leiser, und sie blieben vor einem Aufzug stehen. Die Feier fand im Anderson-Hotel statt, eins der Hotels, das Jennys Adoptiveltern gehörte.

Auch in der Kabine ließ Thomas Taka ihren Ellenbogen nicht los, und Helen gestand sich ein, dass sie den Halt gut gebrauchen konnte – auch, wenn er von ihm kam.

Sie fragte auch nicht, wo er sie hinbrachte oder warum er nicht zu seiner schönen jungen Begleiterin zurückkehrte. Stattdessen starrte sie die geschlossene Tür an, bis sie sich öffnete und sie direkt in einem tropischen Gewächshaus landeten.

So wirkte es jedenfalls auf den ersten Blick. Überall wuchsen großblättrige Pflanzen, und die ganze Anlage hatte nichts mit den gezirkelten Gärten gemein, die in Japan so beliebt waren. Das hier erweckte mehr den Eindruck eines Dschungels.

„Setzen Sie sich doch.“ Thomas führte sie zu einer schmiedeeisernen Bank mit roten Seidenkissen unter einer Art Trauerweide.

Erst, als sie saß, ließ er ihren Ellenbogen los, doch er nahm nicht neben ihr Platz, sondern ging zu einem anderen riesigen Baum, der ein paar Schritte entfernt stand.

Helen blickte zu seiner Krone hinauf und entdeckte weit darüber die Decke, die zum größten Teil aus Glas bestand. Als sie wieder zu Thomas sah, war der dabei, eines der Blätter am Baum zu streicheln.

Verlegen schaute Helen woanders hin und entdeckte, dass sich an den verglasten Garten ein Wohnareal anschloss.

„Ist dies Ihr Zimmer?“, fragte sie.

„Ja.“

Wobei „Zimmer“ leicht untertrieben wirkte. Selbst der Begriff „Suite“ traf das Ausmaß nicht ganz. Hier handelte es sich schon eher um ein Penthouse von der Sorte, wie selbst sie noch nie eins von innen gesehen hatte. Dabei war sie als Frau von George Hanson einigen Luxus gewohnt.

Als Trophäe von George Hanson schoss es ihr durch den Kopf.

„Darf ich mich umsehen?“, fragte sie und stand auf. Hinter dem Dschungel floss ein Wasserlauf quer durch den Raum, über den eine Brücke in den Wohnbereich führte.

„Gern.“

Helen schritt über das fließende Wasser hinweg und betrachtete die Kunstgegenstände, die an der gegenüberliegenden Wand ausgestellt waren.

Schwerter. Masken. Kostbare Vasen. Sie trat näher an eines der Schwerter heran, um den kunstvoll ziselierten Griff zu betrachten.

„Das gehörte meinem Ururgroßvater. Er war einer der letzten Samurai.“

Also hatte Thomas die Suite nicht nur für heute Nacht gemietet. Offenbar wohnte er hier.

„Es ist wunderschön, wie die ganze Sammlung. Dann sind das alles Familienerbstücke?“

„Ja.“ Thomas nahm das Schwert von der Wand. „Tradition ist wichtig“, murmelte er. „Viele Familien vergessen das.“

Es sah aus, als wäre er es gewohnt, mit einem Schwert umzugehen. In diesem Moment konnte sie ihn sich gut als Samurai vorstellen. Wie der Krieger in meinem Traum, dachte sie.

„Gehen Sie denn auf Ihre Gegner immer noch mit dem Schwert los?“, fragte sie leichthin.

Er blickte von der Klinge in seiner Hand zu ihr. „Dann hätten ja die Rechtsanwälte keinen Spaß mehr.“

Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass er einen Witz gemacht hatte. Sogar seine Mundwinkel waren jetzt etwas nach oben gebogen.

Sie lächelte. „Stimmt auch wieder.“

In dem darauf folgenden Schweigen konnte sie den Blick nicht von seinem lächelnden Mund lösen. Seine Lippen waren gar nicht so schmal, wie sie immer wirkten, sondern voll und weich.

„Ich sollte mich dann mal wieder unten blicken lassen, bevor man mich sucht“, sagte sie hastig.

„Wie Sie wünschen.“

Als ob jemand sie vermissen würde. Sie war froh, dass er das nicht laut aussprach. „Vielen Dank für Ihre Zeit, Mr. Taka. Das war sehr freundlich von Ihnen.“

„Ich bin selten freundlich, Mrs. Hanson.“ Sorgfältig hängte er das Schwert wieder auf. „Und das wissen Sie auch. Vielleicht brauchte ich selbst eine Entschuldigung, um mich von der Feier zu entfernen.“

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Sie sich freiwillig von Ihrer zauberhaften Begleiterin trennen wollten“, sagte sie. Die junge Frau, mit der Thomas Taka gekommen war, wirkte höchstens wie fünfundzwanzig. Der Altersunterschied war genauso auffallend, wie er bei Helen und George immer gewesen war.

„Sie ist in der Tat zauberhaft“, erwiderte er unverbindlich, ging über die Brücke zurück zum Aufzug und drückte auf den Knopf. Helen folgte ihm.

„Ihre Söhne sollten sich schämen.“

Das bisschen Entspannung, das Helen der Besuch in diesem wundersamen Penthouse eingebracht hatte, verflüchtigte sich sofort. „Ich glaube nicht, dass meine Stiefsöhne sich wegen irgendetwas schämen müssen.“

Ganz im Gegenteil, sie war auf die drei sehr stolz. Allerdings auch realistisch genug zu wissen, dass sie ihr wahrscheinlich niemals positive Gefühle entgegenbringen würden.

„Sie haben Ihnen gegenüber Pflichten, und stattdessen verhalten sie sich in der Öffentlichkeit respektlos“, sagte Thomas.

„Sie sind erwachsen und haben ein Recht auf ihre eigene Meinung“, hielt Helen dagegen, auch wenn es etwas schwach klang. Jack, der Älteste der drei, war nur sechs Jahre jünger als sie. „Was Ihnen wie Respektlosigkeit vorkommt, ist vielleicht nur eine Art, offen miteinander umzugehen. Mein Mann schätzte freie Meinungsäußerung.“

Im Geiste bat sie für diese Lüge um Verzeihung. George hatte sich nie um die Meinung anderer geschert. „Sie sind Geschäftsmann“, fuhr sie fort. „Sicherlich wissen Sie, wie fruchtbar es sein kann, wenn verschiedene Ideen auf den Tisch kommen.“

„Eine Hochzeitsfeier ist aber kein Geschäftstermin“, widersprach er. „Wenn Ihr Mann noch lebte, würde er vielleicht …“

„Aber er ist tot“, erwiderte sie ruhig. „Mir ist klar, dass Sie lieber mit ihm verhandelt hätten als mit mir. Und ich vermute, Sie hätten jetzt lieber nur mit Jack zu tun.“ Helen trat in den Aufzug und wandte sich zu ihm um. „Aber ich halte nun einmal die Aktienmehrheit in der Firma, also haben Sie mich wohl am Hals – wie man in meinem Land sagt.“

Thomas Taka hob die Hand in die Lichtschranke, um die Türen offen zu halten. Wieder waren seine Mundwinkel nach oben gebogen, doch diesmal wirkte sein Gesicht dadurch nur noch härter. „Vergessen Sie nicht, Mrs. Hanson, dass Sie sich im Augenblick in meinem Land befinden.“

Er ließ die Hand sinken und trat einen Schritt zurück.

Als die Türen sich endlich geschlossen hatten, atmete Helen erleichtert aus. „Oh George“, flüsterte sie. „Ich habe dir mein Herz geschenkt, und du … du hast mich einfach sitzen lassen.“ Mit einer zerrütteten Familie, die sie nie akzeptiert hatte, und einer Firma, die kurz vor dem Ruin stand. Und der Aufgabe, beide irgendwie zu retten.

Vielleicht würde sie wirklich nie wieder glücklich sein, jedenfalls nicht auf die Weise, wie Jenny und Richard es gerade waren. Vielleicht hatte sie so ein Glück überhaupt noch nicht erlebt und sich die starken Gefühle zu Beginn ihrer Ehe mit George nur eingebildet.

Wie auch immer, noch hatte sie keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Nicht, wenn es um alles oder nichts ging und ihr als Gegner ein moderner Samurai-Krieger namens Thomas Taka gegenüberstand.

Vom schmückenden Blondchen zur Medienchefin?

Seufzend legte Helen die Boulevardzeitung zur Seite, deren reißerische Überschrift ihr ins Auge gefallen war. Sie war früh aufgestanden und die kurze Strecke von ihrem zum Anderson-Hotel gelaufen, um sich von Andrew und Evan zu verabschieden, die nach Chicago zurückflogen. Jetzt saß sie dort im Frühstücksraum und ärgerte sich wieder einmal über die Regenbogenpresse.

Würde das denn nie aufhören?

Unter der reißerischen Überschrift war ein großes, Jahre altes Foto von ihr und George abgedruckt, auf dem sie tatsächlich so aussah, wie der Artikel sie beschrieb – wie ein lebendiges Statussymbol, mit dem ihr Mann sich schmückte. Die blonden langen Haare mit Haarspray zu einer bombastischen Frisur gestylt, Diamanten an jeder freien Stelle. Das schwarze Kleid viel zu kurz und viel zu tief ausgeschnitten, und der Mann neben ihr ein schwerreicher, etwas grob geschnitzter Kerl, der besitzergreifend einen Arm um sie legte.

George hatte es so gewollt. Erst seit seinem Tod gab und kleidete sie sich wieder so, wie es ihr eigentlich entsprach. Das naturblonde Haar trug sie meist zum schlichten Pferdeschwanz gebunden, der teure Schmuck, mit dem er sie behängt hatte, lag zu Hause im Safe und würde, wenn es nach ihr ging, nie wieder das Tageslicht sehen. Sie beschränkte sich auf einige schlichte Armbänder, ihre Lieblingsuhr und zwei geschmackvolle Ketten. An manchen Tagen hätte sie ihren klotzigen Ehering am liebsten gleich mit weggeschlossen.

George hatte ihn ihr vor Jahren an einem exotischen Strand angesteckt. Sowohl ihre als auch seine Familie waren erst später über die Eheschließung informiert worden. Als sie mit dem Finger leicht über sein Gesicht auf dem Foto in der Zeitung strich, wartete sie auf die gewohnte Trauer, doch die kam diesmal nicht. Zu viel hatte sich geändert.

Lustlos schob sie den Teller mit Obst und Joghurt zur Seite. Appetit hatte sie jetzt keinen mehr, dafür bohrende Kopfschmerzen. Thomas Taka musste sie am Vorabend für mehr als unhöflich gehalten haben. Das nächste Treffen wegen der Fusion stand erst am folgenden Tag an, und es war durchaus möglich, dass der TAKA-Chef die Fusionsverhandlungen wegen ihres Verhaltens abbrach.

Aus Sorge darüber hatte sie in der Nacht kein Auge zugetan, und sie fühlte sich unausgeschlafen und gereizt. Einen Ellenbogen auf die unsägliche Zeitung gestützt, trank sie in kleinen Schlucken ihren Kaffee.

„Bei der Morgenlektüre, Mrs. Hanson?“

Sie zuckte so heftig zusammen, dass einige Spritzer Kaffee das weiße Leinentischtuch trafen. Beinahe hätte sie halblaut geflucht, aber das hätte den Mann, der wie aus dem Nichts an ihrem Tisch aufgetaucht war, erst recht davon überzeugt, dass sie eine ungehobelte, unhöfliche Amerikanerin war.

Am liebsten wäre sie aufgesprungen, damit sie nicht zu ihm aufschauen musste, aber sie zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und blieb sitzen. „Guten Morgen, Mr. Taka.“

Neben ihm stand die junge Frau, mit der er auch bei der Feier gewesen war. Im hellen Morgenlicht wirkte sie noch jünger und schöner als am Abend zuvor.

„Darf ich Ihnen beiden Kaffee anbieten?“, fragte Helen und griff nach der großen silbernen Kaffeekanne auf dem Tisch.

„Ich mache mir nicht viel aus Kaffee“, erwiderte Thomas, den Blick auf die Boulevardzeitung gerichtet. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts, doch Helen spürte seine Missbilligung deutlich. Wie bei jedem Treffen, seit sie in Tokio war.

Die junge Frau sagte leise etwas zu ihm, das Helen, die nur gebrochen Japanisch sprach, nicht verstand. Er zog eine Kreditkarte hervor und reichte sie ihr. Mit einem fröhlichen „Good-bye“ zu Helen und einer kurzen Verbeugung wandte die Frau sich ab und tänzelte hinaus.

„Es würde sicher nicht lange dauern, Tee für Sie zu bringen“, sagte Helen zu Thomas.

„Danke, aber ich muss ablehnen. Ich habe zu arbeiten.“ Seine Stimme klang höflich, aber sehr kühl. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Morgen. Genießen Sie Ihre Lektüre.“

Unwillkürlich presste sie die Lippen zusammen. „Eine sehr erfreuliche Lektüre ist das nicht“, erwiderte sie ebenso höflich. „Aber ein älterer Mann in Begleitung einer jungen Frau scheint immer für Aufsehen zu sorgen.“ Sie blickte in die Richtung, in die seine Begleiterin verschwunden war. „Das ist Ihnen sicherlich auch schon aufgefallen.“

Hatte sie das wirklich gesagt? Sie konnte es selbst kaum fassen. Obwohl seine Miene nach wie vor undurchdringlich wirkte, glaubte sie, mit ihrer Bemerkung ins Schwarze getroffen zu haben. Triumph empfand sie allerdings nicht dabei, im Gegenteil, sie ärgerte sich, dass dieser Mann sie so aus der Reserve lockte. Immerhin hing das Schicksal ihrer Firma von ihm ab. Wieso ließ sie sich dann zu solchen Unhöflichkeiten hinreißen?

„Es wäre mir eine Ehre, mit meiner Cousine fotografiert zu werden“, erwiderte er geschmeidig. „Wie Sie selbst sagten, ist sie eine zauberhafte junge Frau. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.“

Er neigte den Kopf ein wenig und wandte sich ab, bevor Helen zu einer Antwort kam.

Innerlich fluchend zog sie einige Yen-Noten aus der Tasche und legte sie auf den Tisch, um die Rechnung zu begleichen, dann stand sie auf und eilte ihm nach. Sie holte ihn ein, als er gerade das Hotel verließ.

Wahrscheinlich war es in Japan höchst unschicklich, wenn eine Frau einem Mann nachrannte, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Wenn sie nicht mit ihm sprach, bevor er seinen wartenden Wagen erreichte, würde sie ihn erst am nächsten Tag wiedersehen, um sich zu entschuldigen – und dann war es womöglich schon zu spät.

Als sie ihn erreicht hatte, streckte sie die Hand nach ihm aus und berührte ihn am Arm. „Mr. Taka.“

Er blieb stehen und blickte eisig auf ihre Finger. Hastig zog sie die Hand zurück, als ihr klar wurde, dass sie schon wieder die Etikette verletzte.

Sumimasen. Es tut mir leid. Ich habe eine sehr unhöfliche Bemerkung gemacht, Mr. Taka, und ich hoffe, dass Sie meine Entschuldigung annehmen.“

Tom betrachtete die blonde Frau vor sich mit einer Mischung aus Verwunderung und Neugier. Sie schien nicht zu merken, dass sie den Passantenstrom auf dem Gehsteig behinderte, sondern blickte ihn unverwandt an.

„Warum?“, fragte er.

Sie runzelte die Stirn, wodurch ihr Gesicht noch schmaler wirkte. Die ganze Frau wirkte schmal, hochgewachsen und hell. Oft trug sie auch noch weiße Kleidung.

Wieso musste sie an jeder einzelnen Besprechung selbst teilnehmen und überließ das nicht ihren Mitarbeitern, wie zu Beginn der Verhandlungen?

„Warum Sie meine Entschuldigung annehmen sollten?“, fragte sie. Ihre Stimme war dunkel und ausdruckslos, ganz anders als der melodische Singsang der Frauen in seinem Land. Und sie blickte ihm direkt in die Augen, was ebenfalls ungewöhnlich war. Seine Mutter war zwar auch Amerikanerin, wirkte aber mit ihrem dunklen Haar fast selbst wie eine Japanerin. Und da sie schon als Kind nach Japan gekommen war, hatte sie fast alle japanischen Gepflogenheiten angenommen.

Eigentlich hätte er diesen direkten Blick Helens unhöflich finden müssen, doch stattdessen ertappte er sich dabei, dass ihre Augenfarbe ihn an den Briefbeschwerer aus kostbarer grüner Jade erinnerte, den seine Tochter ihm zum Geburtstag geschenkt hatte.

Er mochte den Typ Frau nicht, den Helen Hanson verkörperte – dennoch weckte sie als Person sein Interesse.

Sein Fahrer stand wartend neben dem Wagen auf dem Gehsteig und würde ihm den Schlag öffnen, sobald er einen Schritt auf das Auto zumachte. Tom ignorierte ihn.

„Warum ist es Ihnen überhaupt wichtig?“, fragte er. „Die Verhandlungen sind an einem Punkt angelangt, wo kleine Unstimmigkeiten keinen Unterschied mehr machen.“

Das stimmte allerdings nicht ganz. Wenn er wollte, konnte er die Fusion immer noch absagen. Doch obwohl sein Vater genau das wünschte, war das nicht seine Absicht.

„Dann hoffe ich, dass Sie meine Entschuldigung annehmen, weil ich normalerweise nicht so unhöflich bin. Zu niemandem.“

„Also üben Sie an mir?“

Jetzt wurde sie tatsächlich ein wenig rot. „Ich war ärgerlich – wegen des Artikels in der Zeitung. Das hätte ich nicht an Ihnen auslassen dürfen.“

Schweigend betrachtete er sie. Sie steckte in einem Anzug wie ein Mann – Hose und Jackett. Doch die weiße Seide war auf Figur geschnitten und betonte Kurven, die definitiv nicht männlich wirkten. Statt einer Krawatte trug sie eine einzelne Perle an einer zierlichen Goldkette, die einen Fingerbreit über dem Revers auf ihrer nackten Haut ruhte.

„War der Artikel denn falsch?“, fragte er.

Sie presste kurz die Lippen aufeinander. „Es war Tratsch.“

„Erfunden?“

„Trivial, veraltet und völlig übertrieben formuliert. Ich hatte gehofft, dass die Boulevardzeitungen mittlerweile ein anderes Thema gefunden hätten als die längst überstandenen Schwierigkeiten der Hanson Media Gruppe.“

„Sind sie denn überstanden?“ Tom dachte an die gefälschten Bilanzen, den Internet-Skandal, die plötzliche Enthüllung, dass Jenny Helens Tochter war. Alles Skandale, mit denen der Name TAKA nicht beschmutzt werden sollte.

Helens Blick ruhte nach wie vor auf ihm. Sie trug hohe Absätze und war daher fast so groß wie er. „Ich bin fest davon überzeugt, dass die Probleme ausgestanden sind, Mr. Taka. Und Sie auch, sonst würden wir wohl kaum hier stehen.“

„Wir stehen hier, weil Sie sichergehen wollten, dass Sie mich nicht beleidigt haben“, erinnerte er sie.

„Und Sie haben meine Entschuldigung noch nicht angenommen“, entgegnete sie sanft.

Wider Willen musste er lächeln. „Hält man Sie in den USA eigentlich für besonders verwegen?“, fragte er.

Sie lächelte ein wenig schief. „Ich gehöre eher zum Durchschnitt. Leider.“

„Das glaube ich kaum. Ich nehme Ihre Entschuldigung an. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.“ Eigentlich wäre er gern noch geblieben.

„Natürlich.“ Sie trat einen Schritt zurück. Vor dem Hintergrund einer Gruppe japanischer Schulkinder in marineblauen Uniformen erinnerte sie ihn an eine hohe weiße Kerze. „Dann bis morgen Nachmittag.“

Eins der Kinder stieß beinahe mit ihr zusammen, und sie lächelte nachsichtig, als sie ihm auswich.

Dabei war ein ganz reizendes Grübchen auf ihrer Wange zu sehen. Das war ein ganz anderes Lächeln als die eingeübten, geschäftstüchtigen, die sie ihm sonst immer zeigte.

Statt endlich in den Wagen zu steigen, blieb Thomas stehen und blickte sie weiter an. Ihm war im Hotel aufgefallen, dass sie allein frühstückte und ihr Essen nicht angerührt hatte. In den Konferenzräumen tauchte sie immer mit einer Gruppe von Familienmitgliedern und Beratern auf. Doch beim Frühstück war sie allein.

Wieder einmal.

„Sie haben Ihr Frühstück nicht aufgegessen“, sagte er.

Nun senkte sie auf einmal den Blick. Mittlerweile hatte er schon herausgefunden, dass das bei ihr kein Zeichen von Respekt war, sondern eine Vermeidungsstrategie.

„Ich war schon satt“, antwortete sie. „Danke für Ihre Zeit, Mr. Taka. Ich freue mich darauf, Sie wiederzusehen.“

Sie legte die Hände auf die Oberschenkel und verbeugte sich.

Eigentlich hatte er eine Menge Arbeit. Es gab keinen Grund, dieses informelle Treffen weiter auszudehnen.

„Ich freue mich auch“, erwiderte er automatisch. „Haben Sie schon Pläne für heute?“

Helen richtete sich wieder auf und wirkte ein wenig verwundert. Natürlich, er wunderte sich ja selbst über sich. Normalerweise verschwendete er keine Zeit mit unnützem Gerede.

„Ich wollte mir die Stadt ansehen“, erwiderte sie. „Ich habe gelesen, dass diese Woche ein Festival stattfindet. An den genauen Ort erinnere ich mich leider nicht mehr, aber ich habe ihn mir aufgeschrieben.“

„Hier vergeht ja kaum eine Woche ohne ein Festival irgendwo.“

„Es hatte etwas damit zu tun, dass die Blätter sich herbstlich färben.“

„Ah.“ Er nickte. „Ihre Söhne begleiten Sie sicherlich?“

Als Helens Lächeln daraufhin wieder die gewohnte, aufgesetzte Form annahm, bereute er seine vorschnelle Bemerkung.

„Meine Söhne haben eigene Pläne“, sagte sie. „Was ja ganz normal ist. Ich habe Sie schon zu lange aufgehalten, Mr. Taka. Ich bitte erneut um Entschuldigung.“

Sein ganzes Leben schien aus einer Reihe von Höflichkeitsfloskeln zu bestehen, die vor Entschuldigungen nur so strotzten. Für ihn war das normal – für Helen Hanson wahrscheinlich eher nicht.

„Ich habe heute Vormittag etwas freie Zeit“, sagte er. „Würden Sie mir erlauben, Ihnen als Stadtführer zu dienen?“

Überrascht öffnete sie den Mund, doch sie fasste sich bewundernswert schnell. „Ich fühle mich geehrt.“

Ihm war schon klar, dass diese Ehre wenig mit ihr persönlich zu tun hatte. Sie würde allem zustimmen, um die Fusion auf den Weg zu bringen.

„Sehr gut. Mein Fahrer und ich werden Sie zum Hotel bringen, damit Sie ihre Sachen holen können.“

„Das ist nicht nötig.“ Sie hob ihre winzige Handtasche hoch. „Ich habe alles, was ich brauche. Pass, Zimmerschlüssel und so. Es ist natürlich kein richtiger Schlüssel, nur so eine Plastikkarte. Ich muss mir an der Rezeption ständig einen Neuen holen, ich scheine diese Dinger zu entmagnetisieren.“

Sie unterbrach sich unvermittelt und wurde rot, als sie auf den Wagen zukam.

Sofort öffnete sein Fahrer die hintere Tür, und Tom sah Helen beim Einsteigen zu. Sehr elegant setzte sie sich erst und zog dann die Beine nach. Dabei rutschten ihre Hosenbeine ein wenig nach oben und gewährten ihm einen kurzen Blick auf schlanke, zierliche Knöchel.

Schnell hob er den Kopf und blickte über den Wagen hinweg in die Ferne. Offenbar war er jetzt wirklich verrückt geworden, ganz so, wie sein Vater es ihm ständig vorwarf.

Am liebsten hätte er seine Krawatte gelockert, um tief durchatmen zu können, doch er widerstand dem Impuls und setzte sich neben Helen in den Wagen. Ihr unbehagliches Lächeln spiegelte seine eigenen Gefühle wider.

Als Akira die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, waren sie auf der durch eine Scheibe vom Fahrer getrennten Rückbank ganz allein.

Nervös öffnete er sein Jackett und blickte starr geradeaus. Ihr Duft – der teuer wirkte, aber dennoch nicht aufdringlich – hüllte ihn ein.

Die Kunst des Small Talks war ihm schon als kleinem Jungen beigebracht worden, doch nun fehlten ihm die Worte – zum ersten Mal in seinem Leben.

„Hatten Sie schon öfter Gelegenheit, die Stadt zu erkunden?“, brachte er schließlich hervor.

Sie hatte die Hände brav im Schoß gefaltet, wobei ihm der riesige Diamant an ihrem Ringfinger auffiel.

„Leider nicht so oft“, erwiderte sie. „Mir kommt es so vor, als ob ich mehr Zeit im Flugzeug verbringe als hier in Tokio.“

„Gefällt Ihnen die Stadt?“

„Ja, sie ist faszinierend. Und es überrascht mich immer, wie ruhig es hier ist.“

Sie sah aus dem Fenster auf ihrer Seite, und er erhaschte einen Blick auf ihren schmalen Nacken unter dem Pferdeschwanz.

„Ruhig?“

„Für eine Großstadt schon. Natürlich hört man den Verkehrslärm, aber ich habe zum Beispiel noch nie eine Hupe gehört. Das ist in Chicago anders.“

„Oh ja.“

„Waren Sie schon in Chicago?“

„Gelegentlich. Auch eine sehr interessante Stadt.“

Ihre Blicke trafen sich in der getönten Scheibe vor ihnen. Helen lächelte leicht. „Das sagen Sie nur aus Höflichkeit, oder?“

„Ja.“

„Und was halten Sie wirklich von Chicago?“

„Laut. Aufdringlich.“ Er wandte sich Helen direkt zu. „Unhöflich.“

In ihren Augen schimmerte Humor, was ihn überraschte. Normalerweise wirkte sie vorsichtig, sogar unnahbar. Als er sie im Hotel mit Tränen in den Augen angetroffen hatte, war sie ihm zum ersten Mal menschlich vorgekommen.

„Ich finde die Stadt lebendig und immer wieder unterhaltsam“, widersprach sie freundlich.

„Das stimmt ja auch.“

„Wirklich?“

„Ja, ich bin gerne in Chicago.“

„Wie oft kommen Sie in die Staaten?“

„Ein paar Mal im Jahr. In London bin ich allerdings öfter.“

„Geschäftlich oder zum Vergnügen?“

„Für mich ist das Geschäft ein Vergnügen“, erwiderte er.

„Das hat mein Mann auch immer gesagt.“

„Vermissen Sie ihn sehr?“

Sie schloss kurz die Augen. „Natürlich.“ Wieder blickte sie aus dem Fenster. „Ich mag Chicago auch, aber ich muss sagen, dass Tokio mir immer besser gefällt.“

„Haben Sie immer schon in Chicago gelebt?“

„Oh nein. Ich komme ursprünglich aus dem Staat New York und bin erst als junge Frau nach Chicago gezogen.“

„Sie sind immer noch eine junge Frau.“

„Das haben Sie nett gesagt, danke. Schließlich war ich gerade auf der Hochzeit meiner erwachsenen Tochter.“

„Sie werden auch mit achtzig noch eine schöne Frau sein“, sagte er und meinte es ernst.

Um ihre Mundwinkel zuckte es. „Ich würde sagen, Sie schmeicheln mir, aber das passt so gar nicht zu Ihnen.“

Zum ersten Mal seit langer Zeit musste er lachen. Offenbar überraschte sie das genauso wie ihn selbst. „Stimmt.“

Schweigend blickten sie sich an, dann hastig zur Seite.

Als der Wagen im Park hielt, der schon sehr belebt war, stieg Tom aus und streckte dann Helen die Hand hin. Als sie neben ihm stand, ließ er sie los, und er tat so, als hätte er den seltsamen Effekt nicht bemerkt, den die Berührung ausgelöst hatte.

Über ihnen brachte eine leichte Brise die bereits bunten Blätter zum Rauschen. Helen blickte sich in dem kleinen Park um, in dem hauptsächlich Ahornbäume standen. „Es ist wunderschön hier“, bemerkte sie.

„Ja“, erwiderte Tom, doch er betrachtete dabei nicht die Bäume, sondern Helen.

2. KAPITEL

Schweigend gingen sie durch den Park, was Helen gut passte. In Thomas Takas Gegenwart wusste sie einfach nie, was sie sagen sollte.

„In ein paar Wochen werden die Bäume hier alle herbstlich gefärbt sein“, meinte er schließlich, als er ihr leicht die Hand in den Rücken legte, um sie um eine Gruppe von Frauen und Kindern herumzudirigieren.

Dann würde die Fusion hoffentlich längst abgeschlossen sein. „In Chicago wird es auch schon Herbst“, sagte sie. „Mein Haus ist von Bäumen umgeben.“

Leider fühlte sie sich dort immer unwohler. Georges Sachen – die sie noch nicht weggeräumt hatte – schienen sie zu verspotten, statt zu trösten, seit sie wusste, was er wirklich für sie empfunden hatte. Das pompöse Gebäude kam ihr mehr wie ein Gefängnis vor als wie ein Zuhause.

„Mrs. Hanson?“

Mühsam besann sie sich auf ihre Umgebung und ihren Begleiter, der an einer Weggabelung auf sie wartete.

„Sagen Sie doch Helen zu mir“, bot sie ihm an. Wahrscheinlich verletzte sie damit schon wieder die Etikette, doch es kümmerte sie nicht. Als sie mit dem Absatz zwischen zwei Pflastersteinen hängen blieb, fing er ihr Stolpern auf und stützte sie.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

Nein. Sie war verrückt, völlig übermüdet … und so einsam.

„Alles bestens“, log sie. „Sind diese Laternen in den Bäumen Dekoration, oder werden sie auch angezündet?“

„Jeden Abend“, antwortete er ernst, blickte aber nicht zu den Lampions hinauf, sondern betrachtete sie prüfend. Sie spürte ihre Wangen heiß werden.

„Das sieht sicher zauberhaft aus“, murmelte sie.

Ihn interessierten die Laternen offenbar nicht. „Wieso kümmern Sie sich um die Firma Ihres verstorbenen Mannes, wenn Sie sich mit anderen Dingen beschäftigen könnten, die Sie interessieren?“, fragte er.

„Haben Sie mir deshalb Ihre Begleitung angeboten? Um mich von der Fusion abzuschrecken?“, konterte sie.

„Ich hatte den Eindruck, dass nichts Sie schrecken kann …“ Er zögerte unmerklich, bevor er hinzufügte: „… Helen.“

Sie schluckte mühsam. Besser, sie überlegte sich in Zukunft genauer, welche Angebote sie ihm machte.

War es wirklich so warm oder kam ihr das nur so vor? Sie zog ihr Jackett aus und legte es sich über den Arm. Als sie den Blick auffing, mit dem er sie danach betrachtete, schluckte sie wieder.

An dem Top gab es nichts auszusetzen, es hatte doppelte Spaghettiträger und einen äußerst züchtigen Ausschnitt. Dennoch fühlte sie sich unter Thomas’ Blick nackt.

Das Jackett wieder anzuziehen, kam allerdings auch nicht infrage. Zum einen war es viel zu warm dafür, und zum anderen würde er dann wissen, dass er sie nervös machte. So langsam hatte sie genug davon, dass er sie ständig in Verlegenheit brachte.

„Mich kann vieles schrecken“, nahm sie den vorigen Gesprächsfaden wieder auf. „Ich leite die Hanson Media Gruppe, weil mein verstorbener Mann offenbar der Meinung war, dass ich die besten Fähigkeiten dazu habe.“

Allerdings erst nach seinem Tod. Zu Lebzeiten hatte er ihr verboten, selbst zu arbeiten, und nie mit ihr über das Geschäft gesprochen.

„Ist es denn das, was Sie wollen?“

„Wollen Sie denn TAKA leiten?“

„Es ist meine Pflicht.“

„Und meine besteht darin, die Hanson Media Gruppe wieder auf Erfolgskurs zu führen. Aber genug von Pflichten.“ Sie lächelte strahlend. „Was tun Sie, wenn Sie Spaß haben wollen?“

„Mit einer interessanten Frau im Park spazieren gehen.“

Das verschlug ihr kurz die Sprache, auch wenn sie eigentlich zu alt dafür war, sich von charmanten Worten einwickeln zu lassen. Am Anfang hatte George ihr auch alle möglichen Schmeicheleien gesagt, doch bedeutet hatten sie letztendlich nichts.

„Sie sind zu höflich, um zu sagen, was Sie wirklich von mir halten“, meinte sie.

Das schien ihn zu amüsieren, denn um seine Augen bildeten sich feine Fältchen. „Nämlich?“

Sie dachte kurz nach. „Sie halten mich für eine nervtötende Frau.“

„Nervtötend?“

„Wie Kreide an einer Tafel oder das Kratzen von Metall auf Porzellan.“

„Ach so. Nein, das tue ich nicht.“ Er fing ein Blatt aus der Luft und drehte es am Stiel nachdenklich zwischen den Fingern. „Sie sind ungewöhnlich.“

„Für japanische Verhältnisse.“

„Für japanische Verhältnisse“, gab er zu. „Ich bin gern in meinem Garten“, fuhr er fort, nachdem sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatten. „Ich genieße es, mit meiner Tochter zusammen zu sein, obwohl ihre unstillbare Neugier und ihr Übermut manchmal anstrengend sind. Ich gehe gerne Bergsteigen. Und, überraschenderweise …“, er warf ihr einen Seitenblick zu, „… macht es mir wirklich Spaß, mich mit einer interessanten Frau zu unterhalten.“

Da Helen angesichts dieser persönlichen Enthüllungen nur sprachlos dastand, reichte er ihr das Blatt und meinte: „Es wird Zeit, dass wir umkehren.“

Sie nickte schweigend, und sie gingen zum wartenden Wagen zurück.

Es kam ihr vor, als dauerte die Fahrt zum Hotel nur wenige Minuten. Wie schon im Park stieg Thomas selbst aus, um ihr die Hand zu reichen.

Diesmal war sie auf das Kribbeln gefasst, das ihren Arm hinaufschoss, als ihre Hände sich berührten. Sobald sie neben ihm stand, ließ er sie los – zum Glück, denn der kurze Hautkontakt hatte ihr schon beim ersten Mal Herzklopfen beschert.

Mit der formvollendeten Verbeugung, die sie schon in Chicago geübt hatte, verabschiedete sie sich. „Vielen Dank für Ihre Zeit, Mr. Taka. Ich freue mich auf unser nächstes Treffen morgen.“

Auch er verbeugte sich und stieg dann wieder in den Wagen. Von der mit teurem Leder bezogenen Sitzbank blickte er zu ihr auf. „Bitte nennen Sie mich Tom.“

Danach schloss er die Tür. Sekunden später hatte sich der Wagen in den fließenden Verkehr eingefädelt.

„Brauchen Sie Hilfe, Hanson-san?“ Der uniformierte Hotel-Portier trat dienstbeflissen auf sie zu.

Kopfschüttelnd löste Helen den Blick von dem davonfahrenden Wagen. „Danke, nein“, sagte sie und betrat das Hotel.

Als Helen am nächsten Nachmittag in den Besprechungsraum kam, waren die Rechtsanwälte schon anwesend – einschließlich Jack, der sofort zu ihr eilte.

„Du warst gestern Abend nicht in deinem Zimmer“, sagte er leise.

Erstaunt hob sie die Augenbrauen. „Ich war im Fitnessraum des Hotels.“

„Samantha hat stundenlang versucht, dich zu erreichen.“

Eine Nachricht hatte sie allerdings nicht hinterlassen. „Was war denn los?“

„Wir wollten dich fragen, ob du mit uns zu Abend isst.“

Die gute Samantha. Helen wusste, dass die Einladung ausschließlich die Idee ihrer langjährigen Freundin gewesen war. Sie versuchte ständig, Jack davon zu überzeugen, dass Helen nicht das Monster war, für das er sie zu halten schien.

„Das tut mir leid“, sagte sie. „Ich wäre gern mitgekommen.“

Stattdessen hatte sie die Geräte im Fitnessraum ausgiebig genutzt und noch eine Stunde Pilates-Übungen hintendran gehängt. Sie wollte müde genug werden, um gut schlafen zu können. Es hatte sogar funktioniert.

Bis auf die lebhaften Träume. Wenn sie nur daran dachte, schoss ihr die Röte ins Gesicht.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte Jack prompt. „Du wirkst erhitzt.“ Seinem scharfen Blick entging wirklich nichts.

Noch vor wenigen Wochen hätte es ihn wahrscheinlich gefreut, wenn sie krank geworden wäre und an den Besprechungen nicht hätte teilnehmen können. Nach dem Tod seines Vaters, als noch niemand wusste, was in Georges Testament stand, hatte Jack die Firmenleitung nur widerwillig übernommen. Er war in seinem Beruf als Rechtsanwalt sehr glücklich gewesen.

Bei der Testamentseröffnung musste er dann zu allem Überfluss akzeptieren, dass seine ungeliebte Stiefmutter Helen, die er offenbar für ein dummes Blondchen hielt, nun auch noch seine Chefin wurde.

Seit sie die Fusion in die Wege geleitet hatte, um die Firma zu retten, behandelte er sie höflich, wenn auch nicht gerade herzlich.

„Mir geht es gut, Jack“, antwortete sie. „Ich will nur endlich anfangen. Bis auf Tom sind alle hier.“

Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es sah dem TAKA-Chef nicht ähnlich, zu spät zu kommen.

„Tom? Seit wann ist er denn Tom?“, fragte Jack scharf.

„Ist dir das zu informell?“, fragte sie leichthin und tätschelte seinen Arm. Bevor Tom nicht auftauchte, würde niemand Platz nehmen, also deutete sie auf das Tablett, das auf einer Anrichte stand.

„Möchtest du noch eine Tasse Tee, bevor es losgeht?“

„Ich kann schon bald keinen Tee mehr sehen“, murmelte Jack halblaut.

Helen unterdrückte ein Lächeln. „Es geht jetzt ja nur noch um die Details“, sagte sie. „Das sollten wir bald geschafft haben, und dann kannst du dein altes Leben wieder aufnehmen.“

Sein ungläubiger Blick vertrieb ihre gute Laune. War er schon so desillusioniert, dass er glaubte, für den Rest seiner Tage bei Hanson Media arbeiten zu müssen? Seine Rechtsanwaltskanzlei hatte kurz davor gestanden, ihn für ein Richteramt vorzuschlagen.

Eilig öffnete sie ihre ledergebundene Mappe, blätterte zu ihrer „Erledigen“-Liste und notierte sich, Richter Henry in Chicago anzurufen.

In diesem Moment betrat Tom den Raum, schritt gelassen zum Kopfende des Konferenztisches, legte die Fingerspitzen auf die spiegelnde schwarze Tischplatte und ließ seinen kühlen und unpersönlichen Blick über die Anwesenden schweifen.

Dabei schenkte er Helen ebenso viel Beachtung wie der jungen Japanerin, die unauffällig neben ihn trat und ein Glas Wasser vor ihm abstellte – nämlich gar keine.

Helen sagte sich, dass das kein Grund war, enttäuscht zu sein. Schließlich handelte es sich hier um ein geschäftliches Treffen und nicht um einen Spaziergang im Park.

Nachdem Tom sich gesetzt hatte, nahmen auch alle anderen ihre Plätze ein. Die Sitzordnung erinnerte Helen an Truppen auf dem Schlachtfeld.

An der linken Tischseite saß das Hanson-Team – Jack hatte den ersten Platz neben Tom, dann kam Helen, danach die anderen Berater und Rechtsanwälte ihrer Firma. Die rechte Tischseite gehörte den TAKA-Leuten.

An jedem Platz lag ein dicker Hefter, auf dem das TAKA-Logo prangte. Nach einem kurzen Nicken von Tom ergriff sein Bruder Shiguro das Wort.

„Guten Tag. Wir befassen uns heute mit den markierten Seiten. Mr. Hanson, Sie werden sehen, dass wir die von Ihnen geforderten Änderungen in dieser revidierten Fassung berücksichtigt haben. Sie wurden farbig gekennzeichnet.“

Eigentlich war die Erklärung überflüssig, denn dies war nicht die erste Runde von Revisionen. Außerdem hatte Helen die Änderungen gefordert, nicht Jack, aber sie verzichtete darauf, Shiguro zu korrigieren.

Punkt für Punkt gingen Jack und Shiguro die Seiten durch. Als sie nach mehreren Stunden auf Seite dreißig angelangt waren, zog Helen unauffällig Jacks Hefter zu sich heran und malte einen Kringel um einen Punkt.

Shiguro las weiter laut vor, doch Jack blickte sie an. Sie schüttelte den Kopf und formte mit den Lippen das Wort „nein“.

Er nickte und wandte sich an Shiguro. „Mr. Taka, es tut mir leid, aber wir haben unsere Meinung bezüglich des Spendenbudgets nicht geändert. Diese Spenden werden von Hanson-Mitarbeitern gesammelt und verwaltet, und Hanson Media gibt jedes Jahr dieselbe Summe aus Firmenmitteln dazu. Es ist ein Projekt, das den Firmenzusammenhalt und die Gemeinschaft stärkt.“

„Letztes Jahr haben Ihre Mitarbeiter vier Millionen Dollar gesammelt, Mr. Hanson. Das ist eine stattliche Summe, da braucht die Firma nichts mehr dazuzugeben.“

Bevor Jack antworten konnte, griff Helen ein. „Hanson Media hat diesen sozialen Beitrag von Anfang an geleistet“, sagte sie. „Er bedeutet auch einen Marketingvorteil. Viele Menschen kaufen unsere Printartikel, weil sie wissen, dass wir etwas zurückgeben von dem, was wir verdienen.“

„Das ist reichlich teure Werbung“, bemerkte Shiguro.

Darauf war Helen vorbereitet. Schon mit Jack und ihren eigenen Leuten hatte sie diesen strittigen Punkt lange genug diskutieren müssen. Vier Millionen Dollar waren schließlich wirklich eine Menge Geld für eine angeschlagene Firma.

Tom sagte halblaut etwas zu Shiguro, und dessen Gesichtsausdruck verfinsterte sich, doch er nickte. „Wir wären bereit, die Mitarbeiterspenden um fünfzig Prozent aufzustocken.“

Wieder setzte Jack zu einer Antwort an, doch Helen berührte ihn am Arm. „Hundert Prozent“, entgegnete sie.

„Mrs. Hanson“, sagte Shiguro kopfschüttelnd, „ich glaube, Sie verstehen die Lage nicht.“

„Sechzig Prozent“, warf Tom ein.

Helen fing seinen Blick auf. „Neunzig.“

„Helen, sei vernünftig“, flüsterte Jack ihr zu.

Doch sie schwieg.

„Sechzig Prozent“, wiederholte Shiguro Toms Angebot.

Sie schüttelte den Kopf.

Die anderen Teilnehmer wurden unruhig.

„Wir sollten diesen Punkt erst einmal offen lassen und später darauf zurückkommen“, schlug Jack vor. „Können wir dann weitermachen?“

Helen hätte es nichts ausgemacht, den ganzen Abend darüber zu verhandeln, doch sie wusste, dass es den anderen nicht besonders wichtig war. „Wir kommen später darauf zurück“, stimmte sie zu. Das war nichts Ungewöhnliches für diese Verhandlungen.

Nach einem kurzen Blick zu Tom nickte Shiguro. „Dann machen wir mit dem nächsten Abschnitt weiter.“

Papier raschelte, als alle ihre Seiten umblätterten.

„Innerhalb von zwölf Monaten werden alle Hanson-Produkte das TAKA-Logo übernehmen“, las Shiguro vor.

Sorgfältig legte Helen ihren Stift auf das Blatt.

„Alle Pressemitteilungen zu der Übernahme von Hanson Media werden ausschließlich über TAKA in Tokio laufen.“

Diesmal schüttelte sogar Jack den Kopf. „Das ist weder möglich noch zweckmäßig.“

„TAKA glaubt, dass …“

„Es handelt sich hier nicht um eine Übernahme“, bemerkte Helen wohl zum hundertsten Mal. Es ging bei diesen Verhandlungen ständig darum, so viel Kontrolle wie möglich über die Firma zu behalten.

„Der Name Hanson Media Gruppe steht in den USA für Kontinuität und Zuverlässigkeit“, fuhr sie fort. „Wenn wir ihn durch TAKA ersetzen, verlieren wir langjährige Kunden.“

„Jede von TAKA übernommene Firma heißt auch TAKA“, erwiderte Shiguro.

„Bis jetzt. Und könnten wir aufhören, von einer Übernahme zu sprechen? Hier geht es …“, sie hob den Hefter ein wenig an und ließ ihn mit einem lauten Klatschen wieder auf den Tisch fallen, „… um eine Fusion.“

Shiguro blickte sie missbilligend an und wandte sich dann Jack zu. „Diese Übernahme wird genauso ablaufen wie all die anderen, die wir …“

„Mrs. Hanson hat recht“, unterbrach ihn Tom. „Es gibt eine Studie, die die Bedeutung von Markennamen in den USA untersucht. Vielleicht ist Hanson Media nicht ganz so bekannt wie gewisse Hamburgerrestaurants, aber HMG gehört tatsächlich zu einem der bekanntesten Markennamen im Nordosten der USA.“

Helen griff bedächtig nach ihrem Füller. Sie hatte eine Kopie genau dieser Studie in der Tasche, aber nun würde sie sie nicht einmal auspacken müssen.

„TAKA wird in den USA unter unserem Namen mehr Erfolg haben“, erklärte sie. „Und das wissen Sie auch alle.“ Langsam ließ sie ihren Blick über die Anwesenden schweifen. „Wir wären aber unter Umständen bereit, unseren Namen in Hanson Nordamerika zu ändern, um unseren internationalen Status hervorzuheben.“

Niemand widersprach. Tom nickte kurz, und sogar Shiguro schwieg.

„Hanson Nordamerika also. Ich werde unsere PR-Abteilung anweisen, sich mit Ihrer zusammenzusetzen, um die Details zu besprechen. Der Absatz bezüglich des Namens wird geändert“, sagte Tom, und damit gingen sie zum nächsten Punkt über.

Jack warf ihr einen anerkennenden Blick zu, und Helen gab sich Mühe, ihr triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. Stattdessen umklammerte sie fest Georges goldenen Füller.

Als die Besprechung endete, war es draußen schon dunkel. Helen tat vom langen Sitzen der Rücken weh. Obwohl sie sich nicht in allen strittigen Punkten hatte durchsetzen können, sah die Tagesbilanz sehr zufriedenstellend aus.

„Ich werde wohl wieder mit den TAKA-Leuten ausgehen müssen“, sagte Jack leise, als alle aufstanden. „Ich wäre lieber bei Samantha.“

Das konnte Helen gut verstehen, doch eine Einladung von TAKA auszuschlagen, wäre äußerst unhöflich gewesen.

Shiguro schien sich wieder gefasst zu haben, denn er kam lächelnd auf sie zu. „Mein Bruder würde Sie gern kurz sprechen, Mrs. Hanson.“

„Natürlich.“ Helen fing Jacks überraschten Blick auf, verabschiedete sich und ging auf Tom zu, der sich bei der Tür mit zwei Männern unterhielt. Helen wartete höflich ein paar Schritte abseits und merkte, dass Jack sie beobachtete. Natürlich war er neugierig, was Tom wohl von ihr wollte – es war das erste Mal, dass Tom sie überhaupt öffentlich wahrnahm.

Allerdings wirkte Jack nicht nur neugierig, sondern geradezu missbilligend. Und das war leider nicht das erste Mal. Sie konnte den drei Söhnen Georges selten etwas recht machen. Eigentlich hätte sie schon längst ein dickeres Fell haben müssen.

„Mrs. Hanson.“ Als Tom sie unvermittelt am Ellbogen berührte, zuckte sie erschrocken zusammen.

Sie lachte nervös. Mrs. Hanson, nicht Helen. Kein großer Fortschritt. „Ich war in Gedanken.“

Sein Lächeln war fast unmerklich. „Ich hoffe, es waren Angenehme. Gedanken, meine ich.“ Er blickte kurz zum dunklen Himmel vor dem Fenster. „Es ist schon zu spät für Sorgen.“

Helen meinte zu spüren, wie sich Jacks Blick in ihren Rücken bohrte. „Wollten Sie mich wegen etwas Bestimmtem sprechen?“

„Ja.“ Tom schaute an ihr vorbei zu Jack. „Ihr Sohn war bestimmt ein hervorragender Rechtsanwalt. Er wirkt kämpferisch.“

„Ja, Jura liegt ihm sehr.“

„Sind Sie müde?“

Die persönliche Frage brachte sie aus dem Konzept. „Es war ein langer Tag“, gab sie zu. „Aber ich bin zufrieden mit dem Ergebnis.“

Seine dunklen Augen begannen zu funkeln. „Kein Wunder“, sagte er gelassen. „Shiguro wird allerdings weniger glücklich sein.“

Sie erlaubte sich ein vages Lächeln, sagte aber nichts. Schweigend beobachtete sie, wie Shiguro mit Jack und den anderen TAKA-Leuten den Konferenzraum verließ.

Als ihre Stimmen draußen verklungen waren, wirkte der große Raum auf einmal sehr still. Sie war allein mit Tom.

„Wären Sie gern mitgegangen?“

Es überraschte sie wieder einmal, was für ein guter Beobachter er war. „Nein“, sagte sie.

„Shiguro liebt Karaoke. Das ist nicht jedermanns Sache.“

Das Bild von Jack in einer Karaoke-Bar brachte Helen wieder zum Lächeln. Aber noch immer wusste sie nicht, was Tom eigentlich von ihr wollte.

„Geht es Ihnen besser?“

„Ja, sehr gut, danke“, erwiderte sie vorsichtig.

„Die Verhandlungen ziehen sich länger hin, als wir dachten.“

Beinahe hätte sie ihm an den Kopf geworfen, dass das hauptsächlich seine Schuld war. Seine Einwände hatten die Fusion mehr als einmal in Gefahr gebracht.

Stattdessen sagt sie: „Wirklich lohnenswerte Dinge erreicht man oft nicht ohne Mühe.“

„Das sage ich meiner Tochter auch immer, wenn sie nicht lernen will.“

Helen fiel es schwer, sich den harten Geschäftsmann als Vater vorzustellen. „Wie alt ist Ihre Tochter?“

„Zwölf. In ein paar Monaten wird sie dreizehn.“

„Oh, fast ein Teenager. Sind Sie gewappnet?“, fragte sie im Plauderton.

„Sie gibt mir jetzt schon einen Vorgeschmack“, erwiderte er trocken. „Würden Sie mit mir zu Abend essen?“

Vor Überraschung fiel ihr der Füller aus der Hand, und er bückte sich danach und hob ihn auf. „Mir ist aufgefallen, dass Sie den immer bei sich haben“, bemerkte er, als er ihn ihr reichte. „Was bedeuten die Initialen?“

„Es ist der Name meines Mannes“, antwortete sie und steckte den Füller in ihr Notizbuch. Über George oder die Bedeutung, die der Stift für sie hatte, wollte sie jetzt auf keinen Fall reden. „Wollten Sie mit mir über die Fusion sprechen?“

„Beim Abendessen, meinen Sie?“

„Ja.“

„Es geht doch nicht immer nur ums Geschäft.“

„Für mich im Moment schon“, erwiderte sie unbedacht.

„Das ist zu schade“, sagte er und nahm ihr die Mappe aus der Hand.

Verblüfft schaute sie ihn an, als er sie am Ellbogen zur Tür führte. „Warum?“

„Weil Sie eine schöne Frau sind.“

Da es von ihm kam, fasste sie das eher nicht als Kompliment auf. „Sie meinen, ich sollte mich lieber mit anderen Dingen beschäftigen?“

Am Fahrstuhl ließ er sie wieder los und drückte auf den Knopf, doch er antwortete nicht.

„Sie denken vielleicht, ich sollte mir lieber einen neuen Mann suchen, der mir Diamanten und teure Kosmetika bezahlt?“, fuhr Helen fort.

„Ich nehme an, Sie ziehen eine Liebesheirat vor.“

Sie betraten die Fahrstuhlkabine.

„Ich habe George aus Liebe geheiratet, auch, wenn das niemand zu glauben scheint“, sagte sie. „Und ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, mich noch einmal zu verlieben.“

„Meine Tochter sagt, dass sie nie heiraten wird.“

„Sie ist ja auch erst zwölf.“

„Kimiko will, wenn sie groß ist, in Amerika leben und berühmt werden.“

„Als was?“

Kaum merklich zuckte er die Schultern. „Das weiß sie selbst noch nicht so genau. Hauptsache, es ist etwas Amerikanisches.“

„Und das missfällt Ihnen“, vermutete Helen.

„Mir wäre es lieber, sie würde sich so leidenschaftlich für die Schule interessieren wie für die neueste Mode.“

Helen lächelte. „Das ist für eine Zwölfjährige aber ziemlich typisch.“

Auch er lächelte jetzt, doch er sagte nichts. Helen konnte sich denken, was er dachte: Was wusste sie schon von Zwölfjährigen? Ihre eigene Tochter hatte sie erst kennengelernt, als sie schon fünfundzwanzig war.

Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und vor ihnen lag die leere Empfangshalle, in der nur noch Sicherheitspersonal herumstand. Vor der Tür wartete Toms Wagen.

„Kommen Sie. Wir werden beim Essen nicht übers Geschäft sprechen. Das hat Zeit bis zur nächsten Konferenz.“

Helens Magen begann zu kribbeln. „Und worüber reden wir dann?“

Er streckte ihr die Hand hin. „Uns wird schon etwas einfallen.“

Es war ein Fehler, sich mit diesem Mann über etwas anderes als das Geschäft zu unterhalten, das wusste Helen. Schon der Spaziergang im Park war nicht klug gewesen.

Trotzdem trat sie auf ihn zu und legte ihre Hand in seine.

3. KAPITEL

Tom wusste nicht, warum er die Frau zum Essen eingeladen hatte. Es war ein ebenso spontaner Einfall gewesen wie die Fahrt zum Park – eigentlich unerklärlich. Vielleicht störte es ihn einfach, dass Helen sonst schon wieder allein essen musste.

Sie schwieg während der Fahrt, und er fragte sich, ob sie sich auch darüber wunderte.

„Ich dachte an das Restaurant im Anderson-Hotel“, sagte er schließlich. „Es ist vorzüglich.“

Dort gab es eine internationale Speisekarte und Gäste aus aller Herren Länder. Helen würde sich dort wohlfühlen.

„Ja, das finde ich auch. Ich habe schon öfter dort gegessen.“

Er spürte ihr Zögern. „Aber?“, fragte er.

„Manchmal vermisse ich meine eigene Küche“, gab sie zu.

„Sie können kochen?“

Sie wandte sich ihm zu. Im Licht der Straßenlaternen draußen schimmerte ihr helles Haar perlmuttfarben. „Das sagt man mir jedenfalls nach“, erwiderte sie trocken. „Schließlich war ich nicht immer mit einem Mann verheiratet, der Personal beschäftigt. George hat nie verstanden, dass es mir wirklich Spaß macht, selbst am Herd zu stehen. Dafür hat man einen Koch und basta, sagte er immer.“

„Sumiko – meine verstorbene Frau – organisierte lieber.“

Helen lächelte. „Ah, sie hat die Speisenfolge geplant, das Kochen aber anderen überlassen?“

„Ja.“ Tom wusste selbst nicht, warum er seine Frau erwähnt hatte, an die er nur selten dachte. „Ich finde es auch sehr entspannend, zu Hause zu essen. Wann wollen Sie in die USA zurückkehren?“

Sein abrupter Themenwechsel brachte sie nicht aus dem Konzept. „Freuen Sie sich schon darauf, mich wieder los zu sein?“

„Es ist eher Shiguro, der darauf brennt.“

Sie lachte leise. „Tut mir leid, ich weiß, ich sollte nicht lachen“, entschuldigte sie sich. „Ihr Bruder ist ein sehr fähiger Mann.“

Das stimmte, doch Tom wusste auch, dass Shiguro mit seiner Abneigung gegen Helen leichter zu beeinflussen war, die Fusion doch noch platzen zu lassen.

„Es ist schon lange her, dass ich mal bei mir zu Hause war“, sagte Tom nachdenklich.

„Wo wohnen Sie denn?“

„Ein paar Stunden nördlich von Tokio. Ich wurde in einem kleinen Dorf geboren.“

„Heißt es zufällig Taka?“

„So ähnlich“, antwortete er lächelnd. „Nesutotaka. Meine Mutter wohnt noch dort, aber mein Vater verbringt die meiste Zeit in seiner Wohnung hier in Tokio. Er mag es nicht, zu weit von der Firma entfernt zu sein.“

„Sie haben seine Nachfolge erst vor zwei Jahren angetreten, nicht wahr?“

Er nickte. „Aber wir wollten von anderen Dingen sprechen“, erinnerte er sie.

„Richtig. Erzählen Sie mir von Nesutotaka.“

„Sie würden es sicherlich altmodisch finden. Die Landschaft ist ursprünglich und sehr grün. Es gibt nicht mal richtige Straßen.“

„Keine Hochhäuser?“

„Das einzig Hohe ist der Berg, an dessen Fuß das Dorf liegt.“

„Klingt zauberhaft.“

„Meine Tochter Kimiko hasst es.“

„Kimiko“, wiederholte Helen langsam. „Was bedeutet der Name?“

„Frei übersetzt schönes Kind.“

„Kimiko“, sagte sie noch einmal. „Ein wunderschöner Name. Für eine Zwölfjährige hat Nesutotaka wahrscheinlich nicht viel zu bieten.“

„Sie nennt es sterbenslangweilig. Am liebsten ist sie in der Schule oder in der Wohnung meines Vaters. Der unterstützt zwar ihre Vorliebe für die westliche Kultur auch nicht, obwohl er eine Amerikanerin geheiratet hat, aber er besitzt immerhin einen Fernseher.“

„Ist sie denn manchmal auch bei Ihnen?“

„Meine Pflichten interessieren sie nicht besonders“, erwiderte er trocken. „Sie ist selten bei mir.“

„Sie vermissen sie bestimmt“, sagte Helen.

„Sehr.“

„Vielleicht wird Sie ja mit Ihnen zusammen bei TAKA arbeiten, wenn sie die Schule abgeschlossen hat. Als erste Frau im höheren Management.“

„Sie wird eine vorteilhafte Ehe eingehen.“

Helen gab einen unterdrückten Laut von sich. „Haben Sie den Bräutigam schon ausgesucht?“

„Es sind mehrere Familien in der engeren Auswahl.“ Sein Vater lag ihm ständig damit in den Ohren und drängte darauf, die Angelegenheit endlich abzuschließen.

„Und was ist mit Kimikos Wünschen?“

„Kimiko wird das tun, was ihr Vater sagt.“

„Jetzt klingen Sie ganz wie mein Vater“, sagte Helen. „Er hat auch immer bestimmt, was ich tun und lassen sollte.“

„Es ist die Pflicht eines Vaters, für das Wohlergehen seiner Kinder zu sorgen.“

„Ich würde es eher als das Vorrecht bezeichnen.“ Ihre Stimme klang viel kühler als vorher.

„Sie sind Amerikanerin, Sie können nicht verstehen, wie wir denken. Meine Mutter sträubt sich auch dagegen, jetzt schon einen Ehemann für Kimiko zu suchen, aber bei uns sind arrangierte Ehen etwas ganz Normales.“

„Ich weiß, dass mein Vater seine Familie mit eiserner Hand regierte, weil er das für seine Pflicht hielt. Und ich glaube nicht, dass er dabei auch nur einmal daran gedacht hat, was das Beste für uns wäre.“

„Uns?“

„Meine Mutter, meinen Bruder und mich.“

„Stehen Sie sich nahe?“

Sie schüttelte den Kopf. „Meine Mutter ist vor einigen Jahren gestorben. Mein Vater lebt noch, er wohnt in einer Kleinstadt im Staat New …“ Sie unterbrach sich, als sein Mobiltelefon klingelte.

„Entschuldigen Sie.“ Er wusste sofort, dass es schlechte Nachrichten gab, als sich der Rektor von Kimikos Schule meldete.

Helen blickte höflich aus dem Fenster, um ihm etwas Privatsphäre zu geben.

„Ich komme heute Abend vorbei“, unterbrach er den Redefluss des Rektors und legte auf.

Ja, er vermisste seine Tochter, doch auf ihren ständigen Unfug hätte er gut verzichten können.

„Probleme?“, fragte Helen.

„Nur eine kleine Unannehmlichkeit.“

„Wenn Sie das Essen ausfallen lassen wollen, verstehe ich das.“

Es wäre sehr unhöflich gewesen, sie jetzt wieder auszuladen. „Es war nur der Rektor der Schule meiner Tochter. Er kann warten.“

„Geht es Kimiko gut?“

Hielt Helen ihn für so kaltherzig, dass sie dachte, er würde ruhig hier sitzen, wenn es nicht so wäre? „Ja, aber das wird sich ändern, wenn sie es nachher mit mir zu tun bekommt.“

„Es geht mich nichts an. Verzeihen Sie, wenn ich neugierig klang.“

Nun sprach sie wieder ganz förmlich, und das innere Strahlen, das er vorher noch bemerkt hatte, war völlig verschwunden. Noch immer war sie eine sehr attraktive Frau, aber kühl und distanziert.

„Die Schule ist hier in der Nähe. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass sich unser Essen etwas verzögert, kann ich mich um die Angelegenheit kümmern, und wir essen danach.“

Sofort ging eine Veränderung mit ihr vor, und sie wirkte wieder weicher und zugänglicher. „Selbstverständlich, kein Problem. Aber vielleicht würde lieber Ihre Tochter mit Ihnen essen?“

Das bezweifelte er. Er drückte den Knopf für die Gegensprechanlage und wies den Fahrer an, bei der Schule zu halten.

„Ich hoffe, Kimiko hat nichts Schlimmes angestellt“, sagte Helen zögernd. „Sie wirken sehr grimmig.“

Er bemühte sich um eine entspanntere Miene. Helen bemerkte es und lächelte. „Vielleicht sollten Sie den Miesepeter mal auf den Kopf stellen?“

Als er sie verständnislos ansah, machte sie ein übertrieben missmutiges Gesicht, berührte dann mit den Fingerspitzen die Mundwinkel und schob sie nach oben. Die finstere Grimasse wurde zum Lächeln.

„Das ist albern“, knurrte er. Kimiko würde diese Frau wahrscheinlich lieben.

„Jeder braucht ein wenig Spaß im Leben. Besonders Männer mit zwölfjährigen Töchtern“, erwiderte Helen.

„Und woran haben Sie Spaß?“

„Nun ja …“ Helen hob die Hände und ließ sie wieder in den Schoß fallen. „Ich muss zugeben, dass da bei mir im Moment auch Mangel herrscht.“

Er legte einen Finger an seinen Mundwinkel und schob ihn nach oben.

„Sie bekommen eine Eins für guten Willen“, sagte sie lächelnd.

„Und eine Sechs fürs Ergebnis“, fuhr er fort.

Jetzt lachte sie laut, und er spürte, wie sich seine Stimmung tatsächlich aufhellte. „Sie sind eine sehr interessante Frau, Helen.“

„Das haben Sie schon mal gesagt. Ich weiß aber immer noch nicht, warum.“

„Ich finde Sie faszinierend.“

„Wie ein unbekanntes Insekt, das man beobachtet?“

Tatsächlich beobachtete er sie gern, im Konferenzraum und außerhalb. Warum, wusste er selbst nicht. Sicher, sie war eine schöne Frau, aber schöne Frauen gab es viele.

Was unterschied sie von den anderen?

Der Wagen hielt auf einer geschwungenen Auffahrt vor einem pompösen Backsteingebäude, und sofort kam ein Mann auf sie zugelaufen.

„Mr. Hyde-Smith, der Rektor“, murmelte Tom.

Dann sah er seine Tochter, die dem Mann in einiger Entfernung folgte. Trotz der Dunkelheit reichte das Licht der Außenbeleuchtung völlig, um erkennen zu lassen, warum Mr. Hyde-Smith sich so aufregte.

Hastig stieg er aus und ging auf den Rektor zu. Auf keinen Fall wollte er das Verhalten seiner Tochter vor Helen besprechen. Es würde seine Verhandlungsposition erheblich schwächen, wenn sie mitbekam, dass er unfähig war, eine Zwölfjährige unter Kontrolle zu halten.

Mr. Hyde-Smith verbeugte sich vor ihm. „Ich wollte Sie nicht stören, Taka-san, aber wie Sie sehen, hat Kimiko unsere Vorschriften gebrochen. Man muss etwas tun, bevor die anderen Schüler sie sehen, sonst könnte es einen Aufstand geben!“

„Aufstand ist wohl etwas übertrieben.“ Tom winkte seine Tochter heran, die den Kopf gesenkt hielt. Fassungslos berührte er ihr Haar, das ihr bis zur Taille reichte und eine herrliche tiefbraune Farbe hatte. Nun ja, gehabt hatte. Jetzt leuchtete es in einem grellen Pink. „Sie kann in ihrem Zimmer bleiben, bis jemand das in Ordnung gebracht hat“, sagte er.

„Es tut mir leid, Taka-san, aber unsere Vorschriften erlauben keine auffälligen Haarfarben. Genauso wenig wie Piercings oder Tätowierungen.“

„Piercings?“, fragte Tom schockiert.

Kimiko rollte die Augen. „Ich habe keine Piercings, Papa.“

„Zeig ihm das Tattoo“, verlangte Mr. Hyde-Smith und stieß sie leicht an. Kimiko blies die Backen auf und streckte den Arm aus.

Das Ding bedeckte ihren ganzen Unterarm von der Ellenbogenbeuge bis zum Handgelenk. Eine amerikanische Flagge. Als er seine Tochter vor einer Woche das letzte Mal gesehen hatte, war ihr Arm noch nicht verunstaltet gewesen.

„Geh zum Wagen“, befahl er.

Widerspruchslos trottete sie davon.

Als sie außer Hörweite war, ließ er seinen Unmut am Rektor aus. „Wie kann es angehen, dass sie in dieser Schule Zeit genug hat, sich die Haare rosa zu färben und sich tätowieren zu lassen?“, fragte er.

„Es war ihr freier Tag“, stotterte der Rektor. „Sie haben den Stundenplan am Anfang des Schuljahres erhalten. Wir erwarten von unseren Schülern in Kimikos Alter, dass sie sich auch unbeaufsichtigt korrekt verhalten. Vielleicht wäre Ihre Tochter an einer anderen Schule besser aufgehoben.“

Tom hätte ihn am liebsten geschüttelt. Das war das übliche Druckmittel des Rektors, und es ließ sich nicht viel dagegenhalten. „Ich werde Kimiko morgen zurückbringen. Danke, dass Sie mich angerufen haben“, sagte er ruhig und ging dann ohne weiteren Abschied zum Wagen zurück.

Dort fand er seine Tochter im angeregten Gespräch mit Helen. Er befahl ihr kurz, Mrs. Hanson in Ruhe zu lassen und einzusteigen. Sie warf ihm einen genervten Blick zu, gehorchte aber.

Er stieg auf der anderen Seite ein, und so saß Kimiko zwischen ihm und Helen, als sie wieder losfuhren.

„Das hier ist Mrs. Hanson, Kimiko“, stellte er Helen vor.

„Sehr erfreut“, murmelte seine Tochter.

„Ebenso“, erwiderte Helen freundlich. „Ist das eins dieser Klebetattoos?“

Stolz hielt Kim den Arm ins Licht. „Ich habe es heute Morgen im Einkaufszentrum gekauft“, sagte sie.

„Man kann es entfernen?“ Tom fiel ein Stein vom Herzen, doch gleichzeitig hätte er Kimiko am liebsten geschüttelt.

„Natürlich“, antwortete Kimiko, als wäre er schwer von Begriff. „Man wäscht es mit Seife ab.“

„Und die Haarfarbe geht beim Waschen auch wieder raus?“

Ihr Gesichtsausdruck verriet ihm, dass das nicht der Fall war.

„Du siehst aus, als wärst du in einen Eimer mit Neonfarbe gefallen“, murrte er.

„Ich habe drei Flaschen gebraucht“, sagte sie stolz, zog dann aber den Kopf ein, als ihr klar wurde, dass er das nicht so beeindruckend fand wie sie.

„Du musst es überfärben.“

Kimiko schwieg eisern.

„Warum gerade Pink?“, fragte Helen im Plauderton.

„Damit es zu dem Kleid passt, das ich auf der Party zu meinem dreizehnten Geburtstag tragen will“, sagte Kimiko.

„Aber das ist noch eine Weile hin. Und ich erwarte, dass du bereits morgen wieder deine natürliche Haarfarbe hast.“

„Wenn ich erst in Amerika wohne, färbe ich mir das Haar in allen Regenbogenfarben“, sagte Kimiko trotzig. Sie sah Helen an. „Oder golden, so wie Ihres.“

„Nun ja …“ Helen warf ihm über Kimikos Kopf hinweg einen Blick zu. „Ich muss leider zugeben, dass das meine natürliche Farbe ist. Sie ist über die Jahre etwas dunkler geworden, aber eigentlich habe ich mir immer dunkelbraunes Haar gewünscht. Wie ein Zobel, weißt du, schimmernd und glatt. Aber ich habe mich nie getraut, es auszuprobieren.“

„Es wäre auch eine Schande“, bemerkte Tom. „Und jetzt muss ich einen Friseur finden, der um diese Zeit offen hat.“

„Ich verstehe nicht, warum es nicht so bleiben kann“, murrte Kimiko.

„Weil das die Regel an deiner Schule ist.“

„Es ist eine dumme Regel.“

Tom presste verärgert die Lippen aufeinander. Auf keinen Fall würde er sich vor Helen mit Kimiko streiten. „Da du Mrs. Hansons Abendessen nun schon genug verzögert hast, wirst du uns begleiten. Wir sprechen uns hinterher.“

„Danach wird es noch schwieriger sein, einen Friseur zu finden“, sagte Helen. „Vielleicht verschieben wir das Abendessen einfach auf ein andermal.“

Auf einmal wirkte Kimiko zerknirscht. „Ich möchte auf keinen Fall Ihre Pläne für den Abend durcheinanderbringen“, sagte sie. „Ich freue mich, dass mein Vater mich mitnehmen will.“

„Und so machen wir es auch“, bestimmte Tom.

„Und ich freue mich, dass eine so junge hübsche Frau mit uns essen wird.“

Verlegen zupfte Kimiko an ihrem Haar. Offensichtlich brauchte es die Meinung einer anderen Frau, um die Wahl ihrer Haarfarbe anzuzweifeln. Was ihr Vater dachte, schien sie weniger zu kümmern.

Kurz darauf saßen sie im Restaurant. Während sie aufs Essen warteten, deutete Helen auf Kimikos farbenfrohes T-Shirt, auf dem Tropenfische zu sehen waren.

„Magst du Fische?“, fragte sie.

„Ich habe in der Schule ein Aquarium“, sagte Kimiko. Sie sprach fast akzentfreies Englisch – einen Vorteil musste ihre Vorliebe für alles Amerikanische ja haben. Es war bestimmt der Einfluss ihrer amerikanischen Großmutter. „Vielleicht erlaubt mir mein Vater ja eines Tages, Tauchen zu lernen, damit ich die Fische in ihrer natürlichen Umgebung sehen kann.“

„Tauchen ist herrlich, aber ich bin auch schon seit Jahren nicht mehr unter Wasser gewesen“, erzählte Helen. „Allerdings gehe ich gerne in große Seewasseraquarien. Fische haben etwas Beruhigendes.“

„Halten Sie auch Fische?“

„Nein, leider nicht.“

„Papa, du musst Mrs. Hanson unbedingt deine Fische zeigen“, sagte Kimiko nun aufgeregt. „Er züchtet Bettas. Sie sind wunderschön. Die Männchen muss man allerdings einzeln halten, sie würden sonst kämpfen.“

„Ja, davon habe ich schon gehört.“ Helens Augen leuchteten, und sie schien Kimikos Geplapper zu genießen. Vielleicht, weil sie die Jugend ihrer eigenen Tochter verpasst hatte?

Er sollte besser aufhören, sich um Helens Beweggründe Gedanken zu machen. „Kimi-chan“, warnte er seine Tochter leise, um ihren Redefluss zu bremsen.

Sie senkte die langen Wimpern. Ohne ihr rosafarbenes Haar hätte sie wie eine wohlerzogene Tochter gewirkt, doch er kannte sie besser.

„Wo waren Sie tauchen?“, fragte er Helen.

„Hauptsächlich in der Karibik. Tauchen Sie auch?“

Er nickte.

„Papa geht lieber Bergsteigen“, warf Kimiko ein, biss sich dann jedoch auf die Lippe, als ihr klar wurde, dass sie dem fremden Gast vielleicht zu viel verraten hatte.

„Sie hat recht“, bestätigte er. „Ich ziehe die Berge dem Meer vor. Dennoch bin ich viele Male Gast im Unterwasserreich gewesen.“

„Das haben Sie wunderschön gesagt“, sagte Helen mit strahlendem Lächeln.

Eine ganze Gruppe Kellner brachte das Essen, und sie aßen schweigend. Danach schickte er Kimiko hinauf in die Suite.

„Wasch dir das Tattoo ab“, mahnte er. Sie rollte die Augen, verzog sich aber widerspruchslos, sodass er mit der faszinierenden und beunruhigenden Amerikanerin allein blieb.

„Mit ein paar Flaschen Haarfarbe aus der Drogerie lässt sich das rückgängig machen“, beruhigte sie ihn.

„Sie denkt nicht über die Folgen ihres Handelns nach.“

„Sie ist ja auch erst zwölf.“

„Das ist doch wohl alt genug.“

„Wann hat sie das letzte Mal längere Zeit mit Ihnen verbracht?“, fragte Helen.

Das war eindeutig zu lange her. Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Warum?“

„Vielleicht will sie mit dem rosa Haar mehr Ihre Aufmerksamkeit erregen als der Mode folgen.“

Er wollte widersprechen, überlegte es sich dann aber anders. „Kimiko ist in der Schule glücklich.“

„Ja, das sagten Sie schon. Die Schule sah von außen sehr traditionsreich aus. Sie sind sicherlich auch dort hingegangen?“

„Ja.“

Helen lächelte. „Und haben Sie je versucht, irgendwie auszubrechen?“

Shiguro und er waren der Schrecken des Rektors gewesen, aber das würde er Helen nicht verraten. „Nein.“

„Tja, ich habe auch nie die Schule geschwänzt“, sagte sie augenzwinkernd.

Als unbekümmerten Teenager konnte er sich Helen nur zu gut vorstellen. „Möchten Sie noch einen Kaffee?“

„Zu gerne, aber wenn ich jetzt noch Kaffee trinke, kann ich die ganze Nacht nicht schlafen.“

„Sie sind müde, wir haben Sie viel zu lange aufgehalten. Verzeihen Sie. Mein Fahrer wird Sie zu Ihrem Hotel bringen.“

„Oh nein, es war mir ein Vergnügen. Vielen Dank dafür. Das Essen war vorzüglich und die Gesellschaft sehr anregend. Bitte richten Sie Ihrer Tochter aus, dass ich mich sehr gefreut habe, sie kennenzulernen.“

„Wir sehen uns dann morgen.“

„Am Konferenztisch“, sagte sie.

„Ja.“

„Ich freue mich darauf.“ Sie verbeugte sich leicht und ging hinaus.

Während er ihr nachblickte, wurde ihm klar, dass er sich ebenfalls darauf freute, sie wiederzusehen. Viel zu sehr.

4. KAPITEL

„Was höre ich da? Du hast gestern mit Thomas Taka zu Abend gegessen?“

Wie schnell sich so etwas herumsprach. Helen bedeutete Jack stumm, hereinzukommen, und kehrte zum Esstisch im Wohnbereich ihrer Suite zurück, wo sie beim Frühstück saß.

„Dir auch einen guten Morgen, Jack.“

„Glaubst du etwa, du kannst die Fusion beschleunigen, indem du den Mann verführst?“

Sie hob die Augenbrauen. „Sehr schmeichelhaft, dass du mir das zutraust.“ Ihre Stimme klang kühler als beabsichtigt, aber sie hatte wirklich langsam genug davon, dass jeder so von ihr dachte. „Es war nur ein Abendessen.“

Autor

Christine Flynn

Der preisgekrönten Autorin Christine Flynn erzählte einst ein Professor für kreatives Schreiben, dass sie sich viel Kummer ersparen könnte, wenn sie ihre Liebe zu Büchern darauf beschränken würde sie zu lesen, anstatt den Versuch zu unternehmen welche zu schreiben. Sie nahm sich seine Worte sehr zu Herzen und verließ seine...

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Auch für ihre vier Kinder schrieb sie und ermutigte sie stets dazu, ihren kreativen Neigungen nachzugehen.
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