Historical Saison Band 88

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DER DUKE UND DIE KUNST DES FLIRTENS von MADELINE MARTIN
Kalt wie eine Eiskönigin – Lady Eleanors Ruf schreckt jeden Gentleman ab. Dabei muss sie rasch eine gute Partie machen! Charles, der Duke of Somersville, ist bereit, ihr Nachhilfe im Flirten zu geben. Aber was für ein Pech, dass sie sich ausgerechnet in ihn verliebt. Denn Charles ist nicht nur charmant – sondern auch ein Lügner …

EIN ENGEL FÜR DEN VISCOUNT von CAROL ARENS
„Engel, halte durch!“ Mit der ohnmächtigen Schönheit auf dem Arm stürmt der Viscount of Glenbrook in seine Kabine. Halb erfroren hat er sie in einem Rettungsboot an Bord der „Edwina“ gefunden. In dieser Nacht auf See rettet er ihr mit seiner Körperwärme das Leben – aber ruiniert für immer ihren Ruf! Es sei denn, er heiratet sie …


  • Erscheinungstag 01.03.2022
  • Bandnummer 88
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511377
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Madeline Martin, Carol Arens

HISTORICAL SAISON BAND 88

PROLOG

Im Lady Observer, der Zeitung für feine Damen, konnte jeder Interessierte den Klatsch und Tratsch über den Abend des fünften April 1814 nachlesen – gleich nach einer sehr detaillierten Beschreibung der Hummerpastetchen, der gekühlten Austern und einer wirklich sündhaft köstlichen Zitronen-Wein-Creme.

Was wäre ein prächtiger Ball ohne den Hauch eines kleinen Skandals?

Es begann alles damit, dass eine der liebreizendsten Schönheiten dieser Saison nicht nur zweimal mit einem gewissen blauäugigen Earl tanzte, sondern sogar ein drittes Mal. Und als wäre das nicht schon genug für die hingerissenen Augenzeugen, nahm der Earl schließlich das Gesicht der Dame zwischen beide Hände und küsste sie.

Lieber Himmel!

Gleich nach dieser pikanten Zurschaustellung zärtlicher Zuneigung erfolgte die offizielle Verkündung ihrer Verlobung, woraufhin Seufzer der Erleichterung über die Lippen der Versammelten kamen. Aber auch der Enttäuschung, möchte ich vermuten, da es immer auch Zeitgenossen gibt, die sich gern den würzigen Geschmack eines saftigen Skandals auf der Zunge zergehen lassen.

Es genügt wohl festzustellen, dass die ganze Szene ausgesprochen fesselnd war. Manche würden sogar behaupten, sie war romantisch.

Und vielleicht würde der Lady Observer dem ja zustimmen, wäre da nicht noch eine andere Person beteiligt, die man nicht außer Acht lassen sollte. Denn bevor die liebreizendste Schönheit der Saison vor kaum zwei Wochen in Erscheinung trat und mit der beneidenswerten Anmut einer Sommerblume erstrahlte, gab es eine andere Dame, die den himmelblauen Blick des Earls auf sich gezogen hatte.

Gewiss, eine Verlobung war nie erwähnt worden, doch allgemein wurde angenommen, dass sie nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Zweifellos auch von der Dame selbst.

Und wie man der Schönsten dieser Saison kaum die Schuld geben kann, da sie von jener aufkeimenden Verbindung nichts wusste, darf man auch der Liebe keine Vorwürfe machen, die bekanntermaßen schnell und ohne Vorwarnung zuschlägt.

Ungeachtet der Frage, bei wem nun die Schuld liegt: Die Geschichte fand für eine gewisse Dame ein unschönes Ende. Die betreffende Dame weiß ihre Gefühle jedoch stets so gut zu verbergen, dass sie sich den unseligen Spitznamen „Eiskönigin“ erworben hat.

Sie beobachtete die ganze herzzerreißende Szene mit trockenen Augen und einer Gelassenheit, als wäre sie gelangweilt. Zwar bestätigt dies nur die Gerüchte über ihre kühle Natur, dennoch muss man nach allem, was sie in den letzten Jahren durchgemacht hat, darüber staunen, dass sie zu einem solchen Gleichmut fähig ist.

Besteht ihr Herz wirklich aus Eis, wie manche behaupten? Müsste es dann nicht gerade in tausend Stücke zerspringen, wenn jemand es bricht …?

Außerdem konnte noch festgestellt werden, dass Lady Norricks Robe exquisit war. So viele Perlen schmückten ihr Kleid, dass sie den ganzen Abend sitzen bleiben musste, um das Gleichgewicht zu halten …

Und weiter berichtete der Artikel zur Erbauung all jener, die nicht anwesend sein konnten, über die zahlreichen Vorzüge von Lady Norricks Ballkleid …

1. KAPITEL

April 1814

Da stand es geschrieben: Zwischen einer langatmigen Beschreibung der Hummerpasteten und einer gründlichen Bestandsaufnahme von Lady Norricks Ballkleid wurde ausführlich über den demütigendsten Augenblick im Leben von Lady Eleanor Murray berichtet.

Hinzu kam noch der gehässige Hinweis auf jenen verflixten Spitznamen.

Eiskönigin, so ein Blödsinn.

Innerlich war sie alles andere als aus Eis. Vielmehr wurde sie von Gefühlen gequält, die so schmerzhaft und wild waren, dass sie ihr die Kehle zuschnürten.

Aber keine Dame offenbarte ihre Gefühle und sie war immerhin eine Murray. Die Murrays waren stark und zeigten keine Furcht. Und sie würden niemals eine Kränkung zugeben, so sehr sie auch ihre Seele quälen mochte.

Eleanor starrte auf die zerknitterte Zeitung in ihren Händen herab. Die Ecken des Papiers flatterten und zeigten deutlich, wie sehr sie zitterte.

Sie wollte die Geschichte noch einmal lesen und wünschte, sie würde nur das Übliche vorfinden – einen detaillierten Bericht über das Dinner und unbedeutende kleine Gerüchte, die nichts mit ihr zu tun hatten. Schlichte, harmlose Geschichten wie zum Beispiel, dass jemand zwei Gläser Champagner getrunken hatte statt nur einem. Oder wessen Retikül vergessen worden war, nachdem die Gäste gegangen waren, und eine Mutmaßung darüber, warum dessen Besitzerin so in Eile gewesen war.

Doch der Zeitungsartikel war immer noch derselbe. Und er handelte auch von Lady Alice, die spät in der Saison zum ton gestoßen und ihn mit ihrer strahlenden Schönheit im Sturm erobert hatte. Eine junge Dame, die völlig frei von der Verzweiflung war, die Eleanor zu ersticken drohte. Alle hatten sich zu ihr hingezogen gefühlt – einschließlich Hugh.

Eleanors Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

Nicht Hugh. Lord Ledsey. Sie hatte nicht mehr das Recht, ihn beim Vornamen zu nennen oder auf so zwanglose Weise an ihn zu denken. Dieses Recht gehörte jetzt allein Lady Alice. Um alles noch schlimmer zu machen, besaß Lady Alice ein so freundliches Wesen, dass es unmöglich war, sie nicht gernzuhaben. Unerträglich.

Das Leben, das Eleanor sich mit Hugh vorgestellt hatte – die Sommermonate auf Ledsey Manor, die Saison im gemütlichen Londoner Stadthaus Ledsey Place und endlich nicht mehr der verhasste Zwang, sich einen passenden Mann angeln zu müssen –, das alles gehörte jetzt Alice.

Eleanor musste schlucken. Verflixt noch mal, sie würde gleich in Tränen ausbrechen.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie zusammenschrecken. Schnell stopfte sie die Zeitung unter eines der Kopfkissen auf ihrem Bett, blinzelte hastig die Tränen fort und griff nach einem Buch. „Herein.“

Die Countess of Westix trat mit rauschenden Röcken ein, gefolgt von einem Diener, der ein großes Paket trug. Eleanors Mutter wies mit einer anmutigen Geste auf den Toilettentisch und wandte sich dann an ihre Tochter. „Ich hätte gern kurz mit dir gesprochen.“

Der Diener stellte das Paket wie angewiesen ab und verließ den Raum, wobei er die Tür leise hinter sich ins Schloss zog.

Eleanor betrachtete zunächst das seltsame Paket und danach ihre Mutter. Die Countess trug ein lavendelfarbenes Abendkleid mit feiner Perlenstickerei über schwarzer Spitze. Sie sah sehr schön aus trotz der silbernen Strähnen in ihrem goldblonden Haar, das wie immer zu einer vollkommenen Frisur hochgesteckt war. Keine einzige Sorgenfalte war auf ihrem glatten Gesicht zu erkennen, dennoch zog sich Eleanors Magen nervös zusammen – wie immer, wenn ihre Mutter das Zimmer betrat.

Zweifellos stand ihr eine Strafpredigt bevor.

Aber was war das für ein seltsames Paket?

Ihre Mutter warf einen Blick auf das Buch in Eleanors Hand. „Was liest du?“

„Der Festtag von St. Jago“, antwortete Eleanor zögernd.

Gewiss war ihre Mutter nicht in ihr Zimmer gekommen, um ihre Lektüre mit ihr zu besprechen, oder?

Die Countess legte ungeduldig den Kopf schief. „Falsch herum?“

Erst jetzt schaute Eleanor auf das Buch. Sie hielt es tatsächlich verkehrt herum. Verflixt!

„Vielleicht hast du ja etwas anderes gelesen?“

Die Countess of Westix hob eine Augenbraue, wie sie es immer tat, wenn sie jemanden beim Lügen ertappte. Dieser strenge Blick hatte Eleanor während ihrer gesamten Kindheit verfolgt. Oder zumindest nach dem Zwischenfall mit ihrem Vater und nachdem Evander ins Internat geschickt worden war. Seitdem war ihr Leben von rigiden Regeln bestimmt worden.

Obwohl Eleanor das Buch behutsam beiseitelegte, machte sich der Lady Observer durch ein verräterisches Rascheln unter ihrem Kissen bemerkbar.

Die Countess setzte sich neben ihre Tochter aufs Bett und seufzte. „Ich habe es ebenfalls gelesen. Und ich habe gehört … was sie über dich sagen.“

Eleanor grub die Fingernägel in ihre Handfläche, bis der Schmerz stärker war als ihre Demütigung. Diesen Trick hatte sie schon als Mädchen benutzt, wann immer ihre Empfindungen sie zu überwältigen drohten – so als könnte sie auf diese Weise auch die Gefühle aus ihrem Herzen herausreißen. Sie wollte nicht dieses entsetzliche Gespräch mit ihrer Mutter führen und jenen fürchterlichen Augenblick auf dem Ball ein weiteres Mal durchleben. War die Erfahrung im Ballsaal, umgeben von all den Leuten, nicht schon qualvoll genug gewesen?

„Ich bin stolz auf dich, meine Tochter. Du hast deine Beherrschung nicht verloren, als es darauf ankam, Haltung zu zeigen.“

Die Countess legte eine Hand auf Eleanors Arm. Die Berührung war so unbeholfen wie ungewohnt. Und tatsächlich zog ihre Mutter ihre kühlen Finger augenblicklich wieder zurück. „Eigentlich sollte ich mich mehr schämen als du.“

Eleanor war sprachlos. Ihre Mutter hatte sich in ihrem ganzen Leben kein einziges Mal unschicklich verhalten. Warum sollte sie sich für etwas schämen?

„Meine Ehe mit deinem Vater, Gott hab ihn selig, war nicht glücklich.“ Die Countess bedachte Eleanor mit einem undurchdringlichen Blick. „Er stammte von einem mächtigen Clan ab, der erst spät in den englischen Adel erhoben wurde. Gefühle, so fand er, seien nur ein Zeichen von Schwäche und zeugten davon, dass jemand von niederer Abstammung war. Seine Familie hatte zu sehr darum gekämpft, von der englischen feinen Gesellschaft anerkannt zu werden. Keiner von ihnen wollte riskieren, jemals für gewöhnlich gehalten zu werden. Die Murrays sind stark. Sie zeigen keine Furcht.“

Eleanor unterdrückte ein bitteres Lächeln. Diese Leitsprüche kannte sie auswendig, da sie ihr ein halbes Leben lang vorgesagt worden waren. Sie kannte die Geschichte, die sich dahinter verbarg, nur allzu gut. Ihr Vater hatte dem ton nicht erlaubt, auf sie herabzusehen, weil sie aus Schottland stammten und nicht seit Anbeginn der Zeit dem Adel angehörten.

„Ich gab einen Teil von mir auf, als ich deinen Vater heiratete“, fuhr ihre Mutter fort. „Mir war indes nicht bewusst …“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie presste die Lippen zusammen und zwinkerte ein einziges Mal entschlossen, bevor sie weitersprach. „Mir war nicht bewusst, dass ich auch meine Kinder dazu verdammen würde, etwas von sich aufzugeben.“

Dieses ungewohnte Offenbaren von Gefühlen ließ Eleanor insgeheim voller Unbehagen zusammenzucken. Doch sie bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Schließlich öffnete ihre Mutter ihr Herz, um ihrer Tochter zu helfen, und Eleanor konnte nur an ihre eigene Unfähigkeit denken, mit einem so ungewohnten, heiklen Moment fertigzuwerden.

Ihre Mutter stand abrupt auf und die unbehagliche Spannung zwischen ihnen löste sich. „Auch ich verlangte von dir, deine Gefühle zu unterdrücken, bis du völlig teilnahmslos und kalt wurdest. Aber erst nach diesem Ereignis habe ich das erkannt.“ Sie seufzte und ließ die sonst so steifen Schultern leicht hängen. „Es tut mir leid, meine Tochter. Heute Abend jedoch habe ich vor, dieses Unrecht wiedergutzumachen.“ Sie ging zum Toilettentisch hinüber, nahm das Paket zur Hand und öffnete es.

Eleanor trat neugierig neben ihre Mutter, schaute in die Kiste und entdeckte einen zusammengefalteten schwarzen Seidenstoff.

„Es sind ein Domino und eine Maske.“ Die Countess holte einen langen schwarzen Umhang mit Kapuze sowie eine schwarze Seidenmaske heraus. „Es ist auch eine Perücke dabei, damit du nicht erkannt wirst.“

Um ihr Haar zu verstecken. Natürlich. Ein Blick auf ihr grellrotes Haar, und jeder würde wissen, dass sie es war. Die Haarfarbe hatte Eleanor von ihrem Vater geerbt und sie hatte ihr wirklich keine Vorteile beschert. Im Gegensatz zu den grünen Augen ihrer Mutter, für die Eleanor sehr dankbar war.

Jetzt strich sie mit der Hand über den schwarzen Umhang und ihr Herz machte einen Sprung. „Wohin soll ich denn gehen, dass ich mich verkleiden muss?“

„Ich habe eine Kurtisane engagiert, die dir beibringen wird, was ich dich leider nicht lehren kann.“

Eleanor starrte ihre Mutter voller Entsetzen an.

„Oh, sie war nicht immer Kurtisane“, erklärte ihre Mutter. „Früher war sie die Tochter eines sehr liebenswerten Pfarrers und als solche habe ich sie auch kennengelernt. Aber schwierige Umstände können sehr grausam zu einer Frau sein, sodass sie manchmal keine Wahl hat.“ Die Countess presste die Lippen zusammen und hielt einen Moment andächtig inne. „Sie ist diskret und wird dich lehren, anderen Menschen gegenüber aufgeschlossener zu sein und mehr Gefühle zu zeigen. Anders als ich. Ich möchte nicht, dass du eine Ehe eingehst, in der nur Kälte herrscht, oder ein Leben führst, das in strengen Bahnen verläuft und in dem jede Einzelheit genau kalkuliert wird.“ Die Maske in der Hand ihrer Mutter erzitterte leicht. „Es ist so lange her, dass ich mir erlaubt habe, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen; ich wäre eine sehr schlechte Lehrerin für dich.“

Sie drückte ihrer Tochter die Maske in die Hand und Eleanor nahm sie mechanisch an. „Aber eine Kurtisane?“, fragte sie zweifelnd. „Das wird meinen Ruf ruinieren und deinen auch.“

Ihre Mutter blickte sie ungerührt an. „Dein Vater ist tot, dein Bruder verschollen. Ich werde allmählich alt und du bist bereits zweiundzwanzig. Die Saison ist halb vorbei und deine einzige Aussicht auf einen Antrag hat dir eine andere junge Dame weggeschnappt. Dir ist hoffentlich bewusst, dass Evander für tot erklärt werden wird, wenn er weitere drei Jahre verschwunden bleibt? Und dann wird euer Cousin alles erben.“

Eleanor zuckte zusammen, als ihre Mutter Evander erwähnte. Es schmerzte sie zu sehr, an seine Abwesenheit erinnert zu werden. Vor vier Jahren war er gegangen, um die Abenteuer zu erleben, die auch sein Vater bis zur Neige ausgekostet hatte. In einer Zeit, in der die Napoleonischen Kriege Europa erschütterten, wuchs ihre Sorge um ihn von Tag zu Tag. Trotzdem gaben sie die Hoffnung noch nicht auf. Jedenfalls jetzt noch nicht. Was allerdings nicht bedeutete, dass sie sich keine Gedanken um ihre Zukunft machten.

Ihre Mutter hatte gewiss recht. Eleanors Aussichten auf eine gute Partie waren wirklich sehr düster.

Die Countess hatte ebenfalls recht, was Eleanors Cousin Leopold anging. Er war ein habgieriger junger Fatzke, der es auf Evanders Titel abgesehen hatte. Vermutlich würde er das gesamte Familienvermögen für exzentrische Kleidung ausgeben und am Spieltisch verprassen. Eleanor würde kaum etwas von ihm erwarten können.

„Vielleicht wird die nächste Saison ja besser“, sagte sie. „Ich weiß, ich bin im Grunde schon fast eine alte Jungfer, aber …“

„Wir haben kein Geld für eine weitere Saison.“ Ihre Mutter legte eine Hand auf ihren Magen und holte tief Luft. „Dein Vater hat das meiste auf seinen Reisen ausgegeben. Du musst wissen, Evander ist nicht fortgegangen, um ihm nachzueifern. Er wollte vielmehr unsere Finanzen aufbessern, um uns vor dem Ruin zu retten.“

Eleanor gab sich Mühe, ihre Fassung zu bewahren – ein fast unmögliches Unterfangen, wenn man den Boden unter den Füßen verliert. „Ich wusste nicht …“

„Das habe ich auch nicht von dir erwartet. Wie du dir denken kannst, gebe ich eine solche Information nur ungern an dich weiter. Wenigstens besaß dein Vater genügend Voraussicht, um gleich nach unserer Hochzeit einen Treuhandfonds in meinem Namen einzurichten. Nur deswegen hast du bisher an den Saisons in London teilhaben können.“

Ihre Mutter senkte den stolz erhobenen Kopf um eine Nuance. Erschöpfung ließ sie zum ersten Mal, seit Eleanor denken konnte, wirklich alt erscheinen. Die Situation musste ausgesprochen ernst sein.

Eleanor blickte auf die Maske in ihrer Hand.

„Das ist vielleicht deine einzige Chance, Eleanor“, sagte die Countess. „Lerne, weniger kühl und dafür herzlicher, einladender zu sein. Zerstreue die Vorurteile, die die Leute dir gegenüber haben, und setze dich über ihre Meinung von dir hinweg. Nimm dein Schicksal selbst in die Hand.“

Sie berührte das Gesicht ihrer Tochter mit eiskalten Fingern, doch Eleanor wich nicht zurück, sondern begegnete dem besorgten Blick ihrer Mutter.

Die Countess runzelte die Stirn. „Ich möchte ein besseres Leben für dich.“

Eleanors Herz klopfte schneller. „Vertraust du der Kurtisane, Mutter?“

Die Countess of Westix nickte entschlossen. „Ja.“

„Dann werde ich es auch tun.“ Ein Schauder überlief sie, aber Eleanor zwang sich, Ruhe zu bewahren. „Wann fange ich an?“

Ihre Mutter wandte sich zum Fenster um. Draußen war es bereits dunkel geworden. „Heute Abend.“

Charles Pemberton war der neue Duke of Somersville. Die Neuigkeit rief bei ihm keine Freude hervor, denn sie bedeutete, dass sein Vater in den zwei Monaten, die Charles für die Rückreise nach London gebraucht hatte, gestorben war.

Charles stand neben dem Schreibtisch in der Bibliothek von Somersville House. Den Brief seines Vaters hielt er kraftlos in der Hand.

Es erschien ihm nicht richtig, sich an den großen Mahagoni-Schreibtisch zu setzen, der so viele Jahrzehnte dem vorigen Duke of Somersville gehört hatte. Der gesamte Raum war für Charles den größten Teil seines Lebens tabu gewesen, daher verschaffte es ihm keinen Trost, jetzt hier zu sein. Vielmehr fühlte es sich steif und fremd an.

Charles betrachtete den Brief noch einmal. Nicht jenen Brief, der ihn erst nach Monaten erreicht hatte, als er in einer der abgelegensten Gegenden Ägyptens damit beschäftigt gewesen war, nach antiken Schätzen zu suchen. Der Brief hatte ihm mitgeteilt, dass er sofort heimkehren musste. Nein, nun hielt er einen anderen Brief in Händen, einen Brief, der ihn an ein Versprechen erinnerte – ein Versprechen, das bedauerlicherweise unerfüllt geblieben war.

Regentropfen schlugen an die Fensterscheiben und erfüllten den Raum mit einem hohlen, düsteren Trommeln. Tatsächlich passte es zu dem Sturm, der in Charles’ Innerem wütete. Sein Vater war das Wichtigste in seinem Leben gewesen und der Grund, weswegen Charles überhaupt auf Reisen gegangen war. Um die Wunder der Welt zu sehen, durch die ihm sein Vater immer so überlebensgroß erschienen war. Und damit sein Vater zum ersten Mal stolz auf ihn sein konnte.

Und jetzt war der Duke tot.

Es war lächerlich, dass er diese Tatsache noch immer nicht wahrhaben wollte. Oder war es vielleicht sein schlechtes Gewissen, das ihn davon abhielt? Als er zu seiner Grand Tour aufgebrochen war, hatte er schließlich geschworen, dass er das Cœur de Feu finden würde – den berühmten Rubin, den ein französischer Sammler Mitte des siebzehnten Jahrhunderts gestohlen und später irgendwo im Orient versteckt hatte. Es hieß, der Rubin wäre so groß wie eine Männerfaust und sein Inneres würde brennen wie Feuer. Daher auch sein Name: das Herz aus Feuer.

Es war der einzige Schatz, den sein Vater nicht besessen hatte, und deswegen davon besessen gewesen war. Charles hatte den Edelstein finden wollen, aber in den vergangenen Jahren war er viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, fremde Kulturen zu entdecken und von den Völkern ferner Länder zu lernen. Er hatte geglaubt, ihm stünde grenzenlos Zeit zur Verfügung. Und sein Vater war ihm unsterblich erschienen.

Seine Beine konnten ihn kaum noch halten, trotzdem konnte er sich nicht dazu durchringen, im Sessel seines Vaters auszuruhen. Das prachtvolle Haus mit seinem gesamten Mobiliar mochte ja nun Charles gehören, dennoch fühlte er sich wie ein Fremder hier. Sein neuer Titel drohte ihn ebenso zu ersticken wie der Rest seines Erbes.

Er sah auf den Brief, den sein Vater ihm in aller Hast kurz vor seinem Tod geschrieben und den man dann zerknittert in seiner Faust gefunden hatte. Schon der Anblick quälte Charles. Er hatte es nicht rechtzeitig zur Beerdigung geschafft. Er hatte sich nicht verabschieden können.

In dem Brief klagte sein Vater nicht über die verlorene Zeit und verkündete auch nicht seine Zuneigung für Charles, sein einziges lebendes Kind. Nein, der Brief bestand aus einer einzigen undeutlich gekritzelten Zeile.

Finde das Tagebuch und benutze den Schlüssel, um das Cœur de Feu zu finden.

Natürlich. Das Cœur de Feu, Charles’ größtes Versagen.

Der „Schlüssel“ war ein flaches Stück Metall von der Größe eines Buches, in das in unregelmäßigen Abständen fünfundzwanzig kleine quadratische Löcher gestanzt worden waren. In der unteren rechten Ecke befand sich das Zeichen des Adventure Clubs, das vorgab, wie man den Schlüssel korrekt hielt. Seine Größe passte genau zu den verschiedenen Tagebüchern, die sein Vater besessen hatte. Die Tagebücher trugen ebenfalls das Emblem des Adventure Clubs auf ihren Buchdeckeln – die goldfarbene Prägung eines Kompasses.

Der Club war vor mehreren Jahrzehnten von Charles’ Vater, dem Earl of Westix, zusammen mit weiteren Gentlemen des ton gegründet worden.

Selbstverständlich hatte Charles den Schlüssel bereits an den Tagebüchern ausprobiert, doch obwohl das Format der Bücher mit dem der Metallplatte übereinstimmte, ergaben sich aus den ausgestanzten Quadraten lediglich unzusammenhängende Buchstaben. Charles hatte versucht, die Buchstaben in anderen Reihenfolgen anzuordnen, aber nie hatte sich ein sinnvolles Wort ergeben.

„Euer Gnaden …“ Eine Stimme drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr.

Charles stützte die Fingerkuppen seiner Hände auf eins der Bücher, die auf dem Schreibtisch lagen, um keine Abdrücke auf dem glänzenden Holz zu hinterlassen. Sein Vater hatte Fingerabdrücke auf seinen Sachen gehasst.

„Euer Gnaden?“, wiederholte die Stimme.

Vielleicht passte der Schlüssel gar nicht zu den Tagebüchern, die sich in der Sammlung des verstorbenen Dukes befanden? Der Earl of Westix besaß schließlich auch einige. Charles war Zeuge gewesen, als sein Vater dagegen protestiert hatte, dass die Artefakte, die der Adventure Club sein Eigen genannt hatte, nach dem letzten Treffen des Clubs vor fünfzehn Jahren unter den Mitgliedern aufgeteilt wurden – ganz besonders die bedeutenden Kunstwerke und Dokumente.

„Mylord“, meldete die Stimme sich jetzt strenger.

Unwillkürlich reagierte Charles auf die Anredeform, die er gewohnt war. Thomas, sein Kammerdiener, stand neben ihm und hielt ihm ein Stück Papier hin.

„Mit Verlaub, Euer Gnaden, Sie sind jetzt nun einmal Euer Gnaden.“

Thomas war seit Ewigkeiten sein getreuer Gefährte. Er war mit Charles um die ganze Welt gereist, ohne sich nur ein einziges Mal zu beschweren, so trostlos und widrig die Umstände auch manchmal gewesen waren.

Und dennoch brachte Thomas immer ein Lächeln zustande und sorgte für warmes Wasser für eine anständige Rasur. Deswegen wusste Charles, dass sein Kammerdiener nicht respektlos sein wollte mit seiner sanften Mahnung.

Charles nickte zustimmend. „Ja. So ist es.“

Ein Donnergrollen ließ die Fensterscheiben erbeben. Thomas warf einen abfälligen Blick hinaus. „Miss Charlotte hält sich gerade in der Stadt auf, und sie bittet Sie, sich sofort zu ihr zu begeben. Ihr Diener bat mich zudem, Ihnen das hier zu geben.“

„Miss Charlotte? Lottie?“, fragte Charles erstaunt.

Thomas hob eine Augenbraue und reichte Charles das Papier. „Ja, Euer Gnaden. Sie scheint äußerst erpicht darauf zu sein, mit Ihnen zu sprechen.“

Charles warf einen Blick auf die kurze Nachricht.

Sag nicht nein, Charles.

Er musste lächeln. Wie ähnlich ihr das doch sah! Schon als sie noch Kinder waren, hatte sie immer sehr entschlossen gehandelt, wenn sie etwas haben wollte. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass er die kleine Charlotte Rossington das letzte Mal gesehen hatte – die Tochter des Pfarrers der kleinen Kirche in der Nähe von Somersville Manor. Sie waren wie Geschwister zusammen aufgewachsen.

Charlotte war eine schöne junge Frau geworden mit dunklem Haar und strahlenden blauen Augen. Die Farben seiner Haare und Augen waren den ihren so ähnlich, dass man sie oft für echte Geschwister gehalten hatte. Tatsächlich standen sie einander nahe wie Bruder und Schwester.

Sie hatten sich nicht mehr gesehen, seit er zu seiner Grand Tour aufgebrochen war, und würden sich viel zu erzählen haben. Charlotte war immer ein süßes, entzückendes Mädchen gewesen. Er konnte sich gut vorstellen, dass sie inzwischen eine ganze Schar von Kindern hatte, so wie sie es sich immer gewünscht hatte.

Es war eine fürchterliche Nacht, aber selbst das Unwetter war einem düsteren Haus vorzuziehen, in dem er von traurigen Erinnerungen und unerfüllten Versprechen gequält wurde. Charles legte das Papier beiseite. „Lassen Sie bitte die Kutsche fertig machen, Thomas.“

Ein wehmütiges Lächeln erschien auf seinen Lippen, als sich sein Kammerdiener entfernte. Es war wirklich zu lange her, dass Charles seine Lottie gesehen hatte.

2. KAPITEL

Es war wirklich sehr viel Zeit vergangen, seit Charles sie das letzte Mal getroffen hatte. Er hätte die sinnliche Frau, die in dem luxuriös eingerichteten Salon vor ihm stand, fast nicht wiedererkannt. Die Wohnung war viel zu kostspielig für eine Pfarrerstochter – ebenso wie das enganliegende dunkelrote Seidenkleid viel zu geschmacklos für sie war. Ganz besonders, wenn man es mit dem hochgeschlossenen Kleid verglich, das sie bei ihrer letzten Begegnung getragen hatte.

Jetzt sah er keine Unschuld mehr in den blauen Augen. An Lotties Stelle war eine aufregend erotische Frau mit langen, mitternachtsschwarzen Locken getreten, die ihr über eine ihrer fast nackten Schultern fielen. Ganz offensichtlich eine Kurtisane.

Charles starrte sie länger an, als höflich war. Die ganzen fünf Jahre ihrer Trennung schienen sich in ihrem Schweigen auszudrücken. Lottie verschränkte nervös die Hände vor ihrem Bauch – eine Angewohnheit aus ihrer Kindheit, die sie selbst in ihrer neuen Verkleidung nicht abgelegt hatte.

„Mein Beileid zu dem Dahinscheiden deines Vaters.“

„Mein Beileid zu … dem hier“, erwiderte er.

Lottie zuckte zusammen und wandte den Blick ab. „Mir blieb keine Wahl, Charles. Du hast keine Wahl, wenn dein Vater stirbt und dich mittellos zurücklässt.“

Charles verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. Seine neuen Schaftstiefel zwängten seine Füße etwas zu sehr ein und erschienen ihm in seinem jetzigen Aufruhr fast unerträglich unbequem. „Du hättest heiraten können.“

Lottie sog scharf den Atem ein und rang schon wieder die Hände. „Nein, hätte ich nicht.“

„Was ist das für ein Geschwätz?“ Charles lief über den dicken Teppich. „Lottie, du bist eine schöne Frau. Die Männer waren immer interessiert an dir. Wie ist es möglich, dass du keinen Ehemann finden konntest?“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich keinen finden konnte.“

„Wenn du einen Mann haben konntest, wieso hast du dann nicht …“ Plötzlich hatte er verstanden und erstarrte.

Lottie reagierte auf sein offensichtliches Entsetzen mit leichtem Spott. „Du hast also begriffen.“

Oh ja. Lottie war kompromittiert worden.

Das kleine Mädchen, das immer hinter ihm hergelaufen war, bis er ihr endlich erlaubt hatte, mit ihm zu spielen. Das Mädchen, das er immer geliebt hatte wie eine jüngere, verletzlichere Schwester. Und irgendein gewissenloser Wüstling hatte ihren Ruf ruiniert.

„Wer ist der Schurke?“, knurrte er.

„Das wirst du niemals von mir erfahren.“ Sie wandte sich ab und entfernte sich von ihm, jedoch nicht schnell genug, als dass er den tiefen Kummer in ihren Augen nicht gesehen hätte.

Sie liebte den Mann noch immer.

Charles trat neben sie. „Warum hast du mich nicht um Hilfe gebeten?“

Lottie nahm eine Flasche mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit von einem Tischchen und zog den Korken heraus. „Selbst wenn es einen Weg gegeben hätte, mit dir in Kontakt zu treten, hätte ich es nicht getan. Es hat mir noch nie gefallen, Almosen anzunehmen.“ Sie füllte ein Kristallglas zwei Fingerbreit mit der Flüssigkeit und schob es Charles hin.

Er ergriff es und nahm einen tiefen Schluck. Scotch. Sehr guter Scotch. „Es wären keine Almosen gewesen“, protestierte er.

Leicht amüsiert blickte sie ihn an. „Ach? Was denn sonst?“

„Ich hätte deine Zukunft gesichert.“

Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Du bist nicht für mich verantwortlich, Charles.“

Er legte eine Hand auf ihre Schulter, so wie er es immer getan hatte, als sie noch ein Mädchen gewesen war und Trost gebraucht hatte – als ihr Kätzchen auf einen zu hohen Baum geklettert war, als sie sich das Knie aufgeschürft und ein neues Kleid zerrissen hatte und als ihre Mutter gestorben war. Er war immer für sie da gewesen.

Außer – ganz offensichtlich – als sie ihn am meisten gebraucht hatte.

„Du weißt, du warst immer wie eine Schwester für mich. Du hast mir genauso viel bedeutet.“

„Aber ich bin nicht deine Schwester.“ Sie winkte ab. „Du bringst mich noch zum Weinen mit deinem Gerede.“

Und wirklich, ihre Nase hatte sich ein wenig gerötet. Lottie schenkte sich auch ein Glas Scotch ein und ging damit zu einem Sessel, in dem sie es sich gemütlich machte.

„Ich habe es zuerst beim Theater versucht, und ich hatte auch Erfolg … und da kamen die ersten Angebote.“

Charles setzte sich in den Sessel ihr gegenüber und trank sein Glas in einem Zug leer, als sie die „Angebote“ erwähnte.

Lottie schob die Gardine leicht zur Seite und schaute in die Dunkelheit hinaus. „Zunächst widersetzte ich mich natürlich“, fuhr sie fort. „Aber die Kosten eines solchen Lebens waren viel höher als meine Einnahmen. Nach einer Weile konnte ich mich nicht länger weigern.“

Charles starrte in sein leeres Glas und genoss die Wärme, die sich in seinem Innern ausbreitete.

„Ich habe noch nie so luxuriös gewohnt wie hier.“ Sie wies mit einer Geste auf Möbel, Tapeten und Zierrat.

Der Raum war wirklich sehr schön. Die dunklen Holzmöbel schimmerten regelrecht, so gründlich waren sie poliert. Die Wände waren mit glänzender roter Seide bespannt und auf dem Boden lagen offensichtlich wertvolle Teppiche.

„Beabsichtigst du, noch eine Weile mit dieser … Beschäftigung fortzufahren?“, fragte er.

Sie sah wieder aus dem Fenster. „Nein. Zumindest hoffe ich das. Was auch mit ein Grund dafür ist, warum ich dich hergebeten habe.“

„Wonach zum Kuckuck hältst du die ganze Zeit Ausschau?“ Er erhob sich und schaute auf die ruhige Straße hinunter.

„Nach einer neuen Gelegenheit.“ Sie stand auf und trat neben ihn. Strahlend blickte sie zu ihm auf und tauschte sein leeres Glas gegen ihr noch unberührtes aus.

Ein ungutes Gefühl überkam Charles. „Ich weiß nicht, was du im Schilde führst, doch ich mache auf keinen Fall dabei mit.“

Lottie zog die Nase kraus und lachte. Jetzt erinnerte sie ihn wieder an das Mädchen, das sie einmal gewesen war. „Aber nein. Ach, Charles, du weißt, wie man mich zum Lachen bringt.“

Sie schüttelte den Kopf und ihre schwarzen Locken umspielten wieder die verwirrenden Wölbungen ihrer fast völlig entblößten Brüste. „Ich warte auf die Tochter einer Countess, eine junge Dame, die gerade eine recht schwere Zeit durchmacht. Ich soll ihr die Kunst des Flirtens beibringen.“

Charles musterte sie skeptisch. Lottie legte die Finger um sein Glas und hob es ihm an den Mund. „Ich könnte die Hilfe eines Gentlemans gebrauchen. Es wäre gut für sie, wenn sie es an jemandem ausprobieren könnte.“

Obwohl das Glas schon seine Lippen berührte, wehrte Charles sich und wich zurück. „Du verschweigst mir doch etwas.“

Sie machte einen Schmollmund, wie er ihn noch nie bei ihr gesehen hatte – eine Miene, die eher zu einer launischen Mätresse passte als zu einer wohlerzogenen Pfarrerstochter.

Das gefiel ihm ganz und gar nicht. „Du solltest mich wirklich besser kennen.“

„Na schön.“ Lottie ließ das Glas los und senkte die Hände. „Sie ist die Tochter des Earl of Westix.“

Charles hob den Scotch wieder an den Mund, da er ihm nicht mehr aufgezwungen wurde, und nahm einen Schluck.

Der Earl of Westix.

Der Adventure Club hätte sich niemals aufgelöst, wenn dieser Earl nicht gewesen wäre. Dann hätte Charles’ Vater nach wie vor alle Tagebücher besessen und wäre in der Lage gewesen, das Cœur de Feu selbst zu finden. Und Charles wäre nicht gezwungen gewesen, seinen Vater zu enttäuschen, weil er dessen letzten Wunsch nicht erfüllen konnte.

Lottie wusste das alles. Dennoch bat sie ihn, einer Tochter von Westix zu helfen.

„Oje“, sagte Lottie stirnrunzelnd. „Du bist plötzlich ganz rot im Gesicht.“

„Warum glaubst du, ich wäre willens, einem Abkömmling dieses Teufels zu helfen?“

„Die Dame hat eine schwierige Zeit durchlebt.“ Lottie hob ihren Zeigefinger. „Vor einigen Jahren starb ihr Vater, dann verschwand ihr Bruder und jetzt hat der Mann, der um sie geworben hat, sich mit einer anderen verlobt.“

Sie hielt die drei Finger hoch, als würde sie Charles die Situation dadurch deutlicher machen können. Schließlich streckte sie noch den kleinen Finger in die Höhe. „Und weil jede Frau eine zweite Chance verdient.“

Den letzten Satz sprach sie so ernst aus, dass Charles wusste, Lottie meinte damit nicht nur Westix’ Tochter, sondern auch sich selbst. Zweifellos war ihr klar, dass sie sich sein Einverständnis am besten sicherte, indem sie an sein schlechtes Gewissen appellierte.

Sie kannte ihn viel zu gut.

„Stell es dir nur vor, Charles.“ Sie streckte den Rücken durch. „Wenn eine Countess bereit ist, für die Erziehung ihrer Tochter zu zahlen – eine Erziehung, die man an keiner respektablen Schule erhalten kann –, dann werden andere ebenfalls interessiert sein. Jede Mutter möchte, dass ihre Tochter begehrenswert ist und heiratet. Und wer könnte diesen Töchtern die Kunst der feinen, aber raffinierten Verführung besser beibringen als eine Kurtisane? Ich könnte selbst verheiratete Frauen über das Vergnügen unterrichten, das im Schlafzimmer zu finden ist …“

„Das reicht, Lottie“, stieß Charles hervor. „Bei allen Heiligen, hör sofort auf, über solche Intimitäten zu sprechen!“

Er stellte sein Glas auf den Tisch und ging unruhig auf und ab, während er sich deutlich bewusst war, dass Lottie ihn ängstlich beobachtete. Sein Vater hätte es sicher missbilligt, wenn er ihr bei diesem Vorhaben half, und hatte er ihn nicht schon genug enttäuscht?

Doch plötzlich kam ihm ein Gedanke. Wenn er der kleinen Westix half, wäre sie ihm vielleicht so dankbar, dass sie ihrerseits bereit wäre, ihm zu helfen. Sie könnte sich als sehr nützlich erweisen, um an die verschollenen Tagebücher heranzukommen.

Lottie schaute ihn erwartungsvoll an.

„Ich werde mitmachen“, sagte Charles schließlich. „Aber unter einer Bedingung.“

Sie legte fragend den Kopf schief.

„Du legst dir ein Schultertuch um.“

Lottie verdrehte die Augen. „Na gut.“ Sie sah wieder aus dem Fenster und lächelte Charles triumphierend an. „Dein Timing ist wirklich perfekt. Sie ist gerade angekommen.“

Eleanor erwartete ihr Schicksal ganz allein im Salon. Ein Diener hatte ihr Domino, Perücke und Maske abgenommen. Ohne den Schutz ihrer Verkleidung fühlte sie sich seltsam entblößt in dieser etwas heiklen Situation – entblößt und viel zu verletzlich.

Die Doppeltür des Salons war geschlossen. Öllampen warfen ein flackerndes goldenes Licht. Eine Harfe stand in einer Ecke. Ihr Schatten fiel auf den dicken Teppich von feiner Brüsseler Webart und wirkte wie ein Untier, das nach Eleanor greifen wollte. Kindliche Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Sie musste gegen das dringende Verlangen ankämpfen, die Füße vom Teppich zu nehmen, falls der Schatten nach ihr schnappen sollte.

Ein Glas Sherry stand einladend auf einem elegant geschnitzten Tisch neben einem Sessel. Wenn nicht die Büste einer Frau mit schamlos vorgestreckten Brüsten genau dahinter gestanden hätte, wäre Eleanor vielleicht auf die unausgesprochene Einladung eingegangen.

Obwohl sie die freundliche Geste zu schätzen wusste, war sie doch ziemlich sicher, dass sie auch ohne Hilfe des Alkohols die Nerven behalten würde. Nein, sie war sich völlig sicher. Die Murrays waren stark.

Die Doppeltür wurde geöffnet und eine Dame mit offen herabfallenden dunklen Locken kam herein. Ein purpurrotes Kleid schmiegte sich eng an ihre schlanke Gestalt. Ein schwarzes Spitzentuch bedeckte größtenteils ihre vollen Brüste und verlieh ihr ein sehr viel anständigeres Aussehen, als Eleanor erwartet hatte.

„Ich bin Lottie.“

Ihre Stimme war ebenso glatt und sinnlich wie ihr Gesicht – ein Gesicht, das anderen Frauen das unbehagliche Gefühl gab, ihr niemals das Wasser reichen zu können. War es da ein Wunder, dass Männer bereit waren, sehr viel Geld für ihre Zeit zu zahlen?

Hastig senkte Eleanor den Blick, nickte knapp und öffnete den Mund, um zu antworten. In diesem Moment betrat ein hochgewachsener Mann den Raum.

Das schwache Licht der Lampen ließ sein dunkles Haar schimmern. Seine Haut erschien goldfarben neben Lotties porzellanhellem Teint, als hätte er sehr viel Zeit in der Sonne verbracht. Das Bemerkenswerteste waren jedoch seine leuchtend blauen Augen.

Selbst eine Dame mit höchsten Ansprüchen würde ihn als einen umwerfend gutaussehenden Mann beschreiben.

Eleanor erstarrte. „Man hat mir nicht gesagt, dass ein Mann an meinem Unterricht teilnehmen würde.“

Lottie lächelte beruhigend. „Meine Liebste, wie sollen Sie denn lernen, sich mit einem Mann zu unterhalten, wenn keiner da ist, an dem Sie es ausprobieren können? Ihre Mutter wusste, dass ich es in Betracht zog, und sie vertraut mir.“ Sie schaute den Mann an. „Und ich vertraue ihm.“

Er erwiderte Eleanors neugierigen Blick mit einer so ungezwungenen Lässigkeit, dass sie sich ein wenig albern vorkam.

„Wie heißt er?“, fragte sie mit einer Gleichgültigkeit, die sie ganz und gar nicht empfand. In Wirklichkeit zitterte ihr Innerstes. Sie war so angespannt, dass ihre Muskeln schmerzten. „Wir sind uns einander bisher nicht vorgestellt worden.“

„Ich erlaube Ihnen, meinen Namen zu erfahren, wenn ich Ihren wissen darf.“

Seine Stimme war tief und geschmeidig. Eleanor hob unwillkürlich das Kinn, nicht ganz sicher, ob seine Antwort scherzhaft gemeint war oder als Beleidigung. In jedem Fall hatte sie nicht vor zu antworten. Sie war schließlich nicht hergekommen, um verhöhnt zu werden.

„Sehen Sie? Ein sehr gutes Beispiel dafür, weswegen ich um seine Hilfe gebeten habe.“

Lottie hakte sich bei dem Mann ein und zog ihn näher heran. Er schien kurz zu zögern, sodass sie ihn mit einem festen Ruck zum Vorwärtsgehen zwingen musste. „Denn man kann nie vorausahnen, was der andere sagen wird.“ Sie sah vielsagend zu ihm auf. „Durch ihn erhält unser Unterricht einen gewissen Grad an Spontaneität. Und glauben Sie mir, mit mir zu flirten wird nicht annähernd so aufregend sein wie mit ihm.“

„Damen flirten nicht.“

Eleanor musterte den Mann unwillkürlich, als er zu ihr geführt wurde. Er war sehr groß, hatte eine breite Brust und kräftige Schenkel, aber seine Taille und Hüften waren schmal. Zu ihrem Ärger errötete sie. Hastig straffte sie die Schultern und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, als könnte sie so der Herausforderung am besten die Stirn bieten, die seine Anwesenheit für sie bedeuten mochte.

„Oh doch“, warf Lottie mit sanftem Tadel ein. „Nur so, dass man es kaum merkt, selbstverständlich. Es ist nicht mehr als das feinsinnige Spiel von Worten zwischen zwei Menschen in einer Sprache, die nur sie beide sprechen.“

Lottie hatte natürlich recht. Man flirtete und man tat es so unauffällig wie möglich. Es war wie ein sorgfältig einstudierter Tanz, den Eleanor schon mit Hugh ausgeführt hatte. Zweimal. Und beide Male war sie gleich danach von einer berauschenden Erregung erfasst worden.

Wie dumm von ihr, sich eine solche Unvorsichtigkeit erlaubt zu haben! Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, so wie immer, wenn sie an jene seltenen Momente mit Hugh dachte. Mit Lord Ledsey.

„Es wird alles leichter sein, wenn Sie zu sich und zu mir ehrlich sind.“ Lotties Ton blieb freundlich. „Es gibt Dinge, die eine Dame nicht tun darf, die sie jedoch dennoch tut – aber wohlgemerkt, mit Geschick. Ich denke, wir stimmen beide darin überein, dass ein Flirt in diese Kategorie fällt.“

Eleanors Handflächen wurden feucht in den engen Handschuhen. Am liebsten wäre sie aus dem Salon gelaufen und in die kühle Luft vor dem Haus. Sie war indes dazu erzogen worden, Stärke zu zeigen. „Ich bin bereit, das zu akzeptieren.“

„Großartig.“ Lotties unbeschwertes Lächeln war wieder da.

Es war leider nicht großartig. Ganz und gar nicht. Der Raum war zu dunkel, die Wände zu dicht aneinander, die Erwartungen an Eleanor viel zu hoch. Doch so wenig sie in diesem Haus sein und sich Lotties Ratschläge anhören wollte, war sie dennoch eine Murray – und die Murrays zeigten keine Furcht. Selbst wenn sie den bitteren Geschmack der Angst in ihrem Mund spürten und nur mit Mühe einen Schauder unterdrücken konnten.

Sie würde sich dieser Situation stellen, bis es ihr gelungen war, einen passenden Heiratskandidaten anzulocken. Danach würde sie vorgeben, das hier sei niemals geschehen. Wieder huschte ihr Blick zu dem Mann hinüber – wirklich seltsam, wie oft sie zu ihm schauen musste. Warum musste der Mann auch so attraktiv sein? Und musste er sie so unverfroren ansehen?

„Der Sherry ist für Sie“, sagte Lottie. „Damit sich Ihre Nerven beruhigen.“

Eleanor war zwar versucht, das Glas zu nehmen, aber sie fürchtete, dabei die im Lampenlicht schimmernden Marmorbrüste zu berühren. Nein, sie würde an ihrem ursprünglichen Entschluss festhalten. „Danke, das ist nicht nötig.“

Lottie faltete die Hände. „Dann lassen Sie uns beginnen.“

3. KAPITEL

Die kleine Westix war hübscher, als Charles erwartet hatte. Ihr Haar war vom gleichen leuchtenden Rot wie das ihres Vaters, ihre Augen hell. Ob sie allerdings grün oder blau oder eine Mischung aus beidem waren, konnte er in dem schwachen Licht nicht ausmachen. Ihre Haut war wie feinstes Porzellan, und sie hielt sich so gerade, dass er das Gefühl hatte, seine eigenen Schultern würden schmerzen.

Ganz offensichtlich wollte sie den Eindruck vermitteln, mutig zu sein, doch Charles wusste, dass alle Murrays Feiglinge waren. So sehr diese junge Frau auch versuchte, anders zu erscheinen – sie war sicher genau wie ihr Vater.

„Fangen wir mit einer Vorstellung an.“

Lottie gab Charles’ Arm frei, stellte sich neben Eleanor und winkte ihn heran. Er kam näher – das gehorsame Hündchen bei diesem lächerlichen Tanz.

Lady Eleanor behielt ihre starre Haltung bei und drückendes Unbehagen legte sich über den Raum.

„Wenn er Ihnen Angst macht, kann ich ihn fortschicken.“ Lottie benutzte denselben behutsamen Ton, den sie in einem anderen Leben bei den Gemeindemitgliedern ihres Vaters angewandt hatte.

Lieber Himmel, Charles wünschte, Lady Eleanor würde ihre Angst eingestehen, damit er gehen konnte. Unwillkürlich presste er die Lippen zusammen. Andererseits waren da noch die Tagebücher – der Grund, weswegen er diesem närrischen Plan überhaupt zugestimmt hatte. Es war wichtig, dass sie ihn mochte.

Plötzlich wandte Lady Eleanor sich ihm zu. Sie reichte Charles immerhin bis zum Kinn und sah kühn zu ihm auf. Grün. Ihre Augen waren grün – und groß und wachsam mit einer fast raubkatzenartigen Intensität.

„So leicht lasse ich mich nicht entmutigen.“

Sie sprach voller Überzeugung, obwohl ihre Augen etwas ganz anderes ausdrückten. Sie hatte wirklich Angst. Und wie sollte sie auch nicht angesichts eines so grotesken Unterfangens wie diesem hier? Wenigstens schien das Mädchen nicht dumm zu sein.

Sie stand jetzt so dicht vor ihm, dass die Spitze eines ihrer Slipper die glänzende Spitze eines seiner Stiefel berührte. Er spürte ihren Atem an seinem Kinn. Von ihr ging der süße Duft nach Jasmin aus. Es war ein dezenter, weiblicher Duft, der fast zu zart schien für diese Frau.

Nun, sie standen wirklich viel zu dicht voreinander. Als wäre die ganze Situation nicht schon unschicklich genug, weil eine anständige Dame von vornehmer Herkunft mit einer Frau von Lotties …

Er konnte den Gedanken nicht beenden.

Ja, Lottie war eine Kurtisane, aber für ihn nicht. Für ihn würde sie immer die süße, sanfte Lottie sein, die vom Schicksal gezwungen wurde, vor dieser verzogenen Göre zu katzbuckeln.

„Sie brauchen nicht beunruhigt zu sein.“ Lottie zog sanft an Lady Eleanors Arm, um einen angemessenen Abstand zwischen ihr und Charles zu schaffen. „Wir möchten Ihnen nicht schaden oder Sie gar ruinieren. Wir möchten helfen. Nur deswegen habe ich zugestimmt, mit Ihnen zu arbeiten. Und deswegen“, Lottie wies auf Charles, als sie fortfuhr, „ist auch Lord Charles hier.“

Wenn Lady Eleanor ihn nicht so misstrauisch beobachten würde, hätte er Lottie einen verwunderten Blick zugeworfen. Zweifellos hatte sie ihre Gründe, seinen wahren Titel zu verschweigen. Falls sie damit beabsichtigt hatte, Lady Eleanor die Befangenheit zu nehmen, war ihr dies gelungen. Denn diese lockerte ein wenig die Haltung ihrer Schultern und nickte Lottie zu.

„Ich möchte Ihnen gern Lady Eleanor vorstellen“, verkündete Lottie feierlich.

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

Lady Eleanors kühler Ton stand sehr im Gegensatz zu ihren Worten. Sie klang alles andere als erfreut.

„Das würde ich Ihnen gern glauben“, meinte Charles trocken, bevor er sich zurückhalten konnte.

Lottie warf ihm einen mahnenden Blick zu. Lady Eleanors Miene blieb kühl und zeigte nicht einmal den Anflug von Charme. „Vielleicht ist das ja der Grund, weswegen meine Mutter unseren Ruf für diesen Unterricht riskiert.“

„Er kennt die Einzelheiten nicht“, warf Lottie hastig ein. „Ich hätte es ihm erklären sollen, aber …“

Lady Eleanor hob die Hand, um Lottie zu unterbrechen. „Sie sind sicher noch nicht lange in London, wenn Sie noch nicht von der berüchtigten Eiskönigin gehört haben.“ Lady Eleanor hob eine Augenbraue, doch ansonsten blieb ihr Gesicht ausdruckslos. „Eine Frau, die kurz davor ist, eine alte Jungfer zu werden, und sich mit ihrer Gefühlskälte ihre einzige Chance auf einen Antrag verscherzt hat.“ Ihre Augen blitzten wie harte Smaragde. „Meine Mutter hat mich hergeschickt, weil sie glaubt, Lottie könnte mir beibringen, zu flirten und mehr Gefühle zu zeigen. Was die Gerüchte über meine gefühllose Natur zerstreuen soll.“

„Und was glauben Sie?“, fragte Charles, neugierig geworden.

„Ich habe meine Zweifel“, antwortete sie ohne Zögern.

Hinter ihr schürzte Lottie die Lippen.

„Zweifel, ob Sie es lernen können?“, wollte er wissen.

Lady Eleanor verzog den Mund zu einem dünnen Lächeln. „Zweifel, dass es viel nützen wird. Ich muss die Vorurteile, die man allgemein über mich gefasst hat, so erfolgreich widerlegen, dass ein Gentleman sich entschließt, mich zu heiraten. Und all das in …“ Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite, während sie offensichtlich eine Berechnung anstellte. „In weniger als zwei Monaten.“

Die Chancen standen gewiss nicht gut für sie. Lady Eleanor machte sich wenigstens nichts vor.

„Ist es wichtig, wer den Antrag macht?“ Charles beobachtete sie, als er das sagte, um zu sehen, ob sie sich die Mühe machen würde zu erröten. Das tat sie jedoch nicht.

„Im Gegensatz zu Männern verfügt eine Frau nicht über den Luxus, sich Zeit lassen zu können, und sie kann sich den Mann auch nicht aussuchen.“

Die Antwort war unverblümt, aber wahr. Charles war sich bewusst, dass er bei der Wahl seiner Gattin ebenso seine Verpflichtungen als Duke berücksichtigen musste, allerdings er konnte sich wenigstens etwas Zeit damit lassen. Selbst wenn es Jahre dauern sollte, konnte er den Rubin aufspüren, nach London zurückkommen und schon innerhalb weniger Wochen eine Frau zu seiner Duchess machen. Sogar innerhalb von Tagen, wenn nötig.

„Dann machen wir uns am besten an die Arbeit, nicht wahr?“ Lottie stellte sich zwischen Charles und Lady Eleanor. „Zuerst einmal möchte ich erklären, wie Sie sich benehmen sollten, wenn Sie vorgestellt werden. Angemessen.“

Sie musterte die kleine Westix ernst. „Lady Eleanor, denken Sie daran, Lord Charles in die Augen zu sehen, und versuchen Sie, aufrichtig erfreut zu erscheinen.“

Lady Eleanor trat von einem Fuß auf den anderen. Ganz offensichtlich war sie alles andere als erfreut. Jedoch beruhte das auf Gegenseitigkeit.

Lottie hingegen ignorierte die deutlichen Anzeichen von Lady Eleanors Unbehagen. „Lady Eleanor, darf ich Ihnen Lord Charles vorstellen?“

Lady Eleanors Blick schien ihn durchbohren zu wollen. Es war die Art, wie sie ihn musterte, unverwandt und entschieden. Überhaupt nicht wie die gesitteten Damen des ton, denen er begegnet war, als er das letzte Mal in London gelebt hatte. Kein Wunder, dass sie die Leute abschreckte.

Sie streckte ihm die Hand hin. Er nahm sie, beugte sich über sie und küsste die Luft über den Fingerknöcheln, die in weißen Wildleder-Handschuhen steckten.

Als er sich aufrichtete, nickte sie knapp und sagte: „Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

Ihre Worte und Manieren waren tadellos, genauso wie man es in der feinen Gesellschaft von ihr erwartete. Abgesehen vielleicht von ihrem etwas zu kühlen Blick.

Lottie nickte. „Gut. Angemessen.“ Sie legte einen Finger auf die Unterlippe. „Aber ohne Gefühl.“

„Ich nahm an, Gefühle sind einem Fremden gegenüber nicht nötig“, verteidigte sich Lady Eleanor.

„Sie sind nötig, wenn Sie besagten Fremden zur Ehe ermutigen möchten.“ Lottie wies auf Charles. „Lassen Sie Ihren Blick auf seinem Gesicht verweilen, doch seien Sie nicht zu direkt. Und lächeln Sie, wenn Sie sagen, es freue Sie, ihn kennenzulernen.“ Lottie machte eine anmutige Geste und sagte mit perfektem französischem Akzent: „Allez, on recommence.“

Charles unterdrückte ein Stöhnen. So wie es aussah, würden sie noch bis morgen früh hier sein.

„Das werden wir noch den ganzen Abend lang machen, vermute ich?“ Lady Eleanor klang nicht begeistert. „Wir lassen uns einander vorstellen, bis einer von uns um Gnade fleht?“

„Sehr wahrscheinlich werde ich derjenige sein“, meinte Charles mit einem Augenzwinkern. Wenn er sie auf seine Seite ziehen wollte, um an die Tagebücher zu kommen, wäre eine Art von Kameradschaft zwischen ihnen sicher nicht unangebracht.

Sie antwortete ihm nur mit einem ausdruckslosen Blick, bevor sie sich an Lottie wandte. „Das ist vollkommen lächerlich. Ich werde nicht demselben Herrn wieder und wieder begegnen, und es wird nicht die schlechte Meinung ändern, die der ton von mir hat. Lassen Sie meine Kutsche vorfahren.“ Sie schloss die Augen, als ob es ihr wehtäte. Als sie sie wieder öffnete, war sie völlig beherrscht. „Bitte.“

„Darf ich Sie fragen, ob irgendetwas Sie davon abhält, mehr Gefühl zu zeigen?“, erkundigte sich Lottie. „Etwas, wovor Sie Angst haben?“

„Ich habe vor nichts Angst“, entgegnete Lady Eleanor bestimmt.

Lottie runzelte die Stirn und öffnete den Mund. Doch dann sagte sie nichts, nickte nur und verließ mit rauschenden Seidenröcken den Salon. Ungemütliches Schweigen legte sich wie eine schwere Decke auf Eleanor und Charles und erstickte selbst den Gedanken an Kameradschaft.

„Sie sagten, Sie hätten Zweifel.“ Charles ergriff das Glas mit dem unangetasteten Sherry und leerte es. Offensichtlich brauchte er ihn mehr als sie. „Vielleicht sind Sie eher pessimistisch?“

Sie musterte ihn misstrauisch und wich ein wenig vor ihm zurück. Ihr musste gerade aufgefallen sein, wie unziemlich es für sie beide war, allein in einem Raum zu sein. „Weil ich bei dieser absurden Farce nicht mitmache?“, fragte sie.

„Weil Sie zu große Angst haben, um es wenigstens zu versuchen.“ Er wusste nicht, ob er Lottie mit seinem Anstacheln helfen wollte, oder ob er einfach nur boshaft war. Wahrscheinlich von beidem ein bisschen.

Sie strich nervös ihren Rock glatt. „Das ist … nicht normal.“

Zwar musste er ihr darin recht geben, aber das brauchte sie ja nicht zu wissen. Schließlich war er hier, um Lottie zu helfen. Und wenn das Mädchen jetzt ging, würde er keine Gelegenheit haben, an die Tagebücher zu kommen.

„Ich habe gelernt, dass man mit unkonventionellen Methoden oft bessere Ergebnisse erzielt als mit gewöhnlichen“, sagte er. „Sie sind hergekommen, weil Sie allen beweisen wollen, dass sie unrecht haben. Warum lassen Sie zu, dass sie am Ende doch Recht behalten?“

Sie schluckte mühsam. „Ich bin gekommen, weil mir keine andere Wahl blieb.“

Lottie kam herein, gefolgt von einem Diener. „Ihre Kutsche ist hier. Ferdinand wird Sie begleiten.“

Lady Eleanor wandte sich von Charles ab und erlaubte dem Diener, ihr die lächerliche blonde Perücke aufzusetzen und den schwarzen Domino umzulegen.

Lottie gab noch nicht auf. „Ich hoffe sehr, dass Sie es sich noch anders überlegen werden.“

Zögernd nickte Lady Eleanor und ohne ein weiteres Wort folgte die Tochter des Earl of Westix dem Diener aus dem Salon hinaus.

Jetzt erst erlaubte Lottie sich, die Schultern hängen zu lassen. Sie sank auf das Sofa. „Das war wirklich ein erbärmlicher Misserfolg.“

Charles schaute in die leere Halle hinaus. Lady Eleanor hatte das Haus bereits verlassen. „Ich muss zugeben, es will mir nicht gelingen, Mitleid mit ihr zu empfinden. Ganz besonders, da sie an ihrem jetzigen Benehmen nicht das Geringste auszusetzen findet.“

Lottie sah ihn stirnrunzelnd an. „Du warst nicht besonders freundlich. Was ist aus dem charmanten Charles geworden, den ich früher kannte?“

Ihre Worte ließen ihn leicht zusammenzucken. Er hatte nicht gewollt, dass sein Vorurteil gegen Lady Eleanor so deutlich zu erkennen war. „Offenbar haben wir uns alle verändert. Und nicht zu unserem Vorteil.“

Lottie presste die Lippen zusammen, um ihm nicht die bissige Antwort zu geben, die er verdient hätte. „Wirst du versuchen, mit ihr zu sprechen?“ Sie blickte fast flehend zu ihm auf. „Ich kann es nicht tun in aller Öffentlichkeit, aber du schon. Ich weiß, dass sie oft mit ihrer Mutter im Hyde Park spazieren geht.“

Es lag Charles bereits auf der Zunge, ihre Bitte entschieden abzulehnen und dieses alberne Spielchen zu beenden. Doch wieder musste er an die Tagebücher denken. Ach, zum Henker, nicht nur die Tagebücher spielten eine Rolle, auch sein Wunsch, Lottie zu helfen. Es bedrückte ihn, sie so zu sehen – gezwungen, die Wünsche der vornehmen Reichen zu erfüllen. Sie hatte ein solches Leben nicht verdient.

„Ich werde darüber nachdenken“, gab er widerwillig nach.

In Wahrheit jedoch hatte er seinen Entschluss schon gefasst. Obwohl er für Westix und dessen verflixte Familie nichts als Verachtung übrighatte, war Lady Eleanor der Schlüssel dazu, seinen größten Fehler wiedergutzumachen.

Nichts konnte Eleanor einen schönen Tag im Hyde Park so gründlich verderben wie eine unangenehme Unterhaltung. Und es gab ja wohl keine unangenehmere Unterhaltung als das stete Nörgeln der eigenen Mutter.

Das Gesicht der Countess wurde von einem ausgesprochen großen weißen Hut verborgen. Eleanor brauchte das Gesicht ihrer Mutter allerdings auch nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie enttäuscht war. Der scharfe Ton ihrer Stimme machte es nur allzu deutlich.

„Wirst du heute Abend noch einmal hingehen?“

Eleanor hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, um diese Frage nicht schon wieder hören zu müssen. Sie warf einen schnellen Blick zurück auf Amelia, ihre Zofe, die über das Arrangement Bescheid wusste. Immerhin war sie es gewesen, die Eleanor vor zwei Tagen mit ihrer Verkleidung geholfen hatte.

„Diese eine Lektion hat mir genügt, versichere ich dir.“

Eleanor hielt sich auf der linken Seite des Gehwegs auf, damit ihre Mutter im Schatten gehen konnte. Diese Spaziergänge bewirkten zwar wahre Wunder für die Verdauung ihrer Mutter, aber die Sonne, selbst so spät am Nachmittag, verursachte ihr rasende Kopfschmerzen.

Die Countess gab ein Brummen von sich. Dann legte sie den Kopf so zur Seite, dass sie ihre Tochter unter der breiten Krempe ihres Huts hervor prüfend mustern konnte. „Erklär mir noch einmal, warum es so schrecklich war.“

Eleanor wartete, bis eine Dame in einem buttergelben Kleid sie überholt hatte, bevor sie antwortete. „Es war … unbequem und … so merkwürdig. Sie wollte, dass ich mehrere Male so tat, als würde ich einem Mann vorgestellt, der mit ihr zusammen war.“

Ihre Mutter zeigte kein Mitgefühl oder auch nur Entsetzen über die Anwesenheit eines fremden Mannes. Eleanor unterdrückte einen Seufzer. Anscheinend konnte sie von ihrer Mutter keine Unterstützung erwarten.

„Also bist du damit zufrieden, eine alte Jungfer zu werden, ja?“ Das Gesicht ihrer Mutter war – so viel Eleanor davon sehen konnte – hochrot angelaufen. Die Countess ließ ihren Fächer aufschnappen und wedelte sich Luft zu, um die innere Hitze abzukühlen, unter der sie in letzter Zeit litt. „Und du hast nichts dagegen, die Position einer armen Verwandten einzunehmen, sobald Cousin Leopold erst einmal bekommen hat, was von unserem Vermögen noch übrig ist?“

Eleanor hatte die Kunst der kühlen Gleichgültigkeit bereits so lange eingeübt, dass sie sich keine Mühe geben musste, sie wirklich zu empfinden. Nur als Leopolds Name fiel, musste sie sich besonders stark konzentrieren, um sich ihre Missbilligung nicht anmerken zu lassen.

„Und was ist mit Liebe?“, fragte ihre Mutter.

„Liebe“, wiederholte Eleanor ausdruckslos. Sie hatte keine Meinung zu einem Gefühl, an dessen Existenz sie sowieso nie wirklich geglaubt hatte. „Du sagst doch immer, Liebe sei etwas für Dummköpfe und Poeten.“

Ihre Mutter hörte auf, sich Luft zuzufächeln. „Du solltest alles vergessen, was ich dir jemals beigebracht habe. Es wird dir nichts als Kummer einbringen.“ Ihr Blick fiel auf den Weg hinter Eleanor. „Oh, da wir gerade von Kummer reden …“

Eleanor drehte sich um und bemerkte ein Paar, das auf sie zukam. Die beiden gingen Arm in Arm, tief in ein Gespräch vertieft. Das wellige braune Haar und die kühne Nase des Gentleman würde Eleanor überall wiedererkennen. Es waren Hugh und seine blonde, hinreißend schöne Verlobte Lady Alice.

Eleanors Herz klopfte ihr bis zum Hals. Wenn die Liebe wirklich nur etwas für Dummköpfe und Poeten war, dann waren Hugh und Lady Alice gewiss die größten Dummköpfe von allen. Und wenn Eleanor einen schmerzhaften Stich der Eifersucht spürte, was sagte das dann über sie aus?

Die Sonne befand sich hinter dem glücklichen Paar und verlieh ihren Köpfen eine Art goldenen Heiligenschein. Als wäre es nicht schon schlimm genug, sie in so inniger Vertrautheit zu sehen.

Sie kamen näher und Eleanors Herz klopfte weiter heftig. Sie betete innerlich, dass die beiden einfach weitergehen würden, ohne sie und ihre Mutter zu bemerken. Der heutige Tag war schwierig genug, ohne dass sie noch eine weitere Demütigung über sich ergehen lassen musste.

Das Paar verlangsamte die Schritte, als es die beiden Damen erreichte.

Bitte, geht weiter.

Aber leider taten sie das nicht. Nein, sie blieben stehen, und Lady Alice schenkte Eleanor und ihrer Mutter ihr gewohnt offenes, freundliches Lächeln. Insgeheim hoffte Eleanor, dass Lady Alices Ton höhnisch sein würde, ihr Mund verächtlich verzogen oder das Gespräch unangenehm, damit sie einen Grund gehabt hätte, sie nicht zu mögen.

„Oh, Mylady, Lady Eleanor. Es ist so nett, Sie zu treffen“, rief Lady Alice mit aufrichtiger Freude. „Lady Eleanor, Ihr Hut steht Ihnen wunderbar. Ist heute nicht ein wundervoller Tag?“

Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war so liebenswert, dass er an einen Engel erinnerte. Eleanor seufzte innerlich. Natürlich hatte sie nicht das Glück, etwas an Lady Alice kritisieren zu können, die heute genauso war wie immer: liebenswert, freundlich und einfach vollkommen.

Und sie hatte recht, es war wirklich ein herrlicher Tag. Obwohl ihr gerade vor Augen geführt wurde, wie ihre eigene Zukunft an Hughs Seite hätte aussehen können, konnte Eleanor nicht leugnen, wie schön es heute war.

„Ja, wirklich“, gab sie zu.

„Guten Tag, Lord Ledsey.“ Der Ton der Countess of Westix war fast schon eisig.

Sieh ihn nicht an.

Falls er ihrer Mutter antwortete, so hörte Eleanor ihn jedenfalls nicht. Sie schaute absichtlich in Richtung des Sees, wohin auch Lady Alice wehmütig ihren Blick richtete. Das Wasser, in dem sich der wolkenlose Himmel spiegelte, glitzerte im Sonnenschein. Eine leichte Brise kam von dort herauf und kühlte Eleanors heiße Wangen ein wenig ab.

Sie wäre bereit, eine Ewigkeit dorthin zu gucken. Alles, um Hugh nicht ansehen zu müssen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, ihre verräterischen Augen widersetzten sich ihrem Befehl. Ihr Blick glitt zu dem Mann hinüber, von dem sie geglaubt hatte, ihn eines Tages zu heiraten. Von dort, wo ihr Herz noch immer zutiefst verletzt war und litt, ging ein seltsamer Schmerz aus, der ihren gesamten Körper ergriff. Eleanor brachte nur ein kleines Lächeln zustande, das sich so spröde anfühlte, als würde es zerbrechen, wenn sie es zu sehr belastete.

Ihre Mutter war so stolz auf sie gewesen, als Hugh ihr seine Zuneigung geschenkt hatte und der Druck des ton ihr endlich von den Schultern genommen worden war. Lady Eleanor mit dem grellroten Haar hatte endlich einen Mann gefunden, der bereit war, sie zu ehelichen.

Nur, dass er doch nicht bereit gewesen war. Und seine neu entdeckte Zuneigung zu Lady Alice hatte Eleanor tief gedemütigt.

Eigentlich hätte sie mit einem solchen Stimmungswandel rechnen müssen, da seine Aufmerksamkeit für sie ebenso völlig unerwartet begonnen hatte. Aber zu der Zeit war sie einfach zu dankbar gewesen, um weiter darüber nachzudenken.

Jetzt war sie allerdings nicht mehr dankbar.

Hugh schaute Eleanor nur sehr flüchtig an – als wäre sie seine Aufmerksamkeit nicht wert. Und weil er eine Frau wie Lady Alice am Arm hatte, war sie es wohl auch nicht. In Augenblicken wie diesem war Eleanor froh, dass ihr Vater immer von ihr verlangt hatte, sich ihre Gefühle niemals anmerken zu lassen. Denn in Augenblicken wie diesem musste man stark erscheinen. Sie trug ihre Gleichgültigkeit wie einen Schutzschild, mit dem sie ihre Wunden vor neugierigen Blicken verbarg.

Hugh hob plötzlich die Hand und winkte einem Herrn zu, der wenige Meter von ihnen entfernt entlangschlenderte. „Ah, da ist er ja.“

Lady Alice klatschte aufgeregt in die Hände. „Oh, wundervoll. Er hat es doch noch geschafft.“

Der Herr blieb zwischen Eleanor und Lady Alice stehen. Er war groß genug, um die Sonne abzuschirmen, sodass sie Eleanor nicht mehr in die Augen schien, aber nicht so groß, dass sie zu weit nach oben blicken musste. Winzige Fältchen bildeten sich in den Winkeln seiner grünen Augen, als er freundlich lächelte.

Hugh klopfte ihm auf die Schulter. „Dieser Bursche ist vor einigen Jahren mit mir zur Schule gegangen. Darf ich den Marquess of Bastionbury vorstellen?“

Eleanor horchte bei diesem Namen unwillkürlich auf. Der Lady Observer hatte den Marquess zur begehrtesten Partie auf dem Heiratsmarkt erkoren, und bisher hatte Eleanor nicht die Gelegenheit gehabt, ihm vorgestellt zu werden.

Die Damen stimmten selbstverständlich zu. „Aber natürlich“, sagte die Countess.

Hugh wies zuerst auf Eleanors Mutter. „Mein Lieber, darf ich dir die Countess of Westix vorstellen?“

Die Countess neigte hoheitsvoll den Kopf.

Hughs Blick begegnete Eleanors und ihr Herz schlug schneller. „Und die Tochter der Countess, Lady Eleanor Murray.“

Lotties Stimme hallte in Eleanors Gedanken wider und erinnerte sie daran, den Gentleman anzusehen. Also nickte Eleanor und tat genau das, doch das Lächeln auf ihren Lippen bebte.

Der Marquess neigte den Kopf, dann wurde er abgelenkt. Von Lady Alice.

Hugh drückte Lady Alices Arm mit einer fast schon peinlichen Zurschaustellung seiner Zuneigung. „Und das hier ist Lady Alice Honeycutt, meine Verlobte.“

Lady Alice nickte und ließ ihren Blick auf dem Gesicht des Marquess verweilen, so wie ein Schmetterling über einer Blüte verweilen mochte. Hübsche Röte überzog ihre Wangen. „Es ist so schön, Sie kennenzulernen, Mylord. Ich habe viel über Sie gehört.“

Ihr Lächeln war niedlich und ihre Augen strahlten regelrecht vor ehrlicher Freude. Als sie dem Marquess die Hand hinhielt, ergriff er sie sofort und küsste zart ihre behandschuhten Finger.

Ganz offensichtlich war der Marquess entzückt von Lady Alices Aufmerksamkeit. Selbst Eleanors sonst so ernste Mutter lächelte ein wenig. Lady Alice war so warmherzig und liebenswert, behielt aber dabei ihre guten Manieren – ein tadelloses Gleichgewicht zwischen guter Erziehung und Freundlichkeit.

Und eine strenge Mahnung an Eleanor, dass sie sich bisher ganz falsch verhalten hatte.

Tatsächlich fand sie Lady Alices Benehmen fast schon unziemlich. Ihr Vater wäre entsetzt gewesen und hätte sich zweifellos zu energischen Reaktionen hinreißen lassen. Aber ihr Vater war nicht hier. Er war tot und hatte sie mittellos zurückgelassen. Evander war verschollen, und irgendwie musste sie in kürzester Zeit die Wand aus Eis, die sie um sich errichtet hatte, zum Schmelzen bringen.

Lottie hatte in ihrem Unterricht von einer offenen Warmherzigkeit, wie Alice sie an den Tag legte, gesprochen – einer Art von Flirt, die von der Gesellschaft akzeptiert wurde. War das die Art von Frau, die die Männer sich wünschten?

Eleanor wusste bereits die Antwort auf diese Frage. Sie lag in dem perlenden Lachen, das Lady Alice nicht unterdrückte, in dem zurückhaltenden, dennoch vielsagenden Blick, den sie ihren Gesprächspartnern schenkte. Und tatsächlich strömten die Gentlemen bei jeder Gesellschaft an ihre Seite, begierig, auch nur ein winziges Stückchen ihrer Aufmerksamkeit zu gewinnen.

Eleanor bereute jetzt, dass sie nicht noch ein paarmal mit Lord Charles geübt hatte. Sie hätte wirklich mehr Geduld haben sollen.

„Wenn Sie uns entschuldigen wollen“, warf die Countess ein. „Wir müssen uns auf den Weg machen.“

Eleanor ließ sich von ihrer Mutter zu einem Baum in der Nähe des Sees führen, unter dem sich einige ihrer Freunde versammelt hatten und miteinander plauderten. Die Gespräche der anderen umschwirrten Eleanor wie lästige Fliegen. Sie war nicht in der Lage, sich auf irgendeins davon zu konzentrieren.

„Wäre es dir recht, wenn ich mit Amelia ein wenig weitergehe?“

Ihre Mutter nickte. „Gesell dich zu uns, sobald du dich wieder gefasst hast.“ Eleanor verabschiedete sich kurz und kehrte mit Amelia auf den Weg zurück, den sie gekommen waren. Es war eine Wohltat für Eleanors schmerzenden Kopf, sich von ihrer Mutter keine Fragen mehr anhören zu müssen und nur dem Rascheln der Blätter und dem Zwitschern der Vögel zu lauschen.

„Verzeihen Sie“, sagte Amelia auf ihre sanfte, mütterliche Art. „Aber da ist ein Gentleman, der Sie beobachtet.“

Eleanor folgte Amelias Blick zu einem hochgewachsenen dunkelhaarigen Herrn, der sie tatsächlich beobachtete. Seine Augen strahlten ebenso blau wie der Himmel über ihnen.

Er lächelte ihr einladend zu und zu seiner sonnengebräunten Haut sahen seine Zähne unfassbar weiß aus. Eleanor erkannte, dass sie ihm nicht ausweichen konnte, so sehr sie es auch wünschte.

Sie würde mit Lord Charles sprechen müssen.

4. KAPITEL

Charles hatte damit gerechnet, Lady Eleanor zu begegnen. Das war der einzige Grund, weswegen er einen Spaziergang durch den Hyde Park unternommen hatte.

Sie war wirklich ein reizender Anblick in ihrem weißen Kleid mit der blassgrünen Schleife unter der Brust und dem dazu passenden grünen Band ihres Huts. Schon im Lampenschein hatte sie hübsch ausgesehen, aber im Sonnenlicht war sie sogar noch schöner.

Ihre Miene hingegen erinnerte eher an die eines Verurteilten, der zum Galgen geschickt wird. Nach der kurzen Unterhaltung zu schließen, die Charles gerade zufällig mitgehört hatte, schien heute kein besonders guter Tag für Lady Eleanor Murray zu sein.

Es wäre vielleicht freundlicher von ihm gewesen, sie einfach weitergehen und ihre Wunden lecken zu lassen. Wäre er ein einfühlsamer Mensch, hätte er das vielleicht auch getan, doch leider war er nicht so sensibel. Und sie hatte die Tagebücher, die er brauchte.

Kurz entschlossen stellte er sich ihr in den Weg und verbeugte sich. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich zu Ihnen geselle?“

Lady Eleanor zögerte lange genug, um ihm zu verstehen zu geben, dass es ihr sehr wohl etwas ausmachte. Ihre Zofe flüsterte ihr etwas ins Ohr und Eleanor schüttelte den Kopf. Gleich darauf trat die Zofe ein paar Schritte zurück, damit er neben ihrer Herrin gehen konnte.

„Das wäre nett, Lord Charles.“

Ihre Stimme klang allerdings nicht besonders begeistert. Lady Eleanor blieb sich offensichtlich treu.

Charles wusste, dass er sie eigentlich korrigieren sollte. Er war nicht lediglich Lord Charles, sondern der neue Duke of Somersville. Und wenn sie ihn nicht so verärgert ansehen würde, hätte er es wohl auch getan. Später. Vielleicht …

Er straffte die Schultern und hielt ihr den Arm hin, wie es sich gehörte. Und sie hakte sich bei ihm ein und legte eine schmale Hand auf den Aufschlag seines Gehrocks. Derselbe zarte Jasminduft wie gestern wehte ihm entgegen, doch heute, im hellen Tageslicht und in einem Kleid mit zarten Farben, schien ihr süßes, dezentes Parfum besser zu ihr zu passen.

Lady Eleanor seufzte leise. „Ich nehme an, Sie sind hier, um mich dazu zu überreden, wieder zu Lottie zurückzukehren.“

„Ich dachte, ich könnte es wenigstens versuchen.“

Drei Baldachine waren als Schutz vor der Sonnenhitze wie ein Dach über den Gehweg gespannt. Darunter war die Luft kühl und frisch. Charles atmete tief ein und lauschte zufrieden dem Knirschen des Kieses unter ihren Schuhen. Lady Eleanors Zofe blieb ein Stück hinter ihnen, um der Schicklichkeit Genüge zu tun.

„Und glauben Sie, dass Sie Erfolg haben werden?“, erkundigte sich Lady Eleanor.

So viel zu seiner Hoffnung, sie könnte es ihm leichtmachen. Er blickte über die Schulter zu der Stelle, wo der Earl of Ledsey und Lady Alice sich noch immer mit dem Marquess unterhielten.

„Hätte ich die Angewohnheit, Wetten einzugehen, würde ich es tun.“

Eleanor zuckte leicht zusammen. „Sie haben uns gesehen?“

„Gehört“, sagte er. „Aber wirklich unabsichtlich.“

„Was für ein Zufall“, meinte sie trocken.

Charles machte sich nicht die Mühe, sich zu entschuldigen.

„Darf ich offen zu Ihnen sein?“, fragte Lady Eleanor plötzlich. „Oder Sie vielmehr bitten, offen zu mir zu sein?“

Er neigte den Kopf. „Ich würde sagen, unsere Vorgeschichte verlangt sogar, dass wir offen zueinander sind.“

Sie schaute sich um. Es war niemand mehr in der Nähe, sie waren allein. Wenigstens für einige Augenblicke. Und so allein, wie jemand sein konnte, der von einer Anstandsdame nicht aus den Augen gelassen wurde.

Eleanor blieb stehen und sah ihn mit ihren katzenartigen grünen Augen an. Perfekt frisierte rote Locken umrahmten ihre porzellanzarte Stirn. Tatsächlich war alles an ihr so vollkommen aufeinander abgestimmt, dass es ihn drängte, diese Perfektion irgendwie zu zerstören.

„Was an mir ist so unattraktiv?“

Sie sprach geradeheraus, fast lässig, als wollte sie nur wissen, was es zum Abendessen geben würde.

Mit einer solchen Frage hatte er nicht gerechnet und musste feststellen, dass ihm die Worte fehlten. Immerhin war sie Westix’ Tochter. Allein das sprach ja schon für eine Unmenge übler Eigenschaften.

„Ich möchte es wirklich wissen, damit ich versuchen kann, mich zu bessern“, fuhr sie fort. „Ich stamme aus guter Familie und meine Manieren sind makellos. Ich bewege mich in den besten Kreisen. Natürlich weiß ich, dass ich nicht so schön bin wie Lady Alice und dass mein Haar … fürchterlich ist. Aber was gibt es sonst noch an mir, das so abstoßend ist?“

Sie wandte den Kopf zur Seite, bevor er ihren Gesichtsausdruck erkennen konnte, und ging so rasch weiter, als würde sie ihre Worte bereits bereuen. Es waren die Worte einer gekränkten Frau gewesen, aber ihre Stimme hatte unbeteiligt geklungen.

Vielleicht war doch mehr an der Tochter seines Feindes, als Charles bisher vermutet hatte. Er beeilte sich, wieder an ihre Seite zu treten. Als sie erneut ihre Hand auf seinen Arm legte, bemerkte er, wie sie trotz ihrer entschlossenen Schritte und der kühlen Stimme zitterte.

„Sie wollen Offenheit?“, fragte er.

„Ja.“

Charles zögerte. Seine Antwort war wichtig, denn sie würde entscheiden, ob Lady Eleanor zu Lottie zurückkehren würde. Dabei könnte sich vielleicht eine Art Freundschaft zwischen ihnen entwickeln, die es ihm ermöglichte, an jene verflixten Tagebücher heranzukommen.

„Darf ich damit beginnen, dass Lady Alice in der Tat sehr schön ist, aber Sie ebenfalls.“

Lady Eleanor sah ihn überrascht an, die Augen weit aufgerissen und die Lippen leicht geöffnet. Nachdem sie sich so lange hinter einer ausdruckslosen Maske versteckt hatte, war die Erschütterung in ihrem Gesicht eine große Überraschung.

„Und ich finde Ihr Haar alles andere als ‚fürchterlich‘ , wie Sie sagten.“

Vielmehr war es von einer lebhaften, sehr schönen Farbe. Seine leichte Abneigung dagegen lag lediglich daran, dass sie Charles an einen Mann erinnerte, den er von Herzen verabscheute.

Lady Eleanor wandte wieder den Kopf ab. Inzwischen waren weitere Paare auf dem Gehweg unterwegs, und so senkte Charles die Stimme, damit nur Eleanor ihn hören konnte.

„Es ist Ihr Auftreten, das unangenehm auffällt.“

Lady Eleanor reagierte nicht.

„Sind Sie sicher, dass ich fortfahren soll?“, fragte er.

Sie stieß abrupt den Atem aus und nickte. „Ja. Ich glaube, ich muss mir anhören, was Sie zu sagen haben.“

Und sie hatte natürlich recht, denn es war zu ihrem eigenen Besten. Gleichzeitig würde er damit ihr einen Anreiz geben, den Unterricht bei Lottie wiederaufzunehmen.

Also fuhr er fort: „Sie sind kalt. Höflich? Gewiss. Aber in Ihnen steckt keine joie de vivre. Wenn Sie sprechen, dann ohne jedes Gefühl. Ihnen fehlt … Leidenschaft.“

„Leidenschaft ist vulgär.“

„Leidenschaft ist wichtig“, widersprach er. „Nur sie gibt unserer Welt Farbe, bringt Veränderung und Aufregung. Eine Dame wie Sie, ohne jede Leidenschaft, ist wie ein Gemälde ohne Tiefe. Ihr Leben wird zu einer endlosen Routine werden, nur die Kleider werden sich ändern. Die Abendgesellschaften und Soireen, zu denen Sie gehen, werden am Ende alle zu einem trüben Einerlei verschmelzen. Jeder Gesellschaft, jedem Menschen werden Sie mit gelangweilter Gleichgültigkeit begegnen, beinah schon mit Verachtung, als könnte niemals etwas gut genug sein, um Sie zufriedenzustellen. Und eines Tages, wenn der Tod an Ihre Tür klopft, werden Sie auf Ihr Leben zurückblicken und erkennen, dass Sie keinen einzigen Tag davon wirklich gelebt haben.“

Erst am Ende der bitteren, aber reinen Wahrheit wurde Charles bewusst, wie scharf die Klinge seiner Worte gewesen sein musste.

Lady Eleanor war stehen geblieben. Das Blätterdach über ihnen war weniger dicht, sodass einige Sonnenstrahlen bis zu ihnen durchdrangen. Eleanor nahm die Hand von seinem Arm, stellte sich ihm gegenüber und hob ihm langsam das Gesicht entgegen. Ihre Augen schimmerten im Licht. Sie glühten wie Edelsteine von den Tränen, die sie mit aller Kraft zurückhielt.

Charles fühlte sich, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen.

Er war zu weit gegangen.

Er öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, doch Lady Eleanor kam ihm zuvor.

„Meine Mutter und ihre Freundinnen warten auf mich.“

Sie nickte in Richtung des Seeufers, wo einige Damen zu ihnen herübersahen – und sofort die Köpfe abwandten, als sie bemerkten, dass man sie beim heimlichen Beobachten ertappt hatte.

Lady Eleanor räusperte sich. „Ich danke Ihnen für Ihre Ehrlichkeit. Guten Tag, Lord Charles.“

Sie senkte den Kopf, sodass die Krempe ihres Hutes ihr Gesicht verbarg, und ging schnellen Schrittes weiter. Ihre Haltung war steif, der Rücken kerzengerade und die Schultern gestrafft. Die Zofe lief ihr hastig hinterher.

Charles schaute ihr nach und kam sich wie der elendigste Schurke vor. Er hatte gedacht, seine Rede würde ihm einen Sieg einbringen. Stattdessen wurde ihm sein Triumph von etwas verdorben, das er wirklich nicht erwartet hatte – er hatte Gewissensbisse.

Später am selben Abend saß Charles inmitten der bedeutendsten Anschaffungen seines Vaters. Falls er es nicht für möglich gehalten hatte, sich noch schlechter zu fühlen als nach seinen unverblümten Worten an Lady Eleanor, so hatte er unterschätzt, was die Rückkehr nach Somersville House für ihn bedeuten würde. Ganz besonders, nachdem er die gesammelten Schätze seines Vaters begutachtet hatte.

Da war ein Sarkophag mit einer noch intakten Mumie, die in einem versiegelten Grab im Tal der Könige entdeckt worden war. Der Tote musste ein hoher Würdenträger gewesen sein, denn er war auf dem Sarg mit dem gestreiften Königskopftuch dargestellt. Dessen kräftiges Blau hob sich so deutlich von den goldenen Streifen ab, als wäre der Sarkophag erst vor Wochen angefertigt worden und nicht vor Jahrtausenden. Diese Entdeckung hatte Charles’ Vater vor vielen Jahren eine private Audienz beim englischen König eingebracht. Und da war noch ein goldener Skarabäus, der mit kostbaren Juwelen verziert war und von dem der ton drei Monate lang geschwärmt hatte.

Charles nahm ein uraltes Buch auf. Die Blätter innerhalb des Ledereinbands waren verschieden groß und spröde vom Alter. Sie knisterten, wenn man sie berührte. Trotzdem waren die Schrift und die Zeichnungen darin noch immer deutlich zu erkennen. Die Entdeckung dieses Buches hatte die Gelehrten damals regelrecht in Ekstase versetzt.

Jeder Gegenstand, den sein Vater in der Fremde gefunden und nach London gebracht hatte, war mit Beifall und Begeisterung aufgenommen worden. Charles war sein ganzes Leben lang Zeuge davon gewesen – zunächst als Junge, der neugierig durch das Geländer der Treppe gespäht hatte, später von der obersten Stufe aus, wo seine Gouvernante ihm widerwillig erlaubt hatte zu sitzen, und schließlich an der Seite seines Vaters, als dessen geliebter Sohn. Jedenfalls bis der Duke unter den ersten Symptomen seiner Gicht zu leiden begann und sich für zu alt erklärte, um noch auf Reisen zu gehen.

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