Der Milliardär und die betörende Diebin

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Die junge Wissenschaftlerin Evie muss im Auftrag der Krone nach Shanghai reisen und dort ein sagenumwobenes Artefakt ersteigern. Dumm nur, dass sie dazu die Notizen ihres verstorbenen Professors braucht – und dessen Sohn Mateo sich weigert, diese herauszugeben. Was jetzt? In letzter Not bricht sie in das Schlafzimmer des faszinierenden Milliardärs ein – ein gewagtes Vorhaben mit überraschend erregendem Effekt. Denn ausgerechnet Mateo weckt plötzlich ein Verlangen in ihr wie kein Mann zuvor …


  • Erscheinungstag 02.04.2024
  • Bandnummer 2642
  • ISBN / Artikelnummer 9783751524629
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Es war für viele eine Überraschung, dass Evie Edwards den Raum, der ihr für ihre Vorlesungen zugewiesen worden war, nicht hasste. Man erreichte ihn über die Hintertreppe des kleinsten Gebäudes auf dem Campus der Londoner Universität. Am Ende eines Korridors mit flackernden Lichtern befand sich eine Tür, die aussah, als würde sie zu einem Lagerraum führen, und die kühne Bezeichnung Vorlesungssaal vier trug.

Obwohl offiziell ein Vorlesungssaal, verströmte er nicht das geringste akademische Ambiente. Weder die Reihen schwarzer, im Halbkreis angeordneter Plastikstühle noch das große Flipchart, das eher an einen Konferenzraum erinnerte. Und auch Evie selbst sah nicht gerade aus, wie man sich eine Dozentin für Archäologie an der University of East London vorstellte.

Mit ihren fünfundzwanzig Jahren wurde sie eher für eine Doktorandin oder Lehrassistentin gehalten, was Evie irgendwie nachvollziehen konnte. Sie war schon immer anders gewesen. Mit sechzehn hatte sie Abitur gemacht, mit neunzehn ihr Studium abgeschlossen und direkt mit der Promotion begonnen. Mit einundzwanzig hatte sie den Doktortitel erhalten.

Mit ihrem IQ von über einhundertsechzig eckte Evie ständig an. Entweder wurde sie den hohen Erwartungen nicht gerecht oder sie verwirrte diejenigen, die geringere Erwartungen hatten. Ihre Adoptiveltern Carol und Alan tendierten eher zur ersten Option, die meisten anderen eher zur zweiten.

Es spielt keine Rolle, was sie am Anfang denken. Nur was sie am Ende denken, zählt.

Professor Marins Worte spukten ihr durch den Kopf, und die Trauer über seinen Verlust wallte kurz wieder auf, als eine Gruppe milchgesichtiger Studenten den Raum betrat. Evie verdrängte das Gefühl sofort in den hintersten Winkel ihres Herzens, denn die erste Vorlesung des Semesters war entscheidend, um die Aufmerksamkeit der neuen Bachelor-Studenten zu gewinnen. Sie positionierte sich in der Mitte des Raums und nahm die vertraute Mischung aus Vorfreude, Aufregung und einer gewissen Beklemmung wahr, die alle Studenten an ihrem ersten Tag verströmten. Sie zählte die Köpfe und wartete noch ein paar Minuten, denn sie wusste, dass viele Studenten zu spät kommen würden, weil sie Schwierigkeiten hatten, den Vorlesungssaal vier überhaupt zu finden.

„Guten Morgen“, sagte sie mit fröhlicher, selbstbewusster Stimme, nachdem sich die Tür hinter den letzten Nachzüglern geschlossen hatte. „Herzlich willkommen im Bachelor-Studium für Archäologie.“ Evie ließ den Blick über die Gesichter der Studenten schweifen, die nun ein wenig aufrechter saßen, die Augen etwas weiter geöffnet, nachdem sie begriffen hatte, dass sie die Professorin war. „Archäologie ist die Erforschung der Vergangenheit, doch durch die Untersuchung der materiellen Überreste können wir auch verstehen, was es bedeutet, menschlich zu sein. In Ihrem ersten Jahr werden die Module folgende Themen behandeln …“

Evie hielt sich an die einstudierte Begrüßung, und die vertraute Struktur des Vorlesungsprogramms hatte etwas Tröstliches. Hier kannte sie sich aus, hier fühlte sie sich zu Hause, auch wenn eine leichte Enttäuschung ihre Stimmung trübte.

Sie ignorierte, dass sich die Tür zum Vorlesungssaal öffnete und schloss, als sie zum Ende kam, und ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Vielleicht war es der Dekan, der ihr mitteilen wollte, dass ihr Antrag auf eine Konferenz abgelehnt worden war. Erneut. Sie hatte den ganzen Sommer daran gefeilt, und er war perfekt, doch der Dekan hatte Angst, dass ihr Ruf, den sie sich in ihrer erst vierjährigen Karriere bereits erworben hatte, auf ihn abfärben könnte. Nicht nur wegen ihres Alters und ihres Geschlechts, sondern vor allem durch ihre Zusammenarbeit mit Professor Marin und das gemeinsame Forschungsgebiet. Dennoch wollte sie die Zeit mit dem Professor um keinen Preis missen.

Als die Studenten an ihr vorbeigingen und den Raum verließen, sammelte Evie ihre Vorlesungsunterlagen und wappnete sich innerlich für die penetrante Unterwürfigkeit ihres Vorgesetzten. Doch als sie sich umdrehte, war sie so schockiert, dass sie beinahe alles fallen ließ, was sie in den Händen hielt. Statt des rotgesichtigen, verschwitzten Gesichts des Dekans der UEL stand eine wunderschöne blonde Frau vor ihr.

„Eure Majestät“, stellte Evie etwas einfältig fest und verbeugte sich unbeholfen.

Als sie sich wieder aufrichtete, nahm sie einige schemenhafte Gestalten am Rand des kleinen Vorlesungssaals wahr.

„Professor Edwards“, sagte die Königin mit einem perfekten Lächeln. „Es ist schön, endlich Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Evie nickte, als hätten sie eine Verabredung gehabt, obwohl dem definitiv nicht so war. Das Erscheinen der Herrscherin des kleinen europäischen Königreichs war genauso schockierend, als wäre Kleopatra plötzlich den Seiten eines Geschichtsbuchs entstiegen.

Königin Sofia von Iondorra deutete auf die vorderste Reihe der Sitze und wartete, bis Evie Platz genommen hatte, bevor sie sich neben sie setzte.

„Hier also bringt man eine angesehene Professorin unter, deren Doktorarbeit sich mit der iondorranischen Geschichte des 18. Jahrhunderts beschäftigt?“, fragte sie und sah sich kritisch um.

Aus Sorge, die Königin könnte dies als Beleidigung gegenüber Iondorra auffassen, beeilte Evie sich, ihr zu versichern, dass sie gern in diesem Raum unterrichtete. Doch eine behandschuhte Hand winkte ab.

„Es tut mir sehr leid, dass Professor Marin von uns gegangen ist“, sagte Königin Sofia. „Ich weiß, wir konnten seine Theorien offiziell nicht anerkennen, aber sie waren von großem Interesse für meine Familie.“

Evie senkte den Blick, wie immer unsicher, ob es ihr zustand, Beileidsbekundungen anzunehmen, als wäre sie ein Familienmitglied. Tatsächlich war er für sie wie ein Vater gewesen. Der Professor hatte sie verstanden, sie akzeptiert, wie es nicht einmal Carol und Alan getan hatten. Aber jedes Mal, wenn ihr jemand sein Beileid aussprach, musste sie an die bedrohliche Gestalt des Sohns denken, der sich am Rande des Friedhofs herumgedrückt hatte, auf dem Professor Marin beerdigt worden war. Der Sohn, der in den drei Jahren vor dessen Tod kein Wort mit seinem Vater gesprochen hatte. Doch bevor der vertraute Groll in ihr aufsteigen konnte, lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Königin.

„Professor Edwards, ich möchte mit Ihnen über eine sehr sensible Angelegenheit sprechen. Eine Angelegenheit, die, wie ich fürchte, höchste Geheimhaltung und Diskretion erfordert. Deshalb möchte ich Sie bitten, eine Vertraulichkeitsvereinbarung zu unterschreiben, bevor ich Ihnen erkläre, worum es geht.“

Königin Sofia streckte ihre Hand aus, und ein Mann trat aus dem Schatten, um ihr einen Stapel Papiere und einen Stift zu reichen.

„Ich persönlich verabscheue derartige Dinge, und ich verstehe, wenn es Ihnen auch so geht …“, begann sie.

„Kein Problem. Ich unterschreibe die Vertraulichkeitsvereinbarung gern“, unterbrach Evie sie.

Evie bemerkte nicht, dass die Wangen des Assistenten sich rot färbten, weil sie die Königin von Iondorra versehentlich unterbrochen hatte, sondern beugte sich über das Dokument und unterschrieb. Evie wusste zwar nicht, was vor sich ging, doch die Frau, die einst traurige Berühmtheit als Witwen-Prinzessin erlangt hatte, bevor sie mit einem griechischen Milliardär die wahre Liebe gefunden hatte, machte ein sorgenvolles Gesicht. Nach ihrer Hochzeit mit Theo Tersi hatte ihr Vater König Frederick abgedankt und Prinzessin Sofia hatte den Thron bestiegen.

Der Assistent der Königin nahm das Dokument wieder an sich, setzte ebenfalls seine Unterschrift darunter und überreichte der Königin etwas, das wie eine gebundene Dissertation aussah. Stirnrunzelnd betrachtete Evie das königliche Wappen, das in die dicke, rote Pappe geprägt war.

„Ich fürchte, wir haben nicht viel Zeit“, erklärte Königin Sofia, „deshalb komme ich gleich zur Sache. In drei Tagen findet in Schanghai eine Auktion statt, bei der ein Gegenstand angeboten wird, der angeblich einst der Piratin Loriella Desaparecer gehört haben soll.“

Evie starrte die Königin an. „Loriella?“

Zusammen mit Gráinne Mhaol, Mary Read und Ann Bonny war Loriella Desaparecer eine der bekanntesten Piratinnen des 18. Jahrhunderts.

„Ja“, bestätigte Königin Sofia. „Mein Vater … Er …“ Evie wartete, während sich die Königin sammelte, und nahm einen emotionalen Aufruhr wahr, wie ihn vermutlich selten jemand zu sehen bekam. „Es ist noch nicht öffentlich bekannt, aber mein Vater leidet seit einiger Zeit an einer frühen Form von Demenz. Größtenteils haben wir es im Griff. Die Geburt unserer Tochter vor fünf Jahren hat ihm gutgetan, doch … irgendetwas an diesem Auktionsgegenstand hat ihn nachhaltig fasziniert. Er will ihn unbedingt haben.“

„Was interessiert ihn so sehr daran?“, konnte Evie nicht umhin zu fragen.

„Mein Vater ist überzeugt, dass es sich um den Oktanten handelt, den Prinzessin Isabella vor ihrer Reise von der englischen Krone geschenkt bekommen hat.“

Evie horchte auf. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf, Schlussfolgerungen wurden erwogen und wieder verworfen. Während ein Teil ihres Gehirns sich damit beschäftigte, was sie über die Navigationsgeräte aus dem 18. Jahrhundert wusste, die nur wenige Jahre vor Isabellas Aufbruch nach Indonesien erfunden worden waren, beschäftigte sich ein anderer Teil mit Isabellas Lebensgeschichte. Jahrelang hatte Professor Marin zu der Theorie geforscht, dass die iondorranische Prinzessin des 18. Jahrhunderts nicht, wie angenommen, auf der Seereise zu ihrem niederländischen Verlobten in Indonesien umgekommen war, sondern in Wirklichkeit eine der berüchtigtsten Piratinnen jener turbulenten Zeit geworden war. Und Evie hatte ihm dabei geholfen. Sie hatten in der ganzen Welt recherchiert und nach Quellen gesucht, um der Geschichte der Piratenprinzessin auf die Spur zu kommen.

Mit der Zeit waren sie zum Gespött der akademischen Welt geworden, was noch dadurch verschlimmert wurde, dass Iondorra sich von ihnen distanzierte. Evie konnte es ihnen nicht einmal verübeln, dass sie lachten, denn die Geschichte klang tatsächlich hanebüchen. Doch sie hatte an Professor Marin geglaubt, und an die Ergebnisse ihrer Nachforschungen. Alles, was fehlte, waren konkrete Beweise. Doch wenn die Königin hier war und die Auktion des Oktanten so ernst nahm …

„Aus offensichtlichen Gründen können wir ihn nicht selbst ersteigern. Daher möchten wir, dass Sie an der Auktion in Schanghai teilnehmen, und wenn Sie der Meinung sind, dass der Gegenstand authentisch und identifizierbar ist, möchten wir, dass Sie ihn erwerben. Der Dekan der Universität wurde darüber informiert, dass ich Ihre Dienste benötige, und hat Sie freigestellt. Wir werden selbstverständlich alle anfallenden Kosten übernehmen.“

Evie schwirrte der Kopf. Sie konnte sich den Anordnungen der Königin schwerlich widersetzen, doch die Rückkehr zu dem Forschungsprojekt, das sie und Professor Marin zum Gespött gemacht hatte, könnte das Ende ihrer Karriere bedeuten.

„Allerdings muss ich Sie warnen. Selbst wenn Sie eine Verbindung zwischen Isabella und Loriella finden sollten, wird Iondorra dies nicht anerkennen können. Wir müssen bald den Gesundheitszustand meines Vaters publik machen. Gerüchte über Piratenprinzessinnen wären in dieser Situation …“

„Verheerend“, beendete Evie den Satz. „Ich verstehe.“ Vermutlich besser als jeder andere, da sie wusste, wie sehr es bereits ihrem Ruf und ihrer Karriere geschadet hatte. Evie schaute sich in dem kleinen Hörsaal um. Seit dem Tod von Professor Marin vor zwei Jahren kannte sie nichts anderes. Keine Feldarbeit, keine Forschung. Dem goldenen Käfig ihrer Lehrtätigkeit hier an der Uni zu entfliehen, war verlockend. Allerdings repräsentierte die Königin auch den Palast, der sich geweigert hatte, irgendeine von Professor Marins Theorien zu bestätigen oder ihm Zugang zu Gegenständen und Artefakten zu gewähren, die ihm geholfen hätten.

Doch hinter all der Grazie und der königlichen Haltung sah Evie eine trauernde Tochter, deren Vater vor ihren Augen verschwand. Eine Tochter, die ihrem Vater helfen wollte, Frieden zu finden … die Wahrheit zu finden.

„Es ist wichtig für Ihren Vater?“

„Ich habe ihn noch nie so besessen von etwas erlebt“, gestand die Königin, und Tränen glänzten in ihren Augen – die Tränen eines Kindes, das um seinen Vater weint.

„Es ist nicht immer wichtig, dass die Welt unsere Geschichte kennt. Manchmal reicht es aus, wenn nur einer es weiß“, zitierte Evie.

„Professor Marin?“, fragte Königin Sofia mit einem sanften Lächeln.

Evie fragte sich, wer am stärksten betroffen wäre, falls sich herausstellte, dass das Auktionsstück tatsächlich Prinzessin Isabella gehört hatte.

„Ich würde gern nach Schanghai fahren“, erklärte Evie.

Die Erleichterung auf dem angespannten Gesicht der Königin war nur von kurzer Dauer, aber Evie genügte es, um zu wissen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Und wenn sich herausstellte, dass das Auktionsstück sowohl der Piratin Loriella als auch Prinzessin Isabella gehört hatte, konnte sie vielleicht sogar beweisen, dass Professor Marin die ganze Zeit über recht gehabt hatte. Nicht sofort, wie Königin Sofia es deutlich zum Ausdruck gebracht hatte, doch vielleicht irgendwann. Das musste genügen. „Aber bevor ich nach Schanghai reise, muss ich nach Spanien“, fügte Evie hinzu.

„‚Spanien‘?“, fragte die Königin.

„Ich brauche etwas, das mir bei der Authentifizierung des Oktanten helfen kann“, erklärte Evie und dachte an Professor Marins altes Notizbuch. Vor ihrem geistigen Auge sah sie einen dunklen Schatten, der sich auf dem Friedhof von ihr entfernte.

„Alles Gute zum Geburtstag!“

Mateo Marin hielt das Handy vom Ohr weg, als die schrille Stimme seiner Mutter in Rauschen überging. Dann drückte er die Lautsprechertaste und legte das Telefon auf seinen Schreibtisch.

Er griff nach der Präsentation für das erste Meeting am Nachmittag, nahm einen Schluck Kaffee und hätte die lauwarme Flüssigkeit beinahe wieder ausgespuckt. Angewidert verzog er das Gesicht und starrte wütend auf das Telefon, als seine Mutter fragte, wie er seinen Geburtstag feierte.

„Henri kommt auf einen Drink vorbei.“

„Mateo! Das ist alles? Wie willst du je eine Frau kennenlernen, wenn du immer nur rumsitzt und mit diesem Jungen Whisky trinkst?“

Mateo hatte nicht vor, seiner Mutter zu sagen, dass er sehr wohl Frauen traf – nur keine, mit der er mehr als ein paar Abende verbrachte. Er wollte keine falschen Erwartungen wecken.

„Henri ist kein Junge mehr“, widersprach Mateo stattdessen.

„Für mich werdet ihr immer Jungs sein, Mateo“, erwiderte seine Mutter. „Doch genug davon. Es wird Zeit, dass du heiratest. Wann wirst du mich endlich glücklich machen?“

Mateo hielt inne, in seiner Faust der zerknüllte Pappbecher, den er gerade in den Papierkorb hatte werfen wollen.

„Genüge ich dir nicht, um dich glücklich zu machen?“, konterte er, und der Spott in seiner Stimme überspielte die Bitterkeit seiner Frage.

„Natürlich tust du das, mi hijo.“ Die sanften Worte seiner Mutter erreichten ihn kaum, während sein Blick in die Ferne schweifte.

Sie redete immer noch, aber alles, was er hörte, alles, was er sah, war, wie sie nach ihrer Rückkehr aus England in der Küche saß und bitterlich weinte. Damals war er zehn Jahre alt gewesen und hatte nichts tun können, um ihr zu helfen. Über die Jahre hatte er nie aufgehört zu versuchen, seine Mutter glücklich zu machen. Aber heiraten? Nein. Er wischte den Gedanken beiseite. Niemals.

„Mateo? Bleibt es dabei, dass du am Freitag zum Abendessen kommst?“

„Natürlich, mamá“, antwortete er und warf den Pappbecher in den Müll, wobei ein Kaffeespritzer auf den Unterlagen landete. „Aber ich muss jetzt zu einem Meeting.“

„Mateo, bist du etwa bei der Arbeit? An deinem Geburtstag?“

Mamá, es ist ein Wochentag, wo sollte ich sonst sein?“

„Auf der Suche nach einer Frau, die mir eines Tages Enkelkinder schenken wird.“

„Mach’s gut, mamá“, sagte er und legte auf, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnte.

Mateo warf einen Blick in den Kalender auf seinem Computer und betrachtete die Termine, die seinen Nachmittag füllen würden, eher mit Befriedigung als mit Widerwillen. Er sorgte bewusst dafür, dass seine Geburtstage stets mit Terminen vollgepackt waren. Schließlich war es nur ein weiterer Tag im Jahr.

Sein Handy klingelte erneut, und er drückte die Taste auf dem Display, ohne auf die Nummer des Anrufers zu achten.

Mamá, wenn es dir so wichtig ist, gehe ich auf die Straße, schnappe mir die erste Frau, die ich treffe, und mache so viele Enkelkinder, wie du brauchst.“

„Nun, das ist ein ziemlich beunruhigender Gedanke“, sagte eine männliche Stimme, die ganz sicher nicht Mateos Mutter gehörte.

Cristo, Henri!“

„Was? Du hast angefangen.“

„Ich habe nicht gesehen, wer anruft.“

„Nicht meine Schuld, mon ami. Ich wollte nur sichergehen, dass du heute Abend Zeit hast. Wann glaubst du, wirst du zu Hause sein?“

„Jetzt klingst du doch wie meine Mutter“, brummte Mateo.

„Und du klingst wie ein Kind. Du bist immer so launisch an deinem Geburtstag“, beklagte sich Henri.

Das wärst du auch, wenn der Tag für dich nur mit negativen Erinnerungen behaftet wäre.

Mateo verkniff sich die Bemerkung und schaute auf die Uhr. „Du weißt warum, also hör auf zu jammern. Ich bin um sieben zurück. Du, ich, eine Flasche Whisky und ein Kartenspiel. Perfecto“, sagte er, bevor er auflegte. Ihm blieben noch fünf Minuten, bis …

Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken, und ehe er antworten konnte, kam die Aushilfe herein, die seine tadellose, aber im Augenblick grippegeschwächte Assistentin vertrat, und blinzelte ihn eingeschüchtert an. Mateo unterdrückte ein Stöhnen. Er füllte seinen Geburtstag gern mit so viel Arbeit wie möglich, um sich abzulenken, aber selbst für einen Workaholic wie ihn war heute ein anstrengender Tag.

„Ja, bitte?“, fragte Mateo.

„Draußen wartet eine Frau. Sie ist schon seit einiger Zeit hier“, antwortete der junge Mann und knetete seine Hände.

„Wie heißt sie? Und wie lange genau wartet sie schon?“, wollte er wissen.

„Sie sagt, ihr Name sei Edwards, und sie wartet bereits seit einer Stunde.“

„‚Seit einer Stunde‘?“ Mateo stöhnte. Er hatte dem jungen Assistenten eine Chance geben wollen, aber dieser war mit seinen Aufgaben eindeutig überfordert. „Ich habe jetzt zwei Meetings, die den ganzen Nachmittag dauern. Will sie nicht an einem anderen Tag wiederkommen?“, fragte er leicht hoffnungsvoll.

„Sie sagt, sie kann nicht, weil sie morgen nach Schanghai abreisen muss.“

Mateo warf einen Blick auf seinen Terminkalender. „Sagen Sie ihr, dass ich versuchen werde, sie dazwischenzuschieben, aber ich kann nichts versprechen.“

An jedem anderen Tag des Jahres hatte er Spielraum in seinem Terminkalender, aber nicht heute.

„Hat sie gesagt, worum es geht?“, fragte er, als der junge Assistent sich zum Gehen wandte.

Die Aushilfe schüttelte den Kopf. „Nur, dass es persönlich ist.“

Mateo runzelte die Stirn. Er achtete sehr darauf, Privatleben und Büro strikt zu trennen. Edwards. Der Name kam ihm bekannt vor, aber er konnte ihn nicht zuordnen.

Er entließ den Assistenten, nahm die Akte über den Lexicon-Deal und verließ sein Büro durch die andere Tür, um über einen Umweg zu den Besprechungsräumen im Stockwerk darunter zu gelangen.

Evie schlug erneut die Beine übereinander und zupfte an der figurbetonten weißen Bluse, die sie sorgfältig gewählt hatte, um Mateo Marin in seinem Büro aufzusuchen. Doch nach viereinhalb Stunden Wartezeit fühlte sie sich immer stärker fehl am Platz. Der Wartebereich lag außerhalb der direkten Sichtlinie des Assistenten, aber sie konnte ihn tippen, Anrufe entgegennehmen und seufzen hören. Sehr oft.

Sie war direkt von ihrem Flug aus London hergekommen und hatte das imposante Gebäude betreten, das den Namen von Professor Marins Sohn trug – die glatte, industrielle Architektur weit von der Welt entfernt, die sie mit Mateos Vater geteilt hatte. Zum hundertsten Mal wünschte sie, er hätte einen ihrer vielen Anrufe beantwortet oder eine der zahlreichen E-Mails, die sie ihm in den letzten vierundzwanzig Stunden geschickt hatte, um nicht persönlich vorbeikommen zu müssen.

Sie starrte auf das Bild von Mateo, der ihr mit überheblich hochgezogenen Augenbrauen vom Titelbild einer Zeitschrift entgegenblickte, die Arme über einer breiten Brust verschränkt, die mit Photoshop bearbeitet worden sein musste, um so imposant zu wirken. Sie blätterte zur ersten Seite des Artikels, und da war er wieder, starrte den Leser direkt an – halb arrogant, halb abschätzig, ganz Ego. Beim ersten Überfliegen breitete sich eine intensive Hitze auf Evies Wangen aus. Auf den zweiten Blick verwandelte sich das Flattern in ihrem Magen in ein wütendes Summen, denn sie erinnerte sich daran, wie verletzt der Professor durch Mateos Abwesenheit in seinem Leben gewesen war. Dass sein Sohn jeden Kontakt verweigerte, hatte Professor Marin gebrochen, obwohl er es ihm nie übel genommen hatte.

Erst als sie den Artikel zum dritten Mal überflog, stockte ihr der Atem, denn auf einem Foto mit der Bildunterschrift „Die Bibliothek“ entdeckte sie in einer Ecke des Regals das Notizbuch des Professors.

Der Anblick war ihr so vertraut, dass sie den Drang verspürte, die Hochglanzseite des Magazins zu berühren. Sie hörte den Assistenten erneut seufzen und schaute auf die Uhr. Stirnrunzelnd stellte sie fest, dass es fast sechs Uhr abends war. Unsicher erhob sie sich und ging auf den Schreibtisch des jungen Mannes zu, der sie entsetzt ansah.

„Sie sind immer noch hier?“

„Natürlich. Ich sagte doch, ich würde warten“, antwortete Evie.

„Aber Herr Marin ist schon weg.“

„‚Weg‘?“, fragte Evie. „Er ist weg?“, wiederholte sie, wobei ihre Stimme vor Empörung um eine Oktave anstieg. „Aber ich muss ihn sehen. Es ist von äußerster Dringlichkeit.“

„Ich …“, stammelte der Assistent, und Evie konnte nicht anders, als Mitleid mit dem Mann zu haben, der seinen Chef offensichtlich fürchtete. Ihre Wut darüber, dass der Sohn des Professors sie einfach so abwimmelte, wich der fieberhaften Überlegung, was nun zu tun war.

Der Assistent würde ihr, einer völlig Fremden, auf keinen Fall die Privatadresse seines Arbeitgebers mitteilen, und ihr blieb nur noch eine Nacht, um das Notizbuch zu besorgen, bevor sie nach Schanghai flog.

„Würden Sie …? Tut mir leid“, sagte sie und hielt sich die Hand an die Stirn, um einen Schwächeanfall vorzutäuschen. „Ich werde gehen, ich will Ihnen nicht zur Last fallen“, entschuldigte sie sich, „aber mir ist ein wenig … Könnten Sie mir eine Tasse Tee machen? Und dann gehe ich.“

„Aber natürlich, es tut mir furchtbar leid, Miss Edwards“, stieß der Assistent hervor und flüchtete praktisch von seinem Schreibtisch.

Evie biss sich auf die Lippe, als sie den Korridor überprüfte, dann blätterte sie mit klopfendem Herzen die Papierstapel auf dem Schreibtisch durch. Sie wollte gerade anfangen, die Schubladen zu durchsuchen, als sie einen grünen Post-it-Zettel sah, der an einem Vertrag mit einer Firma namens Lexicon klebte.

Kurier an M. M., Villa Rubia, Sant Vicenç de Montalt.

Ohne weiter darüber nachzudenken, nahm sie den Zettel in die Hand, schnappte sich ihre Tasche vom Sofa, auf dem sie einen ganzen Nachmittag vergeudet hatte, rannte zum Aufzug und drückte auf den Knopf, in der verzweifelten Hoffnung, dass er noch vor der Rückkehr des Assistenten käme.

Als sich die Türen schlossen und der Aufzug sich in Bewegung setzte, atmete Evie lachend aus und genoss das Adrenalin, das durch ihr Adern rauschte. Doch sie musste immer noch Mateo Marin zur Rede stellen und ihn dazu bringen, ihr das Notizbuch seines Vaters auszuhändigen. Und sie würde es tun, denn sie hatte keine Wahl.

2. KAPITEL

Mateo lenkte seinen wütenden Blick von der Straße auf das Display seines lächerlich teuren Autos. Fluchend bog er um die Kurve, die zu seinem Haus führte, denn er war zwanzig Minuten zu spät. Henri hatte sich wahrscheinlich schon selbst reingelassen und es sich bequem gemacht, aber Mateo hasste es, andere warten zu lassen.

Genau aus diesem Grund war er zu spät dran. Er war schon in der Tiefgarage seines Bürogebäudes gewesen, als er sich an die Frau erinnerte, die im Büro auf ihn wartete. Doch als er wieder im sechzehnten Stock ankam, waren sowohl sein Assistent als auch die unbekannte Frau verschwunden.

Edwards. Irgendetwas klingelte bei diesem Namen.

Mateo wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als er die mindestens zwanzig Autos in seiner Auffahrt erblickte, die darauf warteten, ihre Fahrgäste vor seiner Haustür abzusetzen. Fahrgäste, die für eine Party gekleidet waren. Eine Party, die er anscheinend ausrichtete, ohne davon zu wissen.

Henri.

Autor

Pippa Roscoe

Pippa Roscoe lebt mit ihrer Familie in Norfolk. Jeden Tag nimmt sie sich vor, heute endlich ihren Computer zu verlassen, um einen langen Spaziergang durch die Natur zu unternehmen. Solange sie zurückdenken kann, hat sie von attraktiven Helden und unschuldigen Heldinnen geträumt. Was natürlich ganz allein die Schuld ihrer Mutter...

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