Das Rätsel des Herrenhauses

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Rick braucht die schöne Nell, um das Rätsel seiner Herkunft zu lösen, und sie braucht ihn, um ihr Erbe, ein Herrenhaus, zu renovieren. Doch auch, wenn beide sich näherkommen und es sinnlich knistert, fürchtet Rick: Mit seinem Bad-Boy-Image kann er niemals gut genug sein für Nell …


  • Erscheinungstag 27.07.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751522960
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Leseprobe

1. KAPITEL

Rick Bradford betrachtete das viktorianische Herrenhaus und blickte dann auf den Zettel in seiner Hand, bevor er ihn in die Tasche seiner Jeans stopfte.

„Bist du sicher, dass du das am Telefon richtig verstanden hast?“, hatte er seine Freundin Tash gefragt. „Nell Smythe-Whittaker hat gefragt, ob ich vorbeikommen kann?“

„Zum zehnten Mal, Rick, ja! Es war die Prinzessin.“

Tash war seit zwei Wochen frisch verliebt. Natürlich hatte Rick nichts gegen Mitch King. Er freute sich für seine Freundin, aber ihr gesunder Menschenverstand ließ sie seitdem im Stich … Warum hatte sie die Prinzessin nicht gefragt, worum es ging?

Weil sie die Welt durch die rosarote Brille sah. Rick verzog den Mund. Er wusste nicht, ob er noch länger das fünfte Rad am Wagen spielen konnte. Am nächsten Tag würde er die Küste hochfahren, sich irgendwo einen Job suchen und …

Doch zuerst musste er herausfinden, was Nell Smythe-Whittaker von ihm wollte. Rick atmete tief durch und versuchte, sich lässig zu geben. Die Leute, mit denen sie sich umgab, sahen auf Menschen wie ihn herab, und er wollte ihnen nicht den Eindruck vermitteln, dass ihm das etwas ausmachte.

Würde Nell auch auf ihn herabblicken? Er hatte kein Wort mehr mit ihr gewechselt, seit sie zehn Jahre alt gewesen waren. Seitdem war er ihr nur wenige Male begegnet, und sie hatten sich nur aus der Ferne zugewinkt. Es war ihm immer seltsam unwirklich erschienen, als hätte es nichts mit dem täglichen Einerlei zu tun. Rick fuhr sich übers Gesicht. Nein, er war zu alt für solchen Unsinn.

Du bist erst fünfundzwanzig.

Meistens fühlte er sich allerdings, als wäre er schon fünfzig.

Energisch stieß er die Pforte auf und ging dann unbekümmert lächelnd den Weg zu der breiten Veranda hoch. Aus der Nähe konnte er sehen, dass Nells schickes Schloss renovierungsbedürftig war, denn an den Fenstern und auch an den Wänden blätterte die Farbe ab, und der große Garten war verwildert.

An den Gerüchten war also etwas dran: Die Prinzessin durchlebte schwere Zeiten.

Rick wollte gerade an die Haustür klopfen, als er Stimmen hörte, die aus den offen stehenden Verandatüren drangen.

„So eine Gelegenheit werden Sie nicht wieder bekommen, Nell!“

Eine wütende Männerstimme. Rick hasste Tyrannen. Und er hasste Männer, die Frauen schikanierten. Er ging zu den Verandatüren.

„Sie sind ein widerlicher Schleimer, Mr. Withers.“

Unvermittelt blieb Rick stehen. Nells Stimme verriet keine Angst, nur Spott. Anscheinend wurde sie selbst mit dem Kerl fertig.

„Sie wissen, dass es die einzige Lösung für Ihre Notlage ist.“

„Ach ja? Und wahrscheinlich ist es reiner Zufall, dass Sie damit Kohle machen.“

„Keine Bank in Sydney wird Ihnen das Geld leihen, geschweige denn Ihren Geschäftsplan auch nur mit der Zange anfassen.“

„Und da Sie kein Banker sind und ich auch nicht mehr auf Ihre Professionalität vertraue, müssen Sie meine Skepsis entschuldigen.“

Rick grinste. Weiter, Prinzessin!

„Ihr Vater wird alles andere als erfreut sein.“

„Das stimmt. Und es geht Sie nichts an.“

„Sie vergeuden Ihre Talente.“ Einen Moment lang herrschte Schweigen. „Sie sind eine sehr schöne Frau. Wir beide wären ein gutes Team, Nellie.“

Nellie?

„Bleiben Sie, wo Sie sind, Mr. Withers.“

Rick war in Alarmbereitschaft.

Im nächsten Moment war ein lautes Klatschen zu vernehmen, dann Geräusche, als gäbe es ein Handgemenge. Rick sprang auf die Tür zu. Doch diese flog auf, bevor er sie erreichte, und Nell führte einen Mann in einem schimmernden Anzug im Polizeigriff zum Tor. „Guten Tag, Mr. Withers.“

Der Typ in dem Anzug straffte sich, während Rick, der den beiden gefolgt war, sich hinter Nell stellte, die Arme vor der Brust verschränkte und seinen Bizeps spielen ließ. Der Anzugträger lächelte schmierig, und Rick hätte ihm am liebsten eine verpasst … doch diese Phase lag längst hinter ihm.

„Ah, Sie haben einen Schlägertypen an Ihrer Seite. Darauf stehen Sie also?“

„Ich fürchte, Sie werden nie herausfinden, worauf ich stehe, Mr. Withers.“ Nell drehte sich um und blickte Rick mit ihren grünen Augen an. „Hallo, Mr. Bradford.“

„Hallo, Prinzessin.“ Er hatte sie nicht so nennen wollen. Es war ihm einfach herausgerutscht. Noch immer sah sie ihn an, bis ihm der Atem stockte.

„Denken Sie bloß nicht, Ihr Schlägertyp wird Ihnen aus der Patsche helfen und …“

„Halten Sie endlich den Mund, Sie furchtbarer kleiner Mann.“

Nell wandte den Blick ab, und Rick konnte wieder durchatmen. Als er sie dann zum ersten Mal richtig betrachtete, stellte er fest, dass sie einem Film aus den Fünfzigerjahren entsprungen zu sein schien. Sie trug ein Kleid mit Hawaiimuster, das oben eng anlag und nach unten weit ausgestellt war.

„Mr. Bradford ist zehnmal männlicher als Sie, und vor allem hat er Manieren.“ Im nächsten Augenblick wandte sie sich um und umfasste Ricks Arm. „Schön, dass Sie kommen konnten.“ Dann lotste sie ihn zurück zur Veranda. „Es tut mir leid, ich würde Sie ja gern durch die Haustür führen, aber ich bekomme das verdammte Ding nicht auf. Und entschuldigen Sie bitte das Chaos.“

Sie führte ihn durch die Verandatüren in einen großen Raum, vermutlich ein Lese- oder Musikzimmer. Dort herrschte kein Chaos, aber überall waren Kartons gestapelt, und auf dem einzigen Möbelstück, einem kleinen Beistelltisch, lagen Stapel von Unterlagen.

„Warum bekommen Sie die Tür nicht auf?“ Rick löste sich von ihr, um ihre Körperwärme nicht spüren zu müssen.

„Ich weiß nicht.“ Nell machte eine unbestimmte Geste. „Sie klemmt oder ist aufgequollen oder sonst was.“

Er blieb an den Verandatüren stehen, bis er hörte, wie sich das Tor hinter dem Anzugträger schloss. „Was sollte das Ganze eben?“

Wieder blitzte Zorn aus ihren grünen Augen. „Er ist Immobilienmakler und will mein Haus verkaufen, aber ich bin nicht interessiert. In mehr als nur einer Hinsicht! Er hat sich als echter Widerling erwiesen. Und falls Sie etwas Ähnliches bei mir versuchen sollten, Mr. Bradford, wird Sie dasselbe Schicksal ereilen!“

Sie war ein echter Kracher: schlank, blond und in einem Retrokleid. Fast hätte er gegrinst.

Das Funkeln in ihren Augen erlosch, und sie faltete locker die Hände. Sie war ganz anders als bei ihrer letzten Begegnung.

„Es tut mir leid, das war unverzeihlich. Ich bin wütend und kann nicht mehr klar denken.“

„Schon gut“, erwiderte Rick, weil er das immer zu den Frauen sagte.

Nell schüttelte den Kopf. „Nein, ist es nicht. Ich habe nicht das Recht, Sie mit Mr. Withers über einen Kamm zu scheren.“

In dem Moment registrierte er die feinen Linien in ihren Augenwinkeln. „Mir wäre es lieber, wenn Sie Rick zu mir sagen würden.“

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Möchten Sie einen Kaffee, Rick?“

Sofort fühlte er sich fünfzehn Jahre zurückversetzt. Komm, spiel mit mir. Es war eine Bitte gewesen.

Rick schluckte mühsam. Er wollte den Raum verlassen und nie mehr zurückkehren. Er wollte … Schnell riss er sich zusammen. „Ich dachte schon, Sie würden nie fragen.“

Nun lächelte sie richtig. „Dann kommen Sie.“ Sie führte ihn in den Flur. „Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn wir in der Küche sitzen, oder?“

„Überhaupt nicht.“ Rick versuchte, nicht ironisch zu klingen. Männer wie ihn lud man nie in den Salon ein.

Prompt verspannte Nell sich und führte ihn dann in die andere Richtung. Sie deutete auf den Raum links von der Haustür. „Wie Sie sehen, ist der Salon in keinem guten Zustand.“

Unwillkürlich ging Rick hinein. In der Mitte standen offenbar Möbel, die mit Tüchern abgedeckt waren. An einer Wand klaffte neben dem Kamin ein großes Loch. An einer anderen lehnte neben einem weiteren Stapel Kartons ein zusammengerollter Teppich. Aus dem Kamin drang ein Scharren, vielleicht von Vögeln oder einem Opossum.

Er verzog das Gesicht. „Das kann man wohl sagen.“

„Allerdings. Und deshalb bevorzuge ich momentan die Küche.“

Nun führte Nell ihn in die Küche, die seiner Meinung nach nicht viel besser aussah. In der Spüle stapelte sich Geschirr – vor allem Schüsseln und Backbleche –, an einem Ende des langen Holztischs, der mit Mehl bestäubt war, befanden sich Kartons mit Lebensmitteln. Aber es roch sehr gut.

Nachdem sie den Tisch abgewischt hatte, setzte Rick sich. Inmitten dieses ganzen Tohuwabohus bewegte sie sich so lässig, als wäre sie nichts anderes gewohnt. Das kaufte er ihr allerdings nicht ab, denn die Prinzessin war in einer Welt aufgewachsen, in der andere sauber machten und Ordnung hielten.

Der Duft von Kaffee stieg ihm in die Nase. „Also … Sie ziehen aus?“

Nell zuckte zusammen, als hätte sie vergessen, dass er da war. „Nein, ich ziehe ein.“

Seit wann hatte er einer Frau in Not widerstehen können? „Was ist los, Nell?“

Sie verschränkte die Arme und blickte ihn starr an. „Wirklich?“

Er wusste nicht, was sie damit meinte – ob sein Interesse echt war oder dass sie es unverschämt fand, dass er eine derart persönliche Frage stellte. Wieder gab er sich betont lässig. „Klar.“

Nachdem sie ihm einen Becher Kaffee hingestellt und er sich Milch und Zucker genommen hatte, setzte sie sich ihm gegenüber und schenkte sich ebenfalls Milch ein. Die perfekte Gastgeberin. Die perfekte Prinzessin.

„Es tut mir leid, ich war gerade etwas perplex, weil normalerweise jeder über mich Bescheid weiß.“

„Ich bin erst seit vierzehn Tagen wieder hier in der Stadt.“ Und sie beide kamen aus völlig verschiedenen Welten, auch wenn sie im selben Vorort aufgewachsen waren. „Aber ich habe gehört, dass Ihr Vater gerade eine schwere Zeit durchmacht.“

Nell presste die Lippen zusammen. „Und dabei fast die Lebensgrundlage von über hundert Menschen zerstört hätte.“

Meinte sie damit die Arbeiter in der Glasfabrik? Diese befand sich seit drei Generationen im Besitz der Familie Smythe-Whittaker. Tash hatte ihm erzählt, wie sehr damals alle gefürchtet hatten, dass die Firma Konkurs machen könnte. „Ich habe gehört, dass jemand die Fabrik in letzter Minute gekauft hat.“

„Ja. Doch das war nicht meinem Vater zu verdanken. Er hatte so lange die Augen vor den Tatsachen verschlossen, dass er mit dem Verkaufserlös nicht seine gesamten Schulden begleichen konnte. Ich musste das Geld aus meinem Treuhandfonds investieren.“

Autsch!

„Aber ich habe den Verkauf von Whittaker House verhindert.“

Ihre Großmutter hatte das Haus ihr vererbt? Interessant. „Aber Sie haben ihm Ihr Geld gegeben?“

Nell stützte die Ellbogen auf den Tisch und blickte starr in ihren Becher. „Nicht alles. Ich hatte schon einiges in die Gründung meiner eigenen Firma investiert. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass es mein Geld ist, Rick. Und da ich nie die Tochter war, die mein Vater sich gewünscht hatte, war es das Mindeste, was ich tun konnte.“

„Aber Sie sind immer noch wütend auf ihn.“

Nun lachte sie. „Stimmt. Da alle Bescheid wissen, erzähle ich es auch Ihnen. Zuerst wollte er mich mit Jeremy Delaney verheiraten.“

Entgeistert blickte Rick sie an. „Es ist doch ein offenes Geheimnis, dass …“

„Dass er schwul ist?“ Sie nickte. „Wahrscheinlich hat er sich noch nicht geoutet, um seinen Vater nicht zu schockieren.“

„Und Sie haben sich geweigert, ihn zu heiraten?“

„Natürlich. Deshalb hat mein Vater von mir verlangt, dieses Haus zu verkaufen.“

„Auch da haben Sie sich geweigert?“

Energisch hob Nell das Kinn. „Wie alle wissen, habe ich ihm mein schickes Apartment in der City, meinen Sportwagen und das restliche Geld aus meinem Treuhandfonds überschrieben. Doch dieses Haus veräußere ich nicht.“ Ihre grünen Augen blitzten.

„Wenn Sie aber keinen Cent mehr übrig haben, wie wollen Sie hier die laufenden Kosten decken, Nell?“

Das Feuer in ihren Augen erlosch, und sie verzog unmerklich den Mund. Und dann beobachtete er erstaunt, wie sie sich zusammenriss. „Mit Cupcakes“, erwiderte sie.

„Mit Cupcakes?“ War sie völlig übergeschnappt?

Nun stand sie auf und nahm einen Teller aus dem Schrank, bevor sie den Deckel von einer Dose auf dem Tisch nahm. „Erdbeer-Sahne, Passionsfrucht, Limonensorbet und Toffeecrunch.“ Sie tat vier erstaunliche Kreationen auf den Teller und stellte ihm diesen hin.

Verblüfft betrachtete Rick die schönsten Cupcakes, die er je gesehen hatte.

„Ich backe alles, was die Kunden wünschen, jede Geschmacksrichtung und mit jedem erdenklichen Zuckerguss. Ich liefere Cupcakes für Geburtstagsfeiern, offizielle Anlässe und für jede Mahlzeit. Ich verpacke sie sogar als Geschenk.“

Entgeistert ließ er den Blick zu dem Berg in der Spüle schweifen. „Die haben Sie gebacken?“

Nell wirkte nicht im Mindesten gekränkt, sondern strahlte ihn an. „Allerdings.“

Die Prinzessin konnte backen?

Sie reichte ihm einen kleinen Teller und eine Serviette. „Bedienen Sie sich.“

Meinte sie das ernst? Doch dann dachte Rick nicht weiter darüber nach, sondern nahm sich eine Kreation mit hellgelbem Zuckerguss, die mit einem Stück Zitronenscheibe garniert war. Bevor er hineinbiss, bot er sie allerdings erst Nell an.

Sie blickte auf die Uhr und schüttelte dann den Kopf. „Ich darf erst nach drei welche essen, und es ist jetzt kurz nach zwei.“

„Die Regel erscheint mir ziemlich albern.“

„Die Dinger machen süchtig, und meiner Figur und meiner Gesundheit zuliebe muss ich mir Grenzen setzen.“

Er lachte, bevor er ein Stück abbiss. Der Teig war saftig und schmeckte süß und sauer zugleich. Genüsslich schloss Rick die Augen und versuchte, sich den Geschmack einzuprägen. Im Gefängnis hatte er gelegentlich versucht, das Entsetzen auszublenden, indem er sich irgendeinen Sinneseindruck aus der Außenwelt ins Gedächtnis zu rufen versuchte. Hätte er den Geschmack vorher gekannt, hätte dieser auf jeden Fall dazugehört.

Rick betrachtete die verbliebenen drei Cupcakes so verlangend, dass etwas in Nell sich zusammenkrampfte. Es war eine Sache, sich selbst zu bemitleiden, weil sie sich in dieser Situation befand, aber anders als er hatte sie die Welt nie als hässlichen, bedrohlichen Ort erfahren. Und du tust gut daran, es nicht zu vergessen.

Nell schluckte. „Sie können alle essen.“ Sie schob ihm den Teller weiter hin. „Das sind Reste von den Bestellungen, die ich heute ausgeliefert habe.“

Als er sie ansah und sie seinen unsicheren Blick bemerkte, verspürte sie einen schmerzhaften Stich. In dem engen schwarzen Shirt verkörperte er perfekt das Image des Bad Boy, aber es war genauso künstlich wie ihr kultiviertes Lächeln. Trotzdem … Beim Anblick seiner breiten Schultern wurde ihr heiß.

Dann riss sie sich jedoch zusammen. Sie fand diesen Look nicht attraktiv.

Rick schob den Teller weg, und aus irgendeinem Grund wurde ihr das Herz dabei ganz schwer.

„Wie … wann haben Sie backen gelernt?“

Darüber wollte sie nicht reden. Wenn sie die Dinge, die sie gut konnte – Kochen, Backen und Gärtnern – und die Gründe dafür zu eingehend betrachtete, erschien es ihr zu pathetisch.

Und sie wollte nicht mehr pathetisch sein. Also setzte sie ihr schönstes kultiviertes Lächeln auf. „Anscheinend habe ich eine natürliche Begabung dafür.“ Elegant zuckte sie die Schultern – auch das hatte sie bis zur Perfektion einstudiert, bis ihre Mutter nichts mehr daran auszusetzen gehabt hatte. „Ich bin darüber genauso überrascht.“

Starr betrachtete Rick sie. „Wann haben Sie heute mit Backen angefangen?“

„Um drei Uhr morgens.“ Als er sie völlig entgeistert ansah, fuhr sie fort: „Heute ist Sonntag, und am Wochenende habe ich immer am meisten zu tun. Heute musste ich einen mehrstöckigen Kuchen für die Geburtstagsfeier eines kleinen Mädchens backen, fünfzig Cupcakes für eine Wohltätigkeitsveranstaltung und weitere für einen Junggesellinnenabschied und mehrere Kaffeegesellschaften.“

„Und das haben Sie alles allein gemacht?“ Er blickte sich in der Küche um. „Ich schätze, dann müssen Sie den Rest der Woche hier herumwirbeln.“

Er war genauso wie alle anderen, denn er hielt sie für ein hilfloses Weibchen ohne Rückgrat, ohne Hirn und vermutlich auch ohne Moralvorstellungen. Du bist zu nichts zu gebrauchen.

Nell straffte sich. „Ich schätze, ich muss nur einen großen, starken Mann suchen, der handwerklich geschickt ist und vorzugsweise ein dickes Konto hat und den ich um den Finger wickeln kann …“ Sie verstummte und zuckte wieder die Schultern.

Seine Augen funkelten. „Und dann müssen Sie nie wieder einen Cupcake backen?“

„Ich backe gern.“

Rick runzelte die Stirn. „Wollten Sie mich deshalb sehen?“

Nell lachte. „Muskeln haben Sie anscheinend, aber sind Sie auch handwerklich geschickt? Ich bin es nämlich nicht.“ Dann unterdrückte sie ein Seufzen. „Aber nein, deshalb habe ich Sie nicht hergebeten.“

Prompt verhärteten sich seine Züge. „Und warum dann? Wenn Sie wussten, dass ich bei Tash bin, hätten Sie genauso gut vorbeikommen können.“

Offenbar glaubte er, sie hielt sich für etwas Besseres. Nell befeuchtete sich die Lippen. „Ich dachte, ich wäre dort nicht willkommen. Ich glaube, Tash hält nicht besonders viel von mir.“

Nun machte er eine finstere Miene. „Und warum, in aller Welt …?“

„Ich war vor einer Weile im Royal Oak.“ Das war das Hotel, in dem Tash arbeitete. Sie hatte sich einsam gefühlt und Kontakt zu den Leuten knüpfen wollen, mit denen sie früher keinen Umgang haben durfte. „Ich habe ein Bier bestellt. Tash hat mir Zitronensprudel gebracht und mir zu verstehen gegeben, dass ich am besten schnell austrinke und wieder gehe.“

„Das haben Sie dann so gedeutet, dass sie Sie nicht mag?“

Sie hatte keine Begabung dafür, Freundschaften zu schließen. „Ja, das habe ich.“

„Prinzessin, ich …“

„Bitte nennen Sie mich nicht so. Nell wäre wir viel lieber.“ Sie war nie eine Prinzessin gewesen. „Tash hat nun mal absolut keinen Grund, mich zu mögen.“ Kein Wunder, dass die Kinder im Ort sie nicht hatten leiden können, denn ihre Eltern hatten dafür gesorgt, dass sie keinen Kontakt zu ihnen hatte. Da Rick so wirkte, als wollte er widersprechen, fuhr Nell sachlich fort: „Erinnern Sie sich noch an den Gärtner, der hier so viele Jahre tätig war?“

Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. „War das der, der mich damals weggejagt hat?“

Nell wusste nicht, warum sie sich noch so gut an jenen Tag erinnerte. Komm und spiel mit mir. Sie hatte die Hand durch den hohen schmiedeeisernen Zaun geschoben, und Rick hatte sie kurz ergriffen, bevor John ihn weggejagt hatte. Die Einsamkeit, die sie in seinen Augen erkannt hatte, hatte ihr den Mut verliehen, ihn überhaupt anzusprechen. Obwohl er sie nur noch zweimal besucht hatte, hatte sie sich danach nicht mehr so allein gefühlt.

Er erinnerte sich auch noch an jenen Tag? Ihr Herz begann, schneller zu pochen. „Ja, das war er.“

„John Cox. Er hat immer im Crown and Anchor getrunken, wenn ich mich richtig erinnere. Warum? Was ist mit ihm?“

„Kannten Sie ihn gut?“

„Ich weiß nicht, ob ich überhaupt je ein Wort mit ihm gewechselt habe.“

Nell schluckte. „Er ist vor acht Monaten an Lungenkrebs gestorben.“

Rick schwieg, doch sie merkte ihm seine Anspannung an.

„John und ich waren … Freunde, schätze ich. Ich habe mich sehr fürs Gärtnern interessiert, und er hat mir einiges beigebracht.“ Sie strich sich das Haar zurück. „John hat sehr zurückgezogen gelebt. Deshalb gehörte ich zu den wenigen Menschen, die ihn in seinen letzten Wochen besucht haben.“

Offenbar wollte er etwas sagen, überlegte es sich dann allerdings anders. Sie atmete tief durch. Sie hatte geweint, als John gestorben war. Er war nett zu ihr gewesen und hatte sich Zeit für sie genommen.

„Nell?“

Schnell verdrängte sie die Erinnerung an jene letzten Tage in Johns Zimmer im Hospiz. „John hat mich um einen letzten Gefallen gebeten.“

„Was für einen Gefallen?“

„Ich sollte einen Brief übergeben.“

Starr blickte Rick sie an. Seine dunkelbraunen Augen hatten dieselbe Farbe wie Bitterschokolade.

„Ich sollte ihn Ihnen überreichen, Rick.“

„Mir?“

Nell stand auf und ging zu der Schublade, in der sie alle wichtigen Dokumente aufbewahrte. Dann nahm sie den Brief heraus und hielt ihn ihm hin.

2. KAPITEL

Sein Instinkt riet ihm, wegzulaufen und diese verdammte Stadt zu verlassen und niemals zurückzukehren.

Ihre Hand begann zu zittern. „Wollen Sie ihn nicht nehmen?“ Nell setzte sich wieder.

„Ich weiß nicht. Ich habe keine Ahnung, was dieser John Cox mir mitzuteilen hätte.“ Ob sie wusste, was in dem Brief stand? Lässig lehnte Rick sich zurück und grinste. „Wirft er mir vielleicht vor, dass ich das Familiensilber gestohlen habe?“ Er beobachtete, wie sie zusammenzuckte. „Schließlich habe ich seine Erwartungen oder die Ihres Vaters nicht enttäuscht.“

Ihre unglaublichen grünen Augen funkelten jetzt wütend, und er fragte sich, was sie als Nächstes tun würde. Ihn ebenfalls hinauswerfen? Und falls ja, würde er es zulassen? Oder würde er sie küssen? Rick veränderte seine Position. Er würde die Prinzessin nicht küssen.

„Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt“, sagte Nell scharf, „sind Sie wegen Drogenkonsums und nicht wegen Diebstahls ins Gefängnis gekommen. Und falls an den Gerüchten etwas dran ist, sind Sie gerade im Begriff, rehabilitiert zu werden.“

Glaubte sie etwa, das würde ihn für fünfzehn Monate Haft entschädigen?

Eine bleierne Schwere bemächtigte sich seiner. Nur eine verdammte Party …

Mit siebzehn hatte Cheryl nicht gewusst, was sie tat. Sie hatte Marihuana geraucht, ohne zu ahnen, in welche Schwierigkeiten sie sich – sie alle – bringen konnte. Er hatte verstanden, dass sie vor ihrem gewalttätigen Vater fliehen wollte. Sein Herz krampfte sich zusammen. Die kleine Cheryl, die er gekannt hatte, seit sie in den Kindergarten gekommen war. Die er vergeblich zu beschützen und später zu trösten versucht hatte. Es war nicht ihre Schuld gewesen.

Als die Polizei auftauchte, hatte er deshalb die Schuld auf sich genommen. So war er mit achtzehn Jahren für fünfzehn Monate ins Gefängnis gegangen. Doch letztendlich hatte es nichts bewirkt, und das machte ihm am meisten zu schaffen.

Nell hob das Kinn. „Also, hören Sie auf, mir gegenüber den Kriminellen zu spielen.“

Ihre Worte ließen Rick in die Gegenwart zurückkehren.

„Was John Ihnen zu sagen hat, erfahren Sie nur, wenn Sie den Brief öffnen.“

Autor

Michelle Douglas

Das Erfinden von Geschichten war schon immer eine Leidenschaft von Michelle Douglas. Obwohl sie in ihrer Heimat Australien bereits mit acht Jahren das erste Mal die Enttäuschung eines abgelehnten Manuskripts verkraften musste, hörte sie nie auf, daran zu arbeiten, Schriftstellerin zu werden.

Ihr Literaturstudium war der erste Schritt dahin, der...

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