Bianca Gold Band 62

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CINDERELLA KEHRT ZURÜCK von VICTORIA PADE

Ist diese hinreißende Frau wirklich Eden Perry, das unscheinbare Mauerblümchen aus seiner Schulzeit?! Als sie nach Northbridge zurückkehrt, traut Cam Pratt seinen Augen kaum und spürt sofort, dass auch sie ihn eigentlich heftig begehrt. Aber Eden will keinen Polizisten. Und Cam ist einer …

DU IN MEINEM BETT? von DIANA WHITNEY

Um das Sorgerecht für ihre Patenkinder zu bekommen, schließen Lydia und ihr umwerfender Ex-Freund Frieden - und kurz darauf eine Zweckehe. Zwar leben sie zusammen unter einem Dach, schlafen jedoch in getrennten Zimmern. Eine echte Herausforderung! Wer von beiden wird zuerst schwach?

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  • Erscheinungstag 19.03.2021
  • Bandnummer 62
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501989
  • Seitenanzahl 447
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Victoria Pade, Diana Whitney, Myrna Temte

BIANCA GOLD BAND 62

1. KAPITEL

„Sie ist jetzt da …“ Luke Walker steckte seinen Kopf in den Pausenraum der Polizeiwache.

Cameron Pratt hatte seine Schicht beendet und wusch jetzt seinen Kaffeebecher ab. Er gab noch etwas Spülmittel hinein und warf seinem Kollegen einen kurzen Blick zu. „Wer?“

Luke grinste. „Na, Eden Perry.“

Cameron, der von seinen Kollegen Cam genannt wurde, verzog das Gesicht. „Was, ausgerechnet jetzt?“

„Ja. Sie ist gerade zur Tür reingekommen und möchte sich gleich die Ausstattung ansehen, mit der sie hier arbeitet.“

„Hör mal, es ist halb fünf, ich habe seit eben Feierabend, und du bist im Dienst. Warum zeigst du ihr nicht alles?“

„So läuft das nicht. Du weißt genau, dass du das spezielle Vergnügen mit der jungen Dame hast. Und ja, mir ist völlig klar, dass dir das nicht in den Kram passt, weil ihr früher in der Schule aus irgendwelchen rätselhaften Gründen aneinandergeraten seid. Jedenfalls fällt Eden Perry in deinen Bereich …“

Cam kniff die Lippen zusammen. „Ich komme sofort“, presste er hervor.

„Sie ist übrigens nicht wiederzuerkennen“, sagte Luke, dann schloss er die Tür zum Pausenraum.

Cam war das herzlich egal. Für ihn war Eden Perry ein kleines Miststück. Er brauchte bloß an sie zu denken, und schon bekam er schlechte Laune. Ausgerechnet er sollte sie bei ihrer Arbeit als Phantombildzeichnerin unterstützen. Kurz vor seinem Urlaub hatte er davon erfahren …

Der Fall, um den es ging, beschäftigte die Polizei von Northbridge schon seit mehreren Monaten, und Eden Perry sollte nun Licht ins Dunkel bringen. Immer wieder hatte Cam versucht, sich aus der Affäre zu ziehen – vergeblich.

Jetzt war er für Eden Perry zuständig, ob es ihm passte oder nicht.

Und diese Frau passte ihm ganz und gar nicht. Er wollte sie nie wieder sehen, am allerwenigsten wollte er mit ihr zusammenarbeiten. Als er vor zwei Jahren in seine Heimatstadt Northbridge in Montana zurückgekehrt war, hatte er erleichtert festgestellt, dass sie damals kurz nach ihm die Stadt verlassen hatte, um woanders zu studieren. Seitdem hatte sie sich offenbar nur selten hier blicken lassen.

Aber jetzt war sie wieder da und sollte eine Frau auf einem alten Foto über vierzig Jahre altern lassen. Der Fall, um den es dabei ging, war inzwischen als der größte Skandal von Northbridge in die Geschichte dieser Kleinstadt eingegangen.

Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, war Eden jetzt zu allem Überfluss auch noch Cams Nachbarin. Da blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als gute Miene zu bösem Spiel zu machen …

Gedankenverloren gab er einen Spritzer Spülmittel in seinen Becher, obwohl er das längst getan hatte. Egal – er war dankbar für jede Sekunde, um die er das Zusammentreffen mit Eden hinauszögern konnte.

Andererseits: Je eher er die Sache anging, desto schneller hatte er sie auch wieder vom Hals. Zumindest beruflich gesehen – dass Eden direkt neben ihm wohnte, ließ sich natürlich nicht so leicht ändern.

„Die braucht sich gar nichts einzubilden“, sagte er leise und drehte den Wasserhahn auf. „Sollen sie doch alle einen Kniefall machen, weil sich die tolle Eden Perry dazu herablässt, für uns zu arbeiten, mir ist das egal. Mir kann sie nichts vormachen, ich kriege sie schon klein.“ Er schrubbte den Kaffeebecher so heftig, dass der Schaum spritzte.

„Du arbeitest übrigens mit Cam Pratt zusammen“, sagte Luke Walker zu Eden, während er sie in den Bürobereich führte. „Ich weiß nicht, ob du dich an ihn erinnerst …“

„Doch“, erwiderte Eden knapp. Was sie da gerade zu hören bekam, gefiel ihr überhaupt nicht.

„Aus der Highschool“, sagte Luke überflüssigerweise. „Ich glaube, ihr habt euren Abschluss im selben Jahr gemacht. Zuerst warst du ja in meiner Klasse, aber dann hast du ein Jahr übersprungen, stimmt’s?“

„Genau“, erwiderte sie. Es klang etwas steif. Eigentlich war sie bis eben noch ganz gelassen gewesen … bis Luke den Namen Cam Pratt erwähnt hatte.

„Ich wusste nicht, dass er auch bei der Polizei ist“, sagte sie. „Außerdem dachte ich, er wäre weggezogen.“

„Er ist vor zwei Jahren wieder zurückgekommen.“

„Aha.“ Eden bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall. „Hat es eigentlich einen Grund, dass ich ausgerechnet mit Cam zusammenarbeite?“

„Klar, Cam war lange bei der Polizei in Detroit und kennt sich deswegen mit dieser Phantombildgeschichte einigermaßen aus. Wir anderen betreten da Neuland, also war es naheliegend, dass er die Aufgabe übernimmt.“

Eden nickte bloß.

Dann schwiegen beide. „Tja, ich bin seit eben erst im Dienst und müsste eigentlich mal draußen nach dem Rechten sehen …“, sagte Luke in die Stille hinein.

„Kein Problem, meinetwegen brauchst du nicht hier zu warten.“

„Cam kommt bestimmt gleich. Er hat gerade Feierabend und muss nur noch schnell ein paar Dinge erledigen. Setz dich doch so lange an seinen Schreibtisch, er steht gegenüber von meinem.“

Wieder nickte Eden, sie blieb aber stehen. Ihr war völlig klar, dass Cam Pratt sie absichtlich warten ließ. Schließlich war sie bloß ein unscheinbares kleines Mauerblümchen, während ihm die Frauen wahrscheinlich immer noch hinterherliefen. Alle Mitschülerinnen hatten damals von ihm geschwärmt – alle, außer Eden. Da hatte er es natürlich nicht nötig, auf Abruf für sie verfügbar zu sein.

Stopp! Eden unterbrach ihre Gedanken, die mit ihr durchzugehen drohten. Sie kamen ihr erschreckend bekannt vor: Vor vierzehn Jahren hätte sie genauso reagiert.

Aber inzwischen hatte sie sich weiterentwickelt …

„Alles in Ordnung? Du bist auf einmal so rot im Gesicht“, bemerkte Luke Walker. Er stand immer noch neben ihr im Büro.

Sie berührte ihre Wange, die sich tatsächlich ziemlich heiß anfühlte. „Na ja, es ist ganz schön warm hier drin. Ich ziehe mir mal lieber die Jacke aus.“

„Ja, und setz dich doch, bitte“, beharrte er.

Eden streifte sich den Kamelhaarmantel ab und legte ihn über einen Stuhl. „Ich komme schon zurecht, du kannst jetzt ruhig auf Streife gehen. Immerhin bin ich nicht zum ersten Mal auf einer Polizeiwache.“

Luke ging zur Garderobe, ließ Eden dabei aber trotzdem nicht aus den Augen.

Wirke ich denn so hilfebedürftig, fragte sie sich. Na, hoffentlich nicht!

Unglaublich: Kaum war der Name Cam Pratt gefallen, schon fühlte sie sich in ihre Zeit an der Highschool zurückversetzt. Auf einmal war sie wieder die Streberin mit Brille, Zahnspange und rotem Kraushaar, die zwar geistig durchaus mit ihren Klassenkameraden mithalten konnte, in ihrer sonstigen Entwicklung jedoch deutlich hinterherhinkte. Immer wieder hatten sich die anderen über sie lustig gemacht … und dann hatte sie sich plötzlich mit dem großen Highschoolhelden höchstpersönlich auseinandersetzen müssen. Unter vier Augen.

Auf ihr damaliges Verhalten war sie überhaupt nicht stolz. Wenn sie daran dachte, hatte sie das Gefühl, vor Scham im Boden versinken zu müssen.

„Ich verschwinde mal kurz“, sagte sie plötzlich zu Luke, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte. Jetzt musste sie sich erst einmal fangen.

„Die Damentoilette ist am anderen Ende des Ganges.“ Mit dem Daumen wies er in eine Richtung.

„Vielen Dank. Und schön, dich wiederzusehen“, fügte sie hinzu und folgte seiner Wegbeschreibung – in der Hoffnung, dass er sie jetzt allein lassen würde.

„Gleichfalls“, rief Luke ihr hinterher.

Cam Pratt, dachte Eden, als sie die Toilettentür hinter sich schloss. Warum muss ich ausgerechnet mit ihm zusammenarbeiten?

Das war also ihre Strafe. Sie hatte sich ihm gegenüber damals so unmöglich aufgeführt, dass ihr die Sache bis heute schrecklich peinlich war.

Aber vielleicht hat er das alles längst vergessen, versuchte sie sich zu beruhigen. Vielleicht hat er das einfach so weggesteckt. Es kam ja bloß von mir, und ich bin nie jemandem aufgefallen …

Wahrscheinlich erinnerte er sich inzwischen gar nicht mehr an sie! Erst recht nicht an etwas, das sie ihm vor vierzehn Jahren gesagt hatte. Und mittlerweile sahen die Dinge auch ganz anders aus. Vor allem sah sie selbst anders aus. Um sich das noch einmal vor Augen zu führen, ging sie zu dem einzigen Waschbecken und schaute in den Spiegel darüber.

Die Eden Perry von heute war kein unscheinbares Mauerblümchen mehr.

Ihre Zähne waren jetzt gerade, die Zahnspange war verschwunden – ebenso wie die dicke Brille. Die hatte sie schon vor zehn Jahren gegen Kontaktlinsen getauscht, und inzwischen hatte eine Laseroperation auch diese Sehhilfe überflüssig gemacht. Ihre hellblauen Augen waren nur noch von dichten, schwarz getuschten Wimpern umrahmt.

Ihre Haut war mittlerweile makellos und glatt, auf die Wangen hatte sie etwas Rouge aufgetragen. Früher hatten ihre Arme und Beine viel zu lang für ihren restlichen Körper gewirkt, jetzt stimmten die Proportionen. Inzwischen bestand auch gar kein Zweifel mehr an ihrer Weiblichkeit: Ihr Körper hatte jetzt an genau den richtigen Stellen sanfte Rundungen.

Ihr Haar war nicht mehr leuchtend rot, sondern hatte einen dunkleren Ton angenommen. Kein einziges Mal hatte man sie in den letzten vierzehn Jahren „Karottenkopf“ genannt. Ihre eigenwillige Naturkrause bekam sie mit einer Kur so gut in den Griff, dass das Haar ihr Gesicht in sanften Wellen umspielte. Sie trug es jetzt schulterlang.

Alles in allem fand sie sich nicht mehr auffallend hässlich, sondern recht tageslichttauglich. Es gab keinen Grund mehr, sie wegen ihres Aussehens aufzuziehen.

Und was Cam Pratt anging … der hatte sich von der kleinen grauen Maus, die sie vor vierzehn Jahren gewesen war, bestimmt nicht einschüchtern lassen. Immerhin hatten alle anderen zu ihm aufgesehen.

Eden zupfte den Kragen der weißen Bluse zurecht. Dann öffnete sie einen weiteren Knopf der hellbraunen Strickjacke, die sie darüber trug. Schließlich straffte sie die Schultern und betrachtete noch einmal ihr Gesamtbild im Spiegel. Kein Vergleich zwischen damals und heute, befand sie.

Doch als sie wenige Minuten später die Damentoilette verließ und zurück ins Büro kam, war es um ihre Selbstsicherheit schon wieder geschehen.

Hatte sie sich eben tatsächlich eingebildet, dass Cam Pratt sich nicht mehr an sie erinnern würde – oder daran, wie sie ihn behandelt hatte? Dass ihm ihr unmögliches Verhalten nichts ausgemacht hatte?

Von wegen!

Dort stand er mit seinen einsfünfundachtzig und wartete auf sie. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände, es bestand kein Zweifel daran, dass er stocksauer auf sie war.

Wie angewurzelt blieb Eden im Durchgang zu den Büros stehen. Und jetzt? Da sie schlecht auf dem Absatz kehrtmachen konnte, atmete sie tief durch und ging auf ihn zu. Er hatte sich mit einer breiten Schulter an der Wand abgestützt und dabei die Arme vor der Brust verschränkt. In seiner dunkelblauen Polizeiuniform wirkte er außerordentlich beeindruckend.

„Cam?“, sagte sie, obwohl sie genau wusste, wen sie da vor sich hatte. In den letzten vierzehn Jahren war er offenbar noch attraktiver geworden. Am besten, Eden dachte gar nicht weiter darüber nach …

Er runzelte kurz die Stirn, sodass sich seine dichten, auffälligen Augenbrauen fast in der Mitte trafen. Offenbar hatte er mit einer älteren Version von Eden Perry, dem Mauerblümchen, gerechnet, nicht mit der Frau, die jetzt vor ihm stand. Im Gegensatz zu Luke schien ihn die Veränderung jedoch nicht zu beeindrucken. „Eden“, erwiderte er bloß, und es klang verächtlich.

„Ja“, bestätigte sie, um irgendetwas zu sagen.

Und jetzt, dachte sie. Soll ich mich jetzt vielleicht für alles entschuldigen? Soll ich ihm sagen, dass ich mich unmöglich aufgeführt habe und inzwischen alles bereue?

Allerdings befürchtete sie, dadurch alles nur noch schlimmer zu machen. Und die ganze Situation war sowieso schon unangenehm genug. Also richtete sie sich auf, hob den Kopf und beschloss, die Sache rein professionell anzugehen. „Es tut mir leid, dass ich dich gerade von deinem Feierabend abhalte. Ich wollte mir nur kurz meinen Computer anschauen und überprüfen, ob er alle Funktionen hat, die ich für meine Arbeit hier brauche. Und vielleicht kannst du mir noch kurz erzählen, wie weit ihr mit den Ermittlungen in diesem Fall seid und wie genau ich euch helfen kann.“

„Na ja, ich habe immerhin den Auftrag, dir auf Abruf zur Verfügung zu stehen, da hast du wohl das Recht, mich auch nach Dienstschluss hierzubehalten.“

„Mag ja sein, aber es soll nicht noch einmal vorkommen“, sagte sie unbewegt, aber durchaus höflich. Sie wollte ihm seine Feindseligkeit nicht mit gleicher Münze heimzahlen. „Von jetzt an achte ich darauf, dass du auch Dienst hast, wenn ich vorbeikomme.“

„Warten wir’s ab“, murmelte er. Es klang ungläubig. Dann stieß er sich von der Wand ab und wies mit dem Kopf zu einer Tür. „Dein Computer steht übrigens da drin.“

Gut, er wollte also partout nicht nett zu ihr sein. Aber ich verdiene es ja auch nicht anders, sagte sie sich und nahm sich vor, über seine Unfreundlichkeit hinwegzusehen, so gut es ging.

Cam folgte ihr in den Raum, der ungefähr so groß wie eine Telefonzelle war. Die Geräte auf dem Schreibtisch waren eindeutig moderner und leistungsstärker als alles, was in den anderen Büros stand.

„Ich habe alles gründlich durchgecheckt“, sagte er. „Damit müsstest du in jeder Hinsicht gut versorgt sein.“

„Wunderbar“, erwiderte Eden und begann, sich ihren Arbeitsplatz genau anzusehen. Sie war dankbar für die Ablenkung von Cam.

„Ja, guck’s dir lieber selbst noch mal an, und verlass dich bloß nicht auf mein Wort“, stichelte er.

„Ich wollte doch nur nachschauen, ob es auch einen Scanner gibt und ich eventuell eine Kamera anschließen kann.“

Er seufzte laut, als hätte er große Mühe, sich zusammenzureißen, sagte aber nichts weiter. Stattdessen kam er ihrer zweiten Bitte nach und erzählte ihr von dem Fall, an dem sie gemeinsam arbeiten sollten. „Du weißt ja, dass wir auf der Suche nach der Frau des ehemaligen Pfarrers sind, die vor über dreißig Jahren verschwunden ist. Celeste Perry …“

„Ja, nach meiner Großmutter“, ergänzte Eden. Sie hatte den Computer inzwischen komplett in Augenschein genommen und war mit dem Ergebnis zufrieden. Also musste sie sich wieder Cam zuwenden.

„Bisher wissen wir bloß, dass Mickey Rider und Frank Dorian 1960 die Bank von Northbridge ausgeraubt haben“, fuhr er fort. „Als vor einigen Monaten die Restaurierungsarbeiten an der alten Brücke losgingen, ist dort eine Tasche mit Mickey Riders Sachen aufgetaucht. Die Blutflecken auf der Tasche stammen nachweislich von Rider, außerdem hat man unweit der Brücke im Wald menschliche Überreste gefunden.“

Cam sprach betont nüchtern und sachlich, aber damit kam Eden immer noch besser zurecht als mit seinem Sarkasmus. Allerdings hatte sie trotzdem Schwierigkeiten, ihm zu folgen: Statt sich auf seinen Bericht zu konzentrieren, verlor sie sich immer wieder in seinen dunkelblauen, fast schwarzen Augen.

„Die Knochen sind natürlich ebenfalls gründlich untersucht worden“, sagte er gerade, „und es besteht kein Zweifel daran, dass sie von Rider stammen. Offenbar ist er durch einen Schlag auf den Kopf ums Leben gekommen. Einige Monate nach dem Banküberfall hat sich das FBI Frank Dorian geschnappt, den Mann, mit dem Celeste durchgebrannt ist. Er ist dann allerdings noch vor seinem Gerichtstermin bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen. Beide Bankräuber sind also inzwischen verstorben, Rider wurde vielleicht sogar ermordet. Dabei fehlt jede Spur von dem gestohlenen Geld – daher das verstärkte Interesse an Celeste.“

„Steht sie etwa unter Verdacht, Rider ermordet zu haben?“ Endlich war es Eden gelungen, sich einigermaßen auf das zu konzentrieren, was Cam ihr erzählte.

„Nicht direkt, aber sie ist auch nicht über jeden Verdacht erhaben“, erwiderte er. „Dem FBI hat Dorian damals erzählt, dass deine Großmutter nichts mit dem Überfall zu tun hatte. Allerdings hat er auch behauptet, dass sein Partner mit der Hälfte des Geldes abgehauen ist, aber zu diesem Zeitpunkt war Rider wohl schon tot. Also sind jetzt wieder alle Fragen offen.“

„Zumindest kann es sein, dass Celeste bei der Sache Beihilfe geleistet hat“, warf Eden ein, während sie seine Nase betrachtete. Cam hatte eine leichte Hakennase, die markant war. Ziemlich sexy befand Eden.

„Wie gesagt, die Polizei will sie unbedingt finden“, sagte er.

„Und was soll ich dabei tun?“

„Als Dorian verhört wurde, meinte er, dass Celeste innerhalb kurzer Zeit ziemlich viel zugenommen hat. Außerdem gibt es eine Frau in Bozeman, die meint, 1968 mit Celeste in einem Diner gearbeitet zu haben. Nach ihrer Beschreibung war Celeste korpulent …“

Eden, die gerade seine perfekt gestutzten Koteletten betrachtete, fuhr erschrocken auf. „Bozeman … dann war meine Großmutter ja ganz in der Nähe!“

„So sieht es aus. Die Frau hat sich übrigens Charlotte Pierce genannt, sagt dir das was?“

Eden schüttelte den Kopf. „Nein, überhaupt nicht“, erwiderte sie. „Und es hat auch nie jemand Kontakt mit mir aufgenommen, auf den Celestes Beschreibung hätte passen können.“

„Wir brauchen hier auf jeden Fall dein Können als Phantombildzeichnerin“, erklärte Cam. „Uns liegt nämlich bloß ein altes Fotos von Celeste vor, das uns aber so gar nicht weiterhilft. Also müsstest du es für uns bearbeiten. Deine Aufgabe besteht darin, Celeste auf dem Bild altern und zunehmen zu lassen, damit wir eine Ahnung haben, wie sie heute aussehen könnte. Das bearbeitete Bild können wir den Leuten hier zeigen, vielleicht erinnert sich ja jemand an etwas. Immerhin hat sie ihrer Kollegin in Bozeman erzählt, dass sie eines Tages wieder nach Northbridge kommen wollte, um ihre Söhne wiederzusehen …“

„Meinen Vater und meinen Onkel“, murmelte Eden, während sie den Blick über Cams leicht welliges Haar streifen ließ. Er trug es ganz kurz, nur das Deckhaar war etwas länger. Allerdings ging es gerade gar nicht um sein Aussehen, sondern um das ihrer Großmutter …

„Gut, dann habe ich also die Beschreibung von dieser Frau in Bozeman, und was noch?“, fragte sie.

„Nicht viel, fürchte ich. Dein Großvater hat fast alle Fotos von ihr vernichtet, nachdem sie damals durchgebrannt ist. Wir haben hier bei der Polizei auch bloß ein Bild, das in der Zeitung erschienen ist, als der Pfarrer seine Stelle in Northbridge angetreten hat. Auf dem Schnappschuss ist sie Mitte zwanzig, darauf kann natürlich niemand die heutige Celeste Perry wiedererkennen. Wir hoffen aber, dass sich das ändern wird, wenn du das Foto erst mal bearbeitet hast. Falls Celeste hier wirklich irgendwann aufgetaucht ist, hat sie vielleicht auch jemandem von ihren weiteren Plänen erzählt. Dann haben wir eine Chance, sie zu finden, falls sie noch lebt.“

„Es kann aber doch auch sein, dass sie hiergeblieben ist, oder? Meine Schwestern und meine Cousinen meinten, das sei nicht völlig ausgeschlossen.“

„Im Moment ist das reine Spekulation, damit kommen wir nicht weiter“, gab Cam zurück. „Aber wir bekommen gerade ganz schön Druck vom FBI und der Bundespolizei, denen gehen unsere Ermittlungen zu langsam voran. Die Knochen wurden ja schon im November gefunden, aber dann hat es erst mal gedauert, bis die Laborergebnisse vorlagen. Außerdem kamen die Feiertage dazwischen, und auf dich mussten wir auch noch warten. Darüber sind zwei volle Monate ins Land gegangen, ohne dass viel passiert ist.“

Das klang so, als wäre Eden schuld an der Verzögerung. Sie hatte das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. „Na ja, vor Weihnachten habe ich noch an einem anderen Fall gearbeitet, und danach musste ich zurück nach Hawaii und mein Haus aufgeben … und dafür sorgen, dass alles nach Northbridge gebracht wurde. Heute früh bin ich erst hier eingetroffen und sofort hergekommen, weil ich ja genau wusste, dass ihr auf mich wartet.“

Sie seufzte und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Aber wenn das wirklich so furchtbar eilig ist, hättet ihr euch doch jemand anderen dafür suchen können. Eigentlich arbeite ich gar nicht mehr in diesem Bereich. Ich habe diesen einen letzten Auftrag auch bloß angenommen, weil ich jetzt sowieso in Northbridge bin und es irgendwie blöd wäre, wenn extra jemand anderes dafür anreisen müsste.“

„Was blöd ist und was nicht, kannst du natürlich zweifelsfrei beurteilen“, murmelte Cam vor sich hin.

Also hatte er wirklich nichts von dem vergessen, was vor vierzehn Jahren passiert war …

„Dass du den Auftrag doch noch angenommen hast, hat natürlich nichts damit zu tun, dass du neugierig bist“, sagte er spöttisch.

„Natürlich bin ich auch neugierig“, erwiderte Eden. „Immerhin geht es um meine Großmutter, die damals ihren Mann und ihre beiden kleinen Söhne zurückgelassen hat. Und wenn ich darüber nachdenke, dass sie irgendwann in Northbridge war, ich ihr sogar über den Weg gelaufen sein könnte … Natürlich habe ich auch persönliches Interesse an diesem Auftrag, aber das meinte ich eben gar nicht, ich meinte …“

„Jaja, ich weiß schon, was du sagen wolltest: Du hast zwar auch selbst etwas davon, aber wir müssten trotzdem dankbar dafür sein, dass du für uns arbeitest.“

Wie konnte ein so attraktiver Mann nur so dickköpfig sein!

„Nein, ich wollte damit sagen, dass ich so schnell hergekommen bin, wie es irgendwie ging, aber wenn euch das nicht gereicht hat, hättet ihr wirklich nicht auf mich warten müssen. Jedenfalls brauche ich erst mal einen Tag, um mich zwischen meinen Umzugskartons zurechtzufinden und meine ganzen Hilfsmittel und die Software herauszusuchen.“

„Das soll mir recht sein. Ich würde jetzt nämlich gern nach Hause fahren.“

Ihre Erklärungen interessierten ihn also nicht.

„Ich habe alles gesehen, vielen Dank“, sagte sie.

„Dann habe ich jetzt meine Schuldigkeit getan?“

Sie seufzte. „Von Schuldigkeit habe ich nichts gesagt. Nur, dass wir für heute fertig sind.“

„Schön“, sagte er und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Raum. Er sah sich nicht einmal mehr nach ihr um.

Vielleicht hat er diese Sache vor vierzehn Jahren gar nicht anders verdient, dachte Eden. Allmählich verlor sie die Geduld mit dem Mann.

Im Büroraum zogen beide schweigend ihre Mäntel an. Gleichzeitig erreichten sie die Tür.

„Nach dir.“ Besonders freundlich klangen seine Worte jedoch nicht.

Eden ging vor ihm nach draußen und würdigte ihn keines weiteren Blickes, während sie auf dem Polizeiparkplatz nach ihrem Kleinwagen suchte. Das Auto stand genau neben seinem Geländewagen: Das war ja klar.

Aber Eden kümmerte sich nicht weiter darum.

Sie ließ den Motor an, er ebenso.

Und als sie die Ausfahrt erreichte, war sein Wagen gleich neben ihrem. Sie gab ihm ein Handzeichen, dass er vorfahren solle.

Cam bog rechts in die South Street, Eden ebenfalls.

Er überquerte die Hauptstraße, und Eden blieb hinter ihm.

Vor der dritten Querstraße setzte er den Blinker rechts.

Eden tat das Gleiche.

„Oh, bitte nicht …“ Sie stöhnte laut auf, dann sah sie auch schon, wie er den Wagen in die breite Auffahrt lenkte, die sie sich mit ihrem direkten Nachbarn teilte. Eden bog ebenfalls dort ein.

Gleichzeitig hielten sie vor ihren baugleichen Garagen, die kaum einen Meter voneinander entfernt standen. Gleichzeitig stiegen sie aus ihren Wagen, gleichzeitig gingen sie zum Kofferraum.

„Du wohnst also … gleich nebenan?“ Es gelang Eden nicht, ihr Entsetzen zu verbergen.

Cam zog die Augenbrauen hoch. „Hat dir das noch niemand gesagt?“

„Nein, eigentlich hieß es, das Haus nebenan würde einer Familie namens Poppazitto gehören.“

„Stimmt, das sind meine Vermieter. Und wenn der Mietvertrag in zwei Monaten ausläuft, kann ich ihnen das Haus sogar abkaufen.“

„Dann sind wir ja Nachbarn“, sagte Eden mehr zu sich selbst als zu ihm.

„Ja, aber das heißt noch lange nicht, dass wir uns auch gut verstehen müssen“, gab er zurück und drehte ihr den Rücken zu.

2. KAPITEL

Auch heute hatte Cam schon vor der Arbeit sein alltägliches Trainingsprogramm absolviert. Trotzdem hatte er jetzt das dringende Bedürfnis, wieder an die Geräte zu gehen – um sich nach dem Zusammentreffen mit Eden Perry abzureagieren. Sonst könnte er sich an diesem Abend nicht mehr entspannen, und an Schlaf war dann erst recht nicht zu denken. Also verließ er das Haus und ging durch die kalte Winterluft zur Garage.

Zwillingsbrüder hatten damals die Häuser gebaut, in denen Cam und Eden jetzt wohnten, und offenbar hatten die Männer darauf geachtet, dass sich die Gebäude glichen wie ein Ei dem anderen – genau wie sie selbst. Entsprechend gab es über beiden Garagen noch eine kleine Einzimmerwohnung mit einem größeren Wohn- und Schlafzimmer, einem winzigen Bad und einer kleinen Küche.

Sobald sein Mietvertrag auslief, wollte Cam das Haus kaufen, die Küche um Herd und Kühlschrank ergänzen und das Apartment an einen Studenten vermieten. Bis dahin brachte er hier seine Gewichte und sonstigen Trainingsgeräte unter.

Aber jetzt, wo Eden Perry gleich nebenan wohnte, überlegte er ernsthaft, ob er sich die Sache mit dem Hauskauf nicht anders überlegen sollte.

Er warf das Handtuch, das er mitgebracht hatte, über den Ständer mit den Gewichten und zog sich die Trainingsjacke aus, sodass er nur noch in Shorts und T-Shirt dastand. Dann begann er mit seinen Aufwärmübungen – zum zweiten Mal an diesem Tag. Wenn er damit doch bloß Eden Perry aus seinen Gedanken vertreiben könnte!

Warum ist das Leben nur so ungerecht, dachte er. Warum kann sie nicht einfach so aussehen wie damals? Als Teenager hatte sie karottenrote Haare gehabt, die in alle Richtungen vom Kopf abstanden wie bei einer Clownsperücke, außerdem hatte sie eine Brille mit fingerdicken Gläsern getragen. Eine Zahnspange hatte ihre schiefen Zähne richten sollen. Dazu war Eden auch noch pickelig gewesen und platt wie eine Briefmarke.

Dadurch, dass sie so unscheinbar gewesen war, hatte er die schreckliche Zeit mit ihr vor vierzehn Jahren etwas besser ertragen können. Vor vierzehn Jahren hatte er ihr abstoßendes Aussehen als Hinweis auf ihren miesen Charakter gedeutet: hässliche Schale, hässlicher Kern.

Und heute?

Heute war sie so umwerfend, dass ihm bei ihrem Anblick die Luft weggeblieben war. Und das war wirklich nicht fair …

Cam setzte sich auf den Boden und begann mit seinen Sit-ups. Trotzdem konnte er nicht aufhören, an Eden zu denken.

Mittlerweile war ihr Haar nicht mehr karottenrot, sondern hatte ein warmes, erdiges Rotbraun angenommen. Es stand ihr auch nicht mehr kraus vom Kopf ab, sondern fiel in sanften glänzenden Wellen auf ihre Schultern und umspielte dabei ein zartes, elfenbeinfarbenes Gesicht. Keine Spur mehr von den vielen Pickeln und Flecken, die sie früher gehabt hatte. Mit ihren hohen Wangenknochen und ihrer schön geformten Nase strahlte sie dazu eine feine Eleganz aus.

Und trotzdem war und blieb sie eine dumme Kuh.

Die Zahnspange hatte offenbar auch ihren Dienst getan: Wenn sie den Mund öffnete, zeigte sie strahlend weiße, regelmäßige Zähne. Auch ihre Lippen waren nicht mehr so trocken und aufgebissen wie in der Highschool, sondern voll, geschmeidig und einladend …

Cam beschleunigte das Tempo seiner Sit-ups.

Und dann ihre Augen … Hinter den dicken Brillengläsern waren sie ihm früher wohl nie aufgefallen, aber jetzt fragte er sich, wie ihm so etwas hatte entgehen können: Sie waren so blau wie der Sommerhimmel und wirkten dabei gleichzeitig durchscheinend wie Kristall. Keine Frage: Aus dem hässlichen jungen Entlein von damals war eine umwerfend schöne Frau geworden.

Schnell drehte er sich auf den Bauch und begann mit den Liegestützen. Dabei bewegte er sich immer schneller und zählte laut mit – in der Hoffnung, sich dadurch von Eden ablenken zu können.

Aber das funktionierte nicht.

Als er bei einunddreißig ankam, fiel ihm auf, dass sie inzwischen genauso alt war. Und dass sie in diesem Alter viel weiblicher und attraktiver aussah als damals mit sechzehn. Statt ihrer knochigen Arme und Beine war ihm diesmal ihr fester, schlanker Körper aufgefallen … mit sanften Rundungen an den richtigen Stellen. Cam war wie gebannt gewesen.

Ja, Eden Perry hatte sich wirklich grundlegend verändert: zum Positiven.

Zumindest rein äußerlich.

Und innerlich? Da hat sich bestimmt nichts getan, sagte er sich mit einer gewissen Genugtuung. Allerdings hatte sie heute nichts getan oder gesagt, was auf einen miesen Charakter schließen ließ. Cam dachte angestrengt nach, aber ihm fiel einfach nichts ein. Im Gegensatz zu ihm selbst war sie eigentlich ganz umgänglich gewesen.

Ich war wirklich unausstehlich, dachte er. Und sie hat es mir nicht mal mit gleicher Münze heimgezahlt. Warum eigentlich nicht?

Da hätte sie früher noch anders reagiert. Damals hätte sie es ihm so richtig gegeben. Ohne Rücksicht auf Verluste.

Allerdings war das inzwischen vierzehn Jahre her. Eden war sechzehn gewesen und hässlich wie die Nacht. Beides traf inzwischen nicht mehr zu. War es da nicht möglich, dass sie auch ihre Unverschämtheit, ihre Überheblichkeit und ihre durch und durch nervtötende Art abgelegt hatte?

Das würde ja an ein Wunder grenzen!

Während er darüber nachdachte, bewegte er sich immer langsamer, bis er schließlich ganz mit den Liegestützen aufhörte.

Cam stand auf und ging zur Hantelbank, um seine Armmuskulatur zu trainieren.

Eden Perry sollte also auf einmal ein völlig anderer Mensch geworden sein … Cam wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Vielleicht – aber wirklich nur vielleicht – hatte sie ja im Erwachsenenalter tatsächlich gelernt, ihre scharfe Zunge im Zaum zu halten.

Allerdings hieß das noch lange nicht, dass sich auch ihre Einstellung ihm gegenüber geändert hatte. Es hieß noch lange nicht, dass sie sich nicht nach wie vor für etwas Besseres hielt. Da konnte sie so umwerfend aussehen, wie sie wollte, und sich ihm gegenüber sogar mustergültig benehmen, das änderte alles nichts an dem, was sie ihm damals vor vierzehn Jahren zu verstehen gegeben hatte: dass sie ihn nämlich für strohdumm hielt.

So eine Frau konnte er ganz und gar nicht gebrauchen. Egal, wie sie aussah.

Und Eden Perry sah wirklich unverschämt gut aus …

Als Eden von der Polizeiwache nach Hause kam, zog sie sich schnell um und begann, ihr Schlafzimmer einzurichten.

Um halb neun Uhr abends war sie so weit, dass sie immerhin schon mal wusste, wo sie schlafen sollte. Außerdem hatte sie an beiden Schlafzimmerfenstern Rollläden und Vorhänge angebracht und einen Großteil ihrer Kleidung im Schrank verstaut.

Es war zwar noch nicht wirklich spät, aber nach diesem anstrengenden Tag war sie todmüde und schlapp und hatte dazu einen Riesenhunger.

Zum Glück hatte ihre Schwester Eve ihr bereits ein paar Vorräte vorbeigebracht. In der Speisekammer fand sie Brot, Chips und chinesische Nudelsuppe in mikrowellengeeigneter Verpackung.

Eden ging zur Spüle, um einen Suppenbecher mit Wasser zu füllen. Von dort aus sah sie ganz automatisch aus dem Fenster und zu den Garagen hinüber, deren Seitenwände sich fast berührten.

Das Fenster über Cams Garage war hell erleuchtet. Über Edens Garage befand sich eine kleine Wohnung, in der sie sich demnächst ein Atelier einrichten wollte. Sie wusste aber nicht, ob das bei Cam genauso war und ob er das Apartment vielleicht vermietet hatte.

Eden blieb einfach stehen und beobachtete weiter das große rechteckige Fenster, an dem keinerlei Sichtschutz angebracht war, und wartete. Lange musste sie sich nicht gedulden: Kurze Zeit später entdeckte sie Cam Pratt, der gerade durch den Raum ging. Er stellte sich an eine Stange, die quer in einem Durchgang befestigt war. In ihrer eigenen kleinen Garagenwohnung lag dahinter ein Badezimmer.

Er hatte ihr gerade den Rücken zugewandt, hob die muskulösen Arme und umfasste die Reckstange mit seinen großen Händen.

Langsam zog er sich an der Stange hoch und machte hintereinander mehrere Klimmzüge. Dabei hatte sie jedes Mal seine Taille und seinen Po im Blickfeld.

Cam trug ein schlichtes weißes T-Shirt, das inzwischen ziemlich durchgeschwitzt war. Es klebte an seinen breiten muskulösen Schultern und seinem kräftigen Rücken, darunter zeichnete sich seine schmale Taille ab. Bei jedem Klimmzug schwoll seine Armmuskulatur an.

Eden wusste, dass man bei der Polizei angehalten wurde, ständig im Training zu bleiben, und Cam Pratt nahm das offenbar sehr ernst: Er war in Topform, das ließ sich nicht übersehen. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich.

Mit jedem Klimmzug bewegte sich sein Rücken hoch und runter und Eden sah wie gebannt zu. Er hatte wirklich Ausdauer, das musste man ihm lassen.

Ja, er hatte Ausdauer und Kraft und dazu einen beeindruckenden Körper, der eine unerklärliche Anziehungskraft auf sie ausübte. Sie wollte ihn berühren und dabei herausfinden, ob sich seine Muskeln wirklich so hart und unnachgiebig anfühlten, wie sie aussahen.

Aber eigentlich spielt das gar keine Rolle, sagte sie sich.

Egal, wie umwerfend er aussah. Es gab zwei Gründe, die aus ihrer Sicht gegen ihn sprachen: Zum einen hatte er sich ihr gegenüber heute unmöglich benommen – weil er ihr immer noch diese alte Sache nachtrug, die sie am liebsten vergessen wollte. Zum anderen war er bei der Polizei. Und Polizisten waren für sie absolut tabu – wie überhaupt alles, was irgendwie mit Verbrecherjagd und Kriminellen zu tun hatte.

Wenn sie mit der Bildbearbeitung hier fertig war, würde sie nie mehr in diesem Metier arbeiten. Dann wäre Eden endgültig damit durch.

Trotzdem konnte sie nicht aufhören, Cam bei seinen Übungen zuzusehen. Die Suppe hatte sie darüber völlig vergessen. Eine Hitzewelle durchlief ihren Körper …

Er ist bei der Polizei, redete sie sich ins Gewissen. Und du weißt genau, was das bedeutet. Außerdem ist er ein Mistkerl.

Ja, ein Mistkerl mit einem unglaublich männlichen Körper …

Gut, drei Klimmzüge sehe ich mir noch an, aber dann höre ich auf, sagte sie sich.

Drei. Vier.

Fünf.

Sechs.

Acht.

Zehn …

Als Cam mit den Übungen aufgehört hatte, schaute sie immer noch fasziniert zu ihm hinüber. Selbst als er gar nicht mehr in ihrer Sichtweite war, konnte sie den Blick nicht lösen. Noch einige Minuten danach fixierte sie das Fenster und wagte dabei kaum zu atmen.

Bis ihr bewusst wurde, was sie da eigentlich tat.

Ich bin einfach nur müde, sagte sie sich. Da starrt man schon mal sinnlos durch die Gegend. Mit Cam Pratt und seinen Klimmzügen hat das überhaupt nichts zu tun. Ich muss unbedingt etwas Schlaf nachholen, dann benehme ich mich auch wieder normal.

Endlich erinnerte sie sich an das, was sie eigentlich hatte tun wollen, und füllte den Suppenbehälter mit Wasser. Danach sah sie wieder aus dem Fenster: Cam ging gerade in sein Haus zurück, er trug jetzt eine rote Jogginghose und eine weiße Kapuzenjacke.

Als er plötzlich den Kopf hob und in ihre Richtung sah, fuhr sie blitzschnell zurück. Das fehlte ihr gerade noch: dass er sie dabei erwischte, wie sie ihm von ihrem Küchenfenster aus hinterhergaffte!

Schnell stellte sie ihre Suppe in die Mikrowelle, programmierte eine Zeit ein, drückte den Startknopf und stand auf einmal im Dunkeln.

Sie seufzte und beugte sich wieder zum Fenster über der Spüle, um nachzuschauen, ob draußen auch alle Lichter ausgegangen waren. Dem war aber nicht so: In der schmalen Gasse hinter ihrer Garage brannten immer noch die Straßenlaternen. Es hatte demnach keinen allgemeinen Stromausfall in ihrer Gegend gegeben, sie hatte bloß ihre eigenen Leitungen überlastet.

Eigentlich war das ja vorhersehbar gewesen: Sie hatte alle Lichter im Haus brennen lassen, die Stereoanlage eingeschaltet, das Bügeleisen eingestöpselt und die Bohrmaschine ebenso. Als sie dann auch noch die Mikrowelle angestellt hatte, war wohl eine Sicherung herausgesprungen.

Nun fragte sie sich nur noch eins: Wo um Himmels willen war der Sicherungskasten?

Das einzige Licht, das sie momentan hatte, ging von den Laternen in der kleinen Gasse aus, und das brachte nicht viel. Irgendwo hatte Eden zwar eine Taschenlampe, sie wusste aber nicht, wo.

Sie brauchte also eindeutig Hilfe. Zumindest musste ihr jemand sagen, wo der Sicherungskasten war. Aber wen sollte sie da fragen? Ihre Schwester Eve war gerade in Billings und kutschierte dort ihren Großvater, den ehemaligen Pfarrer, durch die Gegend.

Vielleicht die Maklerin?

Eden bahnte sich ihren Weg an den Umzugskartons vorbei, bis sie schließlich ihr Handy fand. Sie suchte die einprogrammierte Nummer heraus, hatte aber bloß den Anrufbeantworter dran: Betty war weder heute noch morgen zu erreichen, informierte sie die Ansage.

Also blieb Eden nur eine einzige Lösung.

Ihr Haus hatte offenbar den gleichen Grundriss wie das ihres Nachbarn. Bestimmt waren auch die Sicherungskästen an derselben Stelle.

Außerdem hatte Cam Pratt höchstwahrscheinlich eine Taschenlampe, die sie sich kurz ausleihen könnte …

Cam Pratt.

Nicht schon wieder!

„Heute ist wirklich nicht mein Tag“, murmelte Eden vor sich hin.

Und wenn sie jetzt einfach ins Bett ging, ohne vorher noch etwas zu essen? Dann könnte sie morgen früh nach dem Sicherungskasten suchen, sobald es hell war.

Andererseits war auch die Nachtspeicherheizung von der Stromzufuhr abhängig. Es war mitten im Winter, und hier in Montana wurde es immer ganz besonders kalt. Wenn ihr dabei die Wasserrohre einfroren, würden sie möglicherweise platzen, und dann gäbe es eine Überschwemmung.

Das wäre eine Katastrophe!

Also entschied Eden sich für das geringere Übel: Sie beschloss, Cam Pratt um Hilfe zu bitten.

Wenn Eden sich schon so weit erniedrigen musste, an Cam Pratts Haustür zu klingeln, dann wollte sie dabei wenigstens einigermaßen annehmbar aussehen.

Als sie von der Polizeiwache zurückgekommen war, hatte sie sich für die Arbeit im Haus eine Schlafanzughose aus Flanellstoff angezogen und dazu ein langärmeliges gefüttertes Sweatshirt. Die Kleidung war bequem und alles andere als gewagt, deswegen beschloss sie, sich nicht noch einmal umzuziehen.

Mit ihrem Gesicht und ihrem Haar war sie allerdings nicht ganz so zufrieden. Gut, bei jedem anderen wäre sie einfach so gegangen, wie sie jetzt war: ungeschminkt und mit schiefem Pferdeschwanz. Allerdings war Cam nicht einfach irgendjemand, also trug sie vorher im Mondschein etwas Rouge und Wimperntusche auf. Dann löste sie den Pferdeschwanz, bürstete die Haare kräftig durch und steckte sie ordentlich mit einer Spange hoch.

Sie zog sich einen Parka über und tastete sich bis zur Haustür vor. Dabei bereute sie, so lange gezögert zu haben: Immerhin war es nach zehn Uhr, vielleicht schlief er schon längst?

Falls ja, erfriere ich eben einfach, sagte sie sich. Ich wecke ihn jedenfalls nicht auf.

Cam war aber noch nicht im Bett. Als Eden ihre gemeinsame Auffahrt überquerte und die Treppen zu seiner Haustür hochstieg, bemerkte sie gleich das Licht in seinem Wohnzimmer. Da er keinerlei Sichtschutz an seinem Fenster angebracht hatte, entdeckte sie kurz danach auch ihn: Offenbar hatte er inzwischen geduscht und sich umgezogen, jetzt trug er eine graue Jogginghose und ein langärmeliges weißes T-Shirt. Das Oberteil saß so hauteng, dass es seinen durchtrainierten Oberkörper betonte: die breiten Schultern, die kräftigen Arme und die muskulöse Brust.

Er sah wirklich umwerfend aus …

Mit einer Hand trocknete er sich gerade die Haare, mit der anderen hielt er eine Zeitschrift, wahrscheinlich ein Fernsehprogramm. Bis jetzt war ihm noch nicht aufgefallen, dass Eden draußen vor der Tür stand und ihn heimlich beobachtete.

Warum war aus dem gut aussehenden Teenager von damals bloß einer der attraktivsten Männer geworden, die sie kannte? Und warum ließ sie das nicht alles kalt?

„Ich bin ja nur müde“, sagte sie leise zu sich selbst.

Gerade legte er sich das Handtuch über die Schulter und fuhr sich durch das leicht wellige Haar. Sogar diese kleine, unbedeutende Bewegung hatte etwas unendlich Anziehendes, Erotisches.

Eden nahm sich zusammen, ging zur Tür und klingelte. Dann zwang sie sich dazu, nur noch geradeaus zu schauen, damit Cam nicht mitbekam, dass sie ihn längst im Wohnzimmer entdeckt hatte.

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, dass er kurz aus dem Fenster neben der Tür schaute, bevor er öffnete.

„Es tut mir leid, dass ich störe“, sagte sie schnell, bevor er ihr deutlich machen konnte, wie richtig sie mit ihrer Vermutung lag. „Bei mir ist wohl gerade eine Sicherung rausgesprungen, und jetzt kann ich den Sicherungskasten nicht finden und meine Taschenlampe auch nicht. Und weil unsere beiden Häuser doch baugleich sind, dachte ich, du könntest mir vielleicht …“

„… sagen, wo der Kasten ist, und dir eine Taschenlampe leihen“, brachte er ihren Satz zu Ende. Seine Stimme klang höhnisch – aber das kannte sie ja nicht anders.

„Ganz genau“, sagte sie.

Einen Moment lang rechnete sie damit, dass er ihr einfach die Tür vor der Nase zuknallen würde, aber er trat auf einmal ein Stück zurück und forderte sie damit auf, zu ihm ins Haus zu kommen.

„Danke“, erwiderte sie leise.

„Ich ziehe mir nur schnell Schuhe und Jacke an, den Sicherungskasten muss ich dir wohl zeigen.“ Dann ließ er sie einfach so im Windfang stehen und ging den Flur entlang, der auch in ihrem Haus zu den Schlafzimmern führte.

Vorsichtig lugte sie um die Ecke in sein Wohnzimmer. Der Raum war zweckmäßig eingerichtet, ohne dabei irgendwelchen gestalterischen Ansprüchen genügen zu wollen. Es gab ein großes braunes Ledersofa und einen dazu passenden Sessel. Die Sitzmöbel standen nebeneinander und waren dem Fernseher zugewandt – nicht besonders kommunikativ, fand Eden.

Auf dem Couchtisch vor dem Sofa lagen noch die Reste von Cams Abendessen und einigen anderen Mahlzeiten davor. Ansonsten gab es einen kleinen Beistelltisch zwischen Sofa und Sessel, eine Stehlampe sowie den Fernseher und eine hochmoderne Stereoanlage. An den Wänden hing kein einziges Bild, und sie konnte auch sonst nichts Dekoratives in diesem Zimmer entdecken. Am meisten wunderte Eden sich aber darüber, dass in den eingepassten Bücherregalen kein einziges Buch stand. Wenn sie selbst nicht so viele Bücherkartons gehabt hätte, wäre ihr Umzug nach Northbridge sehr viel günstiger gewesen.

„Komisch eigentlich, dass jemand mit deiner Intelligenz nicht schon vorher mal auf die Idee gekommen ist, im neuen Haus nach dem Sicherungskasten zu suchen.“

Er war also zurück.

Eden drehte sich wieder zum Flur, den er gerade entlangkam. Er trug Turnschuhe und eine graue Kapuzenjacke, in der Hand hielt er eine riesige Taschenlampe.

„Du kannst einfach nicht aufhören damit, was?“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihm.

Er stellte sich dumm. „Womit?“

In diesem Moment wusste Eden, dass sie die Vergangenheit nicht einfach Vergangenheit sein lassen konnten. Egal, wie unangenehm es würde, sie musste mit ihm über das sprechen, was vor vierzehn Jahren passiert war, und sich wohl bei ihm entschuldigen. Sonst würden sie nie vernünftig miteinander umgehen können.

„Hör mal, ich weiß ja, dass ich mich unmöglich aufgeführt habe, als unsere Mütter damals unbedingt wollten, dass ich dir Nachhilfe in Physik gebe …“, begann sie.

„Unmöglich ist gar kein Ausdruck!“, brauste er sofort auf. „Du hast mir jedes Mal deutlich unter die Nase gerieben, dass du mich für strohdumm hältst. Das war mehr als bloß unmöglich, das war absolut grausam.“

Schnell senkte Eden den Kopf, damit sie ihm nicht ins Gesicht sehen musste. „Okay, ich war ganz schön grausam“, gab sie zu. Die Sache war ihr schrecklich peinlich.

„Du meintest, du fändest es unglaublich, dass jemand wie ich überhaupt lesen kann“, fuhr er fort. „Du würdest dich wundern, dass ich die Grundschule erfolgreich hinter mich gebracht hätte. Und dann hast du mich noch gefragt, ob du wohl auf meinem Abschlusszeugnis erwähnt wirst, weil ich das ohne dich nie bekommen würde. Du hast …“

„Ja, das weiß ich alles“, unterbrach Eden ihn. Dann zwang sie sich, ihm in die Augen zu sehen. „Das ist mir alles furchtbar unangenehm. Du bist der einzige Mensch, den ich so behandelt habe, in meinem ganzen Leben.“

„Soll ich mir darauf etwa noch etwas einbilden?“

„Natürlich nicht. Damit will ich bloß sagen, dass das unter besonderen Umständen passiert ist. Und außerdem war ich damals nicht ich selbst.“

„Ach! Wer warst du denn dann, wenn nicht du selbst?“

„Ich war das Mädchen, das völlig überfordert damit war, mit sechzehn Jahren schon die Abschlussklasse zu besuchen. Ich war die, über die ihr älteren, coolen Schüler euch täglich lustig gemacht habt, ohne dass ich dabei etwas zu lachen hatte: Ich war die Brillenschlange, das Pickelgesicht, die Zahnspangentante, das Karottenhaar, Miss Neunmalklug …“

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dich so genannt zu haben. Um ehrlich zu sein, bist du mir bis zu den Nachhilfestunden gar nicht weiter aufgefallen.“

„Okay, aber deine Clique hat mich so genannt: Steve Foster, Greg Simmons, Frankie Franklin – das waren die Schlimmsten. Sie haben mich nie in Ruhe gelassen, obwohl ich wirklich versucht habe, mich so unauffällig wie möglich zu benehmen. Und als ich dann eines Tages von der Schule nach Hause kam, erzählte mir meine Mutter, dass ich ausgerechnet dir Nachhilfestunden geben sollte.“

„Ja, ich brauchte eben ein bisschen Unterstützung. Genau wie du jetzt, aber deswegen kommst du dir doch bestimmt nicht dumm vor, oder? Ich gebe ja zu, dass ich in der Schule kein Einserkandidat war, aber ich war immerhin in den meisten Fächern durchschnittlich – nur nicht in Physik. Außerdem hatte ich das Ganze schleifen lassen und nicht besonders viel für die Schule getan. Aber das hat die supertolle Eden Perry natürlich nicht registriert.“

„Also, für supertoll habe ich mich nun wirklich nicht gehalten. Im Gegenteil, ich hatte null Selbstbewusstsein und war völlig unsicher. Und dann sollte ich mich auf einmal allein mit einem der beliebtesten Schüler meines Jahrgangs treffen. Ich war mir so sicher, dass du dich über mich lustig machen würdest, dass ich beschlossen habe …“ Sie suchte nach Worten, die nicht ganz so drastisch klangen – vergeblich. „Ich wollte es dir ordentlich geben, bevor du das Gleiche mit mir machst.“

„Dann war das sozusagen eine … vorbeugende Maßnahme?“, erkundigte sich Cam ungläubig.

„Genau“, bestätigte Eden.

„Tja, für mich war es damals schon peinlich genug, dass meine Mutter mir eine Nachhilfelehrerin vor die Nase setzt. Und zu allem Überfluss auch noch ein Mädchen, das zwei Jahre jünger ist als ich selbst. Aber ich habe mich nie über dich lustig gemacht – weder während unserer Nachhilfestunden noch vorher. Ich hatte das alles nicht verdient.“

„Ich weiß“, gab sie zu.

„Warum hast du nicht aufgehört, als du das gemerkt hast?“

Eden verzog das Gesicht. „Hm … ich weiß nicht, aber … wahrscheinlich habe ich mich dadurch für alles gerächt, was ich damals erlebt habe – selbst wenn du damit nichts zu tun hattest. Und als ich erst mal damit angefangen hatte, hatte ich Angst davor, es doppelt heimgezahlt zu bekommen, wenn ich wieder aufhören würde. Von dir und von deiner Clique.“

„Dann hast du also einfach weitergemacht, bis ich mich so mies gefühlt habe wie du dich?“

Das klang ja so, als wäre er nicht bloß wütend, sondern auch … verletzt? Und dabei hatte sie ihn damals immer für unverletzlich gehalten. Inzwischen war sie sich da nicht mehr so sicher.

„Weißt du, ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ausgerechnet ich jemanden wie dich mit meinen Worten treffen könnte. Schließlich war ich ein Niemand, und du warst der tolle Hecht. Natürlich war mir die Sache peinlich, aber ich hätte nicht gedacht, dass ich dadurch … eine bleibende Wunde hinterlassen habe. Ist das etwa so?“

Diese Frage gefiel ihm ganz und gar nicht. Er richtete sich ein Stück auf und hob das kantige Kinn. „Na ja, eine bleibende Wunde nicht gerade, aber immerhin einen bleibenden Eindruck.“

Lügt er mich jetzt etwa an, fragte Eden sich. Will er bloß nicht zugeben, wie sehr ich ihn verletzt habe? Dadurch kam sie sich gleich viel schäbiger vor.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte sie also noch einmal. „Ich war schon damals nicht stolz auf das, was ich dir da an den Kopf geworfen habe. Ich habe mich so sehr dafür geschämt, dass ich niemandem davon erzählt habe, nicht mal meinen Schwestern. Aber ich dachte wirklich nicht, dass das größere Auswirkungen hätte. Als Luke Walker mir deinen Namen genannt hat, habe ich mich sogar gefragt, ob du dich überhaupt noch an mich erinnerst.“

Sie schwieg einen Moment lang und fügte dann hinzu: „Jedenfalls habe ich insgeheim gehofft, dass du mich inzwischen vergessen hast.“

Dazu sagte Cam nichts. Stattdessen sah er sie mit seinen blauen Augen intensiv an. Sie wusste nicht, was gerade in ihm vorging. Trotzdem wurde ihr bewusst, dass ihre Worte von damals Spuren hinterlassen hatten, genauso wie sie selbst immer noch an den Hänseleien der anderen zu knabbern hatte. „Cam, es tut mir wirklich schrecklich leid, und ich wünschte, ich könnte das alles rückgängig machen“, seufzte sie, und es kam von Herzen. „Natürlich war mir schon auf der Highschool völlig klar, dass du nicht dumm warst. Ich habe mich … einfach unmöglich aufgeführt, und eigentlich hätte mir das bewusst sein müssen, weil ich so etwas schließlich täglich am eigenen Leibe erfahren habe.“

Auch darauf reagierte Cam erst mal nicht.

Vielleicht reicht ihm meine Entschuldigung nicht, dachte Eden. Und vielleicht kommt sie auch zu spät.

Das könnte sie ihm nicht mal übel nehmen: Wenn sich jetzt nämlich ein Klassenkamerad, der sie damals geärgert hatte, im gleichen Stil bei ihr entschuldigen würde, würde sie das auch nicht weiter beeindrucken.

Doch auf einmal wirkte Cams Miene nicht mehr ganz so düster. „Brillenschlange, Zahnspangentante, Pickelgesicht – und was war das noch?“, erkundigte er sich.

„Karottenhaar und Miss Neunmalklug, aber das war lange nicht alles.“

„Und dafür musste ich büßen?“

„Ja, du warst sozusagen der Prügelknabe“, sagte sie in leicht scherzhaftem Ton. Ob er sich wohl darauf einlassen würde?

Tatsächlich: Er lächelte. Zwar nur ein bisschen und vielleicht sogar unbeabsichtigt, aber immerhin.

Cam war ja selbst mit mieser Laune ein attraktiver Mann. Unglaublich, wie sein Gesicht noch gewann, wenn sich seine Züge entspannten.

„Ich musste also als Prügelknabe herhalten, soso“, wiederholte er.

„Ja, und außerdem war ich damals bloß ein total verängstigtes, unsicheres Häuflein Elend – nicht, dass ich mich damit aus der Affäre ziehen will. Ich laufe praktisch seit vierzehn Jahren mit einem schrecklich schlechten Gewissen herum.“ Sie klimperte demonstrativ mit den Wimpern. „Nun komm schon, einer Frau mit Quietscheentchen auf der Hose kann man doch gar nicht böse sein, oder?“

Damit hatte sie Cam endgültig zum Lächeln gebracht: Er betrachtete ihre braune Schlafanzughose, die mit Comic-Enten bedruckt war.

„Das sind Stockenten“, klärte er sie auf. „Aber ich kümmere mich jetzt zuerst um deinen Stromausfall, dabei kann ich ja noch mal über alles nachdenken.“

„Danke.“

In Edens Haus war es deutlich kälter als bei Cam – spätestens jetzt wusste sie, dass es richtig gewesen war, zu ihm zu gehen. Sobald sie die Eingangstür hinter sich geschlossen hatten, übernahm er die Führung und leuchtete ihnen mit seiner Taschenlampe den Weg zur Kellertür, vorbei an den vielen Umzugskartons. Eden war froh, nicht allein in das düstere Untergeschoss gehen zu müssen.

Der Sicherungskasten befand sich unter der Treppe. Cam brauchte bloß einen Schalter umzulegen, und schon ging oben die Musik wieder an – es hatte funktioniert.

„Hier geht übrigens das Licht an.“ Cam zog an einer Strippe, und eine nackte Glühbirne über ihnen verströmte gelbes Licht.

Bis zu diesem Augenblick war Eden nicht bewusst gewesen, wie nah sie gerade beieinanderstanden – hier in dieser winzigen Nische unter den Treppenstufen. Außerdem hatte Cam sich inzwischen von dem Sicherungskasten weggedreht und sich ihr zugewandt. Sie stand so dicht vor ihm, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihn anzusehen. Als ob sie kurz davor wäre, ihn zu küssen.

Und natürlich stand das ganz und gar nicht zur Debatte.

Trotzdem kam sie sich vor wie in Trance, während sie in seinen dunkelblauen Augen versank und sich vorstellte, wie es wohl wäre, wenn sie ihn wirklich küssen würde … Wenn er sich zu ihr herunterbeugen und ihre Lippen mit seinen berühren würde …

Ausgerechnet Cam Pratt!

Bei diesem Gedanken erschrak Eden. Schnell kam sie unter der Treppe hervor. „Ich gehe mal nach oben und schalte die ganzen Geräte ab, sonst sind die Leitungen gleich wieder überlastet.“ Dann lief sie die Stufen hoch, Cam folgte ihr.

Als er zu ihr in die Küche kam, hatte sie bereits die Stereoanlage ausgestellt und ein paar Lampen ausgeknipst.

„Das ist wirklich sehr nett von dir“, bedankte sie sich auf dem Weg zur Tür.

„Bei mir im Haus habe ich übrigens ein batteriebetriebenes Licht neben dem Sicherungskasten angebracht“, sagte er. „Falls die Taschenlampe mal nicht griffbereit sein sollte.“

„Das ist eine hervorragende Idee“, erwiderte sie überschwänglich – als Wiedergutmachung dafür, dass sie ihn vor vierzehn Jahren als Dummkopf bezeichnet hatte. Dann fuhr sie in etwas neutralerem Tonfall fort: „Von jetzt an achte ich auch darauf, dass ich nicht zu viele Geräte gleichzeitig in Betrieb habe.“

Cam nickte bloß und betrachtete sie durchdringend mit seinen faszinierenden Augen und wartete. Jetzt wusste auch Eden nicht mehr, was sie sagen sollte.

Schließlich brach Cam das Schweigen – und den Blickkontakt –, indem er erneut ihre Schlafanzughose musterte. „Du mit deinem Entchenpyjama“, sagte er und lächelte.

„Den habe ich mir selbst geschenkt, bevor ich zurück ins kalte Montana gezogen bin.“

Er seufzte. „Ich glaube, du hast recht, einer Frau mit Entchen auf der Hose kann man wirklich nicht böse sein.“

Nun musste Eden lächeln. „Heißt das etwa, dass mein Gnadengesuch angenommen wird?“

Er antwortete nicht sofort, sondern sah ihr erst in die Augen und erwiderte ihr Lächeln. „Ja, das heißt es wohl.“

Vielleicht hatte Eden doch schlimmere Gewissensbisse gehabt, als sie zunächst gedacht hatte, vielleicht hatte Cam sie auch schrecklich eingeschüchtert, auf jeden Fall fiel ihr in diesem Moment ein tonnenschwerer Felsbrocken vom Herzen.

„Danke“, sagte sie zu ihm, und es kam von Herzen.

Er nickte bloß und öffnete ihre Haustür.

„Auch noch mal vielen Dank dafür, dass du mir den Sicherungskasten gezeigt hast“, rief sie ihm hinterher, als er schon die Stufen in den Vorgarten hinunterging.

Statt sich umzudrehen, hob er einfach nur die Hand, in der er auch die Taschenlampe hielt. „Keine Ursache.“

Selbst als Eden längst die Haustür hinter ihm geschlossen hatte, ging er ihr immer noch nicht aus dem Kopf …

Ausgerechnet Cam Pratt.

3. KAPITEL

„Ich freue mich ja so, dass du wieder in Northbridge bist!“ Eve Perry umarmte ihre Schwester Eden. Sie hatte Kaffee und Donuts zum Frühstück mitgebracht, jetzt saßen sie gemeinsam am Küchentisch.

„Ich mich auch. Obwohl ich mich erst mal an die Kälte hier gewöhnen muss“, erwiderte Eden. „Auf Hawaii herrscht wirklich ein anderes Klima.“

„Wie war’s in Billings? Wie geht’s dem Pfarrer?“, erkundigte Eden sich. Obwohl Armand Perry ihr Großvater war, war er für Eden und Eve immer nur „der Pfarrer“ gewesen – immerhin hatte er diese Position bis vor wenigen Jahren noch ausgefüllt, dann war er pensioniert worden. Er war kein besonders herzlicher oder gemütlicher Großvatertyp, sondern ein sehr förmlicher Mensch, selbst seiner Familie gegenüber.

„Dem Pfarrer geht’s wie immer. Ich habe ihn zum Arzt und zum Anwalt gefahren, habe mich aber nicht getraut, ihn zu fragen, was er da jeweils wollte.“

„Meinst du, dass der Anwaltstermin etwas mit dem Bankraub vor über dreißig Jahren und seiner verschwundenen Frau zu tun hat?“

Eve zuckte mit den Schultern, trank einen Schluck Kaffee und nahm sich noch einen Donut.

„Vielleicht macht ihm das alles so sehr zu schaffen, dass er wieder seine Kopfschmerzen bekommen hat“, überlegte Eden laut.

„Keine Ahnung. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass ihn diese Sache völlig kaltlässt. Er versucht wahrscheinlich, mit seiner steifen, förmlichen Art seine wahren Gefühle zu überspielen. Dass seine Frau ausgerechnet mit einem Bankräuber durchgebrannt ist, ist wahrscheinlich das Schlimmste, was ihm je passiert ist.“ Eve biss in ihren Donut. „Ich soll dich übrigens grüßen und dir sagen, dass er sich darauf freut, dich endlich wiederzusehen.“

Eden zog nun die Nase kraus. Sie hatte zwar nichts weiter gegen ihren Großvater, mochte ihn aber auch nicht besonders.

„Ja, euer Wiedersehen dürfte wirklich nicht gerade angenehm werden“, sagte Eve als Reaktion auf Edens Grimasse. „Der Pfarrer ist wohl nicht besonders glücklich darüber, dass du dieses alte Foto von Celeste bearbeiten willst. Er meinte, er fände es völlig sinnlos, in der Vergangenheit herumzuwühlen und dabei Dinge zutage zu fördern, die für niemanden von Belang sind“, ahmte Eve die gestelzte Sprache ihres Großvaters nach.

„Na ja, der Polizei ist das offenbar schon wichtig“, sagte Eden. „Immerhin so wichtig, dass sie jemand anderes engagiert hätten, wenn ich Nein gesagt hätte.“

„Ich wollte dich bloß warnen.“ Eve leckte sich die klebrigen Finger ab. Dann wechselte sie das Thema: „Jetzt bin ich erst mal hier, um dir beim Auspacken zu helfen. Allerdings unter einer Bedingung: Du kommst heute Abend als meine Begleitung zu Luke Walkers Hochzeit mit.“

Eden lachte. „Oje, das wirft ja kein gutes Licht auf dein Liebesleben, wenn du schon auf mich zurückgreifen musst.“

„In Liebesdingen läuft bei mir nicht viel, das stimmt schon. Aber eigentlich habe ich dabei eher an dich gedacht: Die Walkers hätten dich sowieso eingeladen, wenn sie gewusst hätten, dass du schon wieder hier bist.“

„Aber ich muss erst noch meine Kartons ausräumen“, gab Eden zu bedenken.

„Dafür haben wir jetzt ja den ganzen Tag Zeit. Danach machen wir uns ein bisschen schön und gehen zur Hochzeit. Seit Alikas Tod hast du dich immer bloß verkrochen und mit deiner Arbeit abgelenkt, aber jetzt bist du hier, um noch mal von vorn anzufangen. Dabei will ich dir helfen.“

„Und dafür muss ich unbedingt zu dieser Feier mitkommen.“

„Ich finde, dass das ein guter Anfang ist. Jedenfalls habe ich für mich und eine Begleitperson zugesagt, und diese Begleitperson bist du.“

Eve hatte mit allem recht, was sie gesagt hatte, das wusste Eden. „In Ordnung“, sagte sie schließlich. Eigentlich gefiel ihr die Idee sogar. „Gefällt dir das Haus denn?“, wollte Eve wissen.

Eve hatte ihr die Unterkunft in Northbridge organisiert.

„Ja. Eigentlich kannte ich es ja schon, weil hier früher die Dundees gewohnt haben und ich auf ihre Kinder aufgepasst habe. Dummerweise hat man mir damals nie den Sicherungskasten gezeigt.“ Nach dieser Überleitung berichtete Eden ihrer Schwester von dem Stromausfall.

„Apropos Cam Pratt“, fuhr sie fort, als sie mit der Geschichte fertig war, „du hast mir gar nicht erzählt, dass er gleich nebenan wohnt.“

„Ist das denn wichtig?“

Eve hatte keine Ahnung, was vor vierzehn Jahren zwischen ihnen vorgefallen war, also konnte Eden schlecht Ja sagen. „Nein, aber ich hätte es trotzdem gern gewusst.“

Eve trank den letzten Rest Kaffee aus und steckte den leeren Pappbecher in die Mülltüte. „Cam ist ein netter Mann, oder?“, sagte sie. „Hat er dir nicht gestern Abend noch geholfen?“

„Hm“, machte sie. Immerhin hatte er sie nachts fast vollständig um den Schlaf gebracht. Immer, wenn sie die Augen geschlossen hatte, hatte sie ihn vor sich gesehen: seinen muskulösen Körper, seine unglaublich blauen Augen …

Irgendwie musste ihr Gesichtsausdruck sie dabei verraten haben: Eve hob die Augenbrauen. „Hast du dich etwa ein bisschen in ihn verguckt?“

„Ach, Quatsch, natürlich nicht!“, protestierte Eden und hoffte dabei, dass es möglichst gleichgültig klang.

Eve grinste. „Cam ist heute Abend übrigens auch auf der Hochzeit“, informierte sie ihre Schwester. „Luke Walker heiratet nämlich Cams Halbschwester.“

„Cam hat eine Halbschwester?“ Das verwunderte Eden tatsächlich. Gleichzeitig hoffte sie damit, Eve vom Thema ablenken zu können.

„Ich merke schon, du kennst den neusten Klatsch und Tratsch noch gar nicht“, sagte Eve. „Es ist nämlich so: Cams Vater hat zwei Töchter mit der Frau bekommen, deretwegen er Cams Mutter verlassen hat. Eine davon ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, die andere – Karis – ist dann mit dem Baby ihrer Schwester nach Northbridge gekommen, weil sie dachte, dass Luke der Vater des Kindes sein könnte. Immerhin waren Luke und Karis’ Schwester kurz verheiratet gewesen. Na ja, das Kind ist nicht von ihm, aber Karis und Luke haben sich ineinander verliebt, und jetzt heiraten sie und adoptieren das kleine Mädchen.“

Eine bessere Ablenkung als diese Geschichte hätte Eden sich nicht wünschen können. Lange blieb sie allerdings nicht verschont: „Also kommt Cam heute Abend auch, dann siehst du ihn gleich wieder“, sagte Eve.

„Das ist mir völlig egal“, behauptete Eden.

„Na, ich weiß nicht“, lachte Eve. „Ich hab eher das Gefühl, dass du mir etwas verheimlichst. Warst du etwa früher mal in ihn verliebt?“

Eden rollte mit den Augen. „Du ahnst ja gar nicht, wie falsch du damit liegst.“

Zumindest war sie früher nicht in Cam verliebt gewesen.

Und jetzt?

Als „verliebt“ würde Eden sich zwar noch nicht bezeichnen, andererseits schien da etwas mit ihr zu geschehen, das eventuell in diese Richtung gehen könnte.

Luke Walkers und Karis Pratts Hochzeitsfeier fand im großen Haus der Pratts statt.

Karis, die Braut, sah in ihrem weißen Kostüm wunderschön aus, und auch Luke machte als Bräutigam in seinem marineblauen Anzug eine gute Figur.

Allerdings kam er damit immer noch nicht an Cam heran, das fand jedenfalls Eden. Er und Lukes Brüder waren Trauzeugen, und obwohl alle in ihren blauen Anzügen umwerfend aussahen, stach Cam in Edens Augen besonders hervor.

Nach der Trauung gratulierten die Gäste dem Brautpaar, dann gab es Champagner, ein beeindruckendes Büfett und eine dreistöckige Hochzeitstorte.

Eden hatte ein ziemlich schlichtes Trägerkleid gewählt, das ihr bis zu den Knien ging und mit schwarzen, braunen und beigefarbenen Fantasiemustern bedruckt war. Es saß zwar nicht hauteng, betonte aber ihre femininen Rundungen.

Dazu trug sie spitz zulaufende schwarze Satinpantoletten mit Strassblumen und hohen Pfennigabsätzen.

Das Haar hatte sie während des Trocknens durchgeknetet, sodass es füllig, aber nicht kraus aussah. Dann hatte sie braunen Lidschatten, etwas Rouge und Wimperntusche aufgetragen und sich zum Abschluss einige Armreife übergestreift.

Alles in allem war sie zufrieden mit dem Ergebnis. Die alten Freunde und Bekannten, die sie bei den Pratts wiedersah, waren jedenfalls überwältigt davon, wie sehr sie sich verändert hatte. Doch je später es wurde, desto deutlicher wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich nur einen einzigen Menschen auf der Party beeindrucken wollte. Und ausgerechnet dieser Mann schien ihr die ganze Zeit aus dem Weg zu gehen.

Vielleicht hatte sie sich ja getäuscht, und die Wogen zwischen ihr und Cam hatten sich gestern Abend doch nicht geglättet? Hatte sie vielleicht etwas überinterpretiert?

Sie ging zum Büfett und nahm sich ein Stück Hochzeitstorte, aber statt sich damit zu den anderen Gästen zu gesellen, setzte sie sich vor die Haustür, auf die zweite Stufe von unten.

Kaum hatte sie die Kuchengabel in den Mund gesteckt, saß Cam auch schon neben ihr. „Na, willst du dich nicht mehr mit den anderen unterhalten?“, sagte er anstelle einer Begrüßung.

„Doch, auf jeden Fall“, erwiderte sie. Es klang etwas aufgesetzt. „Diese spitzen Schuhe sind bloß so eng, da musste ich mich einen Moment lang setzen.“

„Ach so.“

Eden wusste nicht, wie sie das Schweigen beenden sollte, das sich jetzt zwischen ihnen ausbreitete. Ihr Kopf war völlig leer.

„Und, funktioniert das Licht in deinem Haus noch?“, erkundigte sich Cam.

Kein besonders origineller Einstieg, aber immerhin – ihr selbst war gar nichts eingefallen.

„Ja, alles in schönster Ordnung“, sagte sie. „Ich habe heute auch endlich meine Taschenlampe wiedergefunden. Für den Notfall.“

Oje. Das Gespräch wurde ja immer schlimmer! Offenbar hatte sich ihr Gehirn ausgeschaltet. „Schöne Hochzeit“, sagte sie als Nächstes. Auch nicht besser!

„Stimmt.“

„Eve hat mir gesagt, dass Karis deine Halbschwester ist.“

„Hm, eigentlich hatte ich sogar zwei Halbschwestern, eine ist inzwischen gestorben.“

„Das tut mir leid. Eve hat mir davon schon erzählt. Ich habe den Eindruck, dass Karis sich hier bereits gut eingelebt hat, oder? Sieht ganz so aus, als gehörte sie zur Familie.“

„Ja, so kommt uns das inzwischen auch vor. Sogar mir“, fügte er leise hinzu.

Das ließ Eden aufhorchen. „Sogar dir?“

„Ich konnte Karis erst nicht so richtig einschätzen, als sie hier aufgetaucht ist. Davor hatte ihre Schwester Lea uns besucht und nur Ärger gemacht. Na ja, und durch meine Zeit in Detroit bin ich anderen Menschen gegenüber sowieso ziemlich skeptisch geworden. Aber Karis muss man einfach mögen.“

„Du hast mal in Detroit gewohnt?“, hakte Eden nach. Endlich hatte sie ein hoffentlich unverfängliches Thema gefunden, über das sie sprechen konnten. „Jetzt sag nicht, dass deine Familie dort auch noch eine Reinigung aufgemacht hat.“

„Nein, das Familienunternehmen hat Mara übernommen, und es gibt auch nur die eine Reinigung hier in Northbridge. Ich war Polizist mitten in Detroit.“

„Wirklich? Wie bist du denn dazu gekommen?“ Eden tat so, als würde sie zum ersten Mal davon hören, obwohl Luke ihr schon gestern auf der Wache ein bisschen erzählt hatte.

Er zuckte mit den Schultern. „Nach der Highschool bin ich von zu Hause ausgezogen, um aufs College zu gehen …“ Er hielt inne und sah sie herausfordernd an. „Wolltest du zufällig gerade durchblicken lassen, wie sehr es dich überrascht, dass ich es bis aufs College geschafft habe?“

„Auf gar keinen Fall“, sagte sie empört. „Bist du in Detroit aufs College gegangen?“

„Nein, ich war in Colorado. Ich habe einen Abschluss in Betriebswirtschaftslehre gemacht, wusste dann aber nicht, was ich damit anfangen sollte, darum bin ich erst mal zum Militär gegangen.“

„Wirklich?“

„Überrascht dich das?“

Er schien immer noch sehr angreifbar auf diesem Gebiet zu sein, also drückte Eden sich bewusst vorsichtig aus: „Ein bisschen schon. Du meintest doch damals, dass du feste Regeln nicht ausstehen könntest – wie es sie zum Beispiel in der Physik gibt. Und beim Militär gibt es solche Regeln ja auch … in einem etwas anderen Zusammenhang.“

„Kann sein, dass ich ein bisschen dicker aufgetragen habe, um besonders cool zu sein.“ Er grinste spitzbübisch. „Jedenfalls bin ich bei der Militärpolizei gelandet, und da hat es mir gut gefallen. Als ich die Armee verlassen habe, bin ich aus verschiedenen Gründen nach Detroit gezogen und habe dort bei der Polizei angefangen.“

Aha, dachte Eden. Aus verschiedenen Gründen also.

Womit sie wieder bei ihrer Frage danach wäre, was ihn in diese Stadt verschlagen hatte – aber offenbar wollte er es ihr nicht sagen.

Weil sie die gute Stimmung zwischen ihnen nicht zerstören wollte, beschloss sie, nicht weiter darauf einzugehen. „Wie lange warst du denn Polizist in Detroit?“

„Vier Jahre.“

„Und danach bist du also wieder nach Northbridge gezogen?“

„Dazwischen habe ich in Detroit noch kurz etwas anderes gemacht. Sechs Monate lang, um genau zu sein. Aber dann bin ich hierher zurückgekommen.“

Auch über diese sechs Monate schien er nicht sprechen zu wollen, also bohrte Eden nicht weiter nach.

Stattdessen fing er an, ihr Fragen zu stellen: „Und du warst bis vor Kurzem noch … auf Hawaii?“ Das klang so, als hätte sie auf dem Mond gelebt.

Eden nickte. „Ich bin in Philadelphia aufs College gegangen. Erst wollte ich Ärztin werden und hatte deswegen Biologie- und Anatomieseminare belegt, als Nebenfach hatte ich Kunst. Dann habe ich mich dort mit jemandem angefreundet, der die gleiche Fächerkombination gewählt hatte wie ich. Er wollte später für die Polizei anhand von Knochen Gesichter rekonstruieren. Na ja, und je mehr wir darüber sprachen, desto mehr habe ich mich auch für Phantombilder und Gesichtsrekonstruktionen interessiert. So bin ich schließlich zu meinem Beruf gekommen.“

„Und wie bist du auf Hawaii gelandet?“

„Als Phantombildzeichner ist man nirgends angestellt, sondern freiberuflich tätig. Ich bin dadurch viel herumgekommen, und ein Fall hat mich eben nach Hawaii geführt. Ja, und dann …“ Sie hielt inne und beschloss nun ihrerseits, nicht zu viel von sich zu erzählen. „Dann bin ich gleich dageblieben.“

„Aber jetzt bist du wieder hier und willst mit der Phantombildzeichnerei und den Rekonstruktionen nichts mehr zu tun haben“, schloss Cam.

„Es war einfach Zeit für eine grundlegende Veränderung. Ich bin jetzt reif für die Kleinstadt, außerdem will ich bei meiner Familie sein.“

„Aber sobald du den Fall ‚Celeste Perry‘ hinter dir hast, willst du keine Phantombilder mehr anfertigen?“

Eden schüttelte den Kopf. „Danach habe ich den Auftrag, ein Kinderbuch zu illustrieren, das eine Freundin geschrieben und gerade an einen Verlag verkauft hat. Genau das will ich ab jetzt machen: Ich will kleine Feen mit rosa Flügelchen malen.“

In der darauffolgenden Gesprächspause wurde Eden klar, dass sie ihren Kuchen gar nicht mehr weitergegessen hatte, seit Cam aufgetaucht war. Schnell biss sie davon ab. „Der ist wirklich lecker, nimm dir doch auch ein Stück.“

„Du kannst mir ja etwas von deinem abschneiden, dann esse ich einfach mit den Fingern.“

„Wie komme ich dazu, dir etwas abzugeben?“, erwiderte sie, tat es aber trotzdem.

Sie hielt ihm das Kuchenstückchen mit der Gabel hin, und er nahm es herunter. Dabei betrachtete sie seine langen, kräftigen Finger und stellte sich vor, wie er sie damit berührte. Auf einmal hatte sie Schmetterlinge im Bauch.

Als er sich den Kuchen in den Mund steckte, wurde es nur noch schlimmer. Eigentlich hatte sie so etwas nie besonders sexy gefunden, aber jetzt war alles anders.

Vielleicht heißt das bloß, dass ich wieder als Frau fühlen kann, dachte sie. Vielleicht war sie das ganze letzte Jahr lang vor lauter Trauer wie betäubt gewesen und kam jetzt langsam wieder zu sich.

„Du hast recht, der schmeckt wirklich gut“, sagte er nach dem letzten Bissen.

Eden hatte sich gerade selbst eine Gabel davon in den Mund gesteckt, um etwas Zeit zu gewinnen. Zum Glück kam Eve in diesem Augenblick aus dem Wohnzimmer in die Eingangshalle.

„Möchtest du eigentlich immer noch, dass ich für dich auf die Zeit achte?“, erkundigte sie sich, nachdem sie Cam begrüßt hatte. „Falls ja: Es ist jetzt elf Uhr.“

Eden sah zu Cam. „Ich habe meine Schwester gebeten, mir um elf Uhr Bescheid zu geben“, erklärte sie ihm. „Ich dachte mir, dass du morgen bestimmt früh mit der Arbeit an dem Phantombild anfangen willst, und bis dahin brauche ich dringend etwas Schlaf.“

„Stimmt, ich würde morgen wirklich gern früh anfangen“, erwiderte er. „Dann mache ich mich jetzt am besten auf den Weg.“ Er überlegte einen Moment und wandte sich schließlich an Eve. „Ich habe gesehen, dass ihr beide heute mit deinem Auto gekommen seid, Eve, aber bleib ruhig hier, wenn du noch nicht loswillst. Eden und ich wohnen ja genau nebeneinander, da kann sie bei mir mitfahren.“

Damit hätte Eden nun wirklich nicht gerechnet. Sie war gleichzeitig überglücklich, aufgeregt, nervös, und außerdem hatte sie Angst. Das waren so viele verschiedene Gefühle, dass sie sie kaum auseinanderhalten konnte.

Eve sah Eden an. „Wäre das in Ordnung?“

Was sollte sie dazu schon sagen? „Natürlich. Gar kein Problem. Ich fahre mit Cam, dann kannst du noch etwas hierbleiben.“

„Prima“, meinte Eve. Sie hatte ja keine Ahnung, dass es für Eden nämlich doch ein Problem war, und zwar ein riesengroßes.

Kurze Zeit später verabschiedeten Eden und Cam sich von Eve und von dem Brautpaar.

Als sie vor Cams schwarzem Geländewagen standen, öffnete Cam die Beifahrertür für Eden und wartete, bis sie eingestiegen war. Dann erst ging er um das Auto, um hinter dem Steuer Platz zu nehmen.

Im Wagen roch es nach seinem Duschgel. Eden sog tief die Luft ein und genoss den Duft. „Fahren Luke und Karis eigentlich auch in die Flitterwochen?“, wollte sie wissen. Die Frage war ihr ganz unvermittelt eingefallen.

„Nur kurz.“ Cam lenkte den Wagen die Straße hinunter. „Sie fahren mit der Kleinen nach Denver, weil Karis da ein paar Sachen regeln muss … aber als Flitterwochen kann man das wohl nicht durchgehen lassen. Andererseits sind die beiden so verliebt, dass es ihnen vielleicht so vorkommt.“

„Die Glücklichen“, seufzte Eden leise. Der Gedanke daran machte sie ein wenig neidisch und vor allem traurig … Sie konnte sich gut daran erinnern, sich selbst einmal so gefühlt zu haben.

„Ja, genau, die Glücklichen“, wiederholte Cam fast ebenso leise, und Eden kam es auch ein bisschen sehnsüchtig vor.

Für den Rest der Fahrt schwiegen sie, trotzdem war es Eden nicht unangenehm. Sie nutzte den Moment der Stille, um von etwas Abschied zu nehmen, das sie für immer verloren hatte. Und vielleicht ging es Cam ja gerade ähnlich.

Schließlich fuhr er in seine Garage, und sie stiegen beide aus.

„Ich begleite dich noch zur Tür“, sagte er.

Sie fand es schön, dass er mit ihr zum Hintereingang ging.

Sie schloss die Tür auf und öffnete sie.

Dann wandte sie sich zu ihm um. „Wann soll’s morgen mit unserer Arbeit losgehen?“

„Na ja, ich muss schon um sieben ins Büro, aber du brauchst nicht so früh da zu sein. Wie wär’s mit halb neun? Oder du kommst einfach, wenn du so weit bist.“

„Dann bin ich um halb neun da“, erwiderte sie.

„Wunderbar.“

Eigentlich hatte sie fest damit gerechnet, dass er sofort wieder gehen würde, aber er stand immer noch neben ihr vor der Hintertür. Gedankenverloren sah er ihr in die Augen.

Schon wieder musste Eden an den letzten Abend denken – daran, dass sie sich überlegt hatte, wie es wohl wäre, wenn er sie küsste. Spielte er selbst etwa gerade mit dem Gedanken?

Und wenn es wirklich so ist, was dann? fragte sie sich. Was wäre, wenn er gleich ein kleines Stück näher käme und sich zu ihr herunterbeugte, um sie zu küssen? Nur ganz kurz?

Es war schon mindestens ein Jahr her, dass Eden zuletzt von einem Mann geküsst worden war, und in den letzten Jahren war dieser Mann immer Alika gewesen.

Wie würde sie sich also Cam gegenüber verhalten? Sie hatte keine Ahnung, würde es aber gern herausfinden …

Sie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete seinen Mund.

Und jetzt kam er tatsächlich ein Stück näher, beugte sich ein Stück zu ihr herunter …

Gleich küsst er mich, dachte sie. Ausgerechnet Cam Pratt!

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, ein riesiger Schmetterlingsschwarm wirbelte durch ihren Bauch, ihre Haut begann zu kribbeln.

Sie sehnte sich so sehr danach, dass er sie küsste …

Aber er tat es nicht.

Abrupt richtete er sich auf, als hätte ihn irgendetwas urplötzlich in die Wirklichkeit zurückgeholt. „Dann sehen wir uns also morgen“, sagte er.

Eden nickte benommen und hoffte von ganzem Herzen, dass er keine Gedanken lesen konnte.

„Ja, dann sehen wir uns morgen“, wiederholte sie. Es ist besser so, sagte sie sich.

Er war schon auf dem Weg zu seinem Haus, da fiel ihr noch etwas ein: „Vielen Dank, dass du mich mitgenommen hast“, rief sie ihm hinterher.

„Keine Ursache“, rief er zurück.

Irgendwie klang seine Stimme belegt.

4. KAPITEL

„Ich hätte nicht gedacht, dass man dafür so viele Geräte braucht.“

Eden löste den Blick vom Monitor und sah sich zu Cam um, der hinter ihr in der Tür stand. Sie saß in dem winzigen Zimmer, das man auf der Polizeiwache für sie eingerichtet hatte. Die Sekretärin hatte ihr gleich bei ihrer Ankunft eine Nachricht von Cam überreicht – er hatte zu einem Einsatz fahren müssen: Ein Bulle war ausgebrochen, und die Polizei sollte ihn wieder einfangen.

„Und, ist der Bulle jetzt runter von der Straße?“, erkundigte Eden sich bei ihm.

„Ja, die Sache ist geregelt“, erwiderte er. „Das Tier gehört übrigens O’Murray, es stand mitten auf der alten North Road und ist auf die Autos losgegangen.“

„Und da haben sie dich gerufen? Warst du in Detroit etwa Torero?“, scherzte sie und drehte sich mit dem Stuhl um, sodass sie Cam ganz im Blick hatte. Er trug Jeans zu dem dunkelblauen Uniformhemd. Mit seinen glattrasierten edlen Gesichtszügen und seinem etwas zerzausten welligen Haar sah er besser aus, als ihr lieb war.

Cam lachte.

Er kam in den kleinen Raum und stellte sich neben sie. Dann beugte er sich vor, um sich die Materialien anzusehen, die sie auf dem Tisch rechts neben dem Computer ausgebreitet hatte. Dabei war sein knackiger Po nicht zu übersehen. Sie konnte nicht anders, sie musste einfach hinschauen.

Autor

Victoria Pade

Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...

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