Historical Exklusiv Band 89

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ITALIENISCHE VERFÜHRUNG von MIRANDA JARRETT
Eigentlich sollte sie an der Seite ihrer Gouvernante die Schönheiten Roms kennenlernen. Doch als die junge Britin Lady Diana den heißblütigen Antonio trifft, sind ihr die kulturellen Schätze Italiens auf einmal ganz egal. Seine Küsse rauben ihr den Atem, und sie verliebt sich Hals über Kopf in den charmanten Mann. Nur ist Antonio nicht der, der er vorgibt zu sein …

ENGEL MIT VERGANGENHEIT von SOPHIA JAMES
Nicholas Pencarrow, Duke of Westbourne, kann die faszinierende Frau nicht vergessen, die ihm das Leben rettete und anschließend spurlos verschwand. Ihren Namen findet er zwar schnell heraus, doch seine Versuche, Kontakt mit der schönen, rätselhaften Brenna aufzunehmen, weiß diese zu verhindern. Denn ein dunkles Geheimnis zwingt sie zu einem zurückgezogenen Leben. Kann Nicholas‘ Liebe Brenna zurück ins Licht führen?


  • Erscheinungstag 25.05.2021
  • Bandnummer 89
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502276
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Miranda Jarrett, Sophia James

HISTORICAL EXKLUSIV, BAND 89

1. KAPITEL

Rom

Oktober 1784

Rom war so langweilig.

Lady Diana Farren stand am Fenster des Salons in ihrer Unterkunft in der Piazza di Spagna und sah zu, wie der Regen die Blätter der Bäume im Garten unter ihr niederdrückte. Jeder hatte ihr versichert, Rom wäre zauberhaft und faszinierend, die Ewige Stadt unter den Städten des Kontinents. Doch nach einer Woche Dauerregen und langweiliger Gesellschaft, nach endlosen Besichtigungen alter Kirchen, alter Tempel, alter Statuen und alter Bilder in Gesellschaft von Leuten, die ihre Großeltern hätten sein können, war das einzig Ewige, das Diana hier hatte entdecken können, die endlose, ewige Langeweile.

Wäre ihr Leben so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte, dann befände sie sich jetzt im Haus ihrer Familie am Grosvenor Square in London. Sie wäre bereits die von allen vergötterte Schönheit der diesjährigen Saison, umschwärmt von einer Unmenge hübscher junger Lords, die alle um ihre Aufmerksamkeit und ihre Hand buhlen würden und bereit wären, sich wegen eines einzigen Tanzes mit ihr ein Duell zu liefern. Diana war achtzehn Jahre alt und schön. Das war nicht geprahlt, sondern eine Tatsache. Wie es auch Tatsache war, dass sie, nur weil sie die jüngste Tochter des Duke of Aston war, schon ein jährliches Einkommen von mindestens zwanzigtausend Pfund hatte.

Doch all das hatte sie nicht vor Rom bewahren können. Denn eines Abends war sie in den Stallungen ihres Vaters mit einem Reitknecht erwischt worden, dessen Gesicht sie am liebsten vergessen wollte. Zur Strafe wurde sie ins Ausland geschickt. Eine regelrechte Verbannung war es. Anders konnte man Vaters Entscheidung nicht nennen. Auch noch so inständiges Flehen war zwecklos gewesen.

In Frankreich dann war alles nur noch schlimmer gekommen. Obwohl sie sich wirklich nichts zuschulden hatte kommen lassen, war sie niedergeschlagen und im Auftrag des schlimmsten alten Wüstlings von Paris, des Conte D’Archambault, entführt worden. Zu ihrem großen Glück war der Conte todkrank gewesen und hatte ihr kein Leid mehr antun können. Doch es gab einen großen Skandal, und mit ihrem Namen verband man nun neue, völlig unbegründete Gerüchte.

Und so war sie jetzt dazu verdammt, mindestens bis zum Frühling wie eine bedauernswerte Zigeunerin durch Italien ziehen zu müssen. Ihre Gouvernante Miss Wood würde sie dabei mit Argusaugen bewachen. Wenn sie dann endlich wieder nach England zurückkehren könnte, hätten die anderen Mädchen ihr todsicher schon die besten Junggesellen weggeschnappt, oder ihr fragwürdiger Ruf hätte diese in die Flucht geschlagen. Nur die Nieten, die mit den Hasenzähnen und den dünnen Beinen, würden dann noch übrig sein. Nie würde sie die Art von Liebe kennenlernen, die ihre Schwester bei ihrem frisch angetrauten Gatten gefunden hatte: die beseligende, leidenschaftliche Liebe, die ewig dauert. Vielleicht würde sie jetzt noch nicht einmal mehr heiraten können, sondern dazu verdammt sein, wie Miss Wood eine alte Jungfer zu werden.

Diana holte tief Luft und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Sie vermisste ihre Schwester und ihren Vater, ihre Freunde und Cousins. Sie vermisste all die jungen Männer, die mit ihr geflirtet und sie zum Lachen gebracht hatten. Sie vermisste ihr gemütliches Eckschlafzimmer zu Hause in Aston Hall und die Art, wie die Sonne am Morgen durch das Ostfenster schien. Sie vermisste England, sie vermisste Worte, die sie ohne ein Taschenwörterbuch verstehen konnte, Menschen, die über dieselben Dinge lachten wie sie, Essen und Trinken, das durch seine Vertrautheit tröstend auf sie wirkte.

Diana war so sehr in ihr eigenes Elend versunken, dass sie erst zu spät bemerkte, wie jemand zu ihr ans Fenster trat.

„Buongiorno, mia gentildonna bella“, sagte der Herr. „Mi scusa, non posso a meno di …“

„Per favore, signore, no“, erwiderte Diana ohne sich umzudrehen, in dem ernsten, festen Ton, den Miss Wood jetzt von ihr erwarten würde. Bitte, Sir, nein. Was konnte wohl deutlicher sein als diese Worte? Die italienischen Männer konnten sehr beharrlich sein, und wenn Diana London je wiedersehen wollte, durfte sie sie keinesfalls ermutigen. „Grazie, non.“

„Oh.“ Der Herr räusperte sich verdutzt. „No speranza, mia gentildonna?“

Misstrauisch runzelte Diana die Stirn. Vermutlich fragte er sie, ob sie ihm ein wenig Hoffnung und Ermutigung geben könnte, doch sie war sich nicht ganz sicher, da ihre Italienischkenntnisse doch sehr begrenzt waren. Eine schlechte, wenn auch sehr amüsante Erfahrung hatte sie bereits machen müssen. Sie hatte geglaubt, ein Diener hätte ihr noch einmal Tee angeboten, dabei hatte er sie ganz schamlos gefragt, ob er sie küssen dürfte.

„Sono spiacente, signore, noi non sono stato introdotto.“ Es tut mir leid, mein Herr, aber wir sind uns nicht vorgestellt worden. Das war inzwischen ihre wohlerprobte Antwort auf alle Fragen. „Grazie, no. No.“

Doch der Mann rührte sich nicht vom Fleck. Diana seufzte leise. Wenn dieser unverschämte Bursche sie nicht bald allein ließ, würde sie gehen und in ihre Suite zurückkehren müssen, die sie mit Miss Wood und ihren Bediensteten teilte.

Sie klappte ihren Elfenbeinfächer zu und wandte sich zum Gehen. „Arrivederci, signore.“

„Gehen Sie bitte nicht, ach, zum Teufel, das ist – Parla inglese, mia gentildonna?“

Erstaunt blieb sie stehen, drehte sich aber nicht um. Er klang nicht italienisch. Aber er hörte sich jung und charmant an, und wenn man dem Klang allein trauen konnte, auch gut aussehend.

„Selbstverständlich spreche ich Englisch, Sir“, sagte sie zögernd. „Welche Sprache sollte eine Engländerin wohl sonst sprechen?“

„Dann haben wir viel gemeinsam“, erwiderte er. „Ich bin auch Engländer.“

„Ach ja, Sir?“ Jetzt würde sie sich wohl umdrehen müssen. Was bei einem dreisten Ausländer als ein zu Recht abweisendes Benehmen durchging, war einem Gentleman gegenüber, der Engländer war wie sie, schlichtweg ungezogen.

Also setzte sie ein höfliches Lächeln auf und drehte sich um. Der Herr war nicht nur Engländer, sondern auch noch ein hübscher dazu. Mit blonden Locken, die golden schimmerten, einem Lächeln voller Charme und mit so strahlend blauen Augen, dass sie selbst diesen grauen Tag erhellten. Wenn er auch nicht sehr groß war, hatte er doch die männliche Statur eines englischen Gutsbesitzers, mit einer breiten Brust unter der gut sitzenden Weste. Auch war er jung, nicht viel älter als sie, also in einem interessanten Alter. Diana strahlte ihn mit echter Herzlichkeit an.

„Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Sir.“ Sie machte keinen Knicks, denn vermutlich stand er im Rang unter ihr. Doch ihr Lächeln blieb warm und voller Interesse. Sie ließ den Blick schweifen und hielt nach Miss Wood Ausschau, damit sie als Anstandsdame fungieren könnte. Doch sie beide waren allein im Salon. Diana konnte sich schon lebhaft Miss Woods Strafpredigt vorstellen. Engländer oder nicht, mit einem Herrn allein zu sein schickte sich nicht. Besonders dann nicht, wenn man einander nicht richtig vorgestellt worden war.

Diana kannte auch schon die nächsten Argumente: Einsamkeit spiele keine Rolle. Sie solle kein weiteres Wort mit ihm wechseln. Sie solle ihr Lächeln hinter frostiger Entrüstung und Reserviertheit verbergen und sofort in ihre Räume zurückkehren. Wenn sie ihrer Verbannung aus London ein Ende machen wolle, dürfe sie jetzt nicht zaudern. Das alles würde Miss Wood sagen.

Aber ein paar Minuten in Gegenwart dieses Herrn konnten doch wohl nicht so schlimm sein? Aus seiner Sprechweise, seinen Manieren und seinem Betragen schloss sie, dass er ein Gentleman sein musste. Und wenn er ebenfalls Gast in diesem Palazzo war, musste er einwandfreie Referenzen aufweisen können und eine volle Brieftasche dazu, denn diese Unterkunft hier war die exklusivste in der ganzen Gegend, in der man sich speziell um englische Reisende kümmerte.

„Ich habe sie erschreckt, nicht wahr?“ Offenbar hatte er ihr Schweigen missverstanden. „Tauche einfach so hinter Ihnen auf und überrasche Sie. Bitte, verzeihen Sie mir, Mylady.“

„So empfindlich bin ich nun auch wieder nicht“, erwiderte Diana. „Woher wussten Sie, dass ich eine Lady bin?“

„Das war geraten“, gestand er. Aus seinem Lächeln wurde ein verschmitztes Grinsen. „Und ich hatte recht, nicht wahr, Mylady?“

„Lady Diana?“ Im Gang war entfernt Miss Woods Stimme zu hören. „Wo sind Sie, Mylady?“

Diana klappte ihren Fächer zu. „Das ist meine Gouvernante“, erklärte sie, und in ihre Augen trat ein gehetzter Ausdruck. „Rasch, rasch, Sie müssen sich verstecken!“

„Verstecken?“ Der Herr lächelte nachsichtig. „Aber es gibt doch gar keinen Grund, mich zu verstecken.“

„Oh doch, den gibt es.“ Diana nahm ihn beim Arm und sah sich auf der Suche nach einem guten Versteck im Salon um. „Schnell, dort hinter die Vorhänge! Ich werde sie, so rasch ich kann, wieder fortschicken.“

Aber er rührte sich nicht, sondern tätschelte nur beruhigend ihre Hand, die auf seinem Arm ruhte. „Ich schäme mich nicht, hier bei Ihnen zu sein, Mylady.“

„Darum geht es doch gar nicht, mein Herr, nicht wenn – ah, Miss Wood, Sie haben mich gefunden!“ Diana setzte ein strahlendes Lächeln auf und entzog dem Herrn schnell ihre Hand. „Ich wollte gerade auf Ihr Rufen antworten, als ich von diesem Herrn hier aufgehalten wurde.“

Miss Wood sagte gar nichts. Die Hände ineinander verschränkt, stand sie in ihrem einfachen grauen Kleid da und nahm sich die Zeit, sich ein eigenes Urteil über die Situation zu bilden. Diana kannte dieses Schweigen. Sie wusste, je länger es dauerte, desto weniger würde das Urteil der Gouvernante zu Dianas Gunsten ausfallen. Obwohl Miss Wood eigentlich noch eine junge Frau war, kaum einmal dreißig, würde sie in Dianas Augen immer und ewig das Abbild einer alten Jungfer sein: klein, trübselig, argwöhnisch, mit einem Hang zu Korpulenz und Strenge. Hätte Vater sie mit dem obersten Gefängniswärter des Newgate Gefängnisses auf Reisen geschickt, hätte der sie nicht besser bewachen können als Miss Wood.

Die Gouvernante musterte den Gentleman immer noch von den Silberschnallen an seinen Schuhen bis zum goldblonden Haarschopf. Und sie tat es mit dem gleichen scharfen Blick, mit dem eine Köchin am Markttag das angebotene Gemüse prüft. Endlich nickte sie kurz, wie sie es immer machte, bevor sie eine unangenehme Aufgabe in Angriff nahm.

„Guten Tag, Sir“, sagte sie mit eisiger Stimme und deutete einen flüchtigen Knicks an. „Verzeihen Sie mir, wenn ich offen zu Ihnen spreche, aber ich glaube nicht, dass Sie Ihrer Ladyschaft angemessen vorgestellt wurden. Mylady, bitte kommen Sie.“

Verärgert seufzte Diana. Sie wollte doch nur ein wenig Konversation machen. Sie hatte nicht vor, noch einen Skandal zu provozieren.

Aber es war sinnlos, mit Miss Wood darüber zu diskutieren, denn wie immer hatte sie die Wahrheit auf ihrer Seite. Diana war dem Herrn nicht standesgemäß vorgestellt worden. Sie wusste ja noch nicht einmal seinen Namen.

Diana schluckte ihre Enttäuschung hinunter, reckte entschlossen das Kinn und war bereit, Miss Wood wieder in die diskrete Vornehmheit und die exquisite, aber unleugbare Langeweile zu folgen.

Aber so weit kam es nicht. Zu Dianas Erstaunen erhob der Herr mit einem Mal die Stimme. „Warten Sie einen Moment, Miss Wood“, sagte er bestimmt. „Wenn es sich nur darum handelt, dass die Dame und ich einander nicht vorgestellt wurden, wie es sich gehört, nun, dann stellen Sie uns jetzt einander vor, und alles hat seine Richtigkeit.“

Keiner der Männer, die Diana bisher kennengelernt hatte, hätte so etwas gewagt. Aber bereits jetzt zeigte sich, dass dieser Mann ein eindrucksvoller Gentleman war – ein außerordentlich eindrucksvoller Gentleman.

Doch Miss Wood hatte er nicht überzeugt. Sie blieb abrupt stehen und richtete sich in ihrer ganzen Größe vor ihm auf. „Wie soll ich Sie Ihrer Ladyschaft vorstellen, Sir, wenn niemand Sie mir vorgestellt hat?“

„Dann werde ich das jetzt nachholen.“ Er verbeugte sich. „Miss Wood, ich bin Lord Edward Warwick, und mein Vater ist der Marquess of Calvert. Sollten Sie es vorziehen, mir nicht zu glauben, so brauchen Sie nur meinen Onkel zu befragen, der ebenfalls Gast dieses Hauses ist.“

„Mylord, ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Erfreut hielt Diana ihm die Hand hin. „Nicht einmal Miss Wood kann jetzt noch etwas gegen Sie haben.“

Doch die Gouvernante konnte sehr wohl. Sie trat zwischen die beiden. „Dürfte ich bitte den Namen Ihres Onkels erfahren?“

„Mein Onkel ist Reverend Lord Henry Patterson, der ältere Herr, der die Räume über der Eingangshalle bewohnt. Er ist so mit seinen Studien und seinen Schriften beschäftigt, dass er gerne für sich bleibt. Jedoch dürfte es in ganz Rom kaum einen ehrenwerteren Engländer geben.“

„Ach, Miss Wood, bei einer solchen Empfehlung werden noch nicht einmal Sie etwas auszusetzen haben“, sagte Diana und konnte den Blick nicht von Lord Edwards charmantem Gesicht lösen. Es musste Monate her sein, dass ein englischer Herr sie mit solch unverhohlener Bewunderung angesehen hatte. Sicher wusste Lord Edward weder etwas über ihr Missgeschick mit dem Stallknecht auf Aston Hall, noch etwas über die dramatische kleine Affäre in Paris. Alles, was Lord Edward über sie wissen würde, wäre das, was er mit eigenen Augen sah und was sie ihm erzählte. Mit ein wenig Verschwiegenheit war alles möglich. Alles!

„Gibt es eine bessere Empfehlung für guten Charakter als die Kirche von England?“, fuhr Diana fort.

„Nein, Mylady“, meinte Miss Wood düster. „Aber erlauben Sie mir, Sie daran zu erinnern, dass wir vorsichtig sein müssen, nachdem doch …“

„Kommen Sie mit mir.“ Lord Edward ergriff Dianas Hand, als hätte er das Recht dazu, und führte sie aus dem Salon und über den Flur. „Lernen Sie den alten Burschen doch selbst kennen. Er kann dann alle Formalitäten zwischen uns erledigen.“

„Das schickt sich nicht, Mylord“, protestierte Miss Wood und eilte ihnen rasch nach. „Das ist nicht richtig. Ihre Ladyschaft ist nämlich von höherem Rang als Sie. Sie müssen ihr vorgestellt werden, nicht umgekehrt.“

Aber Lord Edward öffnete bereits die Tür zu den anderen Räumen.

„Onkel, ich bin’s wieder, Edward.“ Beschwingt trat er ein und wartete nicht erst auf den Diener, der herbeigeeilt kam und sich hastig die Jacke seiner Livree zuknöpfte. „Ich habe diese englischen Damen hier entdeckt, die ebenfalls hier wohnen. Ich möchte sie Ihnen vorstellen.“

In einem großen Zimmer, das als Salon, Studier- und Esszimmer zu dienen schien, saß ein älterer Herr. Sein Lehnstuhl war dicht an einen großen Tisch gezogen, der vor dem offenen Fenster stand. Der Regen prasselte auf das steinerne Fenstersims und nässte die Papiere, die am Rand des Tisches lagen. Doch der Mann war zu sehr in seine Arbeit vertieft, um es zu bemerken.

Unter einem schwarzen Barett, wie Maler es tragen, lugten Büschel weißen Haars hervor. Und wenn seine schwarze Leinenweste und die Kniehosen auch nicht ungewöhnlich waren, so steckten seine nackten Füße in sonderbaren spitzen, mit roten Rosen bestickten Hausschuhen. Während er konzentriert die Stirn runzelte, hielt er in einer Hand ein Vergrößerungsglas und in der anderen eine antike Tonscherbe. Dabei paffte er eine langstielige Meerschaumpfeife.

Lord Edward räusperte sich mit Nachdruck. „Bitte, Onkel. Die Damen.“

Erschrocken drehte Reverend Lord Henry Patterson sich um. Sofort verwandelte sich der angestrengt konzentrierte Gesichtsausdruck in ein glücklich strahlendes Lächeln. Er legte seine Pfeife und die Scherbe auf den Tisch und riss sich die Samtkappe vom Kopf, dass die Seidenquaste hin- und herbaumelte. „Ja freilich, Edward, die Damen. Wie geht es Ihnen, meine Lieben? Das ist heute vielleicht ein feuchter Tag in unserem alten Rom, nicht wahr?“

„Ja, das stimmt.“ Entschlossen trat Diana einen Schritt vor, bevor die Gouvernante noch einmal auf ihre Anstandsregeln pochen konnte. „Ich bin Lady Diana Farren. Das hier ist meine Gouvernante Miss Wood. Wir sind entzückt, an diesem fremden Ort die Bekanntschaft zweier englischer Gentlemen zu machen.“

Der Geistliche wirkte so geblendet und hingerissen, dass er fast ein wenig dümmlich dreinschaute. Diana lächelte amüsiert. Sie kannte ihre Wirkung auf Männer.

„Na bitte“, meinte Edward herzlich. „Ich sagte Ihnen doch, ich hätte zwei wahre Damen entdeckt, Onkel. Sie beide mögen entzückt sein, Lady Diana, aber ich – ich fühle mich verzaubert – und geehrt.“

Wachsam wie immer, verkündete Miss Wood streng: „Ihre Ladyschaft ist die jüngste Tochter Seiner Gnaden des Duke of Aston, Mylord.“ Diana konnte den unausgesprochenen Tadel fast fühlen. „Ihre Ladyschaft ist nicht an Liebeleien interessiert, Mylord. Sie bereist Italien, um zu lernen und ihren Wissensschatz zu vergrößern.“

„Dann werden Sie sie wohl auf diesem Weg führen und leiten, Miss Wood“, sagte Reverend Lord Patterson und setzte sich seine schwarze Samtkappe wieder auf. „Was für ein Vorbild an Wissen müssen Sie selbst sein, wenn Seine Gnaden die Erziehung und das Wohl seiner Tochter in Ihre Hände gelegt haben.“

Zu Dianas Erstaunen überflog eine sanfte Röte Miss Woods Wangen, als der Geistliche ihr jetzt die Hand schüttelte.

„Sie sind zu freundlich“, antwortete die Gouvernante. „Aber ich kann mir wirklich keine edlere Berufung vorstellen, als Seiner Gnaden Tochter zu leiten und mich zu bemühen, ihren Verstand und ihren Charakter zu bessern.“

„Natürlich, natürlich.“ Reverend Lord Patterson nickte eifrig. „Darf ich Ihnen meine letzte Errungenschaft zeigen, Miss Wood? Eine Dame mit Ihren gelehrten Neigungen wird die fachmännische Arbeit zu würdigen wissen. Es ist das Stück einer bemalten Amphora, die schon zu Cäsars Zeiten antik war.“

„Ich danke Ihnen sehr, Mylord“, sagte Miss Wood, während sie bereits zum Tisch ging. „Nichts würde mir eine größere Freude bereiten.“

Diana wandte sich zu Lord Edward um und sah ihn spöttisch an. „Das haben Sie sehr schön eingefädelt, nicht wahr?“

Er legte die Hand aufs Herz. „Viel lieber möchte ich dabei an Schicksal glauben. Es geschah, um mich Ihnen näher zu bringen.“

„Ich glaube kein einziges Wort“, schalt sie. „Und Sie doch auch nicht.“

Erstaunt hob er die Brauen. „Sie glauben nicht an das Schicksal?“

„Nicht an diese Art Schicksal“, erwiderte Diana. Sie trat einen Schritt beiseite und achtete darauf, dass ihre weißen Musselinröcke dabei anmutig um ihre Beine schwangen. „Ich glaube eher, dass wir mit dem freien Willen, den Gott uns gab, unser Leben und unser Schicksal bestimmen. Sonst ähnelten wir doch nur ruderlosen kleinen Booten. Und genau das glauben auch Sie.“

Sie öffnete ihren Fächer, und während sie langsam zum gegenüberliegenden Fenster schlenderte, fächelte sie sich träge Luft zu. Seit sie aus England fort war, hatte sie sich nicht mehr so gut unterhalten. „Vermutlich ist Ihnen hier in Rom genauso langweilig wie mir, wo doch zurzeit die hochgestellten Leute alle in ihre Sommervillen umgezogen sind.“

„Aber ganz und gar nicht!“, rief er aus. „Ich habe doch nur …“

„Bitte, Mylord, ich bin noch nicht fertig“, warf sie ein. „Ich hege den Verdacht, Sie kamen absichtlich in die Gemeinschaftsräume auf der anderen Seite der Eingangshalle, weil Sie mich dort treffen wollten. Und vermutlich haben Sie es auch so arrangiert, dass Ihr Onkel sich mit Miss Wood unterhält und wir deswegen jetzt miteinander allein sein können.“

„Ich verstehe.“ Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und folgte ihr. „Sie tadeln mich also dafür, dass ich nicht wartete, bis das Schicksal mich Ihnen in den Weg schubst, sondern kühn die Umstände zu meinen Gunsten nutzte?“

„Oh, ich habe nie gesagt, dass ich Sie tadle, Mylord“, antwortete Diana mit munterem Lächeln. „Ich sagte nur, dass ich Sie im Verdacht habe, nicht mehr an das Schicksal zu glauben als ich.“

„Dann schenken Sie mir Ihre Gunst und tadeln mich nicht, Mylady?“

„Noch nicht“, sagte sie, als er sich jetzt in die Fensternische neben sie stellte. „Aber ich muss schon sagen, dass es für einen Gentleman recht ungewöhnlich ist, seine Absichten so offen zuzugeben.“

„Ich möchte kein ruderloses Boot sein, Mylady“, antwortete er. „Betrachten Sie mich eher als die Strömung, bereit Sie zu tragen, wohin Sie wollen.“

Diana lachte leise. Sie war fasziniert. Den meisten Männern flößte ihre Schönheit in Verbindung mit der Macht ihres Vaters viel zu viel Ehrfurcht ein, als dass sie mit solcher Entschiedenheit gesprochen hätten. Er gefiel ihr. Und sie fragte sich, was für einen Ehemann er wohl abgäbe. „Und wohin genau wollen Sie mich tragen, Lord Edward?“

Galant verbeugte er sich. „Wohin immer Sie es wünschen, Mylady. Es gibt so viele Sehenswürdigkeiten in Rom, alte und moderne“, fuhr Edward fort. „Wir haben die unbegrenzte Wahl.“

Diana zog die Nase kraus und wandte sich ab. Sie blickte auf die mit roten Schindeln gedeckten Dächer und die tropfenden Zypressen. „Keine langweiligen Museen oder staubige alte Kirchen, bitte. Davon habe ich schon genug gesehen, während wir durch Frankreich und Italien zogen und Miss Wood mir auf Schritt und Tritt lehrreiche Vorträge hielt.“

„Aber das hier ist Rom“, sagte er. „Und ich verspreche Ihnen, ich kann selbst die verstaubteste alte Ruine für Sie noch zu einem Ereignis machen.“

„Ich bin kein Blaustrumpf, Lord Edward“, warnte sie. „Verfallene Monumente sind nie interessant.“

„Mit mir würden sie es sein.“

Diana zuckte die Achseln und tat, als wäre sie nicht interessiert. In Wahrheit konnte sie sich nicht Schöneres vorstellen, als Miss Woods Besichtigungstouren gegen eine Tour zusammen mit ihm einzutauschen.

„Kommen Sie doch morgen mit mir. Ich werde Ihnen Rom zeigen, wie Sie es noch nie gesehen haben“, drängte er. „Nach dem Frühstück wird eine Kutsche auf uns warten. Sie werden sehen, ich bringe Sie doch noch dazu, Ihre Meinung zu ändern.“

„Vielleicht.“ Diana gab sich Mühe, nicht allzu begeistert zu wirken. „Schauen Sie nur, Mylord. Sehen Sie den Regenbogen dort?“

In neblig blassen Farben spannte sich ein Regenbogen über die Stadt, ergoss sich aus den tief hängenden grauen Wolken, um im Dunst über dem Tiber zu verschwinden. Diana trat auf den schmalen Balkon hinaus und ließ die Fingerspitzen leicht über das nasse Eisengeländer spazieren.

Lord Edward gesellte sich zu ihr. „Ich weiß gar nicht, wann ich zum letzten Mal einen Regenbogen gesehen habe“, wunderte er sich. „Ich würde sagen, dass das ein Zeichen ist, Mylady. Ich treffe Sie, und die Wolken verschwinden. Sie lächeln mich an, und ein Regenbogen spannt sich über den Himmel.“

Diana lehnte sich über das Geländer und beobachtete eine offene Kutsche, die unten auf der Straße vorbeifuhr. Die Insassen mussten dem Versprechen des Regenbogens vertraut haben, denn sie hatten nichts als smaragdgrüne Sonnenschirme zu ihrem Schutz bei sich. Es waren drei schöne, lachende Frauen. Ihr glänzendes schwarzes Haar war zu Hochfrisuren aufgesteckt, auf denen erlesene Strohhüte wippten. Ihre Kleider waren tief ausgeschnitten und eng geschnürt, um die üppigen Busen zu betonen. Die Röcke schienen die ganze Kutsche auszufüllen, Yards über Yards von sich bauschender glänzender Seide. Als die Kutsche auf ihren rot bemalten Rädern vorbeirollte, wehten die Quasten auf den Sonnenschirmen und die Bänder an den Hüten der Damen fröhlich im Wind.

„Es ist bedauerlich, dass eine Dame wie Sie sich eine solche Zurschaustellung ansehen muss“, meinte Lord Edward ehrlich empört. „Ein Haufen angemalter fille de l’opera!“

„Das ist aber Französisch.“ Diana wusste genau, was er meinte. Dass diese Frauen Huren waren. „Und sie sind Italienerinnen.“

„Nun, ja“, gab Lord Edward widerwillig zu. „Es genügt zu sagen, dass es ordinäre Frauen von der Bühne sind.“

„Aber stimmt es denn nicht, dass es Frauen generell verboten ist, auf einer römischen Bühne aufzutreten?“, fragte sie und wiederholte damit, was sie vom Besitzer ihrer Herberge erfahren hatte. „Dass alle weiblichen Rollen in der Oper von Männern gespielt werden?“

„Ja, ja, das ist schon wahr“, antwortete Lord Edward und räusperte sich verstimmt, als fühlte er sich ertappt. „Sie zwingen mich, offen zu sein, Mylady. Diese Frauen sind wahrscheinlich die Mätressen reicher Männer und deshalb nicht wert, von Ihnen beachtet zu werden.“

Eigentlich waren es gar nicht die Frauen, die Dianas Blick so sehr auf sich zogen, sondern der Mann, der lässig zurückgelehnt zwischen all den Röcken und Bändern saß. Und sie fragte sich voller Neugier, ob er sich wie ein Sultan alle drei Frauen als Geliebte hielt.

Der Mann saß auf dem Mittelsitz, die Arme nonchalant um die Schultern zweier Frauen gelegt, die langen Beine gekreuzt auf den gegenüberliegenden Sitz gestützt. Er sah gut aus, und seine weißen Zähne blitzten, als er mit den Frauen lachte und scherzte. Sein langes dunkles Haar war im Nacken mit einem roten Seidenband nachlässig zusammengefasst, das er von einem der Hüte stibitzt haben mochte. Alles an diesem Mann kam Diana sorglos und leicht, sogar leichtsinnig vor, und er war alles andere als englisch.

„Werden Sie uns morgen eine Kutsche wie diese besorgen, Lord Edward?“, fragte sie. „Eine mit roten Rädern und Glöckchen, mit Bändern und Blumen in den Mähnen der Pferde?“

Missbilligend schüttelte Lord Edward den Kopf. „Ich achte Sie viel zu sehr, um dergleichen zu tun.“

„Ach ja?“, erwiderte Diana gedehnt. „Dabei sieht es doch sehr lustig aus, finde ich.“

„Skandalös. Und dann noch mit diesem Pack.“ Entschlossen, sie von diesem anrüchigen Anblick zu erlösen, fasste er sie leicht beim Ellbogen. „Kommen Sie, Lady Diana. Besudeln Sie sich nicht, indem Sie denen dort unten weiterhin Ihre Aufmerksamkeit schenken.“

Er wandte sich ab, um zu den anderen zurückzukehren. Diana zögerte und warf einen letzten Blick auf die fröhlich geschmückte Kutsche. Dabei musste eine Bewegung ihrer Röcke den Blick des dunkelhaarigen Mannes auf sich gezogen haben. Er drehte sich um und sah zu ihr herauf. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. Unter den dunklen Brauen und Wimpern waren seine Augen erstaunlich hell. Er führte zwei Finger an die Lippen und winkte dann zu ihrem Balkon hinauf. Es war eine elegante und zugleich verführerische Geste. Er lächelte nicht dabei. Er brauchte es nicht. Der Kuss, den er ihr zuwarf, genügte.

„Lady Diana?“ Ungeduldig berührte Lord Edward ihren Arm. „Wollen wir uns nicht zu den anderen gesellen?“

„Oh ja.“ Diana schenkte ihm ein Lächeln, während ihr Herz aus unerklärlichen Gründen raste. „Der Regenbogen ist ja auch schon wieder verschwunden.“

Und als sie verstohlen einen Blick über die Schulter warf, waren auch die Kutsche und der Mann darin fort.

2. KAPITEL

Lord Anthony Randolph neigte die schwere Kristallkaraffe und füllte noch einmal sein Glas.

„Der Sommer ist vorbei“, meinte er traurig und hielt das Glas gegen das Licht, um die glutrote Farbe des Weins zu bewundern. „Die englischen Dämonen sind wieder zurück, um Rom zu erobern.“

Ohne sich zu ihm umzudrehen, lachte Lucia. Aufrecht saß sie vor ihrem Frisiertisch, während ihre Zofe eine dicke Haarsträhne nach der anderen um ein Brenneisen wickelte. „Wie kannst du nur so reden, Anthony, wo du doch selbst einer dieser englischen Dämonen bist?“

„Sei nicht so grausam, Lucia“, erwiderte Anthony leichthin und nippte an seinem Wein. „Es stimmt, zur Hälfte habe ich englisches Blut. Doch in meinem Herzen bin ich ein reiner Römer.“

„Was dir natürlich das Recht gibt zu sagen, was immer dir gefällt.“ Prüfend griff Lucia nach der noch warmen Locke, die ihr auf die Schulter fiel. „Doch das würdest du auch tun, wenn du auf dem Mond geboren wärst.“

„So ist es, mein Liebling.“ Anthony ließ sich in einen Sessel neben dem offenen Fenster fallen und schob sich ein kleines gelbes Samtkissen hinter den Kopf, da er auf eine längere Wartezeit gefasst war. Auch wenn die Tage, in denen er und Lucia ein Liebespaar gewesen waren, schon lange zurücklagen, gingen sie jetzt als Freunde mit den jeweiligen Schwächen und Fehlern des anderen viel nachsichtiger um. „Ich kann mir nicht helfen. Kaum werden die Tage kürzer, fallen diese entsetzlichen, milchgesichtigen Engländer in ganzen Horden über uns her und beklagen sich, dass der Wein zu stark und die Sonne zu heiß ist und dass kein Roastbeef auf der Speisekarte steht.“

„Ich beklage mich gar nicht über die englischen Herren“, sagte Lucia und straffte ein wenig das Lid, um eine dunkelblaue Linie um ihr Auge zu ziehen. „Sie sind sehr aufmerksam, und sie besuchen mich immer wieder.“

Er hob das Glas und prostete ihr zu. „Warum auch nicht, meine reizende Lucia, wo du doch der Hauptgewinn bist, den sie alle bekommen möchten.“

„Ach, sei still, Antonio“, schalt sie ihn. „Mit deinen albernen Schmeicheleien könntest du das ganze Flussufer des Tibers zuschütten.“

Zur Gesellschaft im Studio des Malers Giovanni würden sie mindestens eine Stunde zu spät kommen. Doch statt sich wegen der Verspätung zu ärgern, hatte Anthony gelernt, sich zu entspannen und das vertraute Beisammensein mit Lucia zu genießen. „Nenn mir nur einen Mann in dieser Stadt, der dich besser zu unterhalten weiß als ich.“

Leicht verärgert ließ sie nur einen leisen Laut des Unmuts hören und konzentrierte sich weiterhin auf ihr Spiegelbild, während sie ihren Rosenmund kirschrot nachzog. Wie jede erfolgreiche Kurtisane kannte sie den Wert eines großen Auftritts, selbst wenn er nur bei einer Gesellschaft im Kreise von Freunden stattfand. Und sie würde ihren Spiegel nicht eher verlassen, bis sie nicht sicher sein konnte, dass ihr Aussehen bis ins kleinste Detail perfekt war. Außerdem war sie gebeten worden, heute Abend zu singen. Ihre Stimme war so schön wie ihr Gesicht, und sie kannte die Macht von beiden. Es war entsetzlich ungerecht, dass Papst Innozenz XI. schon vor knapp hundert Jahren Sängerinnen von der römischen Opernbühne verbannt hatte. In jeder anderen Stadt hätte ihre Stimme sie zu einer wahren Königin gemacht. Und dann wäre es ihr auch möglich gewesen, sich interessantere Liebhaber zu nehmen als den fröhlichen fetten Weinhändler, der sie zurzeit aushielt.

„Für einen milchgesichtigen Engländer machst du dich ganz gut“, sagte sie schließlich und zeigte ihrem Spiegelbild einen Schmollmund.

Anthony stöhnte theatralisch. Es stimmte, dass sein Vater ein englischer Adliger gewesen war, Erbe einer Grafschaft, die weit oben im Norden dieses Landes lag und an das raue, kalte Schottland grenzte. Doch auf seiner Grand Tour hatte sein Vater in Rom die Sonne und seine Liebe zu Anthonys vor Charme sprühender Mutter entdeckt. Sie war reich und von adeliger Geburt. Die beiden älteren Brüder Anthonys waren zwecks ihrer Erziehung pflichtbewusst nach England zurückgekehrt und nach Vaters Tod auch dort geblieben. Anthony aber hatte Italien in seinen ganzen achtundzwanzig Jahren nicht ein Mal verlassen. Er lebte hier höchst zufrieden unter der wärmenden Sonne und in der temperamentvollen Familie seiner Mutter.

„Ich habe kein Milchgesicht, Lucia“, erwiderte er aufbrausend. „Noch bin ich scheinheilig oder anmaßend oder benehme mich so schlecht wie diese umherreisenden Engländer.“

„Aber wer weiß, vielleicht wirst du noch wie dieser aufgeblasene Bursche enden, den wir heute oben auf dem Balkon sahen“, neckte sie ihn, während sie lange Granatohrringe anlegte. „Noch ein, zwei Jahre, und du wirst genauso aussehen, Antonio. Deine Weste wird über deinem Bauch spannen und dein Gesicht käsig und selbstgefällig ausschauen.“

Anthony wusste sofort, welchen Mann sie meinte. Er hatte sich über den Balkon seiner Unterkunft gelehnt und finster und voller Missfallen heruntergeblickt, als er selbst und Lucia mit zwei ihrer Freundinnen über die Piazza di Spagna gefahren waren, auf dem Weg zu einem improvisierten Picknick in den Hügeln.

„Dieser Engländer ist jünger als ich“, sagte er und klopfte stolz auf seinen flachen Bauch. „Lord Edward Warwick. Er ist erst seit einem Monat in Rom, glaubt aber, er würde die Stadt und deren Geheimnisse besser kennen als jeder Römer. Letzte Woche wurde ich ihm von einem Freund vorgestellt, und ich habe nicht den Wunsch, ihm noch einmal zu begegnen.“

„Von der Dame, die bei ihm stand, würdest du das aber sicher nicht sagen.“ Endlich fertig, erhob Lucia sich mit einem spöttischen Lächeln von der Sitzbank. „Du kannst es nicht leugnen, Antonio. Dazu kenne ich dich zu gut. Ich habe sehr wohl bemerkt, wie du sie angesehen hast und sie dich.“

„Ich leugne es auch gar nicht.“ Er trank mit Genuss seinen Rest Wein aus und dachte an das Mädchen, das auf dem Balkon neben Warwick gestanden hatte. Natürlich war auch sie Engländerin. Andere Ausländer als Engländer hatten noch nie an der Piazza di Spagna logiert. Und außerdem hatte sie in jener typisch steifen Art am Geländer gestanden, die offensichtlich ein Merkmal wohlerzogener englischer Damen war.

Im weichen Licht der Sonne, die durch die Regenwolken gebrochen war, hatte ihr Haar wie poliertes Gold geglänzt. Ohne eine Spur von Schminke besaß ihre Haut jene köstliche Mischung aus Creme und Rosa. In seinen Augen waren zu viele Landsleute seines Vaters blass und farblos, als hätte man sie in dem scheußlichen, regnerischen Klima ihres Landes draußen stehen lassen, wo sie verblassten und verwelkten. Doch dieses Mädchen brachte es fertig, blass zu sein, ohne blässlich zu wirken, zerbrechlich zu erscheinen, ohne dabei die Aura der Leidenschaft, des Verlangens zu verlieren. Kurz bevor die Kutsche um die Ecke gefahren war, hatte er selbst aus dieser Entfernung die Leidenschaft und das Verlangen gesehen – nein, gespürt.

Er hatte mehr gewollt. Wollte es noch immer.

„Bedenke es zwei Mal und dann noch einmal, Antonio“, warnte Lucia. Sie reichte ihm ihren Merinoschal und drehte sich dann mit der wohl kalkulierten Grazie einer Schauspielerin um. „Wird sie den Ärger wert sein, den sie dir machen wird?“

Er nahm den Schal und legte ihn ihr um die Schultern. „Wer sagt denn, dass sie mir Ärger machen wird?“

„Ich sage es“, erwiderte Lucia und wandte sich ihm noch einmal zu. „Ich meine es ernst, mein Lieber. Sie ist Engländerin. Sie ist eine Dame. Sehr wahrscheinlich ist sie noch Jungfrau. Um sie herum wird es Männer geben, einen Vater, einen Bruder, einen Liebsten, die über ihre Unschuld wachen. Das wird dein Problem sein.“

Lächelnd strich er ihr über die sanft geschwungene Nase. „Du machst dir zu viele Sorgen, meine Liebe.“

Sie schlug ihm leicht auf die Hand. „Ich kenne dich zu gut.“

„Und sie kennt mich überhaupt nicht, die Arme.“

„Wenn du mit ihr fertig sein wirst, wird sie wünschen, dich nie gekannt zu haben“, prophezeite Lucia düster. „Denn du hinterlässt bei jeder Frau Spuren.“

In spöttischem Erstaunen hob er die Brauen. „Ich kann mich nicht erinnern, dass du je zuvor darüber geklagt hast.“

„Dreh mir nicht die Worte im Mund herum, Antonio“, fauchte sie ihn an. Lucia mochte singen wie ein Engel, doch die Eingebung zu allem anderen, was sie tat, erhielt sie eher vom Teufel als von göttlichen Mächten. „Als ich noch mit dir zusammen war, habe ich mich nie beschwert, das weißt du genau. Und ich werde jetzt nicht damit anfangen. Für dich ist die Liebe nur ein Spiel, und diese kleine englische Jungfrau versteht deine Spielregeln vielleicht nicht.“

Er würde ihr nicht widersprechen. Immer schon hatte er die Frauen geliebt und stets sorgfältig darauf geachtet, dass auch sie mit ihm ihr Vergnügen hatten. Deswegen, und auch weil er reich war, hatte es ihm nie an Geliebten gefehlt. Aber wenn er auch von Adel war, bevorzugte er doch die Gesellschaft der berühmteren Kurtisanen der Stadt und einiger verheirateter Damen mit skandalösem Ruf. Es waren Frauen, die wussten, dass die Liebe nichts als ein vergängliches Amüsement war. Ehrenwerte junge Damen langweilten ihn; außerdem sorgten schon deren Mütter dafür, dass sie ihm nicht über den Weg liefen. All das bekümmerte ihn jedoch wenig. Er musste nicht des Geldes, der Stellung oder eines Erbes wegen heiraten. Lucia hatte recht: Für ihn war die Liebe ein Spiel, und er hatte vor, es so lange wie möglich zu spielen.

In der Hoffnung, Lucias Stimmung etwas aufzuheitern, lächelte er ihr zu. „Das Mädchen kann dir doch egal sein.“

„Und was siehst du in ihr?“

„Sie ist nur ein hübsches kleines Ding, das ich auf einem Balkon entdeckt habe“, meinte er beiläufig. „Sei vernünftig, Schatz. Du hast kein Recht und auch keinen Grund, eifersüchtig zu sein.“

„Oh!“ Die Augen vor Zorn weit aufgerissen, schnappte sie nach Luft. „Oh, wie kannst du es wagen, so etwas zu mir zu sagen?“

Heftig stieß sie beide Hände gegen seine Brust und trat einen Schritt zurück. „Wieso bist du nur so stur, dass du mir nicht die ehrliche Antwort geben willst, die ich verdiene? Ich, deine älteste Freundin, die liebe Lucia! Du bist unmöglich, Antonio! Unmöglich!“

Sie warf den Kopf in den Nacken, dass das kunstvolle Werk aus Bändern, Locken, Puder und falschem Haar ins Schwanken geriet. Hastig raffte sie die Röcke, eilte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter.

Anthony seufzte. Bei Lucia geriet immer alles zu einer Szene, die um der größtmöglichen Wirkung willen grandioso gespielt wurde. Er mochte Lucia, sehr sogar, aber sie war auch ermüdend. Dieses reizende englische Mädchen war sicher anders. Unschuldig. Friedvoll. Nicht so schnell dabei zuzubeißen. Sie wäre wirklich eine angenehme Abwechslung, eine Erlösung. Sie wäre wie ein stiller Teich auf einer Sommerwiese nach einem verheerenden Sturm auf hoher See.

Er schlüpfte in seinen Mantel, griff nach seinem Hut und dachte dabei vergnügt über die verschiedenen Möglichkeiten nach, wie er dem reizlosen Lord Edward dieses entzückende blonde Mädchen ausspannen könnte. Vor Lucias Spiegel blieb er stehen, um sich den Hut verwegen schräg aufzusetzen, eben so, wie es zu ihm passte.

Nach englischen Maßstäben galt er nicht als gut aussehend. Seine hellhäutigeren Brüder waren immer schnell mit von der Partie, wenn es darum ging, ihn wegen seiner dunkleren Hautfarbe, den schwarz gelockten Haaren und der äußerst markanten Nase zu necken, all dies ein Erbe der Familie seiner Mutter. Doch die grauen Augen und das ungezwungene Lächeln stammten von seinem Vater und dazu noch genug Witz und Selbstbewusstsein, um alle Frauen sein kantiges, dunkles Gesicht vergessen zu lassen. Anthony zwinkerte seinem Spiegelbild zu und ging dann die Treppe hinunter. Inzwischen konnte er es wohl gefahrlos riskieren, sich zu Lucia in die Kutsche zu setzen, denn sie dürfte genug Zeit gehabt haben, um sich wieder zu beruhigen.

„Unmöglich“, murmelte sie mit abgewandtem Gesicht, als er in die Kutsche kletterte. „Du bist unmöglich.“

Er blieb in der Tür stehen. „Ich muss dich heute Abend nicht begleiten, Lucia. Wenn ich so verdammt unmöglich bin, ist es vielleicht besser für dich, allein zu Giovannis Fest zu gehen. Außerdem hat keiner der beiden auf dem Balkon Notiz von mir genommen.“

Sie fuhr herum. „Natürlich haben sie dich bemerkt, Antonio. Du weißt so gut wie ich, dass man dich nie übersieht oder vergisst. Du bist eben so.“

Seufzend ließ er sich neben ihr auf den Ledersitz fallen. „Das kann ich jetzt so oder so verstehen, Lucia.“

Aber Lucia antwortete nicht. Sie hatte sich wieder dem offenen Fenster zugewandt. Die nächste Viertelstunde fuhren sie in tiefem Schweigen, das eher einem unbehaglichen Waffenstillstand glich.

„Es wird dir nicht schwerfallen, sie wiederzufinden, deine kleine, flachshaarige Jungfrau“, sagte Lucia schließlich. „Euer englischer Konsul kann dir ihren Namen nennen. Es gibt nicht viele wie sie hier in Rom, besonders nicht so früh im Herbst.“

„Ich habe nicht behauptet, dass ich an ihr interessiert bin, oder?“

„Du brauchst es gar nicht laut auszusprechen, Antonio“, entgegnete sie und tupfte sich mit einem kostbaren Spitzentaschentuch die Augenwinkel. „Nicht bei mir.“

„Lucia, es reicht“, sagte Anthony entschieden. „Ist dein Liebster, Signor Lorenzo, nicht die Liebe deines Lebens? Der einzige Mann in Rom mit genug Hingabe, um deine Wutanfälle zu tolerieren, und genug Geld, um dir den Luxus zu ermöglichen, den du verlangst?“

„Wir sprechen hier nicht über Lorenzo.“ Ungeduldig schnippte sie mit dem Taschentuch nach ihm. „Wir sprechen von dir, Antonio. Was, wenn du dieses Mal in deinem kleinen Spiel der Verlierer bist? Was, wenn du alles für sie aufgibst?“

Amüsiert lehnte Anthony den Kopf gegen die Lederpolster und lachte leise. „Das wird nicht geschehen. Es ist gar nicht möglich.“

„Nein?“ Ihre Augen funkelten herausfordernd. „Du bist dir sehr sicher.“

„Ich bin mir sicher, weil ich recht habe“, war die einfache Antwort. Er nahm ihre Hand und küsste sie oberhalb des Rubinrings. „Keine Frau dieser Welt könnte diese Art von immerwährender Macht über mich erringen. Das solltest du wissen, Lucia.“

Sie rümpfte die Nase und entzog ihm ihre Hand. „Ich war es, die zuerst deiner müde wurde.“

Er ließ sich seine Zweifel so deutlich anmerken, dass sie schnell fortfuhr: „Ich sollte dich dieses unterernährte kleine Ding einfach heiraten lassen.“

„Du wirst meine Meinung nicht ändern, mein Schatz. Ich heirate sie nicht. Weder sie noch sonst irgendjemanden.“

Lucia ließ die gespreizten Finger über ihrem Dekolleté spielen, dass der Rubin im Halbdunkel aufblitzte. „Bist du dir sicher genug, darauf eine kleine Wette abzuschließen?“

Er lächelte. „Eine Wette, klein genug, dass bei Lorenzo keine Zweifel aufkommen und groß genug, um mein Interesse zu wecken?“

„Genau.“ Sie beugte sich zu ihm. „Ich wette, noch bevor die Adventszeit beginnt, wirst du diese Engländerin so besessen verfolgen, dich so sehr an sie verlieren, dass deine Freunde dich vor einer Heirat mit ihr retten müssen.“

„Einer Heirat!“ Über den absurden Schwachsinn dieser Bemerkung brach Anthony in lautes Gelächter aus. Diese junge Dame mochte eine entzückende Abwechslung sein, aber sie würde ihn kaum dazu bringen, sein vergnügtes, zügelloses Leben aufzugeben, nur um ihrer Hand willen.

„Ich nehme deine Wette an, Lucia, und ich werde deinen Einsatz bestimmen. Ich werde das Mädchen verführen. Ich werde so viel Spaß mit ihr haben wie sie mit mir. Doch sie wird nie meine Frau werden. Und wenn ich gewinne, erwarte ich, dass du auf der Spanischen Treppe eine Arie singst.“

Lucia runzelte die Stirn. „Mit Blick auf die Piazza? Vor ganz Rom?“

„Und umsonst, Liebling“, fügte er hinzu. Außer den päpstlichen Balkon des Petersdoms konnte er sich keinen öffentlichkeitswirksameren Ort vorstellen. Die Spanische Treppe war in diesem Jahrhundert gebaut worden, eine große, wellenförmige, marmorne Flut, die wie ein Wasserfall den Hügel der französischen Kirche Trinita dei Monti zur Piazza di Spagna hinunterstürzte, in deren Mitte einer der berühmtesten Brunnen Roms, die Fontana della Barcaccia stand. Die Piazza war nicht nur einer der Orte, an dem die Römer am liebsten dem Nichtstun frönten, sondern auch eine der größten Attraktionen für ausländische Besucher. Auf der natürlichen Bühne, welche diese Treppe bot, war Lucia eine enorme Menge an Zuhörern sicher. Und die Tatsache, dass ihre Darbietung auch noch in Sichtweite der Unterkunft jenes englischen Mädchens stattfinden würde, verlieh der Wette einen zusätzlichen Reiz.

„Ein kleines Geschenk, das du allen Römern mit deiner Stimme machst. Und das obendrein kein Loch in Lorenzos Geldbeutel reißt, nicht wahr?“

„Umsonst?“, fauchte Lucia außer sich vor Wut. „Ich singe nie ohne Gage!“

Er kreuzte die Arme vor der Brust. „Das ist meine Bedingung. Wenn du sie nicht akzeptieren willst, nun gut, dann wird die Wette …“

„Wenn du verlierst, musst du statt meiner singen!“, sagte sie schnell. „Du, Antonio, wo du doch wie ein Esel schreist!“

„Einverstanden.“ Sein Gesang glich wirklich dem eines Esels und das auch nur nach genügend harten Getränken. Doch er war überzeugt, dass es niemals so weit kommen würde.

„Und … und hundert venezianische Goldstücke!“

„Venezianische Goldstücke“, stimmte er amüsiert zu. Nur Lucia konnte so gierig sein. „Bereite deine Lieblingsarie vor, mein Schatz. Vor dem Volk von Rom möchtest du doch sicher dein Bestes geben.“

„Ich werde üben und nochmals üben, das verspreche ich dir, Antonio.“ Mit nachsichtigem Lächeln streckte sie die Hand aus und tätschelte ihm die Wange. „Für deine Hochzeit, nicht wahr? Für deine Hochzeit.“

„Das hier, meine Damen, ist das große Kolosseum.“ Reverend Lord Patterson hielt feierlich inne und deutete mit seinem Spazierstock aus dem Kutschenfenster. „Wo heidnische Krieger zur Unterhaltung Cäsars kämpften und unzählige Opfer wegen der Willkür eines skrupellosen Diktators erschlagen wurden.“

„Gütiger Gott!“, flüsterte Miss Wood tief beeindruckt. „Wenn man bedenkt, dass all das in diesen Mauern dort geschah! Lady Diana, Sie erinnern sich doch an das, was Sie über die Gladiatoren im Kolosseum gelesen haben, nicht wahr?“

Lustlos betrachtete Diana durchs Kutschenfenster die gewaltige steinerne Ruine, die neben ihnen aufragte. Während der letzten drei Tage hatte sie sich um Edwards willen sehr bemüht, Begeisterung zu zeigen und sich für das zu interessieren, was ihn interessierte.

Doch es fiel ihr nicht leicht, zumal das alte Rom für Edward das interessanteste Gesprächsthema war.

„Aber Onkel, so haben Sie doch ein Einsehen“, meinte Edward und nutzte das Halbdunkel in der Kutsche, um Dianas Hand zu ergreifen. „Sie können doch nicht erwarten, dass eine so wohlerzogene Dame wie Lady Diana Ihre blutrünstige Begeisterung für heidnische Krieger teilt, die sich vor tausend Jahren gegenseitig erschlagen haben.“

„Aber Seine Gnaden der Herzog erwartet, dass seine Töchter ein gewisses Maß an Wissen über die Vergangenheit besitzen, Mylord“, protestierte Miss Wood mit Nachdruck. „Natürlich sind keine so ausgeprägten Kenntnisse wie bei Jungen notwendig, aber doch so viel, dass sie sich von gewöhnlichen Frauen unterscheiden und eine Unterhaltung führen können, die Seine Gnaden und andere Gentlemen erfreut.“

„Dann möchte ich als Gentleman sprechen, Miss Wood“, sagte Edward und hob Dianas Hand, um einen Handkuss anzudeuten. „Mir wäre es lieber, wenn Lady Diana, was Cäsars verderbte Gewohnheiten betrifft, ihre Unschuld behielte. Besser, sie genießt die Schönheit des Ortes, als dass sie an die Schändlichkeiten denkt, die einst dort stattfanden.“

Diana lächelte gerührt. Es schien ihr allerdings, als würde er mehr die Unwissenheit als die Unschuld verteidigen, doch um seinetwillen übersah sie dieses Detail. Noch nie hatte sie einen solchen Fürsprecher gehabt.

Aber Miss Wood war nicht bereit, schon aufzugeben. „Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass Seine Gnaden die Unschuld seiner Tochter bewahrt sehen möchte, Mylord. Doch er wünscht auch, dass sie sich ein wenig Gefühl und Verständnis für die größere Welt des Kontinents, einschließlich des Kolosseums, aneignet.“

„Ich möchte etwas vorschlagen, Miss Wood.“ Bemüht, Frieden zu stiften, beugte Reverend Lord Patterson sich vor. „Lassen Sie meinen Neffen Lady Diana doch ein, zwei Augenblicke ins Innere begleiten, damit sie selbst einen Blick in das Kolosseum werfen kann. Sicherlich wird das Mondlicht die raue Wirklichkeit des Ortes aus den Gedanken der jungen Dame verbannen und ihr helfen, die angemessene Ehrfurcht vor seiner Geschichte zu bewahren.“

„Eine ausgezeichnete Idee!“ Diana war sofort bereit, aus dem Wagen zu springen. Während der letzten Tage hatten sie unter so strenger Bewachung gestanden, dass sie der Möglichkeit, endlich einmal mit Edward allein zu sein, nicht widerstehen konnte. „Das heißt, wenn Lord Edward dazu bereit ist …“

„Es wäre mir eine Ehre, Mylady.“ Edward zeigte den gleichen Eifer wie Diana und griff nach der Türverriegelung. „Wann kann man das Kolosseum besser besichtigen als bei Mondschein?“

„Bei Mondschein, ach wirklich?“ Miss Wood erhob sich von ihrem Sitz. „Das würde ich auch sehr gerne sehen.“

Edward machte ein langes Gesicht. „Das ist nicht nötig, Miss Wood. Das heißt, ich glaube nicht, dass …“

„Sie müssen nicht mitkommen, Miss Wood“, bat Diana. „Bitte, bitte! Sie können uns schon ein wenig vertrauen.“

Aber die Gouvernante schüttelte den Kopf. Sie gab sich immer noch die Schuld daran, dass Mary in Paris durchgebrannt war. Und seit damals war sie fest entschlossen, Diana keine solche Gelegenheit wie ihrer Schwester zu geben. „Das ist keine Frage des Vertrauens, Mylady, sondern der Sittsamkeit. Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern …“

„Ich bin sittsam, Miss Wood“, sagte Diana rasch. „Und es könnte keinen ehrenwerteren Gentleman geben als Lord Edward.“

„Ach, lassen Sie sie doch gehen, Miss Wood“, meinte Reverend Lord Patterson gutmütig. „Ich bürge für die Ehrsamkeit meines Neffen. Und außerdem werden die beiden kaum allein sein. Sicher sind jetzt drinnen mehr Besucher als am Tag, ganz abgesehen von den ständig anwesenden Priestern und den Kekse- und Getränkeverkäufern, die Tag und Nacht das Kolosseum verstopfen.“

Edward legte die Hand aufs Herz. „Sie haben mein Wort, Miss Wood. Ich werde die Ehre Ihrer Ladyschaft mit meinem Leben verteidigen.“

Einen Augenblick zögerte Miss Wood noch, dann seufzte sie resigniert. „Nun gut, Mylady. Ich werde Ihnen und Seiner Lordschaft vertrauen. Sie dürfen gehen und sich zusammen die Ruinen anschauen. Doch denken Sie daran, in einer halben Stunde müssen Sie zurück sein, oder ich werde mich auf die Suche nach Ihnen machen.“

„Dann lassen Sie uns gehen, Lord Edward.“ Diana ergriff seine Hand. „Wir dürfen keine Zeit verschwenden.“

„Die Zeit mit Ihnen ist niemals verschwendet.“ So machte er es immer: Er nahm ihre Worte und verwandelte sie in ein romantisches Echo. „Der Eingang ist dort unten.“

„Meinetwegen können wir auch einfach nur draußen um das Kolosseum herumgehen, Mylord“, meinte Diana. So allein mit ihm fühlte sie sich bereits ein wenig schwindlig. „Denn mir geht es nur darum, mit Ihnen zusammen zu sein.“

Er lachte leise und tätschelte ihre Hand, während er sie zu einer kleinen Plane führte, die den Eingang zur antiken Ruine markierte. „Es ist klug von Ihrer Gouvernante, auf Sie aufzupassen. Der gute Ruf einer Dame ist ein unersetzlicher Schatz.“

„Er kann auch eine unerträgliche Bürde sein“, erwiderte Diana trocken. „Manchmal wünsche ich mir, ich wäre ein gewöhnliches Mädchen.“

„Nie könnte man Sie gewöhnlich nennen“, gab er galant zurück und missverstand dabei ihre Klage. „Noch Seine Gnaden, Ihren Vater.“

„Vater ist ganz schön gewöhnlich, besonders für einen Peer“, meinte Diana. „Und dass Miss Wood behauptet, er möchte mit mir über Geschichte und Kunst diskutieren, ist Unsinn – alles, was er wirklich von mir oder meiner Schwester erwartet, ist, dass wir an den richtigen Stellen seiner Jagdgeschichten erstaunte kleine Schreie ausstoßen und uns wundern.“

„Ich würde Ihren Vater gerne einmal kennenlernen“, sagte Edward. „Wie ich hörte, soll er ein Mann von großem Weitblick sein. Ich hoffe, die Ehre zu haben, seine Bekanntschaft machen zu dürfen.“

„Ich wüsste nicht, wozu das gut sein sollte“, entgegnete Diana amüsiert. Den einzigen Weitblick, den sie ihrem Vater zubilligte, war seine Fähigkeit, die Wolken zu betrachten und dann vorherzusagen, ob sie so viel Regen brachten, dass die Jagd abgesagt werden müsste. „Außer, Sie möchten mit der Beschreibung des hohen Tores, das er mit seinem Lieblingspferd überspringen kann, zu Tode gelangweilt werden.“

„Wir würden andere Themen für unsere Unterhaltung finden“, sagte Edward und nickte. „Sie, zum Beispiel, Mylady.“

Erschrocken sah sie ihn an. Es gab nur einen Grund, warum ein Gentleman mit dem Vater einer Dame sprach – weil er um ihre Hand bitten wollte. Unter all den Männern, die sie in ihrem Leben bereits kennengelernt hatte, war kein einziger gewesen, der es gewagt hatte, solch einen Wunsch zu äußern. Allerdings kannte sie Edward erst seit Kurzem, und bis zum Aufgebot konnte vieles schiefgehen. Doch dass er so schnell auf diese Möglichkeit anspielte, entzückte und erstaunte sie zugleich. Er machte ihr den Hof!

„Ist diese Vorstellung so entsetzlich für sie, Mylady?“, fragte er vorsichtig.

„Magie, Mylord.“ Sie lächelte zu ihm auf und drückte seinen Arm. „Daran habe ich gedacht. Dass alles, was Sie denken und tun, wie Magie für mich ist.“

„Auch ich genieße Ihre Begleitung, Mylady“, sagte er und blieb stehen, um in seinen Taschen nach dem Eintrittsgeld zu kramen. Er gab die Münzen einem gelangweilt aussehenden Mann, der auf einem hohen Stuhl neben dem Eingang saß, und geleitete Diana durch das Tor. „Immer ein Trinkgeld, was? Diese Römer lassen einen Gentleman bluten, und dann suchen sie noch nach einem Weg, aus seinem Blut Gewinn zu schlagen.“

„Einen solchen Ort instand zu halten, muss eine Menge kosten“, meinte Diana. Trotz der Laternen, die hie und da an der Wand hingen, war der Durchgang dunkel und unheimlich, und Diana schmiegte sich eng an Edward. „Es ist größer als irgendein Gebäude in England. Stellen Sie sich doch nur einmal vor, wie viele Scheuerfrauen man hier anstellen muss, um es zu reinigen.“

„Man kann es sich nur vorstellen, denn es geschieht nie“, erklärte Edward und gab sich keine Mühe, sein Missfallen zu verbergen. „Sie sehen ja selbst, wie die Römer diese Dinge haben verkommen lassen. Sie kümmern sich einfach nicht um ihr Erbe. Früher hatte diese Stadt Wasserleitungen und eine Kanalisation, die das heutige London beschämt hätten. Jetzt schauen Sie sich nur an, wie es heute hier aussieht. Man kann kaum atmen, so stinkt es überall. Man kann kaum glauben, dass diese armseligen neuzeitlichen Römer die Nachkommen Cäsars mächtiger heidnischer Rasse sind.“ Doch Diana war auch an diesem Abend nicht mehr an Cäsar interessiert, als sie es in den letzten zwei Tagen gewesen war.

„Ich hoffe, wir werden bald wieder den Mond sehen“, sagte sie in dem Versuch, das Gespräch auf interessantere Themen zu bringen. Das Mondlicht gefiel ihr besser als diese von schlecht riechenden Talglichtern kaum erhellten Gänge. Mondlicht war hell, romantisch und schmeichelte dem Aussehen. Außerdem erweckte es in den Männern zumeist den Wunsch, sie zu küssen. Und wenn es auch eine entzückende Abwechslung war, einmal von einem Mann respektiert zu werden, so fand sie es dennoch an der Zeit, dass Edward endlich einen Versuch unternahm, sie zu küssen. Nach allem, was er gesagt hatte, verdiente er einen Kuss. Aber er musste derjenige sein, der ihn verlangte. „Es ist beinahe Vollmond. Er sieht aus wie eine riesige Silbermünze.“

„Das sieht Ihnen wieder ähnlich, Mylady! Den Mond zu beachten!“ Sie konnte seine weißen Zähne sehen, als er sie nachsichtig anlächelte, als hätte sie etwas bemerkenswert Dummes gesagt. „Ich muss gestehen, meine Gedanken waren eben woanders und baumelten nicht dort oben am Himmel.“

„Der Mond baumelt nicht am Himmel, Mylord.“ Für einen in Geschichte bewanderten Gentleman war Edward bemerkenswert begriffsstutzig, wenn es sich um das Geschehen der Gegenwart handelte. „Der Mond geht auf einer vorgeschriebenen Bahn jede Nacht auf und unter, genau wie die Sonne am Tag.“

„Nun gut, ja, vermutlich tut er das.“ Mit einer knappen Verbeugung – aber keinem Kuss – führte er sie um eine weitere Ecke und dann hinaus ins Freie. „Da sind wir! Um das zu sehen, sind Sie nach Rom gekommen!“

Pflichtschuldig sah Diana sich um. Im Innern wirkte das Kolosseum viel größer als von der Kutsche aus. Es war ein enormer Ring aus Stein, brüchig und zernagt vom Zahn der Zeit. Die Hälfte der Mauer mit ihren Bogenreihen war zusammengebrochen wie eine zerschlagene Teetasse, und auf niedrigen Podesten, die früher wohl Bänke oder Sitze gewesen waren, wuchsen jetzt Grasbüschel und Wildblumen. Mit Laternen in den Händen wanderten andere Besucher mit ihren Führern über die verschiedenen Ränge. Ihre Gestalten wirkten im grauen Halblicht wie ziellos umherschweifende Geister. Diana war enttäuscht. Wenn das Kolosseum bei Mondlicht der romantischste Ort in Rom war, wie alle Fremdenführer behaupteten, dann hatten diese Fremdenführer jedenfalls eine ganz andere Vorstellung von Romantik als sie.

„Wo fanden die Kämpfe und die Vorführungen statt?“, fragte sie, während sie nach unten blickte. Der Boden dort unten war durchzogen mit einem Labyrinth offener Gänge, das keinerlei Ähnlichkeit mit den Kupferstichen in ihrem alten Geschichtsbuch hatte. „Das sieht eher wie ein Marktplatz mit Buden für die Bauern aus als nach einer Arena für Kämpfer.“

„Das liegt daran, dass wir jetzt sehen, was früher einmal Tunnel waren, durch welche die Gladiatoren und die wilden Tiere in die Arena kamen“, erklärte Edward eifrig. „Früher hatte man Holzbohlen darübergelegt, eine Art Bühne. Diese Bohlen waren mit Sand bedeckt, der das vergossene Blut der Sterbenden aufsog. Oh, stellen Sie sich doch nur dieses Schauspiel vor, Mylady. Von hier aus spornten sechzigtausend laut schreiend den tödlichen Kampf an.“

„Lieber nicht“, seufzte Diana. Edwards männliche Blutrünstigkeit glich doch sehr der grenzenlosen Begeisterung ihres Vaters für das Töten von Hirschen, Fasanen und Füchsen auf Aston Hall. „Was ist das da unten für ein seltsames kleines Haus, Mylord? Werden dort Erfrischungen angeboten? Ich bin ziemlich durstig.“

„Das ist eine papistische Kapelle, Mylady“, sagte er und zeigte offen sein Missfallen. „Sie wissen ja, wie die Römer sind. Wo sie können, stellen sie eine Kirche auf.“

„Aber mitten auf einem so heidnischen Platz? Sie müssen doch einen Grund dafür gehabt haben; vielleicht ist es ein Heiliger, dessen sie auf diese Art gedenken wollen.“

Verwirrt runzelte er die Stirn. „Mein Wissen beschränkt sich auf die glorreiche Antike, nicht auf deren schäbige Nachkommen.“

„Vielleicht wurde sie zu Ehren der gefallenen Gladiatoren gebaut“, überlegte Diana. „Miss Wood sagte, dass hier die frühen Christen das Martyrium erlitten, und so …“

„Mylady, ich weiß es nicht.“ Edward schien des Themas müde. Er lächelte und nahm den Hut vom Kopf. „Aber ich glaube, man könnte die Wärter hier überzeugen, Ihnen ein Glas Orangenlimonade zuzubereiten. Wäre es Ihnen recht, wenn ich sie darum bäte?“

„Oh ja, danke, Lord Edward!“ Sie öffnete ihren Fächer und lächelte ihm über den Rand hinweg zu. Eigentlich war sie gar nicht so durstig, doch um Lord Edward seine glorreiche Antike vergessen zu machen, würde sie ein ganzes Fass Orangenlimonade austrinken. „Sie sind zu freundlich.“

Er bot ihr den Arm. „Dann kommen Sie, Mylady.“

„Dort hinunter?“ Zweifelnd blickte sie auf ihre kokett ausgestreckte zierliche Schuhspitze und hob den Rocksaum noch ein wenig höher, um deutlich zu machen, was sie meinte.

„Es tut mir leid, Mylord, aber ich bin nicht so gut zu Fuß wie eine Bergziege. Ich wusste nicht, dass wir heute Abend die Kutsche verlassen würden. Also warte ich hier, während Sie hinuntergehen und fragen.“

„Ich soll Sie hier zurücklassen?“, fragte er erstaunt. „Ich kann Sie doch nicht einfach allein lassen!“

„Natürlich können Sie.“ Sie lächelte glücklich. Ihn eine Besorgung für sie erledigen zu lassen, war zwar nicht ganz so befriedigend wie ein Kuss, aber es kam dem doch ziemlich nahe. „Was kann mir schon geschehen, mit so vielen anderen Menschen um mich herum? Ich werde hier warten, wo Sie mich die ganze Zeit sehen können.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob sich das schickt, Mylady.“

„Es schickt sich, Mylord“, sagte sie und lächelte noch süßer, „weil ich von Minute zu Minute durstiger werde.“

„Und das kann ich nicht zulassen, nicht wahr?“ Er stülpte sich wieder den Hut auf. „Ich bin zurück, so schnell ich kann.“

Sie beobachtete ihn, wie er sich zwischen den zerbrochenen Sitzen seinen Weg nach unten suchte. Das Kolloseum war um einiges größer, als sie zunächst angenommen hatte, und nun musste sie feststellen, dass Edward wahrscheinlich länger fortbleiben würde. Er blieb einmal stehen und drehte sich um, um ihr zuzuwinken. Sie überlegte kurz, ob sie ihn zurückrufen sollte. Doch dann winkte sie ihm ebenfalls zu. Denn das Gerede über Orangenlimonade hatte sie jetzt wirklich durstig gemacht.

Sie blickte zu der Silhouette zerbrochener Bogen hinauf, dann hinunter, wo einst die Bühne gewesen war, und schließlich zu der kleinen Kapelle, die sich seitlich an die Ruine schmiegte. Was war wirklich von der Vergangenheit geblieben?

Nachdenklich spielte sie mit den Aufschlägen ihrer Handschuhe und sah in den finsteren Gang zurück, durch den sie gekommen waren. Fast erwartete sie, dort Miss Wood zu entdecken, wie sie hinter ihr hergelaufen kam. Wie viel Zeit wohl vergangen war, seitdem sie die Kutsche verlassen hatten?

„Buona sera, bella mia.“ Die mit tiefer, rauer Stimme geflüsterten Worte kamen aus den Schatten hinter ihr. „Der Mond ist heute Abend wie geschmolzenes Silber, nicht wahr?“

Diana fuhr herum und spähte angestrengt ins Dunkel. „Wer ist da?“, rief sie scharf. „Wer spricht? Zeigen Sie sich, Sir!“

„Oh, und Sie zeigen sich zu sehr“, sagte der Mann. „Kommen Sie mit mir unter diese Mauerbögen dort und entdecken Sie, was für einen angenehmen Unterschied ein wenig Schatten machen kann.“

„Ich denke nicht daran.“ Entschieden verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Wenn Sie hergekommen sind, um die Dienste einer – einer Hure zu suchen, dann haben Sie einen schlimmen Fehler gemacht.“

„Ich glaube kaum, dass ich einen Fehler gemacht habe“, erwiderte er selbstsicher. „Ich bin gekommen, weil ich Sie suche, reizende Monddame. Und es ist mir gelungen, nicht wahr?“

Empört schnappte Diana nach Luft. Er versteckte sich im Dunkeln, wo sie ihn nicht sehen konnte. Das war nicht nur unfair, das war schlichtweg feige! „Wie können Sie es wagen zu behaupten, Sie suchten mich! Sie wissen doch noch nicht einmal, wer ich bin!“

„Aber ich kenne Sie doch, cara.“ Sein Lachen war so tief und dunkel wie die Schatten, die ihn verbargen. Es war ein männliches Lachen, das Diana unter anderen Umständen ungeheuer anziehend gefunden hätte. „Ein Blick reichte aus, um zu wissen, dass unsere Seelen füreinander bestimmt sind.“

„Das ist Unsinn“, erwiderte sie scharf. „Sie bedeuten mir gar nichts. Diese Stadt hier ist voll von eingebildeten italienischen Männern wie Ihnen.“

„Was für ein grausamer Irrtum, meine Teure“, sagte er unbeeindruckt. Es schien, als hätte er gar keine andere Antwort von ihr erwartet. „Ich versichere Ihnen, ich bin absolut einzigartig.“

„Und ich versichere Ihnen, dass Sie es nicht sind“, protestierte sie. „Sie sind nichts als ein sich aufgeplusterer Gockel, der glaubt, er könne jede Frau verführen, die ihm unter die Augen kommt.“

Entschlossen, kein Wort mehr an ihn zu verschwenden, raffte sie die Röcke und drehte sich rasch um. Dieser Mann verdiente es nicht besser. Lieber wollte sie es riskieren, hinter Edward die Ränge hinunterzuklettern, als sich weiterhin diesen Unsinn anzuhören.

Doch der Mann war noch nicht fertig. „Nicht jede Frau, werte Lady Diana Farren. Ich bevorzuge seltene Vögel wie Sie.“

Abrupt blieb sie stehen. Er hatte ihren Namen genannt!

„Wie Sie sehen, kenne ich Sie“, fuhr er fort. „Ich habe in Ihrer Muttersprache zu Ihnen gesprochen, nicht wahr? Ich weiß, dass dieses käsige Mondkalb es nicht wert ist, Ihnen den Fächer zu reichen. Und ich weiß, welche Freude Sie am Silberglanz der hellen Mondgöttin haben. Oh ja, ich kenne Sie, cara.“

Wieso hatte sie nicht bemerkt, dass er sie auf Englisch angesprochen hatte? Wie hatte er ihren Namen, ihren Titel erfahren? Wie machte er es, dass jedes Wort, das er sprach, so lasziv klang?

„Sie haben mein Gespräch mit Lord Edward belauscht, nicht wahr?“ Sie drehte sich wieder zu ihm um. „Sie haben spioniert! Er ist zehn Mal mehr Gentleman, als Sie es je sein werden – ach was, hundert Mal mehr! Sie folgten uns und belauschten unsere Unterhaltung und …“

Er lachte und machte sie damit nur noch wütender. „Glauben Sie wirklich, mich interessiert, was ein anderer Mann zu Ihnen sagt?“

„Ich weiß jedenfalls, dass mich nicht interessiert, was Sie sagen.“

„Wie grausam“, erwiderte er sanft und machte einen Schritt auf sie zu, sodass er nun aus dem Schatten ins Mondlicht trat. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Die breiten Schultern völlig entspannt, stand er da, das Gewicht auf einem Bein, die Daumen in die Westentaschen gehakt. Das gedämpfte Licht hob seine kräftigen Gesichtszüge hervor, betonte die Linie seines Kinns und seiner Nase, die, dem unebenen, gekrümmten Nasenrücken nach zu schließen, mindestens ein Mal gebrochen sein musste. Sein langes schwarzes Haar war nachlässig nach hinten gekämmt, und nur eine wirre Locke fiel ihm über die breite Stirn.

Doch was Diana vor allem auffiel, waren seine Augen. Grau wie Zinn, hoben sie sich gegen das düstere Schwarz ab. An solche Augen würde sie sich immer erinnern. Das unverfrorene männliche Interesse an ihr, das jetzt in ihnen aufleuchtete, war so offenkundig, dass Diana heiße Wangen bekam.

„Sie saßen mit Ihren Mätressen in der Kutsche“, sagte sie langsam. „Ich sah Sie vom Balkon aus.“

„Ich wusste, dass Sie es nicht vergessen haben, cara.“ Langsam glitt ein warmes, verführerisches Lächeln über sein Gesicht. „Sie nicht und ich auch nicht. Niemals.“

3. KAPITEL

Sie ist tatsächlich mutig, stellte Anthony mit Befriedigung fest. Er hatte es schon geahnt, als er sie zum ersten Mal auf dem Balkon entdeckte und sie seinen Blick unbeirrt erwidert hatte.

Jetzt hatte er den Beweis. Als er aus dem Schatten trat wie der Schurke in einer schlechten Oper, war sie nicht erschrocken oder fortgelaufen oder, was das Schlimmste gewesen wäre, in einer Wolke von Musselin ihm ohnmächtig zu Füßen gesunken. Stattdessen hatte Lady Diana Farren sich sehr gut gegen ihn behauptet und ihre Meinung auf eine Art geäußert, die nicht nur undamenhaft war, sondern auch ganz und gar nicht dem englischen Wesen entsprach. Tapferkeit war bei einer Frau eine seltene Tugend. Und sie würde in dem kleinen Spiel, das sie zusammen spielen wollten, gebraucht.

Nein, in dem Spiel, das sie bereits zu spielen begonnen hatten. Lady Diana wusste es nur noch nicht.

„Wie lächerlich arrogant Sie sind!“, rief sie und funkelte ihn mit ihren großen blauen Augen wütend an. „Zu glauben, ich würde länger an Sie denken als … als so lang!“

Sie hob die Hand und schnippte mit den Fingern. Wenn der Effekt durch ihren Handschuh auch etwas gedämpft wurde, so machte das der verächtlich triumphierende Ausdruck auf ihrem entzückenden Gesicht wieder wett.

„Aber Sie erinnern sich in der Tat schon länger an mich“, erwiderte er unbekümmert. „Nämlich seit dem Tag, als Sie mich von Ihrem Balkon aus gesehen haben. Außerdem täuschen Sie sich, was meine Begleitung in der Kutsche betrifft. Es waren meine Freundinnen, nicht meine Mätressen.“

„Weder so noch so sind Ihre Freundinnen für mich von Bedeutung. Ich erinnere mich, weil Sie mich daran erinnert haben“, erwiderte sie so prompt, dass er beinahe lachen musste. Tapfer und schnell und möglichen Rivalinnen gegenüber völlig gelassen – das war eine äußerst ungewöhnliche Kombination. In seinem Leben gab es so viele schöne Frauen, dass eine neue schon außergewöhnlich sein musste, um sein Interesse zu erregen. Und Wette hin oder her, diese hier war ungewöhnlich.

„Das Einzige, was ich tat, um Ihre Erinnerung zu wecken, war, hier vor Ihnen zu stehen, cara“, bemerkte er. „Wenn das schon genügte, nun, dann muss ich bereits in Ihren Gedanken gewesen sein und in …“

„Ich kenne Sie noch nicht einmal“, unterbrach Diana hoheitsvoll, jeder Zoll die Tochter eines Peers, und reckte die aristokratische Nase in die Luft. „Wer sind Sie überhaupt? Wie ist Ihr Name? Antworten Sie mir, Sir, augenblicklich.“

Er lächelte und nahm sich Zeit, wohl wissend, dass nichts sie mehr ärgern würde. „Befehle, Befehle, wie ein General in Röcken“, schalt er sanft. „Das schickt sich wohl kaum, mia signora di bella luna.“

Sie sah ihn an. Es war so offensichtlich, dass sie ihn nicht verstand, dass er übersetzte. „Meine schöne Monddame. Diana war die römische Göttin dieses leuchtenden Himmelskörpers dort über uns, müssen Sie wissen.“

„Das weiß ich“, gab sie heftig zurück. „Ich bin wohl kaum so unwissend, dass ich meine Namensvetterin nicht kenne.“

„Unwissend nicht“, sagte er. „Vielleicht nur ungezogen.“

„Sie sind hier derjenige, der sich ungezogen benimmt, Sir. Was ist das für ein Gentleman, der einer Dame seinen Namen verschweigt?“

Er wischte ein unsichtbares Stäubchen von seinem Ärmel. „Wer sagt denn, dass ich ein Gentleman bin?“

„Sie“, behauptete Diana und schien gar nicht zu bemerken, wie sie, die Hände zu Fäusten geballt, immer näher an ihn herantrat. „Das heißt, Sie gaben vor, es zu sein, als Sie mich mit solcher … solcher Vertraulichkeit ansprachen, als wären wir von gleichem Stand.“

Er machte eine spöttische Verbeugung und wedelte dazu elegant mit der Hand. „Ich fühle mich geehrt, Mylady, dass meine adlige Abstammung allein dadurch schon bewiesen ist, dass ich es wagte, Sie anzusprechen.“

„So habe ich es nicht gemeint.“ Inzwischen zitterte Diana schon vor Empörung und sprühte so vor Wut, dass Anthony befürchtete, sie könnte in Flammen aufgehen, wenn er sie berühren würde. „Ich wollte sagen, dass durch Ihre Ausdrucksweise und Ihr Benehmen …“

„Ach, das haben Sie gemeint?“ Lässig lehnte er sich an den Mauerbogen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Meine schlechten Manieren statt Ihrer?“

„Nein, nein, nein!“ Um ein Haar hätte sie mit dem Fuß aufgestampft, weil er sie nicht verstehen wollte. „Ich meinte, dass Ihr Englisch das eines Gentleman ist. Aber kein Gentleman würde sich mir gegenüber derart barbarisch benehmen, wie Sie es tun. Sie weigern sich, mir Ihren Namen zu nennen! Das ist nicht fair, Sir, keineswegs fair.“

„Es ist nicht fair, zusehen zu müssen, wie Sie sich an einen Mann wie Warwick verschwenden, cara.“ Anthony gab sich Mühe, sein Urteil wie einen kleinen Seitenhieb klingen zu lassen. „Meine Mondgöttin verdient Besseres als diesen aufgeblasenen, flachshaarigen sciocco.“

„Sciocco?“

„Ein Narr“, erklärte er, glücklich darüber, es ihr übersetzen zu können. „Ein Einfaltspinsel. Ein Geck. Ein Bursche, der Ihrer Aufmerksamkeit nicht wert ist.“

„Ein Geck?“, rief sie aus. „Wie können Sie Lord Edward einen Gecken schimpfen? Er ist zehn Mal mehr wert als Sie – nein, hundert Mal! Er behandelt mich mit Respekt und Rücksicht wie kein anderer Mann. Wissen Sie, wo er jetzt gerade ist? Er ist losgegangen, mir eine Orangenlimonade zu holen, weil er meinen Durst vorausgeahnt hat!“

„Eine wirklich bewundernswürdige Fähigkeit bei einem Diener oder Lakaien“, meinte Anthony mit gleichgültigem Achselzucken, „aber doch nicht bei einem Liebhaber, und nicht bei einer so leidenschaftlichen Frau, die …“

„Wie können Sie es wagen!“, rief sie bebend vor Zorn und hob die Hand, um ihm eine Ohrfeige zu geben.

Doch Anthony war größer, stärker und zu sehr an solche weiblichen Ausbrüche gewöhnt. Es war ihm ein Leichtes, ihre Hand abzufangen, bevor sie ihn hatte schlagen können.

„Eine leidenschaftliche Frau, oh ja“, sagte er leise, während Diana versuchte, sich freizukämpfen. „Sie beweisen es mir ja selbst. Keine Dame, sondern vor allem eine Frau, was, cara?“

„Und Sie sind … kein Gentleman, sondern ein gemeiner, ordinärer Barbar mit schlechten Manieren!“ Sie spuckte ihm die Worte regelrecht ins Gesicht. „Lassen Sie mich sofort los!“

„Wenn Sie das wirklich wünschen“, sagte er nonchalant, „dann werde ich es tun.“ Es gefiel ihm, wie ihr Temperament diese aristokratische Hülle aus Anstand und gutem Benehmen sprengte. Seiner Erfahrung nach waren Temperament und Leidenschaft eng miteinander verwandt, und es brauchte nie viel, die beiden zusammenzubringen. „Wenn Sie möchten, dass ich Sie loslasse, damit Sie zu Warwick flüchten können, dann müssen Sie es mir bloß sagen.“

Sofort hörte sie auf, sich zu wehren. Seine Finger umschlossen immer noch ihre Handgelenke.

„Warum sollte ich nicht zu Lord Edward zurückgehen wollen?“, fragte sie misstrauisch. Sie stand dicht vor ihm und sah ihn an. „Er ist ein Gentleman, und Sie sind es nicht. Was für einen anderen Grund könnte ich haben, mich in seine Obhut zu flüchten?“

„Das wissen Sie besser als ich“, entgegnete Anthony. Es war klar zu erkennen, dass sie bereits an Warwick zweifelte. Er würde nicht lange brauchen, um sie auf seine Seite zu ziehen. „Das heißt, wenn Sie die Dame sind, die zu sein Sie behaupten, und er ein Gentleman ist.“

„Ich bin eine Dame“, sagte sie schnell, und Anthony stellte fest, dass sie Warwick dieses Mal nicht verteidigte. Armer Kerl! Die Tage, in denen er sich in ihrer Gunst sonnen konnte, durften gezählt sein.

„Ich sagte nie, Sie wären keine.“ Er näherte sein Gesicht dem ihren. Ihm gefiel ihr Duft nach Veilchen, mit einem würzigen Hauch. „Doch während Ihres Rom-Aufenthalts sollten Sie sich gestatten, eine Frau sein.“

„Das habe ich überhört.“ Herausfordernd hob sie das Kinn. „Und Sie sind immer noch ein Tier.“

„Ich habe nie gesagt, ich wäre keins.“ Immer noch hielt er ihre Handgelenke umfasst, doch sie wehrte sich nicht mehr, und ihre geballten Fäuste hatten sich geöffnet. Er spürte, wie ihr Puls raste, wie unter seinen Fingern ihr Herzschlag immer schneller ging. „Vielleicht fühle ich mich all den armen Tieren verwandt, die in diesen Mauern getötet wurden.“

„Die, welche die Gladiatoren töteten?“, fragte sie. „Die wilden Bestien aus den Dschungeln und Wäldern?“

„Genau die“, sagte er ruhig. Langsam ließ er ihre Handgelenke sinken. Sein Griff war jetzt so leicht, als wären sie Tanzpartner und nicht Gegner. „Aber der Gedanke gefällt mir, dass die wilden Bestien zum Ausgleich auch ein paar dieser blutdürstigen Gladiatoren getötet haben.“

Zum ersten Mal lächelte sie. „Sie klingen, als fühlten Sie mit diesen Löwen und Tigern mit.“

„Das tue ich auch.“ Er zog sie näher heran, und sie beugte sich ihm ein wenig mehr zu. Es gefiel ihm, dass ihr Körper runder und voller war, als er vermutet hatte, und es gefiel ihm auch, wie nah dieser Körper ihm jetzt war. Nahe genug, um ihn zu berühren. „Wie könnte ich nicht? Ihr Geist, ihre Wildheit, ihre Schönheit. Und am meisten von allem bewundere ich ihre Weigerung, sich zähmen zu lassen und sich zu unterwerfen.“

„Tatsächlich?“ Mit geneigtem Kopf warf sie ihm unter langen Wimpern hervor einen Blick zu. „Dann betrachten Sie selbst sich wohl auch als ungezähmt?“

„Oh, völlig.“ Wie zufällig ließ er die freie Hand auf ihrer Taille ruhen. „Ich bin so wild wie nur irgendein Löwe.“

Sie entzog sich seiner Hand, ohne viel Aufhebens zu machen oder laut zu protestieren wie eine empörte Jungfer. Vielmehr rückte sie einfach etwas von ihm ab und zog so schweigend ihre Grenzen. Seine Achtung vor ihr stieg.

„So schrecklich wild wohl auch wieder nicht“, meinte sie immer noch lächelnd. „Ich wette, das würde sich bald ändern, wenn Sie auf den richtigen Löwenbändiger träfen.“

„Zu dieser Wette würde ich Ihnen nicht raten, cara“, erwiderte er und strich gerade so fest über ihren Rücken, dass er die Stäbe ihres Korsetts und den Körper darunter fühlen konnte. „Löwenbändiger verschlinge ich nämlich zum Frühstück.“

Sie ließ ein Glucksen hören. Es war ein kehliger Laut, der ihn entzückte. „Verspeisen Sie sie mit Butter und Marmelade?“

„Wir sind hier in Rom, nicht im barbarischen England“, sagte er. „Ich ziehe einen Spritzer Olivenöl und etwas Basilikum zur Geschmacksverfeinerung vor.“

Wieder gluckste sie. „Wie schlimm für die armen Löwenbändiger, so zu enden!“

„Wie schlimm für mich, dass ich diese scheußlichen Kreaturen essen muss.“ Er seufzte dramatisch, wobei er aber die Hand ausstreckte, um ihre Wange zu berühren. „Das wahre Problem ist vermutlich, dass ich die richtige goldhaarige Löwin noch nicht getroffen habe.“

„Ah.“ Sie schreckte nicht vor ihm zurück. „Denken Sie bitte daran, dass ich mit Lord Edward hier bin.“

„Ich denke daran“, sagte er und näherte sein Gesicht dem ihren. „Obwohl ich entschlossen bin, Sie vergessen zu lassen, dass er je geboren wurde.“

Und dann küsste er sie. So wie er es geplant hatte, seit er ihr gefolgt war. Bevor sie es verhindern konnte, riss er sie herum, sodass sie in seiner Armbeuge lag, und küsste sie, wie sie es verdiente, geküsst zu werden: mit Erfahrung und Leidenschaft, Bewunderung und Verlangen und als erster Schritt zur Verführung.

Diana erstarrte vor Verwunderung. Nicht deshalb, weil er sie küsste. Denn seit er sie bei den Handgelenken gepackt hatte, erwartete sie, dass dieser Mann sie küssen würde.

Nein, es war die Art, wie er sie küsste. So war noch kein Kuss gewesen, den sie bis jetzt bekommen hatte. Er stöhnte nicht oder presste die Lippen zu hart auf die ihren. Er stieß auch nicht mit den Zähnen an ihre Zähne. Er schmeckte nicht nach Pfeife oder nach Zwiebeln, die er zuvor gegessen hatte. Eigentlich hatte ihr immer das, was nach dem Küssen kam, am besten gefallen: wenn der Mann sich ihr gegenüber dankbar und ergeben zeigte, weil er es noch einmal tun wollte. Das war überhaupt der einzige Grund gewesen, warum sie sich je hatte küssen lassen.

Doch jetzt machte sie die Vertraulichkeit, mit der er sie küsste, sprachlos. Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Ihre Lippen begannen zu prickeln und wurden warm. Der Kopf drehte sich ihr, und ihr Herz fing an, schneller zu schlagen. Sie konnte es nicht erklären, aber sein Mund schmeckte nach Mann, und ihn zu küssen gab ihr das Gefühl, kein Schulmädchen mehr zu sein mit einer Gouvernante im Schlepptau, sondern eine Frau. Diana spürte, er konnte sie Dinge lehren, geheimnisvolle Dinge, von denen sie noch nicht einmal wusste, dass es sie gab. Dinge, nach denen sich ihr Körper sehnte, die er kennenlernen wollte. Bereitwillig öffnete sie die Lippen und gab sich seinem Kuss hin.

Zu ihrer Bestürzung reagierte er nicht darauf, sondern löste sich von ihr und trat in den Schatten zurück.

„Ich muss gehen, bellissima“, flüsterte er und strich ihr leicht mit den Fingerspitzen über die Wange. „Buona sera.“

„Nein!“, stieß sie atemlos hervor, als er sich von ihr abwandte. „Ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen!“

„Das müssen Sie auch nicht“, sagte er und entfernte sich von ihr. „Sie haben Warwick.“

Lord Edward. Wie hatte sie ihn so schnell vergessen können? Sie ging dem Fremden einen Schritt nach und wünschte, sie könnte ihm folgen.

„Gehen Sie nicht“, sagte sie leise. „Ich bitte Sie.“

Doch er blieb nicht stehen, drehte sich aber kurz noch einmal um und lächelte ihr über die Schulter zu. Er führte die Finger an die Lippen und winkte ihr damit zu. Es war der gleiche Gruß wie zuvor, als sie auf dem Balkon gestanden hatte. Dann trat er durch einen der Rundbögen und verschwand in der Dunkelheit.

Diana presste die Finger auf den Mund und wünschte, sie könnte so die Erinnerung an seinen Kuss lebendig erhalten. Irgendwie fühlten sich ihre Lippen jetzt sinnlicher an, auf eine Art reifer, die neu für sie war. Fast, als würden sie nicht mehr ihr gehören.

Wie konnte der Fremde ihr das antun und dann so einfach verschwinden, ohne ihr seinen Namen zu verraten? Wie konnte er ihr ganzes Wissen über das Küssen auf den Kopf stellen und dann aus ihrem Leben verschwinden? Sie hatte sich ein Abenteuer gewünscht, damit diese entsetzliche Langeweile ein Ende hatte, sich nach einer romantischen Liebelei gesehnt. Und jetzt, wo ihr beides begegnet war und ihr Verlangen geweckt hatte, sehnte sie sich nach mehr.

„Lady Diana!“

Sie trat aus dem Dunkel ins Mondlicht. Immer noch keuchend wegen der vielen Stufen, über die er hatte klettern müssen, eilte Lord Edward auf sie zu. In der Hand hielt er ein kleines Glas.

„Ich konnte Sie nicht sehen, Mylady“, sagte er, während er ihr das Glas reichte. „Als ich vom Grund des Kolosseums hinaufblickte, waren Sie völlig von der Dunkelheit verschluckt. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht.“

„Das war unnötig, Mylord“, erwiderte Diana und wünschte sich, die Schatten würden sie noch ein wenig länger verbergen. Sicher war ihrem Gesicht die schuldbewusste Verwirrung anzusehen. „Ich war genau dort, wo Sie mich zurückgelassen haben. Wahrscheinlich lag es am Mondlicht, dass ich für Sie nicht gut sichtbar war.“

Er nickte und streckte ihr das kleine Glas hin. „Ihre Orangenlimonade, Mylady.“ Er bemühte sich, galant zu sein, während er sich mit einem Taschentuch den Schweiß abwischen musste, der ihm über die Stirn rann. „Sie war eiskalt, als ich sie kaufte. Aber das war ein teuflisch mühsamer Aufstieg hier herauf. Ich fürchte, sie ist jetzt etwas warm geworden.“

Pflichtschuldig lächelte sie, hatte jedoch das Gefühl, als wären ihre Mundwinkel aus Holz geschnitzt, so steif fühlten sie sich an.

Wäre sie wirklich die sittsame Dame, die sie sich die ganzen letzten Tage zu sein bemüht hatte, hätte sie diesen dunkel gekleideten Mann schroff abgewiesen. Sie hätte sich nicht von ihm küssen lassen, noch ihn geküsst, noch ihn gebeten zu bleiben …

„Ich danke Ihnen, Mylord.“ Sie nahm das Glas und nippte an der viel zu süßen Orangenlimonade.

Wie einfach war es gewesen zuzulassen, dass die Lippen dieses anderen Mannes ihren Mund liebkosten, wie leicht war es ihr gefallen, den Mund zu öffnen, um …

„Sind Sie krank, Mylady?“ Das zusammengeknüllte Taschentuch in der Hand, blickte Edward sie besorgt an. „Bedrückt Sie die Abgeschiedenheit dieses Ortes? Verzeihen Sie bitte, wenn ich so offen zu Ihnen spreche, aber Sie sehen nicht wohl aus.“

Diana ließ den Blick über das weite Rund der Ruine schweifen. Wahrscheinlich würde sie den Mann in Schwarz nie wieder sehen. Er war wirklich keinen Deut besser als irgendein Gauner, der auf dem Markt Frauen ins Hinterteil kniff. Je schneller sie vergaß, wie er die Gelegenheit für sich genutzt hatte, um sie zu küssen, desto besser.

Zumindest sagte das ihr armes, in die Enge getriebenes Gewissen.

Doch ihr niederträchtiger Körper flüsterte etwas ganz anderes.

„Es ist nicht so sehr die Abgeschiedenheit des Ortes“, versuchte sie, vorsichtig bei der Wahrheit zu bleiben, „sondern sein … sein Mysterium raubt mir fast … fast den Atem.“

„Diese Wirkung übt er oft auf die Menschen aus, die ihn das erste Mal besuchen, Mylady“, sagte Edward und steckte sein Taschentuch zurück in die Westentasche. „Es ist wirklich nicht verwunderlich. Bedenken Sie doch nur, wie viele niederträchtige heidnische Seelen wohl an diesem Ort spuken müssen!“

Niederträchtig, heidnisch … und ungezähmt.

Sie setzte das Glas mit der kaum angerührten Orangenlimonade auf einen nahen Sims. „Verzeihen Sie, Lord Edward, doch ich würde jetzt gerne zu den anderen zurückkehren.“

„Natürlich.“ Er bot ihr den Arm, und als sie ihn nahm, legte er schützend die Hand auf ihre. „Was immer Sie wünschen, Mylady.“

Doch ihr zu geben, was sie sich am meisten wünschte, stand leider nicht in Lord Edwards Macht.

„Wach auf, Edward.“ Schwungvoll riss Reverend Lord Henry Patterson die Bettvorhänge auf, sodass die Messingringe gegen die Stange klirrten und die späte Morgensonne Edward direkt aufs Gesicht schien. „Wir müssen reden.“

Doch Edward wollte nicht reden. Er wollte noch nicht einmal die Augen öffnen, sondern nur in gnädige Bewusstlosigkeit zurücksinken, wo er die Übelkeit in seinem Magen, die dicke Zunge und dieses verdammte Sonnenlicht vergessen konnte.

„Es reicht jetzt, Edward.“ Ungeduldig schlug der Onkel mit seiner Zeitung auf Edwards Bein. „Der Tag ist schon halb vorüber. Du erhebst jetzt gefälligst deinen betrunkenen Kadaver aus diesem Bett.“

„Ich bin nicht betrunken, Onkel“, protestierte Edward schwach und vergrub sich in seinem Kopfkissen. „Ich wäre viel glücklicher, wenn ich es wäre.“

„Diese Haltung schickt sich nicht für einen Warwick.“ Onkel Henrys Abscheu hatte die gleiche Wirkung wie das Sonnenlicht. „Kein Wunder, dass meine Schwester verzweifelt, weil sie mit einem unwürdigen Sohn wie dir geschlagen ist.“

Edward stöhnte ins Kissen. Er hätte dagegenhalten können, dass er mit einer keifenden, aufdringlichen Mutter geschlagen war, doch dazu war jetzt nicht der richtige Augenblick.

„Steh auf, Edward!“

Das Wasser, das ihm ins Gesicht klatschte, schien auszureichen, um ihn zu ertränken. Spuckend und nach Luft schnappend fuhr er hoch.

„Hör endlich mit dem Gejammer auf, Neffe“, befahl sein Onkel, der den leeren Krug vom Waschtisch immer noch in der Hand hielt. „Was glaubst du wohl, was Lady Diana sagen würde, wenn sie dich so sehen könnte?“

„Sie würde sagen, dass Sie ein verdammter alter Schuft sind, weil Sie mich so behandeln.“ Edward blinzelte zu seinem Onkel hoch, während er sich mit dem Betttuch das Wasser aus dem Gesicht wischte. „Und sie hätte recht.“

„Dass du ein fauler Langschläfer bist, ohne Respekt vor Älteren, das würde sie sagen.“ Onkel Henry zog sich einen Stuhl ans Bett, hob seine Rockschöße hoch und setzte sich auf die Stuhlkante. „Während du deinen Rausch ausgeschlafen hast, war ich heute Morgen schon beim Konsulat. Ich habe ein paar Erkundungen eingezogen, und das auch noch in deinem Interesse. Lady Diana Farren ist tatsächlich Astons Tochter, wie sie und ihre Gouvernante behauptet haben. Doch von noch größerem Interesse für dich ist, dass sie dem Glücklichen, der ihre Hand erhält, im Jahr zwanzigtausend Pfund einbringen wird.“

„Zwanzigtausend?“ Das war Geld genug, um jedem einen klaren Kopf zu verschaffen. Bereit, noch mehr zu hören, schwang Edward die Beine über die Bettkante. „Ein hübsches Sümmchen, alles was recht ist.“

Sein Onkel nickte und klopfte die Rocktaschen ab, bis er seine Pfeife und die Zunderbüchse gefunden hatte. „Dir wird nie eine süßere Pflaume in deinen nichtsnutzigen Schoß fallen, Edward. Und hier in Rom hast du nicht die Konkurrenz, die du in London hättest.“

„Das ist aber ausgesprochen hart von Ihnen“, widersprach Edward und machte ein finsteres Gesicht. Die unangenehme Wahrheit verletzte seinen Stolz. „Sie haben doch gesehen, mit welchem Blick Lady Diana mich ansieht. Ich wage zu behaupten, dass sie von mir bereits sehr angetan ist.“

„Vielleicht.“ Mit offensichtlicher Skepsis steckte sich Onkel Henry die Pfeife in den Mund. „Doch bis jetzt hattest du kein großes Glück bei den Damen, nicht wahr?“

„Ich habe es nur noch nicht richtig versucht, das ist alles“, wehrte Edward ab und fuhr sich mit den Fingern durch das zerzauste Haar. Das hier war an sich schon ein schwieriges Gespräch, auch wenn er es nicht im Nachthemd und unter den Auswirkungen der nächtlichen Exzesse hätte führen müssen. „Diese selbstgefälligen, überkandidelten Londoner Weiber – ein Mann hat es mit denen nicht einfach, wissen Sie. Sie machen einen fertig, sobald sie nur einen Blick auf einen geworfen haben.“

„Versuche nicht, mir etwas vorzumachen, Edward“, sagte Onkel Henry streng, während er sich darauf konzentrierte, die Pfeife anzuzünden, und dabei heftig paffte, bis der Tabak schließlich glühte. „Ich kenne deine Lage und weiß, warum deine arme verwitwete Mutter dich hier in Italien, außerhalb der Reichweite eines Gerichtsvollziehers, meiner Obhut übergeben hat. Die kleine Erbschaft, die du besessen hast, hast du an unsinnige Unternehmungen verschwendet.“

„Das waren rechtmäßige Investitionen in sehr vielversprechende Erfindungen.“ Es hatte da eine todsichere Methode gegeben, Holz in Kohle zu verwandeln, einen Vorschlag für einen Verkehrstunnel von Dover nach Calais und eine Methode, mit der man Messing in Gold verwandeln konnte. All das hatte nach einem schlauen Finanzmann verlangt, der fähig war, die großen Möglichkeiten zu erkennen. Wie sehr er es liebte, den wissenschaftlich gebildeten Herren zu lauschen, wenn sie ihm erklärten, wie genial ihre Ideen waren und wie sie alle, nach einer angemessenen Investition, reich wie Krösus werden würden! Und das alles ohne eine Arbeitsleistung, die eines Gentlemans nicht würdig war!

„Solche Wagnisse bieten jenen enorme Möglichkeiten, die klug genug sind, sie zu erkennen, Onkel“, fuhr er fort. „Es war ja wohl kaum mein Fehler, dass meine Geldmittel nicht ausreichten, all diese Projekte zu Erfolg und Profit zu führen.“

„Hier wurde wohl eher gutes Geld zum Fenster hinausgeworfen“, meinte sein Onkel voller Verachtung. „Du besitzt kaum noch einen Farthing, Edward. Da hättest du dein Geld ebenso gut beim Kartenspiel oder beim Würfeln verschleudern können. Jetzt bleibt dir nur noch eines übrig: Du musst dich bald verheiraten, und zwar gut. Sonst musst du dir deinen Unterhalt an den Spieltischen in Calais verdienen oder dir die dickbeinige Erbin eines Kohleimperiums aus dem Norden aufhalsen.“

„Ich weiß, Onkel, ich weiß“, antwortete Edward verärgert. Herrje, er war doch noch jung und hatte geglaubt, sich hier in Italien die Hörner abstoßen zu können, bevor er den braven Ehemann spielen musste. Natürlich war das wieder die Idee seiner Mutter. Mochte sie auch weit weg sein, so konnte er doch spüren, wie sie ihre Tentakel nach ihm ausstreckte, um ihn mithilfe seines Onkels zu kontrollieren. Genauso hatte sie es auch in London getan.

Aber Zwanzigtausend im Jahr würden alles ändern. Zwanzigtausend und die Einheirat in die hochadelige Familie des Duke of Aston. Natürlich würde er zu Anfang brav im Geschirr gehen müssen, doch wenn er Diana erst einmal auf ihren Landsitz geschickt hatte, um dort die Kinder zu erziehen, wie es bei Damen des Adels üblich war, würde er endlich das Leben führen können, das einem Gentleman zustand. Sollten die anderen ruhig in so altmodische Dinge wie den Pelzhandel in Kanada oder den Tee aus Indien investieren, er würde mehr Geld machen, als sie alle zusammen. Am Ende würde man ihn noch als Visionär preisen.

Zudem war Lady Diana nicht irgendeine hässliche Erbin. Sie würde eine erstklassige Ehefrau abgeben, um die andere Männer ihn beneiden würden. Begeistert von diesen wunderbaren Aussichten, griff er nach der Weinflasche, die er letzte Nacht neben dem Bett hatte stehen lassen.

„Schluss jetzt!“, fuhr ihn der Onkel an und packte sein Handgelenk. „Sag mir lieber, wie weit du bei der Dame gekommen bist.“

„Ich habe sie ihrem Rang entsprechend behandelt“, erklärte Edward. Eigentlich hatte er gestern Abend im Kolosseum vorgehabt, Lady Diana zu küssen, nachdem er ihr diese blöde Orangenlimonade gebracht hatte. Doch sie hatte sich ihm gegenüber so eigenartig benommen, und deshalb hatte er sich nicht getraut. Schöne Frauen hatten diese Wirkung auf ihn, und Lady Diana war ausnehmend schön. „Du kannst mir nichts vorwerfen. Ich habe nichts getan, außer ihr den üblichen Trallala über Bewunderung und Respekt zu erzählen.“

„Dann ist es vielleicht an der Zeit, dass du ein bisschen mehr tust“, riet ihm sein Onkel. „Nun gut, sie ist eine Dame. Aber sie ist auch eine Frau. Frauen lieben es, wenn der Mann sich herrisch benimmt, natürlich nur, solange es im anständigen Rahmen geschieht.“

„Onkel! Ich kenne sie noch nicht einmal eine Woche!“

„Es stehen zwanzigtausend Pfund auf dem Spiel, Neffe!“, brummte Onkel Henry hinter den Tabakschwaden, die sein Gesicht umwaberten. „Du kannst nicht erwarten, auf Kosten meiner Großzügigkeit zu leben. So weit wird meine Rücksichtnahme auf deine arme Mutter nicht gehen.“

Das ist nur allzu wahr, dachte Edward. Onkel Henry besaß mehr Geld als Krösus, das er mit Vorliebe an alte Tonscherben verschwendete. Doch seinen Neffen ließ er um jede noch so kleine Gunst bitten und betteln. Aber mit Zwanzigtausend im Jahr würde Edward nie mehr jemanden um irgendetwas bitten müssen, weder seine Mutter noch seinen Onkel. Und seine Mutter würde sich sogar vor seiner Gattin verbeugen müssen, denn diese hätte dann einen höheren Rang als sie. Wie gerne würde er das erleben!

Er rieb sich mit der Hand über den Mund, während er in seinen Vorstellungen schwelgte. Seine Gattin Lady Diana Warwick. Seine Kinder, mit einem Duke als Großvater. Seine Taschen gefüllt mit Guineen. Was wollte er mehr?

„Gott hilft denen, die sich selbst helfen, Edward“, dröhnte Onkel Henry so schwülstig, als stünde er auf seiner Kanzel. „Denke daran, und dass du nehmen musst, was immer …“

„Betrachten Sie es als erledigt, Onkel“, sagte Edward entschlossener, als er in seinem ganzen Leben gewesen war. „Ich versichere Ihnen, wenn wir Rom verlassen, ist Lady Diana meine Frau.“

„Fällt die Locke so jetzt richtig, Mylady?“ Dianas Zofe Deborah trat, den Kamm in der Hand, einen Schritt zurück, damit Diana sich besser im Spiegel ihres Frisiertisches betrachten konnte. „Denn heute müssen Sie wegen der Sonne den Hut mit dem breitesten Rand tragen, Mylady. Außer dieser einzelnen Locke wird nur sehr wenig von Ihrem Haar zu sehen sein.“

Mit einem unglücklichen Seufzer strich Diana über die silberblonde Schmachtlocke, die ihr über die Schulter fiel. Deborah hatte recht. Die Aussicht, durch noch mehr Ruinen zu streifen, verleitete kaum dazu, sich elegant zu kleiden. Es war wichtiger, etwas Praktisches anzuziehen, die Haut vor der brennenden römischen Sonne zu schützen und es dabei in dieser schrecklichen Hitze doch so kühl wie möglich zu haben.

Aber in Dianas Augen war diese praktische Kleidung hässlich und unbequem. Und wie sollte sie mit Lord Edward flirten, wenn sie von Kopf bis hin zu den entsetzlich plumpen Wanderschuhen mit Schals, Hut und Handschuhen umhüllt war? Wie sollte sie ihn dazu bringen, sie den Fremden vergessen zu lassen, den sie letzten Abend geküsst hatte?

„Es ist schon in Ordnung, Deborah“, sagte sie schließlich und griff nach dem breitrandigen Strohhut, der auf dem Frisiertisch lag. „Ich weiß noch nicht einmal, ob Seine Lordschaft mir überhaupt Beachtung schenkt.“

„Aber Mylady, was sagen Sie denn da!“ Missbilligend schnalzte Deborah mit der Zunge und nahm ihr den Hut aus der Hand, um ihn auf dem hochgesteckten Haar festzustecken. „Natürlich schenkt Ihnen Seine Lordschaft Beachtung. Jeder Gentleman, der etwas taugt, würde es tun, kaum dass er Sie sieht.“

Jeder Gentleman, der etwas taugt. Der Fremde hatte sie aus der Ferne erblickt, und auch das nur kurz. Doch es hatte ihm genügt, um ihr zu folgen und nach einer Gelegenheit zu suchen, sie wiederzusehen …

Nein. Sie schloss die Augen. Sie musste ihn für immer aus ihren Gedanken verbannen und vergessen, wie sein Kuss, seine Berührungen, sein …

„Oh, sehen Sie nur, Mylady, was gerade für Sie abgegeben wurde!“

Diana öffnete die Augen, als Miss Wood ihr ein Blumenbukett überreichte. Rote Rosen, einige wilde Gänseblümchen, gemischt mit sich kräuselnden Gräsern und anderen Blumen dieser Gegend, die sie nicht kannte. Der ungezwungen kunstfertig zusammengestellte Strauß war mit Spitze eingefasst und einer verschwenderischen Schleife aus schwarzen und weißen Bändern zusammengebunden. So ein Bukett hatte Diana noch nie bekommen.

„Ach, wie entzückend, Miss Wood!“, rief sie aus und hielt den Strauß im Arm. „Wer schickt die Blumen?“

Miss Wood lächelte so breit, dass ihre Augen fast ganz hinter den runden Wangen verschwanden. „Nach gestern Abend würde ich wagen zu behaupten, dass es Lord Edward ist, Mylady.“

„Aber da ist ja gar keine Karte oder Nachricht.“ Diana suchte zwischen den Blättern. „Hat Ihnen der Diener nichts gesagt?“

„Sie wurden nicht von einem Diener gebracht, sondern von einem schmuddeligen kleinen Betteljungen, der sicher im Dienst des Blumenverkäufers steht“, entgegnete Miss Wood. „Aber sie müssen von Lord Edward sein. Wer sonst könnte es hier in Rom sein?“

Diana antwortete nicht. Um ihre Verwirrung zu verbergen, hielt sie sich die Blumen vors Gesicht. Ja, wer sonst? Doch wie konnte ein Mann, der so herabsetzend vom „baumelnden“ Mond sprach, einfallsreich – und romantisch – genug sein, Blumen auf diese Art zusammenzustellen?

Was, wenn der Fremde sie ihr gesandt hatte? Als sie tief den frischen, wilden Geruch der Felder draußen vor der Stadt einatmete, wusste sie – sie wusste es einfach – dass die Blumen von ihm kamen.

„Nun, habe ich es Ihnen nicht gesagt?“, fragte Deborah und stieß die letzte Nadel durch ihren Strohhut. „Und Sie dachten, Seine Lordschaft würde keine Notiz von Ihnen nehmen.“

„Natürlich nimmt er Notiz, Deborah“, bestätigte Miss Wood. „Da du jetzt hier fertig bist, könntest du bitte einen Krug oder eine Vase für die Blumen holen.“

Das Mädchen machte einen Knicks und verließ den Raum, während Miss Wood Diana gegenüber Platz nahm. Sie war bereits fertig zum Ausgehen gekleidet und trug wie immer das gleiche praktische graue Kleid, die graue Jacke aus Halbwolle und den Hut mit flachem Rand. Wenn je einer den Sinn fürs Praktische verkörpert hatte, dann Miss Wood.

Sie faltete die behandschuhten Hände im Schoß und strahlte Diana an. „Wie es scheint, haben Sie eine Eroberung gemacht, Mylady. Ach, wie Lord Edward sie angesehen hat, als Sie gestern Abend zur Kutsche zurückkehrten! Er ist völlig hingerissen von Ihnen, Lady Diana, völlig hingerissen.“

„Ja, Miss Wood.“ Diana versuchte, ebenfalls zu lächeln. Auf dem Weg zurück zur Kutsche hatten sie und Edward kaum ein Wort gewechselt. Jeder war in Gedanken versunken gewesen. Sollte Edward tatsächlich von ihr hingerissen sein, hatte er eine sehr seltsame Art, es zu zeigen. „Er ist ein vortrefflicher Gentleman.“

„Er ist mehr als nur vortrefflich, Lady Diana“, meinte Miss Wood. „Gestern Abend, als Sie und Lord Edward im Kolosseum waren, erzählte mir Reverend Lord Patterson einiges über seinen Neffen. Lord Edward ist der jüngere Sohn, was sehr schade ist. Sein Bruder hat bereits den Titel geerbt. Doch durch seine Mutter, die verwitwete Marchioness of Calvet, erhält er ein kleines Einkommen, und Reverend Patterson sagt, dass Lord Edward sehr an ihr hängt – er sei ein vorbildlicher Sohn. Es war ihre Idee, Lord Edward mit seinem Onkel nach Rom fahren zu lassen, damit er hier seine Bildung vervollständigt. Er hätte es sich nie träumen lassen, dabei einer Dame wie Ihnen zu begegnen.“

„Das glaube ich.“ Diana betrachtete die Blumen und strich zart über die Blütenblätter eines Gänseblümchens. Sie erinnerte sich daran, wie viel interessanter die Unterhaltung mit dem Fremden gewesen war als die mit Lord Edward. „Eigentlich bezweifle ich, dass Lord Edward überhaupt genug Fantasie zum Träumen besitzt.“

„Oh, das kann nicht wahr sein, Mylady!“, rief Miss Wood. „Was bringt Sie nur auf diese Idee?“

„Er selbst“, erwiderte Diana prompt. „Alles hier in Rom beurteilt er nur nach seinen Maßstäben. Anscheinend ist er unfähig zu akzeptieren, dass man Dinge auch anders betrachten oder anders tun kann als er.“

„Sie sollten kein so rasches Urteil über ihn fällen, Mylady“, schalt Miss Wood sanft. „Er ist ein wohlerzogener Gentleman und stützt seine Meinungen auf tiefer gehende Studien als Sie, Mylady, je zu betreiben bereit sein werden.“

Mit einem Seufzer sah Diana sie über die Blumen hinweg an. „Sie hören sich an, als wollten Sie Lord Edwards Partei ergreifen und nicht meine.“

„Ganz und gar nicht, Mylady.“ Lächelnd beugte die Gouvernante sich vor und legte Diana liebevoll die Hand auf den Arm. „Ich möchte Sie nur genauso glücklich verliebt sehen wie Ihre Schwester Lady Mary. Von allen Männern, die Ihnen den Hof gemacht haben, beeindruckt mich nur Lord Edward. Denn er ist der Erste, der Ihnen den Respekt und die Bewunderung entgegenbringt, die Sie verdienen und woraus eine dauerhafte Liebe entstehen kann.“

„Liebe“, wiederholte Diana trauriger, als sie eigentlich beabsichtigt hatte. „Ich kann noch nicht einmal sagen, ob Lord Edward mich überhaupt mag.“

„Ich glaube, dass er das tut, Mylady“, sagte Miss Wood sanft. „Natürlich kenne ich nicht alle Geheimnisse in Lord Edwards Herz, und ich würde Sie niemals ermuntern, auf die Avancen eines Herrn einzugehen, der Ihnen unsympathisch ist. Doch ich glaube, die stille Achtung, welche Ihnen Seine Lordschaft bieten kann, wäre für Sie weit wertvoller als die seichten, leeren Flirts, die in der Vergangenheit eine Schwäche von Ihnen waren.“

Wieder sah Diana auf die Blumen in ihren Armen. Miss Wood hatte recht. Sie hatte mehr als genug an „seichten, leeren Flirts“ gehabt, die doch zu nichts geführt hatten. Es war höchste Zeit, dass sie ihr Leben änderte. Wie sollte sie denn dauerhafte Liebe finden können bei einem Mann, der ihr noch nicht einmal seinen Namen sagen wollte?

Entschlossen legte sie die Blumen auf den Frisiertisch. „Deborah kann sich um den Strauß kümmern“, sagte sie und erhob sich. „Die Herren sind sicher schon unten bei der Kutsche, Miss Wood. Wir sollten sie nicht warten lassen.“

Sie folgte Miss Wood die Treppen hinunter und hinaus in die helle Nachmittagssonne. Edward hatte wegen der Spätsommerhitze vorgeschlagen, dass sie ihre Besichtigungen auf die spätere Tageszeit beschränken sollten. Doch Diana hegte den Verdacht, dass Edward und sein Onkel vielmehr die italienische Gewohnheit übernommen hatten, erst spät aufzustehen und dann den Mittag über träge zu dösen.

Vor der Tür wartete die Mietkutsche – zwar nicht mit Bändern und Schleifen geschmückt wie die, welche Diana am Abend zuvor vom Balkon aus gesehen hatte, aber es war doch der gleiche, hochrädrige offene Wagen, wie er hier in der Stadt üblich war. Er besaß breite Sitze, Kissen und eine Schatten spendende Überdachung aus Segeltuch. Den Strohhut tief über die geschlossenen Augen gezogen, war der Kutscher auf seinem Sitz unter der Markise eingenickt, während der junge Pferdeknecht neben dem Gespann stand und einem Haufen feixender Bettelkinder Flüche zuschrie, wenn sie der Kutsche zu nahe kamen.

Reverend Lord Patterson begrüßte die Damen in der Halle. Er trug einen einfachen, ungefütterten Leinenanzug. Bei seinem Anblick wünschte sich Diana, dass auch Damen diese Art kühler Kleidung erlaubt wäre. Schon jetzt hatte sie das Gefühl, die Handschuhe klebten ihr an den Händen. Unter ihrem Hemd und dem Korsett konnte sie fühlen, wie ihr der Schweiß in Bächen über den Rücken und zwischen den Brüsten hinunterlief.

„Guten Tag, meine Damen.“ Der Reverend zog den Hut. „Mein Neffe wird sofort unten sein.“

„Oh, wir verzeihen Seiner Lordschaft“, sagte Miss Wood fröhlich und trat blinzelnd auf die sonnige Plaza hinaus. „Gentlemen darf man nicht drängen.“

Doch Reverend Lord Patterson war viel zu sehr damit beschäftigt, den Bettlern finstere Blicke zuzuwerfen, als dass er sich um Edward Sorgen gemacht hätte. „Weg mit euch, ihr niederträchtigen Kreaturen! Andare via, andare via! Nutzlose, dreckige Geschöpfe! Ermutigen Sie sie nicht auch noch, Mylady, sonst werden wir sie nie mehr los.“

„Aber es sind doch Kinder, Mylord“, protestierte Diana, während sie und Miss Wood je eine Handvoll Münzen in die kleine Gruppe warfen. „Sie können doch nichts dafür, wenn ihre Eltern sie nicht ernähren. Das ist alles, was wir haben, Kinder. Quello e tutto, bambini!

Sie hielt ihnen zum Beweis die leeren Handflächen hin, und die Kinder schlurften enttäuscht davon.

„Elstern, Mylady. Kleine diebische Papisten.“ Der Geistliche rümpfte voll Abscheu die Nase, was Diana bei einem christlichen Herrn fehl am Platz schien. „Ich schlage vor, dass wir uns in die Kutsche begeben, bevor sie ihre Kumpane zusammenrufen.“

Seufzend folgte Diana ihrer Gouvernante. Mit Miss Wood schien es immer doppelt so lange zu dauern als notwendig, bis sie ihre Röcke um die Beine geordnet, die Sonnenschirme aufgespannt und den Korb mit Erfrischungen an Ort und Stelle untergebracht hatten. Und selbst dann war ihre Gouvernante immer noch nicht abfahrbereit.

Mit besorgt überraschtem Gesicht begann sie jetzt, ihre Taschen abzuklopfen. „Verzeihen Sie mir, Mylady, aber ich habe anscheinend mein kleines Reisetagebuch vergessen.“

„Dann schreiben Sie eben alles auf, wenn wir zurück sind, Miss Wood“, sagte Diana.

„Aber meine Beobachtungen besitzen dann nicht mehr ihre Frische, Mylady“, erwiderte Miss Wood und erhob sich so jäh, dass die Kutsche ins Schwanken geriet. „Ich werde nach oben laufen, um es zu holen, und zurück sein, bevor Sie noch bemerkt haben, dass ich fort bin.“

„Ich werde mich Ihnen anschließen, Miss Wood“, erklärte Reverend Lord Patterson und kletterte hinter ihr aus der Kutsche. „Ich muss mal nachsehen, was meinen Neffen aufhält. Würden Sie mich bitte entschuldigen, Lady Diana?“

Wieder seufzte Diana und stopfte sich ein Kissen in den Rücken. Der Tag schien sich endlos vor ihr auszudehnen. Sie hatte auch schon Kopfweh. Murrend lehnte sie sich in die Kissen zurück und schloss die Augen.

„Ah, carissima“, sagte der Mann hinter ihr leise. „Und ich glaubte, meine Blumen würden Ihnen Freude bereiten!“

Autor

Miranda Jarrett
Hinter dem Pseudonym Miranda Jarrett verbirgt sich die Autorin Susan Holloway Scott. Ihr erstes Buch als Miranda Jarret war ein historischer Liebesroman, der in der Zeit der amerikanischen Revolution angesiedelt war und 1992 unter dem Titel "Steal the Stars" veröffentlicht wurde. Seither hat Miranda Jarrett mehr als dreißig Liebesroman-Bestseller geschrieben,...
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Sophia James
Romane von Georgette Heyer prägten Sophias Lesegewohnheiten. Als Teenager lag sie schmökernd in der Sonne auf der Veranda ihrer Großmutter mit Ausblick auf die stürmische Küste.
Ihre Karriere als Autorin nahm jedoch in Bilbao, Spanien, ihren Anfang. Nachdem ihr drei Weißheitszähne gezogen wurden, lag sie aufgrund starker Schmerzmittel tagelang flach. Die...
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