Die Stanislaskis - Teil 1-3

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MELODIE DER LIEBE

Liebe - das ist für die junge Natasha nichts als eine schmerzliche Erinnerung, die sie für immer vergessen will. Als sie jedoch dem weltgewandten Komponisten Spence Kimball begegnet, der sie zärtlich umwirbt, gerät ihr Vorsatz ins Wanken. Trotzdem verschließt sie ihm ihr Herz, da sie nie wieder enttäuscht werden will ...

VERFÜHRUNG IN MANHATTAN

Erfolg im Beruf, das ist alles, was die kühle Sydney will. Dass sie sich ausgerechnet in den bekannten Künstler Mikhail Stanislaski verliebt, den sie für einen unverschämten Macho hält, passt ihr deshalb überhaupt nicht. Genauso wenig wie ihrer eifersüchtigen Mutter, die hinter dem Rücken ihrer Tochter versucht, den attraktiven Mann für sich zu gewinnen. Doch dann stellt ein folgenschwerer Unfall Sydneys gesamten Lebensplan auf den Kopf...

GEGEN JEDE VERNUNFT

Lebenslänglich - nichts anderes will Zackary, als er die hübsche Rachel kennen lernt. Leider verteidigt die Juristin seinen Bruder vor Gericht. Steht ihr Job ihrer Liebe im Weg?


  • Erscheinungstag 24.02.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783745752120
  • Seitenanzahl 912
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Nora Roberts

Die Stanislaskis - Teil 1-3

Nora Roberts

Die Stanislaskis 1

Melodie der Liebe

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Patrick Hansen

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PROLOG

Natasha marschierte zufrieden in ihr Zimmer zurück, ihre Augen blitzten triumphierend. So, Mikhail und Alexej fanden es also komisch, dem Hund ihren neuen BH und ihr Lieblingstrikot anzuziehen.

Aber die beiden hatten herausfinden müssen, was mit nervtötenden kleinen Brüdern passierte, wenn sie ihre gierigen Grabschhändchen nicht von Dingen ließen, die ihnen nicht gehörten.

Mik würde wahrscheinlich noch den ganzen Tag humpeln.

Und das Beste war, dass Mama ihnen befohlen hatte, Trikot und BH zu waschen. Mit der Hand. Und dann würden sie die Sachen draußen aufhängen müssen. Natashas Genugtuung wuchs. Einige von den Nachbarjungs würden sie bestimmt dabei sehen.

Sie würden vor Scham im Boden versinken.

Mama, so dachte sie jetzt, ist immer gerecht. Das war viel wirkungsvoller als der kräftige Tritt gegen das Schienbein, den sie ihrem Bruder versetzt hatte.

Natasha drehte sich zu dem hohen Spiegel an der Wand um und sank in ein tiefes Plié. Ihr vierzehnjähriger Körper zeigte die ersten Andeutungen von Rundungen an Brust und Hüften, sonst war er ebenso schlank wie der ihrer Brüder.

Ballettstunden hatten diesen Körper gelehrt, sich geschmeidig zu dehnen, die Gelenke darauf trainiert, den Anforderungen zu entsprechen. Hatten ihrem Geist Disziplin beigebracht.

Und ihrem Herzen die größte Freude gemacht.

Sie wusste, wie teuer diese Stunden waren und wie hart ihre Eltern dafür arbeiteten, ihr – und ihren Geschwistern – das zu erfüllen, was sie sich am meisten wünschte.

Dieses Wissen ließ sie härter trainieren als alle anderen in der Klasse.

Eines Tages würde sie eine berühmte Ballerina sein, und jedes Mal, wenn sie tanzte, würde sie in Gedanken ihren Eltern danken.

Ein Bild tauchte vor ihr auf – sie in einem schillernden Kostüm auf der Bühne. Sie konnte die Musik hören. Sie schloss die goldbraunen Augen und hob das fein modellierte Kinn ein wenig höher. Die langen schwarzen Locken schwangen sanft um ihre Schultern, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und eine langsame Pirouette drehte.

Als sie die Augen wieder öffnete, erblickte sie ihre Schwester im Türrahmen.

„Sie sind fast fertig mit dem Waschen“, verkündete Rachel. Sie betrachtete Natasha mit einer Mischung aus Neid und Stolz. Stolz, dass ihre Schwester so schön war, so hübsch aussah, wenn sie tanzte. Neid, weil sie mit ihren acht Jahren das Gefühl hatte, nie vierzehn zu werden, nie so hübsch zu sein, sich nie so anmutig bewegen zu können.

Natasha fielen nie die Spangen aus den Haaren, ihr Haar war immer ordentlich. Und sie bekam auch schon Brüste. Sicher, sie waren noch klein, aber sie waren da, kein Zweifel.

Rachels ganzer Ehrgeiz, ihr ganzes Trachten bestand darin, eines Tages vierzehn zu sein.

Natasha lächelte vor sich hin und drehte noch eine Pirouette. „Und? Beschweren sie sich?“

„Könnte man sagen.“ Rachels Lippen zuckten. „Wenn Mama nicht in der Nähe ist. Mik sagt, du hast ihm das Bein gebrochen.“

„Gut. Er hat es verdient. Weil er meine Sachen genommen hat.“

„Es war schon irgendwie lustig.“ Rachel hüpfte auf dem Bett herum. „Sasha sah so albern aus in dem hübschen weißen BH und dem pinkfarbenen Tutu.“

„Irgendwie, ja“, gab Natasha zu. Sie ging zur Kommode und nahm ihre Haarbürste. „Und als sie dann ,Schwanensee‘ aufgelegt und mit ihm getanzt haben.“ Sie strich sich durch das lange Haar. „Na ja, es sind eben nur Jungs.“

Rachel rümpfte die Nase. Jungen hatten bei ihr momentan keinen sehr hohen Stellenwert. „Jungs sind doof. Sie sind zu laut, und sie stinken auch immer. Ein Mädchen zu sein ist viel besser.“ Auch wenn sie ausgewaschene Jeans, ein ausgeleiertes T-Shirt und eine Baseballkappe trug – sie war fest davon überzeugt. Ihre Augen, die die gleiche Farbe hatten wie die ihrer Schwester, begannen zu funkeln. „Wir könnten uns an ihnen rächen.“

Natürlich sagte sie sich, dass sie längst über solchen Dingen stand, trotzdem beäugte Natasha ihre Schwester mit wachsendem Interesse. Rachel mochte die Jüngste sein, aber sie war gerissen. „Und wie?“

„Miks Baseballshirt.“ Für das Rachel eine heimliche Schwäche hatte. „Ich denke, es würde Sasha richtig gut stehen. Solange sie draußen sind, können wir es holen.“

„Niemand weiß, wo er es versteckt, wenn er es nicht trägt.“

„Ich weiß es.“ Rachel grinste breit über das ganze hübsche Gesicht. „Ich weiß alles. Ich sage dir, wo es ist, damit du es ihm heimzahlen kannst, wenn …“

Natasha hob eine Augenbraue. Gerissen und raffiniert. Rachel hatte immer einen Hintergedanken. „Wenn was?“

„Wenn ich deine goldenen Ohrringe tragen darf, die kleinen mit den Sternen.“

„Das letzte Mal, als ich dir meine Ohrringe geliehen habe, hast du einen verloren.“

„Ich habe ihn nicht verloren, ich habe ihn nur noch nicht gefunden.“ Zu gern hätte sie jetzt geschmollt, aber das musste warten, bis der Handel perfekt war. „Ich hole das Shirt, helfe dir dabei, es Sasha anzuziehen, und lenke Mama ab. Du lässt mich drei Tage deine Ohrringe tragen.“

„Einen.“

„Zwei.“

Natasha seufzte ergeben. „Na schön.“

Mit einem verschlagenen Lächeln streckte Rachel die offene Hand aus. „Ohrringe zuerst.“

Kopfschüttelnd öffnete Natasha ihr Schmuckkästchen und holte die kleinen Kreolen hervor. „Wie kann man mit acht ein solch gerissener Überredungskünstler sein?“

„Wenn man die Jüngste ist, muss man das können.“ Freudig hüpfte Rachel vom Bett und steckte die feinen Ohrringe vor dem Spiegel an. „Alle kriegen immer die Sachen vor mir. Wenn ich die Älteste wäre, hätte ich die Ohrringe bekommen.“

„Du bist aber nicht die Älteste, und die Ohrringe gehören mir. Verlier sie nicht.“

Rachel verdrehte genervt die Augen, dann betrachtete sie sich im Spiegel. Sie sah älter aus, mindestens wie zehn, da war sie sicher.

„Wenn du schon Ohrringe trägst, solltest du auch etwas mit deinem Haar machen. Lass mich mal.“ Natasha zog ihrer Schwester die Baseballkappe vom Kopf und begann die langen Locken zu bürsten. „Wir binden es zusammen, damit man die Ohrringe auch sehen kann.“

„Ich kann meine Spange nicht finden.“

„Dann nehmen wir eine von meinen.“

„Als du acht warst, hast du da so ausgesehen wie ich?“

„Weiß ich nicht.“ Natasha hielt ihr Gesicht neben Rachels, damit sie sich zusammen im Spiegel betrachten konnten. „Wir haben fast die gleichen Augen, und unsere Lippen sind auch sehr ähnlich. Deine Nase ist hübscher.“

„Wirklich?“ Die Vorstellung, dass etwas an ihr hübscher war als an ihrer großen Schwester, war einfach umwerfend!

„Ja, ich denke schon.“ Und weil sie nur zu gut verstand, legte Natasha ihre Wange an die ihrer Schwester. „Eines Tages, wenn wir erwachsen sind, werden uns die Leute nachsehen, wenn wir zusammen die Straße hinuntergehen, und dann werden sie sagen: ,Sieh nur, da gehen die Stanislaski-Schwestern. Sind die beiden nicht wunderhübsch anzusehen?‘“

Bei dem Bild musste Rachel kichern. Arm in Arm stolzierten sie durch das Zimmer, das sie sich teilten. „Und wenn sie Mikhail und Alexej zusammen sehen, werden sie sagen: ,Oh, oh, da kommen die Stanislaski-Brüder. Das gibt Ärger.‘“

„Und damit haben sie völlig Recht.“ Die Hintertür schlug, und Natasha sah zum Fenster hinaus. „Da sind sie! Oh, Rachel, sieh sie dir nur an! Es ist perfekt!“

Die beiden Jungen, beide mit hängenden Schultern, das Kinn bis auf die Brust gesenkt, schlurften zur Wäscheleine, während der Hund wild bellend um sie herumsprang.

„Sie sehen ja soo verlegen aus“, sagte Natasha voller Schadenfreude. „Sieh dir nur an, wie rot sie sind.“

„Das reicht nicht. Lass uns das Shirt holen!“ Rachel griff ihre Kappe und stürmte aus dem Zimmer.

Nie würde es den Jungen gelingen, eine der Stanislaski-Schwestern unterzukriegen, dachte Natasha und rannte hinter Rachel her.

1. KAPITEL

„Woher kommt es bloß, dass alle wirklich gut aussehenden Männer verheiratet sind?“

„Soll das eine Fangfrage sein?“ Natasha drapierte das wallende Samtkleidchen um die Beine der Puppe, die sie gerade in den kindgroßen Schaukelstuhl aus Bugholz gesetzt hatte. Dann drehte sie sich zu ihrer Mitarbeiterin um. „Okay, Annie. Reden wir über einen ganz bestimmten gut aussehenden Mann?“

„Allerdings. Über den großen, blonden und einfach tollen Mann, der gerade mit seiner flotten Frau und dem süßen kleinen Mädchen vor unserem Schaufenster steht.“ Annie schob sich ein Kaugummi in den Mund und seufzte dramatisch. „Die drei sehen aus wie eine Bilderbuchfamilie.“

„Dann kommen sie ja vielleicht herein und kaufen ein Bilderbuchspielzeug.“

Natasha trat einen Schritt zurück und musterte zufrieden die Dekoration aus viktorianischen Puppen und passenden Accessoires. Es sah genau so aus, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ansprechend, elegant und richtig schön altmodisch. Sie überprüfte noch einmal sorgfältig das gesamte Arrangement, bis hin zum Sitz der Quaste an dem Fächer, den eine der Puppen in der winzigen Porzellanhand hielt.

Der Spielzeugladen war für sie nicht nur ein Broterwerb, sondern auch ihr größtes Vergnügen. Sie achtete auf jedes Detail und beste Qualität und suchte alles, von der kleinsten Rassel bis zum größten Plüschbären, selbst aus. Für ihren Laden und ihre Kunden war ihr das Beste gerade gut genug, ob es sich nun um eine Fünfhundert-Dollar-Puppe mit eigener Pelzstola handelte oder um einen handflächengroßen Modell-Rennwagen für zwei Dollar. Sie freute sich über jedes Stück, das sie verkaufte. Hauptsache, es bereitete dem kleinen Kunden Freude.

Vor drei Jahren hatte sie zum ersten Mal die Ladentür geöffnet und damit das Glockenspiel über dem Rahmen zum Klingen gebracht. Seitdem hatte Natasha „The Fun House“ zu einem der florierendsten Geschäfte des College-Städtchens am Rande West Virginias gemacht. Es hatte viel Energie und Durchhaltevermögen gebraucht, aber den Erfolg verdankte sie in erster Linie ihrem instinktiven Verständnis für kindliche Wünsche und Bedürfnisse. Sie wollte nicht, dass die Kunden mit irgendeinem Spielzeug davongingen. Sie wollte, dass sie mit genau dem richtigen Spielzeug den Laden verließen.

Sie ließ ihren Blick über die ausgestellten Miniaturautos wandern und ging hinüber, um das Arrangement noch etwas zu verbessern.

„Ich glaube, die kommen jetzt herein“, sagte Annie und fuhr sich mit der flachen Hand über das kurz geschnittene, rotbraune Haar. „Das kleine Mädchen zappelt schon die ganze Zeit vor Aufregung. Soll ich die Ladentür aufschließen?“

Natasha nahm alles sehr genau und sah zu der Uhr mit dem lachenden Clownsgesicht hinauf. „Wir haben noch fünf Minuten.“

„Was sind schon fünf Minuten? Tash, ich sage dir, der Typ ist einfach unglaublich.“ Annie ging zwischen zwei Regalen hindurch zu dem kleinen Stapel Brettspiele und stapelte sie um, während sie möglichst unauffällig nach draußen spähte. „Oh ja! Einssiebenundachtzig, dreiundsiebzig Kilo. Die stattlichsten Schultern, die je ein Anzug-Sakko ausgefüllt haben. Mensch, das ist ja Tweed. Wusste gar nicht, dass mir bei einem Typen in Tweed das Wasser im Munde zusammenlaufen kann.“

„Selbst wenn er etwas aus Pappe anhätte, wurde dir das Wasser im Munde zusammenlaufen.“

„Die meisten Typen, die ich kenne, sind aus Pappe.“ Annie lächelte verschmitzt, und neben ihrem Mundwinkel bildete sich ein Grübchen. Vorsichtig sah sie um den Tresen mit Holzspielzeugen herum auf die Straße. „Der muss in diesem Sommer eine Menge Zeit am Strand verbracht haben. Sein Haar ist richtig hell von der Sonne, und die Haut ist tief gebräunt. Jetzt lächelt er dem kleinen Mädchen zu. Ich glaube, ich habe mich gerade verliebt.“

Natasha vollendete den Ministau, zu dem sie die Modellautos arrangiert hatte, und sah zu Annie hinüber. „Du glaubst doch dauernd, dass du verliebt bist.“

„Ich weiß.“ Annie seufzte. „Wenn ich doch nur erkennen könnte, welche Augenfarbe er hat. Sein Gesicht ist jedenfalls eins von diesen schmalen mit markanten Wangenknochen. Ich wette, er ist unglaublich intelligent und hat im Leben viel durchgemacht.“

Natasha warf ihr einen raschen amüsierten Blick zu. Die hoch gewachsene und eher magere Annie hatte ein Herz weich wie Marshmallow-Creme. „Ich bin sicher, seine Frau wäre von deiner Fantasie entzückt.“

„Es ist das Recht einer Frau, nein, geradezu die Pflicht, bei einem solchen Mann ins Schwärmen zu geraten.“

Obwohl sie da völlig anderer Meinung war, gab Natasha nach und tat Annie den Gefallen. „Also gut. Mach schon auf.“

„Eine Puppe“, sagte Spence und zupfte seine Tochter zärtlich am Ohr. „Wenn ich gewusst hätte, dass eine halbe Meile vom Haus entfernt ein Spielzeugladen liegt, hätte ich mir das mit dem Umzug vielleicht doch noch anders überlegt.“

„Wenn’s nach dir ginge, würdest du ihr doch gleich den ganzen Laden kaufen.“

„Fang nicht schon wieder an, Nina“, sagte er mit einem Seitenblick auf die Frau neben ihm.

Die schlanke Blondine zuckte nur mit den Schultern, sodass sich der Leinenstoff ihrer gepflegten roséfarbenen Kostümjacke kräuselte. Dann blickte sie zu dem kleinen Mädchen hinunter. „Ich meinte bloß, dass dein Daddy dich immer so sehr verwöhnt, weil er dich sehr lieb hat. Außerdem hast du dir wirklich ein Geschenk verdient, weil du mit dem Umzug einverstanden warst, uns sogar dabei geholfen hast.“

Die kleine Frederica Kimball schob die Unterlippe vor. „Ich mag mein neues Haus.“ Sie schob ihrem Vater die winzige Hand zwischen die Finger, als wolle sie das Bündnis bekräftigen, das sie mit ihm gegen den Rest der Welt eingegangen war. „Ich habe jetzt einen Hof und eine Schaukel ganz für mich allein.“

Nina musterte die beiden, den hoch gewachsenen, langgliedrigen Mann und das elfenhafte junge Mädchen. Die Kleine hatte das gleiche trotzige Kinn wie ihr Vater. Soweit sie sich erinnern konnte, hatten die beiden bei jeder Auseinandersetzung das letzte Wort gehabt.

„Offenbar bin ich die Einzige, die darin keinen Fortschritt gegenüber dem Leben in New York sieht.“ Ninas Tonfall wurde hörbar müder, als sie dem Mädchen übers Haar strich. „Ich kann nicht anders, ich mache mir ein wenig Sorgen um dich. Du sollst doch nur glücklich sein, mein Liebling. Du und dein Daddy.“

„Das sind wir.“ Um die Atmosphäre zu entschärfen, hob Spence Freddie mit Schwung auf den Arm. „Stimmt’s, Funny Face?“

„Sie wird gleich noch glücklicher sein“, lenkte Nina ein und drückte Spence aufmunternd die Hand. „Der Laden wird geöffnet.“ Schmunzelnd folgte sie den beiden durch die Tür.

„Guten Morgen.“ Sie waren grau, stellte Annie fest und unterdrückte ein gedehntes, träumerisches Seufzen. Ein fantastisches Grau. Entschlossen verbannte sie das Schwärmen in einen hinteren Winkel ihrer Gedankenwelt und bat die ersten Kunden des Tages hinein. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Meine Tochter interessiert sich für eine Puppe.“ Spence stellte Freddie wieder auf die Füße.

„Nun, dann sind Sie hier genau richtig.“ Pflichtgetreu wandte Annie ihre Aufmerksamkeit dem Kind zu. Es war wirklich eine süße kleine Person, mit denselben grauen Augen und dem gleichen kaum zu bändigenden Blondschopf. „Was für eine Puppe möchtest du denn?“

„Eine hübsche“, entgegnete Freddie sofort. „Eine hübsche mit rotem Haar und blauen Augen.“ Sie sah zu ihrem Vater hoch, und als der nickte, spazierte sie an Annies Hand davon.

Nina drückte ihm zum zweiten Mal die Hand. „Spence …“

„Ich versuche mir immer einzureden, dass es ihr nichts mehr ausmacht. Dass sie sich nicht einmal daran erinnert“, sagte er leise.

„Dass sie eine Puppe mit rotem Haar und blauen Augen möchte, muss doch nichts bedeuten.“

„Rotes Haar und blaue Augen“, wiederholte er mit tonloser Stimme, als die Trauer einmal mehr in ihm aufstieg. „Wie Angelas. Sie erinnert sich, Nina. Und es macht ihr etwas aus.“ Er schob die Hände in die Taschen und ging weiter in den Laden hinein.

Drei Jahre, dachte er. Es war jetzt drei Jahre her. Freddie hatte noch in den Windeln gelegen. Aber sie erinnerte sich an Angela. Die wunderschöne, sorglose Angela. Selbst bei aller Toleranz hätte man Angela nicht als Mutter bezeichnen können. Nie hatte sie ihre Tochter auf den Knien geschaukelt, mit ihr geschmust, sie getröstet oder ihr ein Schlaflied gesungen.

Er musterte eine kleine, blau gekleidete Puppe mit einem engelhaften Porzellangesicht. Schmale, zarte Figur und riesige, verträumte Augen. So war auch Angela gewesen. Von fast überirdischer Schönheit. Und so kalt und glatt wie Glas.

Er hatte sie geliebt, wie ein Mann ein Kunstwerk liebt. Aus der Distanz, voller Bewunderung für das perfekt gestaltete Äußere und stets auf der Suche nach der inneren Bedeutung. Irgendwie war aus ihrer Beziehung ein warmherziges, lebenslustiges Kind hervorgegangen. Ein kleines Mädchen, das in seinen ersten Lebensjahren fast ohne die Hilfe der Eltern seinen Weg hatte finden müssen.

Aber er würde es wieder gutmachen. Spence schloss einen Moment lang die Augen. Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um seiner Tochter die Liebe, die Geborgenheit und die Sicherheit zu geben, die sie verdiente. Die Echtheit. Das Wort klang banal, aber es beschrieb am besten, was er für seine Tochter wollte. Die Echtheit, Ehrlichkeit und Stabilität einer richtigen Familie.

Sie liebte ihn. Seine Schultern entkrampften sich etwas, als er daran dachte, wie sehr Freddies große Augen leuchteten, wenn er ihr abends gute Nacht sagte, wie sie die Arme um ihn schlang, wenn er sie festhielt. Vielleicht würde er sich nie völlig verzeihen, dass er sie als Baby wegen eigener Probleme vernachlässigt hatte. Aber jetzt lagen die Dinge anders. Selbst diesen Umzug hatte er mit Blick auf Freddies Wohlergehen geplant.

Er hörte ihr helles Lachen, und sofort löste sich die Anspannung in einer Welle von Freude auf. Keine Musik klang in seinen Ohren so schön wie das Lachen seines kleinen Mädchens. Es wäre wert gewesen, von einem kompletten Symphonieorchester begleitet zu werden. Stör sie jetzt nicht, dachte Spence. Lass sie mit all den bunten Puppen allein, bevor du sie daran erinnern musst, dass nur eine davon ihr gehören kann.

Wieder entspannt, sah er sich in dem Geschäft um. Wie die Puppe, die er sich für seine Tochter vorstellte, war das Ladeninnere schön anzusehen. Ein Fest für die Augen. Es war zwar nicht sehr geräumig, aber von Wand zu Wand voll der Dinge, die ein Kinderherz begehrte. Von der Decke hingen eine große Giraffe mit goldenem Fell und ein roter Hund mit traurigem Blick. Hölzerne Eisenbahnzüge, Autos und Flugzeuge in leuchtenden Farben drängten sich neben eleganten Miniaturmöbeln auf einem langen Tisch. Neben dem aufwändigen Modell einer Raumstation saß ein altmodischer Hampelmann. Es gab viele Puppen, manche wunderschön, manche auf charmante Weise hausbacken, Kästen mit Bauklötzen und ein herrlich verspieltes Teegeschirr für Kinder.

Gerade weil alles so ungezwungen, fast beiläufig arrangiert worden war, wirkte es ungemein verlockend. Dies war ein Ort der Fantasien und Wünsche, eine mit Schätzen gefüllte Aladin-Höhle, in der Kinderaugen vor Staunen leuchteten. Spence hörte, wie seine Tochter fröhlich lachte, und ahnte, dass Freddie bald zu den regelmäßigen Besuchern des „Fun House“ zählen würde.

Das war einer der Gründe, warum er mit ihr in eine Kleinstadt gezogen war. Er wollte, dass sie voller Neugier durch die Geschäfte streifen konnte und dabei von den Inhabern mit Namen begrüßt werden würde. Sie sollte von einem Ende der Stadt ans andere spazieren können, ohne dass er wie in der Großstadt Angst vor Überfällen, Entführungen oder Drogen haben musste. Sie würden keine Spezialschlösser und Alarmanlagen mehr brauchen, keine aufwändige Technik, um mit akustischen Tricks den permanenten Verkehrslärm herauszufiltern. Selbst ein so kleines Mädchen wie seine Freddie würde hier nicht verloren gehen können.

Und vielleicht würde er selbst ohne die Hetze und den Druck endlich Frieden mit sich schließen können.

Seine Hand griff fast wie von selbst nach einer Spieluhr. Sie war aus sorgfältig modelliertem Porzellan und mit der Figur einer schwarzhaarigen Zigeunerin in einem Rüschenkleid verziert. An den Ohren trug sie winzige goldene Ringe, und in den Händen hielt sie ein Tamburin mit bunten Bändern. Er war sicher, dass er selbst an der Fifth Avenue keinen so kunstvoll hergestellten Gegenstand gefunden hätte.

Er fragte sich, warum die Ladeninhaberin die Spieluhr dorthin gestellt hatte, wo kleine, neugierige Finger danach greifen und sie zerbrechen konnten. Fasziniert zog er die Uhr auf und beobachtete, wie die zierliche Figur sich um das Miniaturfeuer aus Porzellan drehte.

Tschaikowsky. Er erkannte den Satz sofort, und sein geschultes Gehör registrierte den sauberen Klang. Ein melancholisches, fast leidenschaftliches Stück, dachte er und war erstaunt, ausgerechnet in einem Spielzeugladen ein so exquisites Exemplar zu entdecken. Dann blickte er auf und sah Natasha.

Er starrte sie an. Er konnte nicht anders. Sie stand nur wenige Meter von ihm entfernt, den erhobenen Kopf ein wenig geneigt, und musterte ihn. Ihr Haar war so dunkel wie das der Tänzerin. Die Locken ringelten sich wie Korkenzieher um ihr Gesicht, an dessen Seiten ihr die Haarpracht über die Schultern fiel. Ihre Haut war zart gebräunt, schimmerte wie Gold vor dem Kontrast, den das einfache rote Kleid abgab.

Aber diese Frau ist alles andere als zerbrechlich, ging es ihm durch den Sinn. Obwohl sie klein war, strahlte sie so etwas wie Macht aus. Vielleicht lag es an dem Gesicht mit dem vollen, von keinem Lippenstift betonten Mund und den hohen, markanten Wangenknochen. Ihre Augen waren nicht so dunkel wie das Haar, eher goldbraun, mit breiten Lidern und langen Wimpern. Selbst über die zwei, drei Meter hinweg spürte er es. Diese Frau umgab eine berauschende, durch nichts getrübte Erotik, so wie andere Frauen sich in Parfümwolken hüllten.

Zum ersten Mal seit Jahren fühlte er in sich die Hitze reinen Begehrens, die jeden seiner Muskeln vollständig zu lähmen schien.

Natasha registrierte es, und es gefiel ihr gar nicht. Was für ein Mann, so fragte sie sich, kommt mit Frau und Kind hereinspaziert, um eine andere Frau mit Augen anzusehen, in denen die nackte Begierde stand?

Nicht ihre Art von Mann.

Entschlossen ignorierte sie seinen Blick, so wie sie es bei anderen Männern in der Vergangenheit bereits getan hatte, und ging zu ihm hinüber. „Brauchen Sie vielleicht Hilfe?“

Hilfe? Sauerstoff brauche ich, dachte Spence nun. Er hatte nicht gewusst, dass eine Frau einem Mann buchstäblich den Atem rauben konnte. „Wer sind Sie?“

„Natasha Stanislaski.“ Sie bot ihm ihr kühlstes Lächeln. „Mir gehört der Laden.“

Ihre Stimme schien in der Luft zu hängen, heiser, voller Leben und mit einer Spur ihrer slawischen Herkunft. Die erotische Atmosphäre wurde dadurch noch gesteigert, und er fühlte es so konkret, wie er die Musik aus der Spieluhr hinter sich hörte. Sie duftete nach Seife, nach sonst nichts, und dennoch fand er den Duft so verführerisch wie kaum etwas zuvor.

Als er nicht antwortete, zog sie eine Braue hoch. Vielleicht war es ganz amüsant, einem Mann den Kopf zu verdrehen, aber sie hatte zu tun. Außerdem war dieser Mann verheiratet. „Ihre Tochter schwankt noch zwischen drei Puppen. Vielleicht möchten Sie ihr bei der endgültigen Entscheidung helfen?“

„Gleich. Ihr Akzent, ist der russisch?“

„Ja.“ Sie fragte sich, ob sie ihm sagen sollte, dass seine Frau schon gelangweilt und ungeduldig an der Ladentür stand.

„Seit wann sind Sie in Amerika?“

„Seit meinem sechsten Lebensjahr.“ Sie warf ihm einen besonders eisigen Blick zu. „Damals war ich ungefähr so alt wie Ihre Tochter jetzt. Entschuldigen Sie mich, ich muss mich um die Kundschaft kümmern.“

Seine Hand lag auf ihrem Arm, bevor er sich zurückhalten konnte. Obwohl er ahnte, dass das kein sehr kluger Schachzug gewesen war, überraschte ihn die Intensität der Abneigung in ihren Augen. „Tut mir Leid. Ich wollte Sie nach der Spieluhr fragen.“

Natasha folgte seinem Blick. Die Melodie wurde gerade leiser. „Es ist eine unserer besten, hier in den Staaten hergestellt. Sind Sie an einem Kauf interessiert?“

„Ich bin mir noch nicht sicher. Ist Ihnen klar, wo sie steht?“

„Wie bitte?“

„Nun, es ist nicht gerade das, was man in einem Spielzeugladen zu finden erwartet. Bei Ihrer Kundschaft könnte sie leicht zu Bruch gehen.“

Natasha schob sie ein Stück weiter nach hinten aufs Regal. „Und sie kann repariert werden.“ Die rasche Bewegung, die sie mit den Schultern machte, war eindeutig, gewohnheitsmäßig. Sie verriet eher Arroganz als Sorglosigkeit. „Ich finde, man sollte Kindern die Freuden der Musik nicht vorenthalten, meinen Sie nicht auch?“

„Ja.“ Erstmals huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Es war wirklich eindrucksvoll, da hatte Annie Recht gehabt. Natasha gab es widerstrebend zu und spürte hinter ihrer Verärgerung einen Hauch von Neugier, vielleicht sogar von Gemeinsamkeit mit diesem Fremden.

„In der Tat, das meine ich auch“, sagte er. „Vielleicht könnten wir uns einmal beim Essen darüber unterhalten.“

Natasha musste sich zusammenreißen, um ihn nicht zornig in die Schranken zu verweisen. Bei ihrem heißen, oft turbulenten Temperament war das nicht einfach, aber sie dachte daran, dass der Mann nicht nur seine Frau, sondern auch seine junge Tochter dabeihatte.

Sie schluckte die Beschimpfungen, die ihr auf der Zunge lagen, wieder hinunter, aber Spence las sie ihr an den Augen ab.

„Nein.“ Mehr erwiderte sie nicht und drehte sich dabei um.

„Miss …“, begann Spence, doch da kam Freddie auch schon den Gang heruntergetobt.

„Ist sie nicht schön, Daddy?“ fragte sie mit leuchtenden Augen und streckte ihm die große, schlaksige Raggedy-Ann-Puppe entgegen.

Sie ist rothaarig, dachte Spence. Aber schön konnte man sie beim besten Willen nicht nennen. Und an Angela erinnert sie auch nicht, stellte er erleichtert fest. Weil er wusste, dass Freddie es von ihm erwartete, nahm er sich die Zeit, die Puppe ihrer Wahl gründlich zu mustern. „Dies ist“, sagte er nach einer Weile, „die allerbeste Puppe, die ich heute gesehen habe.“

„Wirklich?“

Er ging in die Hocke, um Freddie direkt in die Augen schauen zu können. „Ganz bestimmt. Du hast einen exzellenten Geschmack, Funny Face.“

Freddie streckte die Arme aus und quetschte die Puppe zwischen ihnen beiden ein, während sie ihren Vater fest umarmte. „Kann ich sie haben?“

„Ich dachte, sie wäre für mich.“ Als Freddie fröhlich kicherte, hob er sie zusammen mit der Puppe auf den Arm.

„Ich packe sie Ihnen ein.“ Natashas Tonfall war diesmal wärmer. Er mochte ein unverschämter Kerl sein, aber er liebte seine Tochter, das spürte sie.

„Ich kann sie tragen.“ Freddie presste ihre neue Freundin an sich.

„Tu das. Aber dann gebe ich dir ein Band für ihr Haar. Möchtest du das?“

„Ein blaues.“

„Du bekommst ein blaues.“ Natasha ging voran zur Kasse.

Nina warf nur einen Blick auf die Puppe und verdrehte die Augen. „Darling, eine Schönere hast du nicht gefunden?“

„Daddy gefällt sie“, murmelte Freddie mit gesenktem Kopf.

„Allerdings. Sehr sogar“, fügte er hinzu und warf Nina dabei einen vielsagenden Blick zu. Dann stellte er Freddie wieder auf die Füße und zog die Brieftasche heraus.

Die Mutter ist alles andere als ein Glückstreffer, dachte Natasha. Aber das gibt dem Mann noch lange nicht das Recht, einer Verkäuferin in einem Spielzeugladen so zu kommen. Sie zählte das Wechselgeld und reichte ihm den Kaufbeleg, bevor sie das versprochene Band hervorholte.

„Vielen Dank“, sagte sie zu Freddie. „Ich glaube, sie wird sich bei dir sehr wohl fühlen.“

„Ich werde gut auf sie aufpassen“, versicherte Freddie, während sie sich damit abmühte, das Band durch das wuschelige Haar der Puppe zu ziehen. „Können die Leute sich die Sachen hier einfach nur anschauen, oder müssen sie etwas kaufen?“

Natasha lächelte, griff nach einem zweiten Band und machte dem Kind eine kecke Schleife ins Haar. „Du kannst gern jederzeit kommen und dich hier umsehen.“

„Spence, wir müssen jetzt wirklich gehen.“ Nina hielt die Ladentür auf.

„Richtig.“ Er zögerte. Es ist eine Kleinstadt, sagte er sich. Und wenn Freddie jederzeit willkommen ist, dann bin ich es auch. „Es war nett, Sie kennen zu lernen, Miss Stanislaski.“

„Auf Wiedersehen.“ Sie wartete, bis das Glockenspiel ertönte und die Tür ins Schloss fiel, und murmelte dann eine Reihe von Verwünschungen vor sich hin.

Annie streckte den Kopf um einen Turm aus Bauklötzen. „Wie bitte?“

„Dieser Mann!“

„Ja.“ Mit einem leisen Seufzer kam Annie den Gang entlanggeschwebt. „Dieser Mann.“

„Bringt Frau und Kind in einen Laden wie diesen und starrt mich an, als wollte er mir an den Zehen knabbern.“

„Tash.“ Mit gequältem Gesichtsausdruck presste Annie sich eine Hand aufs Herz. „Bitte sag nicht so etwas Erregendes.“

„Ich finde es beleidigend.“ Natasha umrundete den Verkaufstresen und hieb mit der Faust gegen einen Sandsack, der in der Ecke baumelte. „Er hat mich zum Essen eingeladen.“

„Er hat was?“ Annies Augen leuchteten vor Begeisterung auf, bis ein scharfer Blick von Natasha sie wieder abkühlte. „Du hast Recht. Es ist beleidigend, schließlich ist er verheiratet. Auch wenn seine Frau mir ziemlich steif und langweilig vorkam. Wie ein gefrorener Fisch.“

„Seine Eheprobleme interessieren mich nicht.“

„Nein …“ In Annie kämpften der Sinn für Realität und die ausgeprägte Fantasie miteinander. „Schätze, du hast ihn abblitzen lassen.“

Natasha schluckte hörbar, als sie herumfuhr. „Natürlich habe ich ihn abblitzen lassen.“

„Natürlich“, bestätigte Annie hastig.

„Der Mann hat vielleicht Nerven“, fuhr Natasha fort. Ihr juckten die Finger. Sie sah sich nach etwas um, auf das sie einschlagen konnte. „Kommt in mein Geschäft und macht mich regelrecht an!“

„Das hat er nicht!“ Schockiert und fasziniert zugleich ergriff Annie Natashas Arm. „Tash, er hat dich doch nicht wirklich angemacht? Hier im Laden?“

„Mit den Augen. Die Botschaft war deutlich.“ Es machte sie wütend, wie oft Männer sie betrachteten und nur das Körperliche sahen. Nur das Körperliche sehen wollten. Es war abstoßend. Noch bevor sie richtig verstand, um was es eigentlich ging, hatte sie Anzüglichkeiten und Angebote ertragen müssen. Aber jetzt wusste sie, was man von ihr wollte, und ließ sich nichts mehr bieten.

„Wenn er dieses süße kleine Mädchen nicht bei sich gehabt hätte, hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst!“ Die Vorstellung gefiel ihr so sehr, dass sie ihren Zorn wieder an dem imaginären Sandsack ausließ.

Annie hatte derartige Ausbrüche oft genug erlebt, um zu wissen, wie sie ihre Chefin besänftigen konnte. „Sie war wirklich süß, nicht wahr? Sie heißt Freddie. Ist das nicht niedlich?“

Noch während sie sich die geballte Faust rieb, holte Natasha tief Luft. Es wirkte. „Ja“, erwiderte sie einfach.

„Die Kleine hat mir erzählt, dass sie gerade erst von New York nach Shepherdstown gezogen sind. Die Puppe soll ihre erste neue Freundin sein.“

„Armes kleines Ding.“ Natasha wusste nur zu gut, welche Sorgen und Ängste ein Kind in einer fremden Stadt empfand. Vergiss den Vater, befahl sie sich und warf den Kopf zurück. „Sie müsste ungefähr im Alter von JoBeth Riley sein.“ Ihr Zorn war verraucht. Sie ging hinter den Tresen und griff nach dem Hörer. Es würde nichts schaden, wenn sie Mrs. Riley anrief.

Spence stand am Fenster des Musikzimmers und starrte auf ein Beet mit Sommerblumen hinaus. Blumen vor dem Fenster zu haben und eine nicht gerade ebene Rasenfläche, die viel Pflege brauchte, das war für ihn eine völlig neue Erfahrung. Noch nie im Leben hatte er einen Rasen gemäht. Lächelnd überlegte er, wann er sich nun endlich daran versuchen könnte.

Dann gab es da noch einen großen, ausladenden Ahorn mit dunkelgrünen Blättern. Er malte sich aus, wie aus dem Grün in wenigen Wochen ein leuchtendes Rot werden würde, bevor die Blätter sich von den Zweigen lösten. Er hatte den Blick von seiner Wohnung am Central Park West immer genossen, sich daran erfreut, wie sich die Bäume mit den Jahreszeiten veränderten. Aber hier war das anders.

Hier gehörten ihm das Gras, die Bäume, die Blumen vor dem Fenster. Sie würden ihm Vergnügen bereiten, und er würde sich dafür um sie kümmern müssen. Hier würde er Freddie hinauslassen können, damit sie mit ihren Puppen eine Teeparty am Nachmittag arrangierte. Und zwar ohne dass er sich um sie Sorgen machen musste, sobald er sie auch nur eine Sekunde aus den Augen ließ.

Sie würden ein angenehmes Leben führen, ein solides Leben für sie beide. Das hatte er gefühlt, als er hergeflogen war, um mit dem Dekan über seine Anstellung zu verhandeln. Und er hatte es wieder gefühlt, während er mit der nervösen Immobilienmaklerin auf den Fersen durch dieses große, geräumige Haus gewandert war.

Sie brauchte es mir gar nicht aufzudrängen, dachte Spence. Ich war dem Haus verfallen, kaum dass ich es betreten hatte.

Vor seinen Augen schwebte ein Kolibri mit unsichtbarem Flügelschlag über der Blüte einer hellroten Petunie. In diesem Moment war er felsenfest davon überzeugt, dass die Entscheidung, aus der Großstadt fortzuziehen, richtig gewesen war.

Eine Kostprobe des ländlichen Lebens nehmen, so hatte Nina es ein wenig von oben herab bezeichnet. Ihre Worte gingen ihm durch den Kopf, während die Flügel des winzigen Vogels im Sonnenschein zu flimmern schienen. Er konnte ihr keinen Vorwurf machen, schließlich hatte er sein Leben freiwillig dort verbracht, wo stets etwas los war. Sicher, er hatte all die glitzernden Partys genossen, die bis zum Morgengrauen dauerten. Oder die eleganten Mitternachtssoupers nach einem Konzert oder Ballett.

Er war in eine Welt von Glamour, Prestige und Reichtum hineingeboren worden und hatte sein Leben dort verbracht, wo das Beste gerade gut genug war. Natürlich hatte er es ausgekostet. Die Sommer in Monte Carlo, die Winter in Nizza oder Cannes. Die Wochenenden in Aruba oder Cancun.

Er wollte diese Erfahrungen nicht missen, aber er wünschte sich, dass er die Verantwortung für sein eigenes Leben früher übernommen hätte.

Jetzt hatte er es getan. Spence sah dem Kolibri nach, der wie ein saphirblauer Pfeil davonsurrte. Und zu seiner eigenen Überraschung, wie zu der Überraschung der Menschen, die ihn kannten, genoss er es, diese Verantwortung zu tragen. Er wusste, woran das lag. An Freddie. Allein an Freddie.

Er dachte an sie, und schon kam sie über den Rasen gelaufen, die neue Puppe unter den Arm geklemmt. Wie erwartet eilte sie schnurstracks auf die Schaukel zu. Das Gestell war so neu, dass die blaue und weiße Farbe in der Sonne glänzte und die harten Plastiksitze wie Leder schimmerten. Mit der Puppe auf dem Schoß stieß Freddie sich ab, das Gesicht auf den Himmel gerichtet, ein selbst komponiertes Lied auf den weichen Lippen.

Die Liebe durchzuckte ihn wie der Hieb einer Samtfaust, kraftvoll, fast schmerzhaft. In seinem ganzen Leben hatte er nichts so Verzehrendes, nichts so Klares empfunden wie das Gefühl, das seine Tochter in ihm hervorrief. Mühelos, einfach nur, indem sie da war.

Während sie durch die Luft glitt, drückte sie die Puppe an sich, um ihr Geheimnisse ins Ohr zu flüstern. Es gefiel ihm, wie glücklich sie mit der simplen Stoffpuppe war. Sie hätte auch eine aus Samt oder Porzellan nehmen können, aber sie hatte sich für eine entschieden, die aussah, als brauche sie Liebe.

Den gesamten Vormittag hindurch hatte sie ihm von dem Spielzeugladen vorgeschwärmt, und er wusste, dass sie sich danach sehnte, noch einmal hinzugehen. Natürlich würde sie keinen Wunsch äußern. Jedenfalls nicht direkt. Nur ihre Augen würden Bände sprechen. Es amüsierte und erstaunte ihn zugleich, wie sein kleines Mädchen schon mit fünf diesen äußerst wirksamen Trick der Frauen beherrschte.

Er selbst hatte auch an den Spielzeugladen denken müssen, und an die Inhaberin. Da war von weiblichen Tricks keine Rede gewesen, nur von der puren Verachtung, die eine Frau für einen Mann empfand. Als er sich erinnerte, wie unbeholfen er sich benommen hatte, verzog er das Gesicht. Ich bin aus der Übung, sagte er sich mit reumütigem Lächeln und rieb sich den Nacken. Noch nie hatte er eine so starke sexuelle Anziehungskraft gespürt. Wie ein Blitz hatte es ihn getroffen. Und ein Mann, der so unter Strom gesetzt wurde, durfte sich schon etwas ungeschickt benehmen.

Aber ihre Reaktion … Stirnrunzelnd ließ Spence die Szene noch einmal vor seinem geistigen Auge ablaufen. Sie war wütend gewesen, hatte schon vor Zorn gezittert, noch bevor er den Mund geöffnet und sich gründlich blamiert hatte.

Sie hatte gar nicht erst versucht, ihre Abfuhr in höfliche Worte zu kleiden. Ein schlichtes Nein –eine hart klingende, an den Rändern mit Eis überzogene Silbe. Und dabei hatte er sie doch nicht gefragt, ob sie mit ihm ins Bett gehen würde.

Aber genau das wollte er. Vom ersten Moment an hatte er sich ausgemalt, wie er sie davontrug, zu irgendeinem dunklen, abgelegenen Ort mitten im Wald, wo der Moosboden unter ihnen federte und die Baumkronen sich vor den Himmel schoben. Dort würde er die Hitze fühlen, die ihre vollen, ein wenig trotzigen Lippen ausstrahlten. Dort würde er die wilde Leidenschaft auskosten, die ihr Gesicht versprach. Ungestüm, zügellos, ohne an Raum und Zeit, an richtig oder falsch zu denken.

Das darf doch nicht wahr sein. Verwirrt riss er sich zusammen. Er träumte wie ein Teenager. Nein, verbesserte Spence sich und schob die Hände in die Taschen, ich träume wie ein Mann, wie einer, der seit vier Jahren auf eine Frau verzichtet hat. Er war sich nicht sicher, ob er Natasha Stanislaski dafür dankbar sein sollte, dass sie in ihm all die vergrabenen Sehnsüchte erweckt hatte.

Aber er war sicher, dass er sie wiedersehen würde.

„Ich bin reisefertig.“ Nina wartete in der Tür. Sie seufzte tadelnd. Spence war offensichtlich mal wieder in Gedanken vertieft. „Spence“, sagte sie lauter als zuvor und durchquerte den Raum. „Ich sagte, ich bin reisefertig.“

„Wie? Ach so.“ Er lächelte blinzelnd und zwang sich, die Schultern sinken zu lassen. „Wir werden dich vermissen, Nina.“

„Ihr werdet froh sein, mich loszuwerden“, korrigierte sie ihn und küsste ihn kurz auf die Wange.

„Nein.“ Sein Lächeln kam jetzt ungezwungener, das sah sie und wischte ihm fürsorglich den Lippenstift von der Haut. „Ich weiß zu schätzen, was du für uns getan hast“, fuhr er fort. „Du hast uns den Anfang hier leichter gemacht. Ich weiß, wie beschäftigt du bist.“

„Ich kann doch meinen Bruder nicht allein in der freien Wildbahn von West Virginia aussetzen.“ In einer bei ihr seltenen Gefühlsregung griff sie nach seiner Hand. „Bist du dir wirklich sicher, Spence? Vergiss alles, was ich gesagt habe, und denke nach, denke es noch einmal durch. Es ist ein gewaltiger Wechsel, für euch beide. Was willst du zum Beispiel hier mit deiner Freizeit anfangen?“

„Den Rasen mähen.“ Ihre verblüffte Miene ließ ihn grinsen. „Oder auf der Veranda sitzen. Vielleicht komponiere ich sogar wieder etwas.“

„Das könntest du in New York auch.“

„Ich habe seit fast vier Jahren keinen einzigen Takt mehr geschrieben“, erinnerte er sie.

„Na schön.“ Sie ging zum Flügel hinüber und wedelte mit der Hand. „Aber wenn es dir nur um eine Ortsveränderung geht, hättest du dir auch ein Haus auf Long Island oder von mir aus in Connecticut suchen können. Du hättest nicht gleich aufs Land ziehen müssen.“

„Es gefällt mir hier, Nina. Glaub mir, ich hätte für Freddie nichts Besseres tun können. Und für mich selbst auch nicht.“

„Ich hoffe, du hast Recht.“ Weil sie ihn liebte, lächelte sie erneut. „Ich wette immer noch, dass du spätestens in sechs Monaten wieder in New York bist. In der Zwischenzeit erwarte ich, dass du mich als Tante dieses Mädchens über ihre Entwicklung auf dem Laufenden hältst.“ Sie sah auf ihre Hand hinab und stellte verärgert fest, dass ihr Nagellack bereits gelitten hatte. „Allein die Idee, sie auf eine öffentliche Schule zu schicken …“

„Nina.“

„Schon gut!“ Sie hob die Hand. „Es hat keinen Sinn, darüber zu diskutieren. Ich muss mein Flugzeug noch bekommen. Außerdem bin ich mir durchaus der Tatsache bewusst, dass sie dein Kind ist.“

„Ja, das ist sie.“

Nina klopfte mit der Fingerspitze auf die glänzende Oberfläche des Instruments, das nicht ganz so groß wie ein Konzertflügel war. „Spence, ich weiß, dass du wegen Angela noch Schuldgefühle hast. Das gefällt mir gar nicht.“

Sein ungezwungenes Lächeln verschwand. „Manche Fehler brauchen lange, bis man sie verarbeitet hat.“

„Sie hat dir das Leben zur Hölle gemacht“, sagte Nina kategorisch. „Ihr wart kaum verheiratet, da begannen die Probleme bereits. Du warst nicht sehr auskunftsfreudig“, fuhr sie fort, als er nicht reagierte. „Aber es gab andere, die sich nur zu gern bei mir oder jedem, der es hören wollte, über eure Ehe ausließen. Es war kein Geheimnis, dass sie kein Kind wollte.“

„Und war ich so viel besser? Ich wollte das Baby doch nur, um damit die Lücken in meiner Ehe zu füllen. Damit bürdet man einem Kind eine schwere Last auf.“

„Du hast Fehler gemacht. Du hast die Fehler eingesehen und sie korrigiert. Angela hat in ihrem ganzen Leben nicht die Spur von Schuld gefühlt. Wenn sie nicht gestorben wäre, hättest du dich scheiden lassen und das Sorgerecht für Freddie übernommen. Es wäre auf dasselbe hinausgelaufen. Ich weiß, es klingt hart. Aber das ist die Wahrheit oft. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du hierher gezogen bist und dein Leben so dramatisch veränderst, nur um etwas wieder gutzumachen, das längst vergangen ist.“

„Vielleicht spielt das eine Rolle. Aber da ist noch etwas.“ Er hob den Arm, wartete, bis Nina sich neben ihn stellte. „Sieh sie dir an.“ Er wies durchs Fenster auf Freddie, die strahlend auf der Schaukel saß und frei wie ein Kolibri durch die Luft sauste. „Sie ist glücklich. Und das bin ich auch.“

2. KAPITEL

„Ich habe keine Angst.“

„Natürlich nicht.“ Spence sah in den Spiegel, vor dem er ihr das Haar band. Sie hatte eine tapfere Miene aufgesetzt. Aber auch ohne dass er das Zittern in ihrer Stimme hörte, wusste er, wie groß die Angst seiner Tochter war. Schließlich fühlte er in seinem eigenen Magen einen faustgroßen Klumpen.

„Andere Kinder würden jetzt vielleicht weinen.“ Ihren großen Augen war anzusehen, dass auch Freddie den Tränen nahe war. „Aber ich nicht.“

„Du wirst viel Spaß haben.“ Er war sich da ebenso wenig sicher wie sein nervöses Kind. Das Schwierige daran, ein Vater zu sein, bestand darin, sich bei allem Möglichen sicher sein zu müssen –oder wenigstens so zu klingen. „Der erste Schultag ist immer etwas schwierig, aber wenn du erst einmal dort bist und die anderen Kinder getroffen hast, wirst du es toll finden.“

Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn mit festem, durchdringendem Blick an. „Wirklich?“

„Im Kindergarten hat es dir doch auch gefallen, nicht?“ Er wich aus, das gestand er sich ein. Aber er durfte nichts versprechen, was er vielleicht nicht würde halten können.

„Meistens.“ Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu und spielte mit dem gelben, wie ein Seepferdchen geformten Kamm auf der Kommode. „Aber Amy und Pam werden nicht da sein.“

„Du wirst neue Freunde finden. JoBeth hast du schon kennen gelernt.“ Er dachte an den braunhaarigen kleinen Kobold, der vor einigen Tagen mit der Mutter am Haus vorbeispaziert war.

„Werde ich wohl. JoBeth ist nett, aber …“ Wie sollte sie ihrem Vater erklären, dass JoBeth ja schon all die anderen Mädchen kannte? „Vielleicht warte ich lieber bis morgen.“

Ihre Blicke begegneten sich im Spiegel. Er zog sie an sich. Sie duftete nach der blassgrünen Seife, die sie so liebte, weil die Stücke wie Dinosaurier geformt waren. Ihr Gesicht war seinem sehr ähnlich, nur viel weicher, sanfter und in seinen Augen unendlich schön.

„Das könntest du natürlich. Aber dann wäre morgen dein erster Unterrichtstag. Du hättest trotzdem Schmetterlinge.“

„Schmetterlinge?“

„Genau hier.“ Er klopfte ihr auf den Bauch. „Fühlt es sich nicht so an, als tanzten dir dort Schmetterlinge herum?“

Sie musste kichern. „Irgendwie schon.“

„Bei mir auch.“

„Wirklich?“ Ihre Augen weiteten sich.

„Wirklich. Ich muss heute Morgen auch zur Schule, genau wie du.“

Sie zupfte an den pinkfarbenen Schleifen, die er ihr an die Zöpfe gebunden hatte. Sie wusste, dass es für ihn nicht dasselbe sein würde, aber das sagte sie ihm nicht. Sonst würde er wieder so traurig schauen. Freddie hatte einmal gehört, wie er mit Tante Nina redete. Und er war ärgerlich geworden, als sie etwas davon sagte, dass er ihre Nichte ausgerechnet in den entscheidenden Jahren aus der gewohnten Umgebung reiße.

Freddie wusste nicht genau, was mit den entscheidenden Jahren gemeint war, aber sie wusste, dass ihr Daddy sich aufgeregt hatte. Und dass er auch noch traurig ausgesehen hatte, als Tante Nina längst fort war. Sie wollte ihn nicht wieder traurig machen. Er sollte nicht denken, dass Tante Nina Recht hatte. Wenn sie nach New York zurückkehrten, würde es Schaukeln nur im Park geben.

Außerdem mochte sie das große Haus und ihr neues Zimmer. Und was noch besser war, ihr Vater arbeitete ganz in der Nähe, und deshalb würde er abends lange vor dem Essen nach Hause kommen. Sie zog die Lippen ein, um keinen Schmollmund zu machen. Da sie gern hier bleiben wollte, würde sie wohl zur Schule müssen.

„Wirst du da sein, wenn ich zurückkomme?“

„Ich glaube schon. Wenn nicht, hast du ja Vera“, sagte er und wusste, dass er sich auf ihre langjährige Haushälterin verlassen konnte. „Du musst mir nachher genau erzählen, wie es dir ergangen ist.“ Er küsste sie auf den Kopf und stellte sie auf den Boden.

In ihrem pink-weißen Spielanzug wirkte sie herzzerreißend klein und zierlich. Ihre grauen Augen waren ernst, die Unterlippe vibrierte. Er unterdrückte den Drang, sie auf den Arm zu nehmen und ihr zu versprechen, dass sie nirgendwohin müsse, wo sie Angst haben würde. „Lass uns nachsehen, was Vera dir in die neue Lunchbox gepackt hat.“

Zwanzig Minuten später stand er am Straßenrand, Freddies winzige Hand in seiner. Fast so angsterfüllt wie seine Tochter sah er dem großen gelben Schulbus entgegen, der gerade über den Hügel kam.

Ich hätte sie selbst zur Schule fahren sollen, schoss es ihm in plötzlicher Panik durch den Kopf. Jedenfalls die ersten Tage. Stattdessen setze ich sie zu all diesen fremden Kindern in den Bus. Aber es war besser so. Er wollte, dass ihr alles ganz normal vorkam, dass sie sich in die Gruppe integrierte und von Anfang an dazugehörte.

Wie konnte er sie allein davonlassen? Sie war noch ein Baby. Sein Baby. Und wenn er es falsch machte? Es ging nicht nur darum, ihr das richtige Kleid auszusuchen. Es ging darum, dass er seiner Tochter sagte, sie solle allein in den Bus einsteigen, und sie sich selbst überließ. Nur weil dies der vorgesehene Tag und die vorgesehene Uhrzeit war.

Wenn der Fahrer nun sorglos war und einen Abhang hinunterfuhr? Wie konnte er sicher sein, dass jemand Freddie am Nachmittag wieder in den richtigen Bus setzte?

Der Bus rollte rumpelnd aus, und seine Finger legten sich fester um Freddies Hand. Als die Tür mit einem Zischen aufging, war er so weit, dass er fast davongelaufen wäre.

„Hallo, ihr zwei.“ Die wohlbeleibte Frau hinter dem Lenkrad nickte ihnen mit breitem Lächeln zu. Hinter ihr tobten die Kinder auf den Sitzen herum. „Sie müssen Professor Kimball sein.“

„Ja.“ Ihm lag eine ganze Reihe von Entschuldigungen auf der Zunge, warum er Freddie nicht in den Bus setzen konnte.

„Ich bin Dorothy Mansfield. Die Kids nennen mich einfach Miss D. Und du bist bestimmt Frederica.“

„Ja, Ma’am.“ Sie biss sich auf die Unterlippe, um sich nicht einfach umzudrehen und das Gesicht an ihrem Daddy zu vergraben. „Sagen Sie einfach Freddie zu mir.“

„Puh.“ Miss D. strahlte sie an. „Bin froh, das zu hören. Frederica ist doch ein ziemlich gewichtiger Name. Also, hüpf an Bord, Freddie. Dein großer Tag hat begonnen. Und du, John Harman, gib Mikey sofort das Buch zurück. Es sei denn, du willst den Rest der Woche auf dem heißen Platz direkt hinter mir verbringen.“

Mit feuchten Augen setzte Freddie den Fuß auf die erste Stufe. Sie schluckte, bevor sie die zweite Stufe meisterte.

„Warum setzt du dich nicht zu JoBeth und Lisa?“ schlug Miss D. freundlich vor. Dann drehte sie sich wieder zu Spence um und winkte ihm augenzwinkernd zu. „Machen Sie sich keine Sorgen, Professor. Wir werden gut auf sie aufpassen.“

Fauchend schloss sich die Tür, und der Bus rumpelte davon. Spence sah ihm nach, wie er sein kleines Mädchen davontrug.

Untätig war Spence an diesem Tag nicht. Seine Zeit war von dem Moment an verplant, an dem er das College betrat. Termine waren zu arrangieren, Mitarbeiter zu treffen, Instrumente und Notenblätter in Augenschein zu nehmen. Dann kam eine Fakultätssitzung, ein hastiger Lunch in der Cafeteria und schließlich die Papiere, Dutzende von Papieren, die er lesen und bearbeiten musste.

Es war ein gewohnter Tagesablauf, einer, mit dem er erstmals begonnen hatte, als er drei Jahre zuvor die Stelle an der Juilliard School angetreten hatte. Aber wie Freddie, so war auch er der Neuling und musste sich anpassen.

Er machte sich Sorgen um sie. Beim Lunch stellte er sich vor, wie sie in der Schul-Cafeteria saß, einem Raum, der nach Erdnussbutter und Milchkartons roch. Vermutlich saß sie am Ende eines mit Krümeln übersäten Tischs, allein und traurig, während die anderen Kinder mit ihren Freunden lachten und herumalberten. Er sah sie, wie sie in der Pause abseits stand und sehnsüchtig hinüberschaute, während die anderen rannten und lachten und auf den Klettergeräten tobten. Das traumatische Erlebnis würde sie für den Rest des Lebens unsicher und unglücklich machen.

Und alles nur, weil er sie in den verdammten gelben Bus gesetzt hatte.

Am Ende des Tages fühlte er sich schuldig, als hätte er sie geschlagen. Er war sicher, dass sein kleines Mädchen in Tränen aufgelöst heimkommen würde, völlig verstört von den Problemen des ersten Schultags.

Mehr als einmal fragte er sich, ob Nina nicht doch Recht gehabt hatte. Vielleicht hätte er alles so lassen sollen, wie es war, vielleicht hätte er doch in New York bleiben sollen, wo Freddie wenigstens ihre Freunde und die bekannte Umgebung besaß.

Die Aktentasche in der Hand, das Sakko über die Schulter geworfen, machte er sich nachdenklich auf den Heimweg. Es war kaum eine Meile entfernt, und das Wetter war für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Das wollte er ausnutzen und zu Fuß zum Campus gehen, bis der Winter hereinbrach.

Er hatte sich bereits in die kleine Stadt verliebt. Entlang der von Bäumen gesäumten Hauptstraße gab es hübsche Geschäfte und großzügige alte Häuser. Shepherdstown war eine College-Stadt und stolz darauf. Aber man war auch stolz auf das Alter und die Würde. Die Straße stieg leicht an, und hier und dort wies der Gehweg Risse auf, wo Baumwurzeln ihn untergraben hatten. Obwohl Autos fuhren, war es still genug, um Hunde bellen oder ein Radio spielen zu hören. Eine Frau jätete ein Tagetes-Beet neben ihrem Fußweg, sah auf und winkte ihm zu. Spence freute sich und erwiderte den Gruß.

Sie kennt mich doch gar nicht, dachte er. Trotzdem hat sie mir zugewinkt. Er freute sich darauf, sie bald wiederzusehen, vielleicht wenn sie gerade Blumenzwiebeln setzte oder Schnee von der Veranda fegte. Es duftete nach Chrysanthemen. Aus irgendeinem Grund reichte das schon aus, ihn ein Glücksgefühl spüren zu lassen.

Nein, er hatte keinen Fehler gemacht. Er und Freddie gehörten hierher. In weniger als einer Woche war dies zu ihrer Heimat geworden.

Er blieb am Bordstein stehen, um eine Limousine passieren zu lassen, die sich die Steigung hinaufquälte. Auf der anderen Straßenseite erkannte er das Ladenschild des „Fun House“. Perfekt, dachte Spence. Der perfekte Name. Einer, der an Gelächter und lustige Überraschungen denken ließ. Genau wie das Schaufenster mit den Bauklötzen, den pausbäckigen Puppen und den glänzenden roten Autos den Kindern eine Schatzgrube versprach. In diesem Moment beherrschte ihn nur noch ein Gedanke. Er wollte etwas besorgen, das seine Tochter ein Lächeln aufs Gesicht zauberte.

Du verwöhnst sie, hörte er Ninas Stimme im Ohr.

Und wenn schon. Er sah sich auf der Straße um und überquerte sie. Sein kleines Mädchen war so tapfer in den Bus marschiert wie ein Soldat in die Schlacht. Sie hatte sich einen kleinen Orden verdient.

Das Glockenspiel erklang, als er den Laden betrat. In der Luft lag ein Duft, so fröhlich wie die Töne der Glocke. Pfefferminz, dachte er und musste lächeln. Aus dem hinteren Teil des Ladens ertönten die blechernen Klänge von „The Merry-Go-Round Broke Down“.

„Ich komme gleich zu Ihnen.“

Spence bemerkte, dass er vergessen hatte, wie ihre Stimme in der Luft schweben und nachhallen konnte.

Diesmal würde er sich nicht lächerlich machen. Diesmal war er darauf vorbereitet, wie sie aussah, wie sie klang und wie sie duftete. Er war hier, um seiner Tochter ein Geschenk zu kaufen, nicht um mit der Inhaberin zu flirten. Grinsend sah er einem einsamen Pandabären ins Gesicht. Kein Gesetz hinderte ihn daran, beides gleichzeitig zu tun. „Ich bin sicher, Bonnie wird sich riesig freuen“, sagte Natasha und nahm der Kundin das Miniatur-Karussell ab. „Es ist ein wunderschönes Geburtstagsgeschenk.“

„Sie hat es vor einigen Wochen hier entdeckt und redet seitdem von nichts anderem mehr.“ Bonnies Großmutter versuchte keine Miene zu verziehen, als sie den Preis las. „Ich nehme an, sie ist groß genug, um vorsichtig damit umzugehen.“

„Bonnie ist ein sehr verantwortungsbewusstes Mädchen“, beruhigte Natasha sie. Dann sah sie Spence am Tresen stehen. „Ich bin gleich bei Ihnen“, sagte sie in seine Richtung. Die Temperatur ihrer Stimme fiel um einige Grade ab. Bis in den Minusbereich.

„Lassen Sie sich Zeit.“ Er ärgerte sich, dass er so intensiv auf ihre Gegenwart reagierte, während sie ihn geradezu frostig begrüßte. Offenbar hatte sie beschlossen, ihn nicht zu mögen. Könnte interessant werden, dachte Spence, während er zusah, wie sie mit geschickten schlanken Fingern das Karussell einpackte. Welche Gründe mochte sie für ihre Abneigung haben?

Vielleicht schaffte er es, sie zu einem Meinungsaustausch zu bewegen.

„Das wären fünfundfünfzig Dollar siebenundzwanzig, Mrs. Mortimer.“

„Aber nein, meine Liebe, auf dem Preisschild stand siebenundsechzig Dollar.“

Natasha wusste, dass Mrs. Mortimer mit jedem Cent rechnen musste, und lächelte nur. „Tut mir Leid. Hatte ich Ihnen nicht gesagt, dass es ein Sonderangebot ist?“

„Nein.“ Mrs. Mortimer atmete erleichtert auf, während sie die Geldscheine zählte. „Nun, dann ist heute wohl mein Glückstag.“

„Und der von Bonnie.“ Natasha krönte das Geschenk mit einer hübschen Glückwunschschleife. Eine in Pink, denn das war Bonnies Lieblingsfarbe. „Vergessen Sie nicht, ihr von mir zu gratulieren.“

„Bestimmt nicht.“ Die stolze Großmutter griff nach dem Paket. „Ich kann es gar nicht abwarten, bis sie es auswickelt. Wiedersehen, Natasha.“

Natasha wartete, bis die Ladentür sich schloss. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Das war eben sehr freundlich von Ihnen.“

Sie hob eine Braue. „Was meinen Sie?“

„Sie wissen, was ich meine.“ Plötzlich spürte er das absurde Verlangen, ihr die Hand zu küssen. Unglaublich, dachte er. Er war fast fünfunddreißig und ließ sich auf eine Schwärmerei für eine Frau ein, die er so gut wie gar nicht kannte. „Ich wollte schon früher kommen.“

„So? War Ihre Tochter mit der Puppe unzufrieden?“

„Nein, sie liebt sie. Es ist nur so, dass …“ Um Himmels willen, jetzt stotterte er schon wieder. Keine fünf Minuten in ihrer Nähe, und er fühlte sich so unsicher wie ein Teenager auf dem ersten Ball. „Ich dachte nur, irgendwie war unsere erste Begegnung etwas … missglückt. Sollte ich mich besser entschuldigen?“

„Wenn Sie möchten.“ Nur weil er attraktiv aussah und etwas verlegen wirkte, gab es noch lange keinen Grund, es ihm leichter als nötig zu machen. „Sind Sie deshalb gekommen?“

„Nein.“ Seine Augen verdunkelten sich, kaum merklich allerdings.

Natasha fragte sich, ob der erste Eindruck getrogen hatte. Vielleicht war er doch nicht so harmlos. In seinen Augen war noch etwas Tiefsinnigeres, etwas, das stärker und gefährlicher war. Am meisten überraschte sie jedoch, dass sie das erregend fand.

Über sich selbst verärgert, schenkte sie ihm ein höfliches Lächeln. „Es gibt also noch einen anderen Grund für Ihren Besuch?“

„Ich brauche etwas für meine Tochter.“ Zur Hölle mit dieser atemberaubenden russischen Prinzessin, dachte er. Er hatte sich um wichtigere Dinge zu kümmern.

„Was hatten Sie sich denn vorgestellt?“

„Ich weiß nicht genau.“ Das stimmte. Er stellte seine Aktentasche ab und sah sich suchend um.

Ein wenig besänftigt kam Natasha um den Tresen herum. „Hat sie Geburtstag?“

„Nein.“ Plötzlich kam er sich kindisch vor und zuckte mit den Schultern. „Es ist ihr erster Schultag, und sie sah so … so tapfer aus, als sie heute Morgen in den Bus kletterte.“

Diesmal fiel Natashas Lächeln spontan aus und war voller Wärme. Ihm blieb fast das Herz stehen. „Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte sie tröstend. „Wenn sie nach Hause kommt, wird sie vor Geschichten über alles und jeden platzen. Der erste Tag ist, glaube ich, für die Eltern viel schwerer als für das Kind.“

„Es war der längste Tag meines Lebens.“

Sie lachte, ein wohltönender, rauchiger Klang, der in dem Raum voller Clowns und Plüschbären unglaublich erotisch an seine Ohren drang. „Mir scheint, nicht nur Ihre Tochter hat sich ein Geschenk verdient. Bei Ihrem letzten Besuch haben Sie sich eine Spieluhr angesehen. Ich habe da noch eine andere, die Ihnen gefallen könnte.“

Mit diesen Worten führte sie ihn nach hinten. Spence gab sich alle Mühe, den subtilen Schwung ihrer Hüften und den milden, frischen Duft ihrer Haut zu ignorieren. Die Spieluhr, die sie ihm zeigte, war aus Holz geschnitzt. Den Sockel zierten eine Katze und eine Geige, eine Kuh und eine Mondsichel. Als die Spieluhr sich zu „Stardust“ drehte, kam der lachende Hund und der Napf mit dem Löffel in Sicht.

„Sie ist bezaubernd.“

„Eine meiner Lieblingsuhren.“ Sie war zu dem Urteil gekommen, dass ein Mann, der seine Tochter so vergötterte, nicht gar so übel sein konnte. „Ich könnte mir vorstellen, dass es ein schönes Erinnerungsstück ist, etwas, mit dem sie an ihrem ersten College-Tag daran erinnert wird, dass ihr Vater damals an sie gedacht hat.“

„Vorausgesetzt, er überlebt das erste Schuljahr.“ Er wandte den Kopf, um sie anzusehen. „Vielen Dank. Dies ist das ideale Geschenk.“

Als er den Kopf bewegte, hatte sein Arm ihre Schulter gestreift. Nur kurz und flüchtig. Dennoch war es ihr durch und durch gegangen. Sekundenlang vergaß sie, dass er ein Kunde war, ein Vater, ein Ehemann. Die Farbe seiner Augen glich der eines Flusses in der Dämmerung. Seine Lippen, zur leisesten Andeutung eines Lächelns verzogen, waren unglaublich anziehend und verführerisch. Unwillkürlich überlegte sie, wie es wohl wäre, sie zu spüren. Ihm ins Gesicht zu sehen, wenn er sie küsste, und sich in seinen Augen zu spiegeln.

Über sich selbst entsetzt, trat sie zurück. Ihre Stimme wurde kälter. „Ich lege sie Ihnen in eine Schachtel.“

Er wunderte sich über den plötzlichen Wechsel des Tonfalls und folgte ihr langsam zum Tresen. War da nicht etwas in ihren Augen gewesen? Oder hatte er es sich nur eingebildet, weil er es zu sehen hoffte? Es war schnell wieder vorbei gewesen, wie eine Flamme im Eisregen.

„Natasha.“ Er legte seine Hand auf ihre, als sie die Spieluhr einzupacken begann.

Langsam hob sie den Blick. Sie hasste sich bereits dafür, dass sie bemerkt hatte, wie schmal und lang seine Finger waren. Und in seiner Stimme registrierte sie jenen duldsamen Unterton, der sie noch nervöser machte, als sie es ohnehin schon war.

„Ja?“

„Warum bekomme ich nur immer das Gefühl, dass Sie mich am liebsten in kochendem Öl sieden möchten?“

„Sie irren sich“, erwiderte sie ruhig. „Ich glaube nicht, dass ich das möchte.“

„Das klingt nicht überzeugt.“ Er spürte, wie ihre Hand sich streckte, weich und doch kräftig. Das Bild samtverkleideten Stahls schien ihm besonders passend. „Irgendwie will mir nicht einfallen, womit ich Sie verärgert habe.“

„Dann sollten Sie darüber nachdenken. Bar oder Kreditkarte?“

Mit Abfuhren hatte er wenig Erfahrung. Diese jedenfalls stach ihm wie eine Wespe ins Ego. Egal wie hübsch sie war, er hatte wenig Lust, sich den Kopf an immer derselben Wand einzuhauen.

„Bar.“ Hinter ihnen ertönte das Glockenspiel, und er ließ ihre Hand los. Drei Kinder, offenbar gerade aus der Schule gekommen, betraten kichernd das Geschäft. Ein kleiner Junge mit rotem Haar und einem Meer von Sommersprossen stellte sich vor dem Tresen auf die Zehenspitzen.

„Ich hab drei Dollar“, verkündete er.

Natasha unterdrückte ein Lächeln. „Heute sind Sie aber sehr reich, Mr. Jensen.“

Er grinste stolz und entblößte dabei seine neueste Zahnlücke. „Ich habe gespart. Ich möchte den Rennwagen.“

Natasha zog eine Augenbraue hoch, während sie Spences Wechselgeld abzählte. „Weiß deine Mutter, wofür du deine Ersparnisse ausgibst?“ Ihr neuer Kunde antwortete nicht. „Scott?“

Er trat von einem Fuß auf den anderen. „Sie hat nicht gesagt, ich darf nicht.“

„Und sie hat nicht gesagt, dass du darfst“, folgerte Natasha. Sie beugte sich vor und zog an seiner Tolle. „Du gehst jetzt nach Hause und fragst sie. Dann kommst du zurück. Der Rennwagen wird noch hier sein.“

„Aber …“

„Du möchtest doch sicher nicht, dass deine Mutter böse auf mich ist, oder?“

Scott blickte einen Moment lang nachdenklich drein, und Natasha sah, wie schwer ihm die Entscheidung fiel. „Ich schätze nicht.“

„Dann geh fragen, und ich hebe dir einen auf.“

Hoffnung keimte in ihm auf. „Versprochen?“

Natasha legte die Hand aufs Herz. „Großes Ehrenwort.“ Sie sah wieder zu Spence hinüber, und der belustigte Ausdruck wich aus ihren Augen. „Ich hoffe, Freddie hat viel Freude an ihrem Geschenk.“

„Das wird sie sicher.“ Er ging hinaus und ärgerte sich über sich selbst. Wie kam er dazu, sich zu wünschen, er wäre ein zehnjähriger Junge mit einer Zahnlücke?

Um sechs schloss Natasha den Laden. Die Sonne schien noch hell, die Luft war noch dunstig. Die Atmosphäre ließ sie an ein Picknick unter einem schattigen Baum denken. Eine angenehmere Vorstellung als das Mikrowellengericht auf meinem Speiseplan, ging es ihr durch den Kopf, wenn auch im Moment etwas unrealistisch.

Auf dem Heimweg sah sie ein Paar Hand in Hand in das Restaurant auf der anderen Straßenseite schlendern. Aus einem vorbeifahrenden Auto rief ihr jemand etwas zu, und sie winkte zurück. Sie hätte in die örtliche Kneipe einkehren können, um bei einem Glas Wein mit den Gästen, die sie kannte, eine Stunde beim Plaudern zu verbringen. Einen Gesprächs- oder Dinnerpartner zu finden war kein Problem. Dazu brauchte sie nur den Kopf durch eine von einem Dutzend Türen zu stecken und den Vorschlag zu machen.

Aber sie war nicht in der Stimmung. Selbst ihre eigene Gesellschaft war ihr heute lästig.

Es ist die Hitze, sagte sie sich, als sie um die Ecke bog. Die Hitze, die den ganzen Sommer hindurch erbarmungslos in der Luft gehangen hatte und keinerlei Anstalten machte, dem Herbst zu weichen. Sie machte sie rastlos. Sie rief Erinnerungen in ihr wach.

Selbst jetzt noch, nach Jahren, schmerzte es sie, Rosen in voller Blüte zu sehen oder Bienen eifrig summen zu hören.

Es war Sommer gewesen, als ihr Leben sich unwiederbringlich änderte. Häufig fragte sie sich, wie ihr Leben aussehen würde, wenn … Die Frage widerte sie an, und sie verachtete sich dafür, dass sie sie sich immer wieder stellte.

Auch jetzt gab es wieder Rosen, zerbrechliche, pinkfarbene, die trotz der Hitze und des Regenmangels gediehen. Sie hatte sie selbst in dem kleinen Streifen Gras vor ihrem Apartment gepflanzt. Sich um sie zu kümmern bereitete ihr Vergnügen und Schmerz zugleich. Was wäre das Leben, wenn es in ihm nicht beides gäbe? Sie strich mit der Fingerspitze über die Blüte. Der warme Duft der Rosen folgte ihr bis vor die Wohnungstür.

In ihren Zimmern herrschte Stille. Sie hatte überlegt, ob sie sich ein Kätzchen oder ein Hundebaby anschaffen sollte, damit sie abends irgendjemand begrüßte, irgendein Wesen, das sie liebte und sich auf sie verließ. Aber dann fand sie es unfair, ein Tier allein in der Wohnung zu lassen, während sie im Laden war.

Also blieb ihr nur die Musik. Sie streifte die Schuhe ab und schaltete die Stereoanlage ein. Selbst das war wie eine Prüfung. Tschaikowskys „Romeo und Julia“. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie zu den schwermütigen, romantischen Takten getanzt hatte, umgeben von den heißen Lichtern, den Rhythmus der Musik im Blut, mit flüssigen Bewegungen, beherrscht, aber ganz natürlich wirkend. Eine dreifache Pirouette, graziös, scheinbar mühelos.

Das ist jetzt Vergangenheit, sagte Natasha sich. Nur die Schwachen trauerten ihr nach.

Was kam, war Routine. Sie tauschte ihre Arbeitskleidung gegen einen locker sitzenden, ärmellosen Overall und hing Rock und Bluse sorgfältig weg, so wie man es ihr beigebracht hatte. Aus reiner Gewohnheit prüfte sie den Rock auf Abnutzungsspuren.

Im Kühlschrank war Eistee. Und natürlich eines jener Fertiggerichte für die Mikrowelle, die sie hasste, aber regelmäßig aß. Sie lachte über sich selbst, als sie das Gerät einschaltete.

So langsam werde ich eine alte Frau, dachte Natasha. Griesgrämig und reizbar von der Hitze. Seufzend rieb sie sich mit dem kalten Glas über die Stirn.

Es musste an diesem Mann liegen. Heute im Geschäft hatte sie ihn einige Momente lang sogar gemocht. Dass er sich um sein kleines Mädchen solche Sorgen machte, es für ihre Tapferkeit am ersten Schultag belohnen wollte, das machte ihn sympathisch. Der Klang seiner Stimme hatte ihr gefallen und die Art, wie seine Augen lächelten. In diesen kurzen Momenten war er ihr wie jemand vorgekommen, mit dem sie lachen und reden könnte.

Dann war plötzlich alles anders geworden. Sicher, zum Teil lag es an ihr. Sie hatte etwas gefühlt, das sie seit langem nicht mehr hatte fühlen wollen. Das Frösteln von Erregung. Den Druck des Verlangens. Es machte sie wütend, und sie schämte sich über sich selbst. Es machte sie zornig auf ihn.

Was fällt ihm bloß ein? Mit einem ungeduldigen Ruck zog sie das Essen aus der Mikrowelle. Flirtet mit mir, als wäre ich irgendein naives Dummerchen, und geht dann nach Hause zu Frau und Kind.

Mit ihm essen? Von wegen. Sie rammte ihre Gabel in die dampfenden Nudeln mit Meeresfrüchten. Die Sorte Mann erwartete für ein Essen die volle Gegenleistung. Der Kerzenlicht-und-Wein-Typ, dachte sie verächtlich. Sanfte Stimme, geduldige Augen, geschickte Hände. Und kein Herz.

Genau wie Anthony. Ruhelos schob sie das Essen zur Seite und griff nach dem Glas, das bereits beschlagen war. Aber jetzt war sie klüger als mit achtzehn. Viel klüger. Viel stärker. Sie war keine Frau mehr, die man mit Charme und schönen Worten verführen konnte. Nicht dass dieser Mann etwa charmant wäre. Sie lächelte. Im Gegenteil, dieser – sie wusste nicht einmal seinen Namen –dieser Typ war eher ungeschickt, stets ein wenig verlegen. Aber eigentlich lag genau darin so etwas wie Charme.

Dennoch war er Anthony sehr ähnlich. Groß, blond und auf diese typisch amerikanische Weise gut aussehend. Ein Äußeres, hinter dem sich eine lockere Moral und ein rücksichtsloses Herz verbargen.

Was Anthony sie gekostet hatte, war nicht wieder gutzumachen. Seit jener Zeit hatte Natasha aufgepasst, dass kein Mann ihr je wieder einen so hohen Preis abverlangte.

Aber sie hatte überlebt. Sie hob ihr Glas und prostete sich zu. Sie hatte nicht nur überlebt, sie war sogar glücklich, jedenfalls dann, wenn die Erinnerungen sie in Ruhe ließen. Sie liebte ihren Laden. Er gab ihr die Möglichkeit, Kinder um sich zu haben und ihnen eine Freude zu machen. In den drei Jahren, die sie ihn besaß, hatte sie sie wachsen sehen. In Annie hatte sie eine wunderbare, lustige Freundin gefunden. In den Geschäftsbüchern schrieb sie schwarze Zahlen. Und ihre Wohnung gefiel ihr.

Über ihrem Kopf rumste es. Lächelnd sah sie zur Decke hoch. Die Jorgensons bereiteten das Abendessen zu. Sie konnte sich vorstellen, wie Don seiner Marilyn jeden Handgriff abnahm, weil sie mit ihrem ersten Kind schwanger war. Natasha freute sich, dass die beiden über ihr wohnten, glücklich, verliebt und voller Zukunftshoffnung.

Das war es, was für sie eine Familie bedeutete. Das hatte sie in der Kindheit gehabt, das hatte sie sich als Erwachsene erwartet. Sie sah noch immer, wie Papa Mama umsorgte, wenn es wieder so weit war. Jedes Mal, erinnerte sie sich und dachte an ihre drei jüngeren Geschwister. Daran, wie er vor Glück geweint hatte, wenn seine Frau und das Baby wohlauf waren.

Er vergötterte seine Nadia. Auch jetzt noch brachte er Blumen mit in das kleine Haus in Brooklyn. Wenn er nach einem langen Arbeitstag heimkam, küsste er seine Frau. Nicht flüchtig, auf die Wange, sondern richtig, voller Wiedersehensfreude. Ein Mann, der auch nach dreißig Jahren noch in seine Frau verliebt war.

Es war ihr Vater, der sie davon abgehalten hatte, alle Männer in einen Topf zu werfen, in den Anthony als Erster gewandert war. Die glückliche Ehe ihrer Eltern hatte in ihr die winzige Hoffnung wach gehalten, eines Tages doch noch jemanden zu finden, der sie so ehrlich liebte wie ihr Vater ihre Mutter.

Eines Tages, dachte sie schulterzuckend. Vorläufig hatte sie ihren eigenen Laden, ihre eigene Wohnung und ihr eigenes Leben. Kein Mann würde ihr Schiff ins Schlingern bringen, mochten seine Hände auch noch so attraktiv aussehen und sein Blick noch so klar sein. Insgeheim hoffte sie, dass die Frau ihres neuesten Kunden ihm nichts als Sorgen und Probleme bereitete.

„Nur noch eine Geschichte, Daddy.“ Ihr fielen fast die Augen zu, und ihr Gesicht glänzte vom Bad, aber Freddie setzte ihr überzeugendstes Lächeln ein. An Spence gekuschelt, lag sie in ihrem großen weißen Himmelbett.

„Du schläfst doch schon.“

„Nein, tue ich nicht.“ Sie sah zu ihm hoch, kämpfte gegen die Müdigkeit. Es war der schönste Tag ihres Lebens gewesen, und sie wollte nicht, dass er schon zu Ende ging. „Habe ich dir erzählt, dass JoBeths Katze Junge bekommen hat? Sechs Stück.“

„Zweimal.“ Spence strich ihr über die Nase. Er wusste genau, was seine Tochter bezweckte, und gab einen väterlichen Standardspruch von sich. „Mal sehen.“

Freddie lächelte schläfrig. Sein Tonfall zeigte ihr, dass er bereits schwach wurde. „Mrs. Patterson ist richtig nett. Alle Kinder mögen sie. Sie lässt uns jeden Freitag ein Ratespiel machen.“

„Das hast du schon gesagt.“ Und ich habe mir Sorgen gemacht, dachte Spence erleichtert. „Ich habe das Gefühl, dir gefällt die Schule.“

„Sie ist ganz gut.“ Sie gähnte ausgiebig. „Hast du all die Zettel ausgefüllt?“

„Du kannst sie morgen wieder mitnehmen.“ Die ganzen fünfhundert Bögen. Was für eine Bürokratie! „Es ist Zeit, das Licht auszuknipsen, Funny Face.“

„Eine Geschichte noch. Eine von denen, die du dir immer ausdenkst.“ Sie gähnte erneut und genoss das wohlige Gefühl seines Baumwollhemds an ihrer Wange und den gewohnten Duft seines Aftershave.

Er gab nach, wissend, dass sie längst eingeschlafen sein würde, bevor er zum „Und wenn sie nicht gestorben sind …“ kam. Seine Geschichte rankte sich um eine wunderschöne, dunkelhaarige Prinzessin aus einem fremden Land und den Ritter, der sie aus ihrem Elfenbeinturm befreien wollte.

Während er noch einen Zauberer und einen Drachen mit zwei Köpfen hinzudichtete, kam er sich wie ein Trottel vor. Er wusste genau, wohin seine Gedanken abschweiften. Zu Natasha. Sie war wunderschön, kein Zweifel, aber er hatte noch nie eine Frau getroffen, die es so wenig wie sie nötig hatte, sich retten zu lassen.

Es war reines Pech, dass er auf seinem täglichen Weg zum Campus an ihrem Laden vorbeikam.

Er würde sie einfach ignorieren. Wenn überhaupt, dann würde er ihr gegenüber Dankbarkeit empfinden. Sie hatte dafür gesorgt, dass er Verlangen spürte, dass er Dinge in sich fühlte, die er schon nicht mehr für möglich gehalten hatte. Vielleicht würde er mehr unter Menschen gehen, jetzt wo Freddie und er sich hier heimisch fühlten. Im College gab es genügend attraktive Singles. Aber die Vorstellung, mit einer von ihnen auszugehen, erfreute ihn nicht. Eine Verabredung, das war etwas für Teenager, weckte Erinnerungen an Autokinos, Pizzas und feuchte Hände.

Er sah auf Freddies Hand hinunter, die zusammengeballt auf seinen ausgestreckten Fingern ruhte.

Was würdest du denken, wenn ich eine Frau zum Abendessen mit nach Hause bringe? Die lautlose Frage ließ ihn einmal mehr an ihre großen Augen denken – und an den verletzten Blick, mit denen sie ihren Eltern nachgesehen hatte, wenn er und Angela ins Theater oder in die Oper aufbrachen.

So wird es nie wieder sein, versprach er Freddie in Gedanken, als er ihren Kopf behutsam von seiner Brust hob und aufs Kissen legte. Die lächelnde Raggedy Ann erhielt ihren Stammplatz neben Freddie, bevor er die Decke bis zu ihrem Kinn hochzog. Mit der Hand auf dem Bettpfosten sah er sich im Zimmer um.

Es trug bereits Freddies Handschrift. Die Puppen thronten auf den Regalen, unter ihnen gestapelte Bilderbücher. Neben ihren Lieblingsschuhen lagen die eleganten pinkfarbenen Plüschpantoffeln. Das Kinderzimmer duftete nach der für seine Bewohnerin typischen Mischung aus Shampoo und Wachsmalstiften. Eine wie ein Einhorn geformte Nachtlampe sorgte dafür, dass sie nicht im Dunkeln aufwachte und sich fürchtete.

Er blieb noch einen Moment, stellte fest, dass das sanfte Licht ihn ebenso beruhigte wie sie. Leise ging er hinaus und ließ die Tür einen Spaltbreit auf.

Unten begegnete er Vera mit einem Tablett, auf dem Kaffee und eine Tasse standen. Die mexikanische Haushälterin war von den Schultern bis zu den Hüften breit gebaut und wirkte auf ihn wie ein kleiner kompakter Güterzug, wenn sie von Zimmer zu Zimmer eilte. Seit Freddies Geburt hatte sie sich nicht nur als hilfreich, sondern als geradezu unverzichtbar erwiesen. Spence wusste, dass man sich die Loyalität einer Angestellten mit einem Gehaltsscheck erkaufen konnte. Aber nicht die Liebe. Und genau die hatte Freddie von Vera bekommen, seit sie in ihrer seidenverzierten Babydecke aus der Klinik gekommen war.

Jetzt warf Vera einen Blick die Treppe hinauf. Ihr von den Jahren gezeichnetes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. „Das war ein großer Tag für sie, was?“

„Ja, und zwar einer, um dessen Dauer sie gekämpft hat, bis ihr die Augen zufielen. Sie hätten sich keine Umstände zu machen brauchen, Vera.“

Sie zuckte mit den Schultern und trug das Tablett in sein Arbeitszimmer. „Sie haben gesagt, Sie wollen heute Abend noch arbeiten.“

„Ja, eine Weile.“

„Ich stelle Ihnen den Kaffee hin. Dann lege ich die Beine hoch und sehe fern.“ Sie stellte den Kaffee auf den Schreibtisch und arrangierte alles, während sie weiterredete. „Mein Baby freut sich über die Schule und die neuen Freunde.“ Was sie nicht sagte, war, dass sie in ihre Schürze geweint hatte, als Freddie den Bus bestieg. „Jetzt, wo das Haus tagsüber leer ist, bleibt mir genug Zeit für die Arbeit. Bleiben Sie nicht zu lange wach, Dr. Kimball.“

„Nein.“ Es war eine Höflichkeitslüge. Er wusste, dass er viel zu rastlos war, um zu schlafen. „Vielen Dank, Vera.“

„De nada.“ Sie fuhr sich über das stahlgraue Haar. „Ich wollte Ihnen noch sagen, wie sehr es mir hier gefällt. Erst hatte ich ja etwas Angst davor, New York zu verlassen, aber jetzt fühle ich mich wohl.“

„Ohne Sie würden wir es nicht schaffen.“

„Sí.“ Das Lob stand ihr zu, fand sie. Seit sieben Jahren arbeitete sie nun schon für den Señor und war stolz darauf, die Haushälterin eines wichtigen Mannes zu sein. Eines anerkannten Musikers, Doktors der Musikwissenschaft und College-Professors. Seit der Geburt seiner Tochter liebte sie „ihr Baby“ und hätte für Spence gearbeitet, auch wenn er es nicht so weit gebracht hätte.

Es hatte ihr nicht gefallen, das schöne Hochhaus in New York gegen dieses geräumige Haus in der Kleinstadt einzutauschen. Aber sie war schlau genug, sich zu denken, dass der Señor es wegen Freddie tat. Erst vor einigen Stunden war Freddie aus der Schule heimgekommen, lachend, aufgeregt, die Namen ihrer neuen besten Freundinnen auf den Lippen. Also war auch Vera zufrieden.

„Sie sind ein guter Vater, Dr. Kimball.“

Spence warf ihr einen Blick zu, bevor er sich an den Schreibtisch setzte. Ihm war nur zu gut in Erinnerung, dass Vera ihn einst für einen sehr schlechten Vater gehalten hatte. „Ich lerne es.“

„Sí.“ Nebenbei schob sie ein Buch im Regal zurecht. „In diesem großen Haus brauchen Sie keine Angst zu haben, dass Sie Freddie beim Schlafen stören, wenn Sie nachts auf dem Flügel spielen.“

Er sah erneut zu ihr hinüber. Ihm war klar, dass sie ihn auf ihre Weise ermutigen wollte, sich wieder auf seine Musik zu konzentrieren. „Nein, das würde ich wohl nicht. Gute Nacht, Vera.“

Vera sah sich noch einmal prüfend um, ob es noch etwas zu tun gäbe, und ließ ihn allein.

Spence goss sich Kaffee ein und musterte die Papiere auf dem Schreibtisch. Neben seinen eigenen Unterlagen lagen die Bögen aus Freddies Schule. Er hatte noch eine Menge vorzubereiten, bevor in der nächsten Woche seine Kurse begannen.

Er freute sich darauf und versuchte, nicht daran zu denken, dass die Musik, die früher so mühelos in seinem Kopf erklungen war, nun verstummt war.

3. KAPITEL

„Natasha schob die Spange durch das Haar über ihrem Ohr und hoffte, dass sie länger als fünf Minuten an der Stelle bleiben würde, an der sie sie haben wollte. Sie betrachtete mit prüfendem Blick ihr Bild in dem schmalen Spiegel über der Spüle im Hinterzimmer des Ladens und beschloss, die Lippen noch etwas nachzuziehen. Es machte nichts, dass der Tag lang und hektisch gewesen war und ihr die Füße vor Müdigkeit schmerzten. Den heutigen Abend hatte sie sich wahrlich verdient, als Belohnung für gute Arbeit.

Jedes Semester schrieb sie sich für einen Kurs am College ein. Sie suchte sich ein möglichst lustiges, möglichst spannendes oder möglichst ungewöhnliches Thema aus. Die Dichtung der Renaissance in dem einen Jahr, Autoreparatur im anderen. Diesmal würde sie sich an zwei Abenden in der Woche der Geschichte der Musik widmen. Heute Abend würde sie in ein völlig neues Wissensgebiet vorstoßen. Alles, was sie lernte, hortete sie zu ihrem eigenen Vergnügen, so wie andere Frauen Diamanten und Smaragde sammelten. Es musste gar nicht nützlich sein. Das war ihrer Meinung nach ein funkelndes Halsband schließlich auch nicht. Es war lediglich aufregend, es zu besitzen.

Sie war mit allem Notwendigen ausgerüstet: Füllfederhalter und Bleistifte und einem Übermaß an Begeisterung. Um sich vorzubereiten, hatte sie die Bücherei geplündert und zwei Wochen lang einschlägige Bücher verschlungen. Ihr Stolz ließ es nicht zu, völlig unwissend in den Kurs zu gehen. Sie war neugierig darauf, ob der Dozent es schaffen würde, den trockenen Fakten etwas Würze und Spannung zu verleihen.

Es gab wenig Zweifel, dass der Dozent ihres Kurses in anderen Lebensbereichen für Spannung und Würze sorgte. Annie hatte ihr noch am Morgen erzählt, dass die halbe Stadt schon über den neuen Professor am College redete. Dr. Spence Kimball.

Der Name klang in Natashas Ohren sehr seriös, ganz und gar nicht nach dem, was Annie ihr erzählt hatte. Ihre Informationen stammten von der Tochter ihrer Cousine, die sich am College zur Grundschullehrerin ausbilden ließ und im Nebenfach Musik studierte. Ein Sonnengott, so hatte Annie die Beschreibung weitergegeben und Natasha damit zum Lachen gebracht.

Ein äußerst begabter Sonnengott, dachte Natasha, während sie die Lampen im Laden ausschaltete. Sie kannte Kimballs Werke, jedenfalls die, die er komponiert hatte, bevor er das Schreiben von Musikstücken so abrupt und unerklärlich aufgegeben hatte. Sie hatte sogar nach seiner Prélude in d-Moll getanzt, damals beim Corps de Ballet in New York.

Eine Million Jahre her, dachte sie, als sie auf den Bürgersteig trat. Jetzt würde sie dem Genie persönlich begegnen, sich seine Ansichten anhören und dadurch den klassischen Stücken, die sie so liebte, vielleicht neue Bedeutung abgewinnen können.

Vermutlich ist er ein temperamentvoller Künstlertyp, malte sie ihn sich aus. Oder ein blasser Exzentriker mit Ohrring. Ihr war es egal. Sie wollte hart arbeiten. Jeder Kurs, den sie belegte, war für sie eine Sache des Stolzes. Es bohrte noch immer in ihr, wie wenig sie mit achtzehn gewusst hatte. Wie wenig sie sich für andere Dinge als den Tanz interessiert hatte. Sie hatte sich völlig auf die eine Welt konzentriert, so dass ihr andere verschlossen geblieben waren. Und als diese eine Welt ihr geraubt wurde, war sie so verloren wie ein Kind, ausgesetzt in einem Boot auf dem Atlantik.

Aber sie hatte zurück ans Ufer gefunden, so wie ihre Familie den Weg durch die Steppen der Ukraine in den Dschungel von Manhattan gefunden hatte. Sie gefiel sich jetzt besser, die unabhängige, ehrgeizige Amerikanerin, die sie geworden war. So wie sie jetzt war, konnte sie stolz wie jeder Student im ersten Semester das große, schöne alte Gebäude auf dem Campus betreten.

In den Fluren hallten Schritte, weit entfernt und aus verschiedenen Richtungen. Es herrschte eine ehrfürchtige Stille, die Natasha immer mit Kirchen und Universitäten verband. In gewisser Weise gab es auch hier eine Religion, nämlich den Glauben an das Wissen.

Irgendwie empfand sie so etwas wie Ehrfurcht, als sie den Kursraum suchte. Als Kind von fünf Jahren hatte sie sich damals in dem kleinen Bauerndorf so ein Gebäude gar nicht vorstellen können. Und die Bücher und Pracht darin erst recht nicht.

Mehrere Studenten warteten schon auf den Beginn. Eine gemischte Truppe, stellte sie fest, vom College-Alter bis zu mittleren Jahren. Alle schienen sie vor freudiger Erwartung zu glühen. Die Uhr zeigte zwei Minuten vor acht. Sie hatte damit gerechnet, dass Kimball bereits vorn sitzen würde, in seinen Unterlagen wühlte, seine Studenten aus bebrillten Augen musterte und sich immer wieder durch das etwas wilde, bis zu den Schultern reichende Haar fuhr.

Geistesabwesend lächelte sie einem jungen Mann mit Hornbrille zu, der sie anstarrte, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht. Sie setzte sich und sah gleich darauf wieder auf, als der junge Mann sich umständlich hinter den benachbarten Tisch schob.

„Hi.“

Er sah sie an, als hätte sie ihn nicht gegrüßt, sondern ihm einen Knüppel über den Kopf geschlagen. Nervös schob er sich die Brille den Nasenrücken hinauf. „Hi. Ich bin … ich bin Terry Maynard“, mühte er sich ab, als wäre ihm sein Name entfallen.

„Natasha.“ Sie lächelte nochmals. Er war noch keine fünfundzwanzig und so harmlos wie ein Hundebaby.

„Ich habe dich, äh, noch nie hier gesehen.“

„Nein.“ Obwohl sie sich mit siebenundzwanzig geschmeichelt fühlte, für eine Mitstudentin gehalten zu werden, behielt sie den nüchternen Tonfall bei. „Ich habe nur diesen einen Kurs belegt. Zum Vergnügen.“

„Zum Vergnügen?“ Terry schien die Musik äußerst ernst zu nehmen. „Du weißt hoffentlich, wer Dr. Kimball ist.“ Seine Ehrfurcht war so groß, dass er den Namen fast flüsternd aussprach.

„Ich habe von ihm gehört. Du studierst Musik im Hauptfach?“

„Ja. Ich hoffe, dass ich … nun, eines Tages … bei den New Yorker Symphonikern spielen werde.“ Mit stumpfen Fingern rückte er sich die Brille zurecht. „Ich bin Violinist.“

Ihr Lächeln brachte seinen Adamsapfel zum Hüpfen. „Wie schön. Ich bin sicher, du spielst großartig.“

„Was spielst du?“

„Poker.“ Sie lachte und lehnte sich zurück. „Entschuldigung. Nein, im Ernst, ich spiele überhaupt kein Instrument. Aber ich liebe es, Musik zu hören, und dachte mir, der Kurs macht bestimmt Spaß.“ Sie sah zur Wanduhr. „Falls er stattfindet, heißt das. Offenbar hat unser geschätzter Professor Verspätung.“

In diesem Moment eilte der geschätzte Professor durch die Gänge, wütend auf sich selbst, dass er diesen Abendkurs übernommen hatte. Nachdem er Freddie bei den Hausaufgaben geholfen hatte – „Wie viele Tiere entdeckst du auf diesem Bild?“ –, sie davon überzeugt hatte, dass Rosenkohl nicht eklig, sondern toll schmeckte, und sich umgezogen hatte, weil bei ihrer Umarmung eine mysteriöse klebrige Substanz auf seinen Ärmel gelangt war, sehnte er sich nach einem guten Buch und einem alten Brandy, sonst nichts.

Stattdessen stand ihm ein Raum voll eifriger Gesichter bevor, die alle erfahren wollten, was Beethoven getragen hatte, als er die Neunte Symphonie komponierte.

Mit der schlechtestmöglichen Laune betrat er den Unterrichtsraum. „Guten Abend. Ich bin Dr. Kimball.“ Das Gemurmel und Geklapper erstarb. „Ich muss mich für die Verspätung entschuldigen. Wenn Sie sich jetzt setzen, können wir gleich loslegen.“

Während er sprach, ließ er den Blick durch den Raum schweifen. Und starrte plötzlich in Natashas verblüfftes Gesicht.

„Nein.“ Sie merkte gar nicht, dass sie das Wort laut ausgesprochen hatte. Und selbst wenn, es hätte ihr nichts ausgemacht. Dies ist bestimmt ein Scherz, dachte sie, und zwar ein besonders schlechter. Dieser Mann in dem lässig-eleganten Sakko war Spence Kimball, ein Musiker, dessen Melodien sie bewundert und nach denen sie getanzt hatte? Der Mann, der, gerade erst in den Zwanzigern, in der Carnegie Hall aufgetreten und von den Kritikern zum Genie erklärt worden war? Dieser Mann, der in Spielzeugläden nach Frauen für ein Abenteuer suchte, war der berühmte Dr. Kimball?

Es war unglaublich, es machte sie rasend, es …

Wunderbar, dachte Spence, während er sie anstarrte. Absolut wunderbar. Es war geradezu perfekt. Jedenfalls solange es ihm gelang, das Lachen zu unterdrücken, das in ihm aufstieg. Also war sie seine Studentin. Das war besser, viel besser als ein alter Brandy und ein ruhiger Abend.

„Ich bin sicher“, sagte er nach einer langen Pause, „dass wir die nächsten Monate faszinierend finden werden.“

Hätte ich mich doch bloß für Astronomie eingetragen, dachte Natasha verzweifelt. Sie hätte viel Wissenswertes über die Planeten und Sterne erfahren. Über Asteroiden. Über Anziehungskraft und Trägheit. Was immer das bei Steinen sein mochte. Sicherlich war es wichtiger, herauszubekommen, wie viele Monde den Jupiter umkreisen, als Komponisten im Burgund des fünfzehnten Jahrhunderts zu studieren.

Natasha beschloss, den Kurs zu wechseln. Gleich morgen früh würde sie die Umschreibung erledigen. Und wenn sie nicht sicher gewesen wäre, dass Dr. Spence Kimball triumphierend grinsen würde, wäre sie aufgestanden und gegangen.

Sie rollte ihren Bleistift zwischen den Fingern hin und her, bevor sie die Beine übereinander schlug und sich fest vornahm, ihm nicht zuzuhören.

Leider klang seine Stimme so attraktiv.

Ungeduldig sah sie zur Uhr. Noch fast eine Stunde. Sie würde das tun, was sie beim Zahnarzt immer tat – sich vorstellen, dass sie woanders war.

Krampfhaft bemüht, die Ohren vor ihm zu verschließen, wippte sie mit dem Fuß und kritzelte auf ihrem Block herum.

Sie merkte gar nicht, wie aus dem Gekritzel Notizen wurden. Oder wie sie ihm an den Lippen zu hängen begann. Er ließ die Musiker des fünfzehnten Jahrhunderts lebendig werden und ihre Werke so real wie Fleisch und Blut. Rondeaux, Vierelais, Ballades. Fast hörte sie sie wirklich, die dreistimmig gesungenen Gesänge der ausgehenden Renaissance, die Ehrfurcht gebietenden, hochfliegenden Kyrien und Glorien in den Kathedralen.

Sie lauschte gebannt, gefesselt von der jahrhundertealten Rivalität zwischen Kirche und Staat und der Rolle der Musik in der Politik. Sie konnte die riesigen Bankettsäle sehen, voll elegant gekleideter Aristokraten, die in musikalischen und kulinarischen Genüssen schwelgten.

„Beim nächsten Mal reden wir über die frankoflämische Schule und die Entwicklung der Rhythmik.“ Spence lächelte seiner Klasse freundlich zu. „Und ich werde versuchen, pünktlich zu sein.“

War es schon vorbei? Natasha sah wieder zur Uhr hinüber und stellte überrascht fest, dass es schon nach neun war.

„Er ist unglaublich, nicht wahr?“ Terrys Augen glänzten hinter den Brillengläsern.

„Ja.“ Es fiel ihr schwer, das zuzugeben, aber Wahrheit blieb Wahrheit.

„Du solltest ihn mal in Musiktheorie erleben.“ Neidisch sah er zu der Gruppe von Studenten hinüber, die sich um sein Idol drängte. Bis jetzt hatte er den Mut nicht aufgebracht, Dr. Kimball anzusprechen.

„Wie? Ach so. Gute Nacht, Terry.“

„Ich könnte, äh, dich im Wagen mitnehmen, wenn du möchtest.“ Dass der Tank fast leer war und der Auspuff nur noch von einem Drahtbügel in Position gehalten wurde, kam ihm nicht in den Sinn.

Sie schenkte ihm ein abwesendes Lächeln, das sein Herz einen Cha-Cha-Cha tanzen ließ. „Das ist nett von dir, aber ich wohne ganz in der Nähe.“

Sie hatte gehofft, sich unauffällig absetzen zu können, während Spence noch mit den anderen beschäftigt war. Sie hätte es besser wissen sollen.

Er legte ihr einfach nur die Hand auf den Arm und hielt sie zurück. „Ich würde gern kurz mit Ihnen reden, Natasha.“

„Ich habe es eilig.“

„Es wird nicht lange dauern.“ Er nickte dem letzten Studenten zu, lehnte sich gegen seinen Schreibtisch und lächelte. „Ich hätte mir die Teilnehmerliste genauer ansehen sollen. Aber andererseits ist es schön, dass es auf dieser Welt noch Überraschungen gibt.“

„Das hängt davon ab, wie man es sieht, Dr. Kimball.“

„Spence.“ Er lächelte weiterhin. „Der Unterricht ist vorbei.“

„Allerdings.“ Ihr königliches Nicken ließ ihn erneut an das russische Zarentum denken. „Entschuldigen Sie mich“, sagte sie.

„Natasha …“ Er wartete und glaubte ihre Ungeduld förmlich greifen zu können. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand mit Ihrer Herkunft nicht an eine Fügung des Schicksals glaubt.“

„Eine Fügung des Schicksals?“

„Bei all den Klassenräumen in all den Universitäten der ganzen Welt kommen Sie ausgerechnet in meinen spaziert. Das kann doch kein Zufall sein.“

Sie würde nicht lachen. Unter keinen Umständen. Doch bevor sie es verhindern konnte, zuckten ihre Mundwinkel. „Und ich hielt es einfach nur für Pech!“

„Warum gerade die Geschichte der Musik?“

Sie stützte ihr Notizbuch auf die Hüfte. „Die oder Astronomie. Ich habe eine Münze entscheiden lassen.“

„Das klingt nach einer faszinierenden Geschichte. Warum trinken wir nicht unten an der Straße einen Kaffee zusammen? Dann können Sie sie mir erzählen.“ Jetzt erkannte er sie, die Wut, die wie erkaltete Lava ihren samtweichen Blick hart und dunkel werden ließ. „Warum macht Sie das denn so wütend?“ fragte er, mehr sich selbst als sie. „Kommt in dieser Stadt eine Einladung zum Kaffee einem unsittlichen Antrag gleich?“

„Das müssten Sie doch am besten wissen, Dr. Kimball!“ Sie drehte sich um, doch er war vor ihr an der Tür und schlug diese so heftig zu, dass sie zurückwich. Ihr ging auf, dass er ebenso wütend war wie sie. Nicht dass ihr das wichtig wäre. Es war nur, weil er auf sie so sanftmütig gewirkt hatte. Verachtenswert, aber sanftmütig. Jetzt sah er völlig verändert aus. Als ob die faszinierenden Winkel und Kanten seines Gesichts aus Stein geschnitzt wären.

„Werden Sie doch etwas deutlicher.“

„Öffnen Sie die Tür.“

„Gern. Sobald Sie meine Frage beantwortet haben.“ Er war jetzt wirklich zornig. Spence ging auf, dass er seit Jahren nicht mehr so in Rage gekommen war. Es war herrlich, die heiße Erregung in sich zu spüren. „Mir ist klar, dass Sie meine Zuneigung nicht unbedingt erwidern müssen.“

Sie hob ruckartig das Kinn. „Das tue ich auch nicht.“

„Schön.“ Das war kein Grund, sie zu erwürgen, obwohl ihm danach war. „Aber ich möchte verdammt noch mal wissen, warum Sie, sobald ich auftauche, das Feuer eröffnen.“

„Weil Männer wie Sie erschossen werden sollten.“

„Männer wie ich“, wiederholte er, jedes Wort betonend. „Was genau heißt das?“

„Glauben Sie etwa, Sie könnten sich alles erlauben, weil Sie ein interessantes Gesicht haben und so nett lächeln? Ja“, gab sie sich selbst die Antwort und schlug sich mit dem Notizbuch gegen die Brust. „Sie glauben, Sie brauchen nur mit den Fingern zu schnippen.“ Sie machte es vor. „Und schon liegt die Frau in Ihren Armen.“

Ihm entging nicht, dass ihr Akzent stärker zu Tage trat, wenn sie erregt war. „Ich kann mich nicht erinnern, mit den Fingern geschnippt zu haben.“

Sie stieß einen kurzen, mehr als deutlichen ukrainischen Fluch aus und griff nach der Türklinke. „Sie wollen also mit mir eine Tasse Kaffee trinken? Gut. Wir trinken Kaffee … und rufen Ihre Frau an. Vielleicht möchte sie mitkommen.“

„Meine was?“ Er legte seine Hand auf ihre, sodass die Tür zunächst aufging und sich knallend wieder schloss. „Ich habe keine Frau.“

„Wirklich?“ Das Wort triefte vor Verachtung. Ihre Augen blitzten. „Dann ist die Frau, die mit Ihnen in den Laden kam, wohl Ihre Schwester?“

Eigentlich hätte er es lustig finden sollen, aber er brachte den Humor nicht auf. „Nina? In der Tat, das ist sie.“

Natasha riss die Tür mit einem abfälligen Knurren auf. „Das finde ich erbärmlich.“

Voll ehrlicher Entrüstung stürmte sie den Flur entlang und durch den Haupteingang. Ihre Absätze knallten in einem Stakkato auf den Beton, der ihrer Stimmung hörbar Ausdruck verlieh. Sie hastete die Stufen hinunter, als sie plötzlich herumgerissen wurde.

„Sie haben vielleicht Nerven!“

„Ich?“ stieß sie hervor. „Ich habe Nerven?“

„Sie bilden sich ein, Sie wüssten alles, was?“ Da er größer war als sie, konnte er auf sie herunterstarren. Schatten wanderten über sein Gesicht. Seine Stimme klang hart, aber kontrolliert. „Selbst, wer ich bin.“

„Dazu gehört nicht viel!“ Der Griff an ihrem Arm war fest. In ihren Zorn mischte sich eine ganz elementare sexuelle Erregung, und das gefiel ihr überhaupt nicht. Sie warf das Haar zurück. „Sie sind eigentlich ziemlich typisch.“

„Ich frage mich, ob ich in Ihren Augen noch weiter sinken kann.“

„Das bezweifle ich.“

„In dem Fall brauche ich mich ja nicht länger zurückzuhalten!“

Das Notizbuch flog ihr aus der Hand, als er sie an sich zog. Ihr blieb nur Zeit zu einem kurzen, verblüfften Aufschrei, bevor er sie küsste.

Natasha hatte sich vorgenommen, sich gegen ihn zu wehren. Immer wieder hatte sie sich das geschworen. Doch es war der Schock, der sie widerstandsunfähig machte. Jedenfalls hoffte sie, dass es nur der Schock war.

Es war ein Fehler. Ein unverzeihlicher Fehler. Und es war wunderbar. Er hatte instinktiv den Schlüssel zu der Leidenschaft gefunden, die so lange in ihr in einer Art Winterschlaf gelegen hatte. Sie spürte, wie sie erwachte und sich in ihrem Körper ausbreitete. Wie durch Watte hörte sie jemanden auf dem Fußweg unterhalb der Treppe lachen. Eine Autohupe, ein Begrüßungsruf, dann wieder Stille.

Ihr ohnehin schon klägliches Protestgemurmel erstarb, als seine Zunge in ihren Mund glitt. Er schmeckte wie ein Bankett nach langem Fasten. Obwohl sie die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt hatte, drängte sie sich in den Kuss.

Sie zu küssen war wie ein Marsch durch ein Minenfeld. Jeden Augenblick konnte eine explodieren und ihn in Stücke reißen. Er hätte schon nach dem ersten Schock aufhören sollen, doch die Gefahr besaß ihren eigenen Reiz.

Und diese Frau war gefährlich. Als er seine Finger in ihr Haar grub, fühlte er, wie der Boden zitterte und bebte. Es war sie, das Versprechen, die Bedrohung einer titanischen Leidenschaft. Er schmeckte es auf ihren Lippen. Er spürte es an ihrer starren Haltung. Wenn sie dieser Leidenschaft freien Lauf ließe, würde sie ihn zum Sklaven machen können.

Bedürfnisse, die er nie gekannt hatte, schlugen wie Fäuste auf ihn ein. Bilder voller Feuer und Rauch tanzten vor seinen Augen. Irgendetwas in ihm wollte sich befreien, wie ein Vogel, der gegen das Gitter seines Käfigs flog. Er fühlte, wie das Metall nachzugeben begann. Doch dann entzog Natasha sich ihm und starrte ihn aus geweiteten, vielsagenden Augen an.

Der Atem blieb ihr weg. Sekundenlang fürchtete sie, auf der Stelle zu sterben. Mit diesem ungewollten, schamlosen Verlangen als letztem Gedanken auf Erden. Sie schnappte nach Luft.

„Ich hasse Sie so sehr, wie ich nie wieder jemanden hassen könnte!“

Er schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen. Ihre Nähe hatte ihn schwindlig und völlig wehrlos gemacht. Er wartete, bis er sicher sein konnte, dass seine Stimme ihm gehorchte. „Das ist ein hoher Sockel, auf den Sie mich da heben, Natasha.“ Er ging die Stufen hinunter, bis er ihr direkt in die Augen sehen konnte. „Lassen Sie uns sichergehen, ob Sie mich aus dem richtigen Grund hinaufbefördern. Ist es, weil ich Sie geküsst habe oder weil Sie es mochten?“

Sie hob den Arm, doch er packte ihr Handgelenk rechtzeitig. Gleich darauf bereute er es, denn hätte sie ihn geohrfeigt, wären sie quitt gewesen.

„Kommen Sie mir nie wieder nahe“, sagte sie schwer atmend. „Ich warne Sie. Wenn Sie es doch tun, weiß ich nicht, was ich sage und wer es hört. Wenn da nicht Ihr kleines Mädchen wäre …“ Sie brach ab und bückte sich nach ihren Sachen. „Ein so wunderbares Kind verdienen Sie gar nicht.“

Er ließ ihren Arm los, aber sein Gesichtsausdruck ließ sie erstarren. „Sie haben Recht. Ich habe Freddie nie verdient und werde es wahrscheinlich auch nie tun, aber sie hat nur mich. Ihre Mutter – meine Frau – ist vor drei Jahren gestorben.“

Mit raschen Schritten ging er davon, tauchte in den Schein einer Straßenlaterne ein, verschwand dann in der Dunkelheit. Natasha setzte sich erschöpft auf die Stufen.

Was sollte sie jetzt tun?

Ihr blieb keine andere Wahl. So ungern sie ihn auch beschritt, es gab nur den einen Weg. Natasha rieb sich die Handflächen an der Khakihose ab und ging die frisch gestrichenen Holzstufen hinauf.

Ein schönes Haus, dachte sie, um Zeit zu gewinnen. Sie war schon so oft daran vorbeigekommen, dass sie es gar nicht mehr wahrnahm. Es war eins jener robusten alten Backsteinhäuser, die abseits der Straße hinter Bäumen und Hecken lagen.

Die Sommerblumen waren noch nicht verblüht, und schon meldeten sich ihre herbstlichen Nachfolger. Prächtige Rittersporne rivalisierten mit würzig duftendem Hopfen, leuchtende Gladiolen mit strahlenden Astern. Jemand pflegte sie. Auf den Beeten sah sie frischen Mulch, der nach der Wässerung noch dampfte.

Sie gab sich eine weitere Gnadenfrist und betrachtete das Haus. Vor den Fenstern hingen Gardinen aus hauchdünnem, elfenbeinfarbenem Stoff, der die Sonne hereinließ. Weiter oben entdeckte sie ein lustiges Muster aus Einhörnern. Das musste das Zimmer eines kleinen Mädchens sein.

Schließlich nahm sie ihren Mut zusammen und überquerte die Veranda. Es wird schnell gehen, sagte sie sich, als sie an die Tür klopfte. Nicht schmerzlos, aber schnell.

Die Frau, die ihr öffnete, war gedrungen, ihr Gesicht so braun und faltig wie eine Rosine. Natasha blickte in ein Paar dunkler Augen, während die Haushälterin sich schon die Hände an der stark beanspruchten Schürze abwischte.

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich würde gern Dr. Kimball sprechen.“ Sie lächelte, dabei kam sie sich vor, als stelle sie sich selbst an den Pranger. „Ich bin Natasha Stanislaski.“ Ihr entging keineswegs, wie sich die kleinen Augen der Haushälterin merklich verengten, bis sie fast zwischen den Falten verschwanden.

Vera hatte Natasha zunächst für eine der Studentinnen des Señors gehalten und sie abwimmeln wollen. „Ihnen gehört der Spielzeugladen in der Stadt.“

„Das stimmt.“

„Ach so.“ Mit einem Nicken hielt sie Natasha die Tür auf. „Freddie meint, Sie seien eine sehr nette Lady, die ihr ein blaues Band für die Puppe gegeben hat. Ich musste ihr versprechen, mit ihr wieder hinzugehen. Aber nur, um zu gucken.“ Sie machte eine einladende Handbewegung.

Während sie durch die Halle gingen, hörte Natasha die tastenden Töne eines Flügels. Sie entdeckte sich in einem alten ovalen Spiegel und war überrascht, sich lächeln zu sehen.

Spence saß mit dem Kind auf dem Schoß am Flügel und sah ihr über den Kopf hinweg zu, wie sie langsam und konzentriert dem Instrument die Melodie von „Mary Had a Little Lamb“ entlockte. Durch die Fenster hinter ihnen strömte das Sonnenlicht herein. In diesem Moment wünschte sie sich, malen zu können. Wie sonst wäre er festzuhalten?

Alles war perfekt. Das Licht, die Schatten, die blassen Pastellfarben des Raums – alles verband sich zu einem meisterhaften Hintergrund. Die Haltung ihrer Köpfe, ihrer Körper war zu natürlich und ausdrucksvoll, um gestellt zu wirken. Das Mädchen war in Pink und Weiß gekleidet, die Schnürsenkel des einen Turnschuhs offen. Er hatte Sakko und Krawatte abgelegt und die Ärmel seines Oberhemds bis zu den Ellbogen aufgerollt.

Das Haar der Kleinen schimmerte zart, seines schien im Sonnenlicht zu glühen. Das Kind lehnte mit dem Rücken an der kräftigen Gestalt des Vaters, der Kopf ruhte unterhalb seines Schlüsselbeins. Ein leises Lächeln erhellte Freddies Gesicht. Und über allem lag der schlichte Rhythmus des Kinderliedes, das sie spielte.

Seine Hände lagen auf den Knien, die Finger klopften im Tandem mit dem antiken Metronom den Takt auf den Jeansstoff. Die Liebe, die Geduld, der Stolz waren nicht zu übersehen.

„Nein, bitte“, flüsterte Natasha und hielt Vera mit erhobener Hand zurück. „Stören Sie die beiden nicht.“

„Jetzt spielst du, Daddy.“ Freddie drehte den Kopf zur Seite und blickte zu ihm hoch. „Spiel etwas Schönes.“

„Für Elise.“ Natasha erkannte sie sofort, die leise, romantische, irgendwie einsame Melodie. Sie starrte wie gebannt auf seine schlanken Finger, die fast zärtlich, verführerisch über die Tasten glitten, und die Musik drang ihr ins Herz.

Es wirkte alles so mühelos, aber sie wusste, dass eine solche Vollendung sehr viel Übung und Konzentration kostete.

Die Musik schwoll an, Note auf Note, unerträglich traurig und doch so schön wie die Vase mit wächsernen Lilien, die sich in der glänzenden Oberfläche des Flügels spiegelte.

Zu viel Gefühl, dachte Natasha. Zu viel Trauer, obwohl die Sonne noch durch die hauchfeinen Gardinen schien und das Kind auf seinem Schoß noch immer lächelte. Der Drang, zu ihm zu gehen, ihm eine tröstende Hand auf die Schulter zu legen, sie beide an ihr Herz zu drücken, war so stark, dass sie die Fingernägel in die Handflächen graben musste.

Dann schwebte die Musik davon. Die letzte Note hing wie ein Seufzen im Raum.

„Das Stück gefällt mir“, erklärte Freddie. „Hast du es dir ausgedacht?“

„Nein.“ Er sah auf seine Finger hinab, spreizte sie, streckte sie und legte sie auf ihre Hand. „Beethoven hat das getan.“ Doch dann lächelte er wieder und presste die Lippen auf den sanft geschwungenen Nacken seiner Tochter. „Genug für heute, Funny Face.“

„Kann ich bis zum Essen draußen spielen?“

„Nun … was gibst du mir dafür?“

Es war ein altes, sehr beliebtes Spiel zwischen ihnen. Kichernd drehte sie sich auf seinem Schoß um und gab ihm einen festen, schmatzenden Kuss. Noch atemlos von der gewaltigen Umarmung entdeckte sie Natasha. „Hi!“

„Miss Stanislaski möchte Sie sehen, Dr. Kimball.“

Er nickte, und Vera ging zurück in die Küche.

„Hi. Ich hoffe, ich störe nicht.“

„Nein.“ Er drückte Freddie nochmals und stellte sie auf den Boden.

Sie lief sofort zu Natasha hinüber. „Meine Klavierstunde ist vorbei. Sind Sie gekommen, um Unterricht zu nehmen?“

„Nein, diesmal nicht.“ Natasha konnte nicht widerstehen und bückte sich, um Freddies Wange zu streicheln. „Ich wollte mit deinem Vater reden.“ Was bin ich nur für ein Feigling, dachte Natasha. Anstatt ihn anzusehen, sprach sie weiter mit Freddie. „Gefällt dir die Schule? Du bist in Mrs. Pattersons Klasse, nicht wahr?“

„Sie ist nett. Sie hat nicht einmal geschrien, als Mikey Towers’ Käfersammlung im Klassenzimmer ausgebrochen ist.“

Natasha band Freddie ganz automatisch die losen Schnürsenkel. „Kommst du bald einmal in den Laden und besuchst mich?“

„Okay.“ Freddie rannte strahlend zur Tür. „Bye, Miss Stanof … Stanif …“

„Tash.“ Sie zwinkerte Freddie zu. „Alle Kinder nennen mich Tash.“

„Tash.“ Der Name schien Freddie zu gefallen. Sie lächelte und verschwand nach draußen.

Sie hörte das Mädchen davontrippeln und holte tief Luft. „Tut mir Leid, wenn ich Sie zu Hause belästige, aber ich dachte mir, es wäre irgendwie …“ Ihr fiel das richtige Wort nicht ein. Angemessener? Bequemer? „Es wäre irgendwie besser.“

„Stimmt.“ Sein Blick war kühl, so gar nicht wie der eines Mannes, der so traurige und leidenschaftliche Musik spielte. „Möchten Sie sich setzen?“

„Nein.“ Die Antwort kam rasch, zu rasch. Doch dann überlegte sie, dass es besser wäre, wenn sie beide höflich miteinander umgingen. „Es wird nicht lange dauern. Ich möchte mich bloß entschuldigen.“

„So? Für etwas Bestimmtes?“ Er kostete es aus. Die ganze Nacht hatte er sich über sie geärgert.

Ihre Augen funkelten. „Wenn ich einen Fehler begehe“, sagte sie, „dann gebe ich ihn auch zu. Aber da Sie sich so …“ Warum ließ ihr Englisch sie bloß immer im Stich, wenn sie wütend war?

„Unerhört benommen haben?“ schlug er vor.

„Also geben Sie es zu.“

„Ich dachte, Sie sind gekommen, um etwas zu zugeben.“ Er amüsierte sich köstlich und setzte sich abwartend auf die Lehne eines mit blassblauem Damast bezogenen Ohrensessels.

Sie war versucht, sich auf dem Absatz umzudrehen und hinauszustolzieren. Sehr sogar. Aber sie würde tun, weswegen sie gekommen war, und die ganze leidige Angelegenheit wieder vergessen. „Was ich über Sie gesagt habe, über Sie und Ihre Tochter, war unfair und unwahr. Es tut mir Leid, dass ich es gesagt habe.“

„Das sehe ich.“ Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung im Garten. Er wandte gerade noch rechtzeitig den Kopf. Freddie sprintete zur Schaukel. „Vergessen wir die Sache.“

Natasha folgte seinem Blick und war sofort besänftigt. „Sie ist wirklich ein wunderhübsches Kind. Ich hoffe, Sie erlauben ihr, mich ab und zu im Laden zu besuchen.“

Ihr Tonfall ließ ihn nachdenklich werden. War es Trauer, die er gerade in ihrer Stimme gehört hatte? Oder Sehnsucht? „Ich bezweifle, dass ich Freddie daran hindern könnte. Sie mögen Kinder wohl sehr, was?“

Natasha straffte sich ruckartig und brachte ihre Gefühle wieder unter Kontrolle. „Ja, natürlich. Sonst könnte ich meinen Laden gleich schließen. Ich will Sie nicht länger aufhalten, Dr. Kimball.“

Er stand auf, um die Hand zu ergreifen, die sie ihm förmlich entgegenstreckte. „Spence“, verbesserte er, während seine Finger sich um ihre Hand schlossen. „Worin haben Sie sich denn sonst noch geirrt?“

Sie hatte geahnt, dass sie nicht so leicht davonkommen würde. Andererseits verdiente sie es, ein wenig erniedrigt zu werden. „Ich dachte, Sie wären verheiratet, und ich war wütend und betroffen, als Sie mit mir ausgehen wollten.“

„Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich nicht verheiratet bin?“

„Ja. Ich habe in der Bibliothek im ,Who is Who‘ nachgeschlagen.“

Er ließ seinen Blick noch eine Weile auf ihr ruhen. Dann warf er den Kopf zurück und lachte herzhaft. „Ihr Vertrauen in die Menschheit ist ja grenzenlos. Haben Sie sonst noch etwas Interessantes darin gefunden?“

„Nur Dinge, auf die Sie sich etwas einbilden würden. Übrigens können Sie meine Hand jetzt loslassen.“

Er tat es nicht. „Sagen Sie, Natasha, mochten Sie mich aus allgemeinen Gründen nicht oder weil Sie dachten, dass ich als verheirateter Mann so unverschämt bin, mit Ihnen zu flirten?“

„Flirten?“ Bei dem Wort verschluckte sie sich fast. „Das hört sich so harmlos an. Aber so unschuldig war Ihr Blick gar nicht. Sie haben mich angesehen, als ob …“

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