Historical Saison Band 96

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MIT DEM SCHNEE KOMMT DAS GLÜCK von LAURA MARTIN

Eine Künstlerin – das möchte Miss Henrietta Harvey sein und keine perfekte Dame, wie es von ihr erwartet wird. Als ihre Mutter droht, all ihre Werke zu zerstören, flieht Henrietta auf ein Landgut eines Freundes. Doch dort ist sie nicht allein, sondern trifft auf Thomas, den unnahbaren Earl of Hauxton, mit dem sie zu allem Überfluss auch noch eingeschneit wird …

HEIRATE NIE EINEN EARL ZUM SCHERZ! von ANNIE BURROWS

Nur zu gern würde Eleanor Mitcham ihren Beruf an den Nagel hängen. Als Gesellschafterin einer äußerst kapriziösen Lady hat man es nämlich nicht leicht. Deshalb heiratet sie kurz entschlossen Peter, den Earl of Lavenham, ohne zu ahnen, dass er weder für die Ehe noch die Liebe viel übrighat. Aus Kummer bleibt Eleanor nichts anderes als die Flucht!


  • Erscheinungstag 31.01.2023
  • Bandnummer 96
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517935
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Laura Martin, Annie Burrows

HISTORICAL SAISON BAND 96

1. KAPITEL

Noch zehn Minuten“, brummte Thomas mit zusammengebissenen Zähnen und richtete sich noch einmal im Sattel auf. Es war bitterkalt, der Boden dick mit Schnee bedeckt. Aus den tiefhängenden Wolken begannen erneut dicke, weiche Flocken zu fallen. Selbst in der Dunkelheit erkannte er, dass das Wetter immer schlechter wurde. Der Himmel hing bleiern über ihm, der Wind war eisig und unbarmherzig.

Trotz seines dicken Mantels verspannten sich seine Rückenmuskeln erneut und seine Schultern sackten nach vorn. Welche Erleichterung, gleich Hailsham Hall zu erreichen! Die nassen Kleider abstreifen und mich vor einem lodernden Feuer aufwärmen! Er bezweifelte, dass seine Gastgeber seinetwegen aufgeblieben waren. Der Schnee hatte viele Reisepläne zunichte gemacht und sie würden ihm seine Verspätung sicher verzeihen. Er freute sich darauf, ein paar Tage mit ihnen zu verbringen, obwohl er im Moment nichts dagegen hätte, ohne Umwege zu Bett zu gehen. Das Wetter machte das Reiten anstrengend, und er war erschöpft.

Umsichtig und mit fester Hand lenkte er sein Pferd die verschneite, gewundene Auffahrt hinauf. Ihm bot sich ein wunderschöner Anblick: Die Bäume rechts und links des Weges waren in Raureif gehüllt. Der Park dahinter schien sich ins Unendliche zu erstrecken, da eine jungfräulich weiße Decke Mauern und Hecken verhüllte.

Wie bei allen großen Landsitzen schien auch diese Auffahrt nicht enden zu wollen. Nach einer weiteren halben Meile stieg Thomas schließlich vor dem Haus ab, das völlig dunkel vor ihm lag. Nicht eine einzige Kerze leuchtete hinter den Fenstern. Rasch eilte er die Eingangstreppe hinauf und betätigte den Klopfer am Portal, wobei er angestrengt auf eine Bewegung oder ein Geräusch von drinnen lauschte.

Zu seiner Überraschung öffnete sich die Tür beinahe sofort und der alte Butler, der schon ewig im Dienst seines Freundes Heydon stand, empfing ihn. Perkins musste gut siebzig Jahre zählen, was ihn jedoch keineswegs zu beeinträchtigen schien.

„Guten Abend, Mylord“, sagte er mit einer angemessenen kleinen Verbeugung und spähte dabei ins Dunkel hinaus. „Kamen Sie bei diesem Wetter zu Pferde?“

„Ja.“

„Und Ihr Wagen? Ihr Gepäck?“

„Ich denke, es wird morgen früh eintreffen.“ Er war zeitgleich mit seiner Kutsche aufgebrochen, doch auf den vereisten Straßen war er mit dem Pferd schneller vorangekommen als das schwerfällige Gefährt, das seinen Kammerdiener und sein Gepäck beförderte. Der Kutscher war ein vernünftiger Mann und hatte bestimmt irgendwo unterwegs Halt gemacht, um auf besseres Wetter zu warten.

„Sehr wohl, Mylord.“ Zügig half der Butler Thomas aus dem durchweichten Mantel und nahm ihm die Handschuhe ab. „Die Forest-Suite steht für Sie bereit. Leider wurden Lord und Lady Heydon und ihr kleiner Sohn durch den Schnee in Hampshire aufgehalten. Sie schickten jedoch eine Nachricht, dass wir Sie erwarten sollen, und bitten, ihnen ihre Abwesenheit nachzusehen.“

„Ich hörte, in Hampshire und weiter im Westen habe es noch viel heftiger geschneit.“

„So ist es, Mylord. Ich werde Sie gleich hinauf zu Ihren Räumen bringen. Wenn Sie mich nur einen Moment entschuldigen wollen, damit ich jemanden schicken kann, der Ihr Pferd versorgt.“

„Selbstverständlich.“

Kurz darauf kehrte der Butler zurück, doch die Wärme des Hauses war noch nicht in Thomas’ Glieder eingedrungen. Er hoffte, in seiner Suite würde ein kräftiges Feuer auf ihn warten.

„Wünschen Sie, dass Ihnen heißes Wasser gebracht wird? Oder vielleicht frische Kleidung?“, fragte Perkins, als er schon die Treppe in den ersten Stock hinaufging.

„Danke, nein, es muss nicht der ganze Haushalt geweckt werden“, erwiderte Thomas. Das Haus war ganz still. Wahrscheinlich hatte die Dienerschaft das unerwartete Ausbleiben ihrer Herrschaft genutzt, um früher Feierabend zu machen. Ein heißes Bad wäre göttlich, aber dafür wollte er nun, schon nach elf Uhr, nicht irgendein armes Hausmädchen aufscheuchen. Mit dem Baden konnte er bis zum Morgen warten.

Während der letzten zwei Jahr war Thomas mehrfach auf Hailsham Hall zu Besuch gewesen. Zwar kannte er Heydon schon viel länger, doch hatte der Duke den Landsitz erst vor drei Jahren, nach seiner Heirat mit Caroline, zu seinem Hauptwohnsitz gemacht. Es war ein prächtiges Anwesen, wenn auch nicht das größte in Heydons Besitz. Trotz seines Ausmaßes hatte es eine anheimelnde, gemütliche Atmosphäre. Es war nicht zugig, sondern solide gebaut und lag in einem der schönsten Landstriche Kents, dabei war es nur zwanzig Meilen von der Mitte Londons entfernt.

Perkins öffnete die Tür zur Forest-Suite und ließ Thomas eintreten. „Wünschen Sie, dass ich Ihnen beim Auskleiden behilflich bin, Sir?“

„Danke, nicht nötig.“

„Sehr wohl. Wenn Sie mir nur gestatten wollen, rasch das Feuer zu entzünden, dann wird es hier im Handumdrehen warm sein.“ Damit kniete er – ungeachtet seiner Jahre erstaunlich flink – vor dem Kamin nieder und fachte geschickt die Flammen an, bis sie hoch aufloderten.

Thomas dankte ihm, und der Butler entfernte sich mit einer kurzen Verneigung.

Das Bett mit seinen üppigen Kissen und Decken war verlockend und weich. Schnell entledigte Thomas sich seiner nassen Kleidung und verteilte sie über diverse Stuhllehnen. Wenn er morgen früh aufwachte, würde alles längst verschwunden sein und ersetzt durch frische, von Heydon entliehene Garderobe. Der Haushalt hier funktionierte hervorragend; als Gast war man sicher, aufs Beste betreut zu werden.

Da er bis auf die Haut nass war, entkleidete er sich vollkommen und verharrte eine Minute vor dem Feuer, um sich aufzuwärmen. Normalerweise würde er nicht bei brennendem Kamin schlafen, aber heute wollte er eine Ausnahme machen. Sorgsam schob er die Holzscheite ein wenig auseinander und stocherte zwischen ihnen, bis die Flammen zusammensanken und nur die rote Glut noch Wärme abgab. Dann schlüpfte er unter die Decken und ließ sich tief in die Matratze sinken. Himmlisch!

Henrietta zog die Zügel an und brachte ihr Pferd zum Stehen. Sie glitt aus dem Sattel und runzelte dabei unwillig die Stirn. Weiterzureiten war gefährlich, da der Schnee den Fahrweg verdeckte. Meribel war schon zweimal ausgeglitten und beinahe gestürzt, ein drittes Mal mochte es nicht so glimpflich abgehen.

„Wir sind fast da“, sagte sie beruhigend, während sie ihre Stute am Zügel die Auffahrt hinaufführte.

Aufs Neue stiegen Henrietta die Tränen in die Augen, die sie entschlossen fortblinzelte. Sie war schon immer vorschnell gewesen, handelte oft, ohne vorher gründlich nachzudenken, doch das hier war möglicherweise das Dümmste, das sie je getan hatte. Schon als sie London verließ, fiel Schnee. Zwischendurch hatte es zwar etwas nachgelassen, doch nun schneite es seit zwei Stunden heftig.

„Ich hätte nicht zu Hause bleiben können“, murmelte sie vor sich hin. Und es stimmte – nicht einmal, wenn draußen ein Schneesturm getobt hätte, hätte sie bleiben können, nicht nachdem …

Kalt liefen die Tränen über ihre Wangen. Sie wischte sie mit den Fingern, die in dicken Handschuhen steckten, fort und schluckte schwer. Ich darf einfach nicht mehr an den Streit mit Mama denken und auch nicht an den schrecklichen Moment, als sie das Gemälde zerstörte! Fast das ganze letzte Jahr hatte Henrietta daran gearbeitet. Die vielen Stunden Arbeit, all die Seelenpein, die in dieses Bild geflossen waren, hatte ihre Mutter in Sekunden vernichtet. Nein, sie konnte nicht länger dortbleiben. Der Zorn auf ihre Mutter verzehrte sie, und sie konnte sich nicht vorstellen, sie jemals wieder sehen zu wollen.

Sie hob den Blick. Erleichterung überkam sie, denn ein paar hundert Schritte vor ihr tauchte der dunkle Umriss von Hailsham Hall auf. Als sie nur mit den Kleidern am Leib und ein paar Münzen in ihrem Retikül von daheim geflohen war, hatte sie sich zum Glück nicht fragen müssen, wohin sie gehen sollte. Ihre Cousine Caroline würde sie willkommen heißen, ihr Unterschlupf bieten und sie einfach trauern lassen – trauern über den Verlust ihres Bildes, das während der letzten Monate ihr Leben gewesen war, und darüber, dass das Verhältnis zu ihrer Mutter nun ebenfalls zerstört war. Hailsham Hall würde ihr Asyl, ihre Zuflucht sein.

Vor ihrer Flucht hatte sie eine eilige Nachricht an ihre Mutter gekritzelt. Selbst in ihrem Kummer war sie nicht so grausam, einfach sang- und klanglos zu verschwinden. Außerdem glaubte sie nicht, dass ihre Mutter sie so weit von London entfernt aufsuchen würde.

„Warte hier, Meribel“, flüsterte sie dem Pferd besänftigend zu, dann stieg sie die Stufen der Eingangstreppe hinauf. Das Haus lag schweigend da, auch ringsum war alles still, da der Schnee das Huschen und Rascheln der Wildtiere erstickte. Vorsichtig klopfte Henrietta und lauschte auf Schritte im Innern.

Nichts. Nicht der geringste Ton war zu hören. Sie wollte nicht den ganzen Haushalt wecken, klopfte aber ein wenig lauter. Hoffentlich hörte sie jemand, sonst würde sie im Stall übernachten müssen.

Immer noch nichts. Sie wusste von ihren früheren Besuchen, dass einer der Hausburschen nicht bei den anderen Dienstboten in den Mansarden schlief, sondern eine Kammer unten im Souterrain hatte, damit man ihn wecken konnte, falls Besucher spät in der Nacht oder sehr früh am Morgen eintrafen. Doch das Haus war groß, und sie wurde nicht erwartet, daher zweifelte sie, ob sie ihn überhaupt wachbekommen würde.

Ein letztes Mal wollte sie es versuchen. Sie hämmerte mit der Faust gegen die Tür, wobei sie im Stillen um Entschuldigung bat, wenn sie nun das gesamte Haus weckte. Mit angehaltenem Atem lauschte sie. Als sie von drinnen ein Geräusch vernahm, wäre ihr vor Erleichterung beinahe ein Schrei entschlüpft.

Es dauerte eine volle Minute, bis das Schloss geöffnet und alle schweren Riegel aufgezogen waren, und sie musste sich zusammennehmen, um dem verschlafenen Hausburschen, der öffnete, nicht um den Hals zu fallen.

„Miss Harvey!“ Er riss verblüfft die Augen auf. Einen Moment stand er starr, dann fasste er sich und ließ sie ein.

„Tut mir leid, dass es so spät ist“, sagte sie, als sie in die Wärme des Hauses eintauchte, „und dass ich so unerwartet komme.“

„Geben Sie mir Ihren Mantel, Miss. Wo ist Ihr Gepäck?“

Henrietta verzog das Gesicht. „Ich habe keins dabei.“ Sie würde sich von Caroline Kleidung und alles sonst Nötige borgen können.

„Lord und Lady Heydon …“

„Ach, bitte wecken Sie sie nicht. Ich werde ihnen morgen früh alles erklären.“

Der Diener sah sie groß an und schüttelte den Kopf. „Sie sind nicht hier, Miss. Sie schickten eine Nachricht, dass sie in Hampshire vom Schnee aufgehalten wurden.“

Henrietta nagte an ihrer Unterlippe. „Einerlei“, meinte sie schließlich, „Caroline würde gewiss nichts dagegen haben, wenn ich in ihrer Abwesenheit ein paar Tage hier verbringe.“

Der Bursche strahlte. „Natürlich, Miss. Lady Heydon gab uns sogar Anweisung, die Forest-Suite herzurichten.“

„Herzurichten?“ Henrietta runzelte die Stirn. Caroline kann unmöglich wissen, dass ich komme. Aber sie widersprach nicht, sondern lächelte erfreut. „Dann werde ich dort schlafen.“ Es war nicht das Zimmer, das sie üblicherweise bei ihren Besuchen bewohnte, doch jeder Raum mit einem weichen Bett und warmen Decken sollte ihr recht sein.

„Soll ich Sie hinaufbegleiten, Miss?“

„Nicht nötig. Ich kenne den Weg. Wenn Sie so gut sein wollen, mein Pferd in den Stall zu bringen?“

„Selbstverständlich, Miss“ Der junge Mann reichte ihr seine Kerze, dann spähte er hinaus in die Kälte. „Ich hole besser meinen Mantel, Miss.“

Als Henrietta die Treppe hinaufstieg, hingen ihre nassen Kleider schwer an ihr. In ihrer Eile hatte sie anbehalten, was sie gerade am Leibe trug: ein recht unpassendes Kleid, das dafür gedacht war, Gäste zu empfangen, nicht aber zwanzig Meilen durch Eis und Schnee zu reiten. Ihr Cape war dicker und wärmer, trotzdem war es zum Reiten nicht ideal, gleich bei welchem Wetter, und schon gar nicht bei dem Schneegestöber, das ihr auf den letzten paar Meilen arg zugesetzt hatte. Es würde wie eine Erlösung sein, die nassen Sachen abzustreifen und unter die Bettdecke zu schlüpfen.

Oben angekommen eilte sie zur Forest-Suite. Als sie die Tür öffnete, erlosch die Kerze just in diesem Moment. Drinnen war es sehr dunkel, doch Henrietta nahm erfreut die glimmenden Scheite im Kamin zur Kenntnis. Nicht dass das Licht genügt hätte, um etwas im Raum zu erkennen, aber sie strahlten eine wunderbare Wärme aus.

Henrietta zögerte. Sollte sie hinuntergehen und um eine neue Kerze bitten? Am liebsten wollte sie sofort ins Bett sinken, denn plötzlich verspürte sie eine überwältigende Müdigkeit. Sie könnte die Kerze an der Glut im Kamin neu entzünden, würde sich in der Dunkelheit jedoch vermutlich die Finger verbrennen. Du wirst schon so zurechtkommen, sagte sie sich, tastete sich ins Zimmer vor und schloss die Tür hinter sich. Nach ein paar Sekunden hatten sich ihre Augen eingewöhnt, und sie konnte die Umrisse der Möbel erkennen. Vorsichtig tapste sie weiter, fand eine hohe Stuhllehne und stützte sich darauf, um sich ihrer Stiefel zu entledigen. Dann zog sie Stück für Stück ihre Kleider aus, bis sie bei Hemd und Unterröcken innehielt. Auch diese waren klamm. Es ist albern, um der Sittsamkeit willen die unangenehme Feuchte zu ertragen, dachte sie. Gleich liege ich unter den Decken und morgen früh werde ich ein Hausmädchen um frische Kleidung bitten. Sie ließ die Röcke zu Boden sinken und zog das Hemd über den Kopf. Es war ein seltsames Gefühl, so splitternackt im Dunklen zu stehen, also tastete sie sich schnell zum Bett vor, schlug eine Ecke der Decken zurück und schlüpfte darunter. Sie schob sich zur Mitte des Bettes, rollte sich auf die Seite und prallte gegen einen warmen Körper.

Beinahe hätte sie laut gekreischt. Sie hätte bestimmt gekreischt, wenn sie nicht so erschrocken gewesen wäre, dass ihr der Atem stockte. Sie lag an einem warmen, muskulösen und eindeutig nackten Körper, und zwar so dicht, dass sie winzigste Bewegungen spüren konnte, das jähe Erstarren, als die Person durch die Berührung aufwachte. Einen Moment war Henrietta wie versteinert und unfähig, irgendetwas anderes zu denken, als dass da Haut an Haut lag. Dann krabbelte sie so hastig zurück, dass sie prompt aus dem Bett fiel.

Selbst in ihrem Schrecken merkte sie, wie ungelenk sie sich bewegte. Sie sandte ein stummes Dankgebet zum Himmel, weil die Finsternis im Raum ihre Blöße verbarg.

„Was zum Teufel tun Sie da?“, fragte eine männliche Stimme. Sie kam ihr vage bekannt vor, doch Henrietta konnte sie nicht einordnen.

„Sie sind in meinem Bett.“

Der Mann schien zu schmunzeln, er klang verdutzt. „Sie werden wohl zugeben müssen, dass Sie in meinem Bett sind.“

Sie hörte ihn herumtasten, dann das Klicken und Kratzen einer Zunderbüchse.

„Nein!“, rief sie, packte die Bettdecke und zerrte wild daran, um sich wenigstens etwas damit zu bedecken.

Stille. Dann hörte sie, wie die Zunderbüchse irgendwo abgestellt wurde.

„Miss Harvey“, sagte der Mann. „Sie sind doch Miss Harvey?“

„Wie …?“ Sie brach ab und mühte sich, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen, um klarer denken zu können. „Wer sind Sie?“

„Lord Hauxton.“

Henrietta spürte, wie ihr vor Verlegenheit ganz heiß wurde. Und da war noch ein Gefühl, über das sie jetzt nicht genauer nachdenken wollte. Lord Hauxton, ein Gentleman, den sie häufig bei gesellschaftlichen Anlässen getroffen hatte, war Heydons engster Freund. Und sie war zu ihm ins Bett gestiegen, völlig nackt, und hatte sich an ihn gedrückt. Eine Sekunde lang überkam sie bei der Erinnerung an seine Haut, seine wunderbar harten Muskeln, heftige Verwirrung.

Während sie sich vom Boden aufrappelte, zog sie weiter an dem Bettzeug, sodass sie sich endlich darin einhüllen konnte.

„Vielleicht könnten Sie mir eine der Decke herüberwerfen“, äußerte Lord Hauxton gelassen. Obwohl es völlig dunkel war, ertappte sie sich dabei, wie sie angestrengt in seine Richtung spähte. Sie sollte den Blick abwenden …

Mit einer Hand hielt sie die Bettdecke fest, mit der anderen warf sie ihm ein Laken hinüber und beobachtete die fließenden Schatten, als er sich aufrichtete und darin hineinwickelte.

Eine ganze Weile regten sich beide nicht.

„Kann ich jetzt unbesorgt die Kerze anzünden?“

Henrietta zögerte kurz. Natürlich würden sie ein wenig Licht brauchen, um sich kurz zu besprechen. Einer von ihnen musste sich ein neues Zimmer suchen, am besten, ohne den gesamten Haushalt in Kenntnis zu setzen, dass sie den gleichen Raum, ja sogar das gleiche Bett benutzt hatten. Gott sei Dank waren sie auf dem Lande; in London würde der Skandal bis zum Lunch die Runde gemacht haben.

„Ja“, antwortete sie schließlich und überprüfte, ob sie auch gebührend von ihrer Decke bedeckt war.

Die Kerze flackerte kurz und breitete dann ihr warmes Licht im Zimmer aus.

„Guten Abend, Miss Harvey.“ Lord Hauxton verbeugte sich knapp und schaute sie an. Sie verspürte ein köstliches Kribbeln, als sein Blick über ihren Körper glitt, und konnte nicht anders, als seine halbnackte Gestalt gründlich zu mustern. Er hatte das Laken, das sie ihm überlassen hatte, recht lässig um seine Hüften geschlungen, sodass sein Oberkörper unbedeckt war. Henrietta musste sich sehr anstrengen, nicht hinzuschauen.

„Guten Abend, Lord Hauxton.“ Sie hörte das leichte Beben ihrer Stimme und erkannte, wie nervös sie und wie ruhig er im Gegensatz dazu war. Als geschähe es Lord Hauxton regelmäßig, eine nackte Frau in seinem Bett zu finden.

„Also, was in aller Welt tun Sie in meinem Schlafzimmer, Miss Harvey?“ Und fügte hinzu: „Nicht das ich mich beklage.“

Ihr Blick schoss zu seinem Gesicht. Der Mann grinste! Offensichtlich genoss er die Lage, jede einzelne peinliche Minute davon.

„Es ist nicht Ihr Zimmer.“

„Das stimmt.“

Henrietta dachte an ihre Ankunft zurück, an den verschlafenen Hausburschen und seine Bemerkung, dass Caroline angeordnet hätte, die Forest-Suite für einen Gast herzurichten. Für Lord Hauxton, den Gast, den sie vermutlich erwartet hatten. Nicht aber sie, Henrietta.

„Ich wurde wohl ins falsche Zimmer geschickt.“ Langsam rückte sie zur Tür vor, wobei sie versuchte, mit einer Hand ihre feuchte Kleidung einzusammeln und mit der anderen ihre Decke am Körper zu halten. „Ich traf ziemlich spät ein, und der Hausbursche sagte, die Forest-Suite sei vorbereitet. Da nahm ich natürlich an, dass ich hier schlafen sollte.“ Die Erklärung sprudelte geradezu aus ihr hervor. Lord Hauxton würde sicherlich nicht argwöhnen, dies sei nur ein Vorwand, um in sein Bett zu steigen und so eine Annäherung zu erzwingen oder – noch schlimmer – einen Heiratsantrag. Aber so gut kannte sie ihn auch wieder nicht.

„Ich suche mir ein anderes Zimmer“, sagte sie, griff nach ihren Stiefeln und ließ dabei beinahe alles andere fallen.

„Das kann ich nicht zulassen, es wäre eines Gentlemans nicht würdig.“

Sie machte große Augen, denn eine Sekunde lang dachte sie, er meinte, sie sollten dieses Zimmer gemeinsam nutzen.

„Sie bleiben hier und erfreuen sich der Wärme, und ich suche mir ein anderes Zimmer.“

Henrietta, schon kurz vor der Tür, schüttelte heftig den Kopf.

„Es macht mir nichts aus, Lord Hauxton. Ich bin sofort verschwunden.“ Sie fasste nach dem Türknauf, dabei rutschte ihr das Kleiderbündel vom Arm. Hastig versuchte sie, es festzuhalten. Dabei glitt ihr die sie verhüllende Decke aus der anderen Hand und rutschte und rutschte … Henrietta wusste, nichts konnte verhindern, dass sie splitternackt dastand, und eine schreckliche Sekunde lang stand sie wie gebannt, unfähig sich auch nur nach der Decke zu bücken.

Lord Hauxton trat heran und hob die Decke auf. Doch anstatt sie ihr zu reichen, breitete er sie aus und legte sie ihr um die Schultern. Bevor er sich wieder zurückzog, achtete er darauf, dass sie sie auch fest in der Hand hielt.

„Danke“, flüsterte sie. Ihre Wangen glühten vor Scham. Dann wandte sie sich zur Tür und flüchtete aus dem Zimmer, ungeachtet des nassen Kleiderbündels, das sie dort auf dem Boden zurückließ.

2. KAPITEL

Thomas reckte sich und drehte sich auf die Seite. Fast erwartete er, Miss Harvey nackt neben sich im Bett liegen zu sehen. Draußen war es nun vollkommen hell. Es musste schon später Vormittag sein, aber er hatte schlecht geschlafen. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er die hübsche kleine Miss Harvey im schimmernden Kerzenlicht nackt vor sich stehen. So leicht würde er dieses Bild nicht vergessen.

Es war eine absonderliche Nacht gewesen – aufzuwachen und zu entdecken, dass eine beiläufige Bekannte zu ihm ins Bett kletterte. Bei jeder anderen hätte er vermutet, dass es sich um einen Trick handelte, um ihn zu einer Heirat zu zwingen, ihn in einen Skandal zu verwickeln. Miss Harvey jedoch war noch erschrockener gewesen als er selbst und fürchterlich verlegen ob dieser misslichen Situation. Das Frühstück würde sicher interessant werden.

Er stand auf und ging zum Fenster. Vielleicht war sie längst geflüchtet, zu peinlich berührt, um ihm gegenüberzutreten. Das würde die Sache vereinfachen. Zwar hatte Miss Harvey die wenigen Male, die er sich mit ihr unterhalten hatte, einen einnehmenden und freundlichen Eindruck erweckt, doch er war nach Kent gekommen, um gesellschaftlichen Zwängen zu entfliehen. Er suchte Einsamkeit und Frieden, nicht Geselligkeit.

Als er hinausschaute, verzog er das Gesicht. Es bestand kaum eine Chance, dass sie bei diesem Wetter abgereist war. Anscheinend hatte es die ganze Nacht hindurch geschneit und auch jetzt fielen noch unaufhörlich weiße Flocken. Wie es schien, saßen er und Miss Harvey hier mindestens die nächsten beiden Tage gemeinsam fest. Auch dass Heydon, Caroline und der kleine Harry bald eintreffen würden, bezweifelte er.

„Nur du und sie“, murmelte er und versuchte die Erinnerung an den Moment auszublenden, als sie ihren Körper unter den Decken an ihn gedrückt hatte.

Rasch warf er die frische Kleidung über, die vermutlich von dem Hausmädchen gebracht worden war, das auch das Feuer neu entfacht hatte. Kommentarlos waren Miss Harveys feuchte Sachen ebenfalls entfernt worden.

Unten arbeitete die Dienerschaft schon eifrig, und Perkins, der alte Butler, begrüßte ihn.

„Das Frühstück steht im Speisesalon bereit“, erklärte er und fuhr dann mit gesenkter Stimme fort: „Ich bitte, das … äh … Missverständnis der vergangenen Nacht zu entschuldigen. Der Bursche wusste, dass ein Gast erwartet wurde, es war ihm jedoch entgangen, dass Sie bereits eingetroffen waren. Als Miss Harvey mitten in der Nacht eintraf …“ Perkins, ehrlich bekümmert, sprach nicht weiter.

„Es ist nichts passiert.“

„Danke, Mylord.“

Thomas ging zum Speisesalon, verharrte aber an der Tür. Miss Harvey saß schon am Tisch, eine Zeitung vor sich ausgebreitet. Aus irgendeinem Grund überraschte ihn das, denn er hätte sie für eine Langschläferin gehalten. Andererseits war auch er selbst nach dieser Nacht von seinem üblichen Tagesablauf abgewichen.

Als er eintrat, sagte sie „Guten Morgen, Lord Hauxton“, und blickte auf. Ein reizendes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Ihr Ton war ruhig und ihr Blick fest. Fast hätte er glauben können, die Begegnung letzte Nacht hätte nur in seiner Fantasie stattgefunden.

„Guten Morgen, Miss Harvey. Sie haben gut geschlafen, hoffe ich.“

„Danke, ja. Die Betten hier sind so bequem. Und Sie? Hatten Sie eine gute Nacht?“

„Nein.“ Er sah, wie sie ob der knappen Antwort die Augen aufriss, und empfand ein bisschen Genugtuung, als ihre Wangen sich langsam röteten. Er wusste nicht, warum er sie provozieren wollte. Vielleicht weil er sich die ganze Nacht nur herumgewälzt hatte, ohne ihr Bild aus dem Kopf zu bekommen.

Er schlenderte zur Anrichte, schenkte sich jedoch nur eine Tasse Tee ein. Obwohl Miss Harvey sich wieder wild entschlossen ihrer Zeitung widmete, spürte er, dass sie ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. Unbefangen ließ er sich ihr gegenüber nieder und nahm eine Scheibe Toast aus dem Ständer, der neben Butter und Marmelade vor ihr auf dem Tisch stand. Er bestrich die Scheibe mit Butter und biss ein Stück ab. Erst dann schaute er auf.

Im gleichen Augenblick senkte sie hastig die Lider. Er musste ein Lächeln unterdrücken. Langsam vertilgte er den ersten Toast und nahm gleich einen zweiten. Von dem Ritt durch den Schnee war er geradezu ausgehungert und mit dem Toast besserte sich auch seine Laune.

„Hungrig?“, fragte Miss Harvey, als er die vierte Scheibe verspeiste.

„Ja, hat meinen Appetit angeregt.“ Sie hob die Brauen. „Der nächtliche Ritt durch den Schnee“, fügte er hinzu.

„Natürlich.“

„Nun, Miss Harvey, was tun Sie hier?“ erkundigte er sich und bemerkte, wie sie bei der unverblümten Frage scharf einatmete. Er wusste, dass er für seine Direktheit bekannt war und dafür, viele gesellschaftliche Gepflogenheiten nicht zu beachten. Nicht dass er schlecht erzogen war – er war zwar nicht als Earl geboren worden, dennoch hatte er als dritter Sohn eines Earls die beste Erziehung genossen. Allerdings war es immer schon so gewesen, dass er gereizt reagierte, wenn jemand wie die Katze um den heißen Brei schlich, statt sich klar und knapp zu äußern. Ihn störte sein Ruf nicht; er hatte festgestellt, dass die Leute schneller auf den Punkt kamen und so seine Zeit nicht verschwendeten.

„Ich besuche meine Cousine. Und natürlich ihren Sohn und ihren Gemahl.“

„Ein ungeplanter Besuch.“ Ihm war aufgefallen, dass ihr Kleid nicht perfekt saß. Sein eigenes Gepäck befand sich irgendwo im ländlichen Kent, doch etwas sagte ihm, dass Miss Harveys Koffer nicht durch den Schnee aufgehalten, sondern wahrscheinlich gar nicht erst gepackt worden war.

„Ich handele gerne spontan.“

„Bei diesem Wetter?“

„Es ist ja wohl kein Schneesturm.“ Beide wandten sich dem Fenster zu, hinter dem der Schnee in dichten Flocken fiel und sich im Park zu Wehen auftürmte. Kein Schneesturm, allerdings auch nicht allzu weit davon entfernt. „Also, es war kein Schneesturm, als ich aufbrach.“

„Ein spontaner Ausflug, um Lord und Lady Heydon zu besuchen, obwohl die beiden zu Besuch bei ihrer Tante sind.“

„Nach meiner Kenntnis sollten sie gestern wieder hier sein“, antwortete Miss Harvey in festem Ton. Jung mochte sie sein, doch sie war kein schüchternes Mäuschen. „Wenn der Schnee es nicht verhindert hätte, wären sie vor mir zurückgewesen. Und Sie, Lord Hauxton, was bringt Sie her?“

Er zögerte, unterdrückte den albernen Trieb, ihr die Wahrheit zu sagen. Er kannte Miss Harvey nicht gut, nicht besser als die fünfzig anderen Debütantinnen, die kichernd durch die Ballsäle und Dinnergesellschaften des ton trippelten. Warum sollte er ihr von der Verzweiflung erzählen, die ihn in den letzten Monaten langsam vereinnahmt hatte – nicht Schwermut oder Melancholie, sondern das Gefühl, dass er für den Rest seines Lebens allein bleiben würde. Lange hatte er um seine Gemahlin, die vor sechs Jahren gestorben war, getrauert und ihr Andenken geehrt; danach hatte er versucht, vorwärts zu schauen.

Als Erstes hatte er Caroline umworben, den Heiratsantrag aber zurückgenommen, als er erkannt hatte, dass sie hoffnungslos in Heydon verliebt war. Eine Zeitlang war er auf Reisen gewesen, bis er endlich nach England zurückkehrte und beschloss, sich noch einmal eine Gattin zu suchen. Da war er mittlerweile dreiunddreißig, beileibe kein junger Mann mehr, und er spürte die Last seines Erbes und des Titels schwer auf den Schultern. Dann war Jemima gekommen, eine liebliche junge Frau, der er den Hof machte und die er schon einige Monate später um ihre Hand bat. Eine Woche darauf starb sie ganz plötzlich, sank in einem Laden einfach tot nieder, während sie ihr Hochzeitskleid aussuchte. Daraufhin hatte er England umgehend verlassen, war durch Portugal gereist. Es war eine Art Pilgerreise in den Landstrich gewesen, in den ihn zuvor der Krieg geführt hatte. Eine Weile hatte er mit dem Gedanken gespielt, nie wieder heimzukehren, aber die Verantwortung für den Besitz und seine Pflichten als Earl konnte er nicht ignorieren. Also war er wieder hier in England und fand es schwierig, sich häuslich niederzulassen.

„Ich suche Frieden“, antwortete er leise. Viele Menschen hätten die knappen Worte als grobe Zurückweisung empfunden, Miss Harvey indes schien diese Antwort milder zu stimmen.

„Dann haben wir etwas gemeinsam.“

„Sie suchen Frieden?“ Er versuchte, nicht ungläubig zu klingen. Vielleicht war er mit seiner Annahme anmaßend, doch konnte er sich kaum vorstellen, dass die junge Miss Harvey Verluste oder Herzensleid erfahren hatte. Gewiss war sie behütet aufgewachsen und die schmerzhaften Erlebnisse, die das Leben mit sich bringen konnte, wurden von ihr ferngehalten.

„Sie finden das unwahrscheinlich, Lord Hauxton?“

„Zugegeben, Sie machen mich neugierig. Wovor suchen Sie Frieden?“

„Vielleicht ist Frieden das falsche Wort. Ich suche Zuflucht.“

Stumm wartete er, dass sie fortfuhr, aber sie schüttelte nur den Kopf.

„Sprechen wir von etwas Fröhlicherem. Das Letzte, was man beim Frühstück möchte, ist trübsinnige Gesellschaft.“

Er hatte den kurzen Blick auf die junge Frau hinter der Maske, die sie der Gesellschaft zeigte, sehr genossen. Dennoch würde er sie nicht weiter drängen. Manches ging nur einen selbst etwas an.

Sie stand auf, schenkte ihm ein kleines Nicken und setzte zu einer höflichen Floskel an, als man ein Trappeln hörte. Gebell erklang, gefolgt von einem schwarzen Blitz – Carolines Hund schoss ins Zimmer.

„Ach, bitte, Entschuldigung!“, keuchte ein aufgelöstes Hausmädchen, das hinter dem Tier hergerannt kam. „Bertie, komm sofort hierher!“

Thomas hätte schwören können, der Hund grinste. Bertie lief zu Miss Harvey, sprang an ihr hoch und stemmte seine riesigen Pfoten gegen ihre Röcke.

„Bertie, du Dummer!“, rief Miss Harvey lächelnd und kraulte ihm hingebungsvoll den Kopf, wobei sie seiner langen, nassen Zunge geschickt auswich. „Ich dachte, Caroline wollte dir gute Manieren beibringen.“

„Offensichtlich ohne Erfolg“, murmelte Thomas, woraufhin Bertie sich umdrehte, zu ihm sprang und aufgeregt mit dem Schanz wedelte.

„Hallo, Bertie, alter Junge.“ Thomas rieb ihm die Ohren.

„Es tut mir so leid, Mylord“, sagte das Hausmädchen und wurde rot. „Er ist so ungestüm, seit Mylady fort ist. Und jetzt hält uns auch noch der Schnee im Haus fest …“

„Da muss ja jeder ein bisschen verrückt werden“, beendete Miss Harvey den Satz, trat zwei Schritte vor und fasste Bertie beim Halsband. „Ich denke, wir verschaffen dir heute ein wenig frische Luft.“

Bei der Aussicht, den Hund in dem tiefen Schnee ausführen zu müssen, schaute das Hausmädchen ganz entsetzt, antwortete aber pflichtgetreu: „Natürlich, Miss Harvey.“

„Nein, Polly, nicht Sie. Bestimmt kann ich mir ein Paar von Lady Heydons Stiefeln borgen und dazu einen schönen dicken Mantel. Mir würde frische Luft auch guttun.“

„Seien Sie nicht albern. Sie werden ausgleiten und sich ein Bein brechen.“

Miss Harvey wandte sich Thomas zu und schenkte ihm einen kühlen Blick. „Ich bat Sie nicht um Erlaubnis, Lord Hauxton, oder um Ihre Meinung.“

„Die Wege sind völlig verschneit, der Boden darunter vereist. Wenn Sie allein hinausgehen, könnten Sie stürzen und würden erfrieren, bevor man Sie findet.“

„Wir sind wohl kaum in der Arktis.“

„Man sollte diese Wetterlage nicht unterschätzen.“ Einen Moment betrachtete sie ihn, den Kopf schräg gelegt, dann lächelte sie. „Meinen Sie damit, dass Sie mich gerne begleiten wollen?“

Was er wollte, war, den Vormittag mit einem guten Buch vor einem lodernden Feuer zu verbringen und sich nicht draußen im fußhohen Schnee die Zehen abzufrieren.

„Ja“, erwiderte er knapp.

„Großartig. Polly, wenn Sie für mich dem Wetter angemessene Kleidung fänden, wäre ich Ihnen sehr verbunden.“

Das Mädchen eilte erleichtert davon.

„Wir treffen uns in fünfzehn Minuten in der Halle.“ Während er ihr hinterhersah, überlegte er, ob es sehr unhöflich wäre, darauf zu bestehen, dass er und Miss Harvey von nun an in verschiedenen Flügeln des Hauses untergebracht würden.

Ungeduldig trommelte Henrietta mit dem Fuß auf den Boden und schaute auf die Uhr, die im Salon auf dem Kaminsims stand. Dann beugte sie sich zu Bertie hinab und befestigte die Leine an seinem Halsband. Zwar war Lord Hauxton nur zwei Minuten im Verzug, doch sie hatte sein Zögern bei dem Vorschlag, sie zu begleiten, gespürt. Wahrscheinlich zwang ihn eher sein Pflichtgefühl dazu als der Wunsch nach ihrer Gesellschaft. Nicht dass sie glaubte, seine Begleitung wäre nötig; es sollte nur ein kleiner Spaziergang werden, bei dem sie stets in Sichtweite des Hauses blieb.

Als sie die Haustür öffnete, fegte ein Schwall kalter Luft herein, und sie musste sich zusammennehmen, um nicht zu zittern.

„Komm, Bertie“, sagte sie, in der Erwartung, dass das Tier wie gewöhnlich sofort losraste, aber selbst Bertie schien bei derart hohem Schnee zu zögern. Daher erschrak sie heftig, als er plötzlich losrannte und sie mit sich riss. Die geborgten Stiefel waren ihr etwas zu groß, hatten jedoch feste Sohlen. Trotzdem rutschte sie auf der obersten Stufe aus. Ihr blieb fast das Herz stehen. Sie versuchte, sich mit einer Hand an der Hauswand zu halten, doch sie wusste, sie würde fallen – der Schwung war zu heftig und Bertie zu kräftig, als dass sie ihn hätte halten können. Schon schwankte sie, fiel beinahe, da griffen starke Hände um ihre Taille und hoben sie ein Stück in die Luft. Gleich darauf wurde sie wieder fest auf den Boden gestellt.

„Haben Sie es eilig, Miss Harvey?“ Lord Hauxton klang unglaublich gelassen und ruhig. Als Bertie erneut an der Leine zerrte, nahm er sie ihr rasch aus der Hand und stützte Henrietta gleichzeitig, damit sie nicht umfiel. Ihr Körper wurde gegen seinen gedrückt und für einen Augenblick musste sie an die vergangene Nacht denken, als sie neben ihm ins Bett gestiegen war. Tief in ihrem Innern regte sich etwas, und sie wusste, es wäre sicherer für sie, wenn sie Lord Hauxton wegschieben würde. Allerdings war das nicht angebracht, sofern sie nicht noch einmal ausgleiten wollte.

Zum Glück trat der Earl schon im nächsten Moment einen Schritt zurück und ließ sie los, um ihr anschließend seinen Arm als Stütze zu bieten.

„Bertie war ungeduldig.“

„Damit sind es zwei“, murmelte er so leise, dass Henrietta sich nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte.

„Sie haben sich verspätet!“ Normalerweise wäre sie niemals so grob zu einem Earl gewesen, aber Lord Hauxton hatte etwas an sich, das in ihr den Wunsch weckte, ebenso unverblümt zu sein wie er.

„Bitte vielmals um Verzeihung, Miss Harvey, mir war nicht klar, dass Sie heute Morgen noch weitere dringende Termine haben.“

Als sie die Stufen hinabgingen, musste sie sich leider auf ihn stützen. Unten angekommen wollte sie seinen Arm loslassen, musste jedoch feststellen, dass sie auf dem vereisten, schneebedeckten Boden ausrutschte. Es war ja schön und gut, eigene Vorstellungen zu haben, doch sie hatte keine Lust, mit gebrochenem Bein und ohne ärztliche Hilfe in Kent festzusitzen.

Sie atmete tief ein und versuchte, ihre Probleme und die Anspannung der letzten Tage abzuschütteln. Immer, wenn etwas sie besonders aufregte, stellte sie sich eine Palette und Pinsel vor und wie sie mit den Farben arbeitete. Es war wie eine Läuterung, und sie konnte im Geiste den fließenden Pinselstrichen nachspüren, aus denen ihre lebensnahen Gemälde entstanden.

Das Knirschen des Schnees unter ihren Füßen half, ihre Gereiztheit zu dämpfen. Mochte es auch frieren und sachte Flocken um sie wirbeln, so sah der tief verschneite Besitz doch irgendwie wunderschön aus.

„Sie waren in letzter Zeit außer Landes, Lord Hauxton. Hat die Reise Sie in schöne Gegenden geführt?“

Sie spürte, wie er sich versteifte, und wunderte sich, wieso die harmlose Frage ihm Unbehagen bereitete.

„Ich war in Portugal“, antwortete er endlich.

Das war ein etwas ungewöhnliches Reiseziel. Gewiss, der Krieg war fast zehn Jahre vorbei, und in Portugal herrschte Frieden, trotzdem hörte man nicht oft, dass jemand das Land bereiste.

„Eine Reise zum Vergnügen?“

„Nein.“ Die meisten Leute würden eine Erklärung hinzufügen, aber Henrietta hatte bereits gelernt, dass Lord Hauxton nicht wie andere war. Anscheinend hielt er es für sinnlos, viele Worte zu machen oder einer vagen Bekanntschaft jede Einzelheit aus seinem Leben mitzuteilen.

„Also eine Geschäftsreise?“

„Nein.“

Sie sagte nichts mehr. Auch in ihrem Leben gab es Dinge, über die sie nicht gerne redete. Deshalb würde sie ebenso wenig in ihn dringen, wie sie es sich im umgekehrten Fall wünschte. Sie gingen ein paar Schritte, dann ergriff Lord Hauxton unerwartet wieder das Wort.

„Im Krieg war ich in Portugal stationiert. Ich verlor dort gute Freunde.“

„Es war eine Pilgerreise?“

„Etwas in der Art. Sie fielen auf dem Schlachtfeld und wurden umgehend begraben. Ich selbst wurde gegen Ende des Krieges verwundet und konnte nicht dafür sorgen, dass sie eine angemessene Grabstätte bekamen.“

Henrietta spürte die körperliche Anspannung des Mannes, während er sprach. Die Kämpfe mochten seit vielen Jahren beendet sein, doch sie bezweifelte, dass die Erinnerung an die schrecklichen Geschehnisse mit der Zeit verblasste.

„Verzeihen Sie, aber ist es für den Erben eines Earls nicht ungewöhnlich, in die Armee einzutreten?“

„Ich war nie als Nachfolger meines Vaters vorgesehen. Als ich in den Krieg zog, hatte ich zwei gesunde ältere Brüder. Dennoch widerstrebte es meinen Eltern natürlich, mich ziehen zu lassen. Aber ich war jung und darauf versessen, meinen eigenen Weg zu gehen.“ Er lächelte reumütig. „Das ist der Fluch aller jüngeren Söhne: dieses Verlangen, sich zu beweisen.“

„Was geschah mit Ihren Brüdern?“ Noch während sie fragte, beschlich sie Angst vor der Antwort. Sie konnte sich nicht an Genaueres erinnern, doch ein tragisches Ereignis hatte Lord Hauxtons Familie ausgelöscht. In ihrer ersten Saison hatte sie etwas flüstern hören. Den Glücklosen Earl nannte man ihn.

„Ein Brand des Hauses.“

Henrietta spähte zu ihm hinüber. Seine Kiefermuskeln spannten sich, die Stirn war leicht gefurcht. Es war der Ausdruck eines Menschen, der trotz solch kaum wahrnehmbarer Anzeichen glaubte, er könnte die Gefühle, die ihn zu übermannen drohten, verbergen.

„Es tut mir sehr leid.“

„Danke.“ Er sprach ruhig, schaute sie jedoch nicht an. Henrietta hielt ihren Blick weiter auf den schneebedeckten Boden gerichtet.

„Konnten Sie tun, wozu Sie nach Portugal gereist waren?“, fragte sie schließlich.

Ein winziges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ja, das gelang mir. Es war befreiend.“

Dann spannte er sich jäh an, weil Bertie an der Leine riss.

„Ich glaube, er will unbedingt rennen“, meinte sie lächelnd. Sie liebte Bertie wie einen eigenen Hund, so übermütig er auch war.

„Wenn ich ihn losmache, läuft er sofort davon und glaubt, wir spielten mit ihm, wenn wir ihn einzufangen versuchen.“

„Sie kennen ihn gut.“

Lord Hauxton blieb kurz stehen, hockte sich neben Bertie und strich ihm die Schneeflocken vom Fell.

„Zu gut. Er hat mich zu oft mit seiner Unschuldsmiene getäuscht.“

Ob der Aufmerksamkeit bellte Bertie fröhlich. Sie waren inzwischen gut zehn Minuten unterwegs, ohne weit gekommen zu sein, nur vielleicht hundert Schritt vom Haus entfernt. Vermutlich waren sie im Rosengarten, was man allerdings wegen der hohen Schneedecke nur erahnen konnte.

„Wir sollten bald umkehren.“ Lord Hauxton blickte sich um, als schätzte er ab, wie lange sie brauchen würden, um wieder zurück ins warme Haus zu kommen.

„Noch zwei Minuten.“ So kalt es auch war und so viel Mühe das Gehen im hohen Schnee bereitete, genoss Henrietta den Spaziergang doch. Es tat so gut, die frische Landluft einzuatmen, die ganz anders roch als die schlechte Londoner Luft.

„Ich bin immer so gerne auf dem Land“, gestand sie leise.

„Sie kommen selten fort aus London?“

„Ja. Meine Eltern …“ Sie schloss kurz die Augen. Erneut sah sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter vor sich, als sie Henrietta in dem Künstleratelier entdeckt hatte. Rasch öffnete sie die Augen wieder und verdrängte das Bild entschlossen. „Selbst im Hochsommer bleiben meine Eltern lieber in der Stadt. Unser Landsitz ist nicht groß, wir halten uns vorwiegend in unserem Stadthaus auf. Und Sie, Lord Hauxton?“

Abermals zögerte er, als wäre er unsicher, wie viel er ihr erzählen sollte. Noch bevor er den Mund aufmachte, begriff sie ihre Torheit. Der Brand, bei dem seine Familie umgekommen war, hatte natürlich dem Familiensitz großen Schaden zugefügt.

„Verzeihen Sie, ich habe nicht nachgedacht“, sagte sie hastig.

„Wir haben mehrere Güter.“

Obwohl sie fest bei ihm eingehakt war, schien sich eine Kluft zwischen ihnen aufzutun. Sie neigte dazu, erst zu reden und dann zu überlegen, und damit würde sie einen Mann wie Lord Hauxton nicht für sich einnehmen.

Für sich einnehmen … stumm lachte sie in sich hinein. Die Wortwahl bewies, dass sie schon viel zu lange in den Londoner Ballsälen umhergeschwirrt war, wenn ihr spontan in den Sinn kam, einen Mann für sich einzunehmen, von dem sie nicht einmal wusste, ob sie ihn überhaupt mochte.

Ihre rebellischen Gedanken huschten zu dem Bild der vergangenen Nacht, als er nur in ein Laken gewickelt vor ihr gestanden hatte. Sein Oberkörper war wie gemeißelt, seine Haut glatt, und sie hatte den unerklärlichen Drang verspürt, mit den Fingern über die straffen Muskeln seines Oberarms zu streichen. Sie mochte ihn kurz angebunden und manchmal sogar grob finden, doch dass er attraktiv war, konnte sie nicht leugnen.

Zum Glück riss Bertie erneut an der Leine und unterbrach so diesen speziellen Gedankengang.

„Komm her, Bertie“, rief Lord Hauxton in wesentlich sanfterem Ton, als er bisher zu Henrietta gesprochen hatte. „Es wird Zeit, nach Hause zu gehen.“

Bertie bellte, als wollte er zustimmen, und sprang begeistert wedelnd voran, dass der Schnee nur so nach allen Seiten stob. Er schien ein neues Spiel zu wittern und rannte, bis Thomas an der Leine zog. Dann blickte er verdutzt, wedelte erneut mit dem Schwanz und sprang im Kreis um Henrietta und Lord Hauxton herum. Der ließ die Leine einen Moment zu spät fallen. Die Lederschnur wand sich um ihrer beider Beine und zog sie beide unabwendbar zueinander.

„Bertie, steh!“, rief Henrietta. Sie ahnte jedoch, dass sie, selbst wenn das Tier gehorchte, wahrscheinlich alle in einem würdelosen Haufen übereinander im Schnee landen würden.

Schon wickelten sich ihre Röcke eng um ihre Beine und sie schwankte. Mit Panik im Blick schaute sie zu Lord Hauxton auf. Er zog eine Grimasse, schlang dann aber, da er sie stürzen sah, geschwind die Arme um ihre Mitte und ließ sich so fallen, dass sie auf ihm landete.

Unsanft fiel sie direkt auf ihn, und er keuchte laut auf. Sie hoffte inständig, dass der Schnee wenigstens seinen Fall auf den Boden gedämpft hatte.

Einen Moment lagen sie beide reglos. Henriettas Geist hatte mit dem Geschehen nicht ganz Schritt gehalten – zwei Sekunden zuvor standen sie auf ihren Füßen und wollten zum Haus zurückgehen, nun lagen sie aneinandergepresst im Schnee. Sie blickte auf Lord Hauxton nieder. Ihre Hände lagen flach auf seiner Brust, unter ihren Fingern spürte sie seinen Herzschlag. Ihrer beider Hüften schmiegten sich aneinander und wie ein Blitz schoss Verlangen durch ihren Körper. Sie führte nicht das zügellose Leben, das ihre Mutter ihr unterstellte, und war noch nie im Leben einem Mann so nahe gewesen – abgesehen von gestern Nacht in Lord Hauxtons Bett.

Ob dieser Erinnerung stockte ihr der Atem. Rasch versuchte sie, sich aus der Umschnürung zu lösen. Doch die Leine lag wie eine Fessel um ihre Beine und Bertie machte die Lage noch schwieriger, indem er wild hin und her sprang, als wollte er die beiden Menschen noch fester zusammenbinden.

Sie versuchte, sich in die Höhe zu stemmen, aber ihre Hände glitten im Schnee aus, sodass sie zurück auf Lord Hauxtons Brust plumpste. Er ächzte unterdrückt.

„So schwer bin ich nun auch nicht“, murmelte sie, als er sein Gesicht schmerzlich verzog.

„Leicht wie eine Feder“, brummte er gepresst.

„Haben Sie Schmerzen?“ Plötzlich hatte sie die schreckliche Vorstellung, er könnte auf einen Stein aufgeschlagen sein und sich das Rückgrat verletzt haben.

„Nur ein paar Prellungen.“

„Danke, dass Sie mich aufgefangen haben“, flüsterte sie. Er schaute sie an und nickte kaum merklich, wandte den Blick aber nicht ab.

Er hatte sie geschützt, indem er sich rückwärts fallen ließ und so die gesamte Wucht des Aufpralls allein abfing. Das war sehr geistesgegenwärtig gewesen. Er hatte reagiert, während sie selbst noch wie erstarrt gewesen war.

Seine Augen waren tiefgrün, Augen, wie sie sie sich gewünscht hätte statt ihrer so viel gewöhnlicheren braunen. Da sie ihm so nah war, entdeckte sie winzige goldene Pünktchen um seine Pupillen und kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln, die ein Lächeln andeuteten, obwohl ihre Gesellschaft ihn anscheinend nicht zum Lächeln brachte.

„Ich glaube, Sie müssen sich zuerst bewegen“, meinte er nach ein paar Sekunden.

Ihr wurde bewusst, dass sie ihm ungehörig lange in die Augen geschaut hatte, daher fuhr sie ruckartig hoch. Erneut versuchte sie sich abzustützen, landete jedoch wieder mit den Händen tief im Schnee. Sie zappelte und wand sich, um die Leine zu lösen, dabei rieb sie sich auf höchst intime Weise an Lord Hauxtons Körper.

„Bertie, komm her!“ Das war eindeutig ein Befehl, doch der Hund ignorierte ihn.

„Einer von uns muss die Leine dort unten losmachen“, erklärte Henrietta, während sie sich verrenkte und versuchte, eben das mit einem Griff nach hinten zu bewerkstelligen. Vor ihren Augen erschien ein Bild, wie Lord Hauxton mit den Händen nach dem Lederriemen zwischen ihren Körpern tastete. Die glühende Erregung, die sie durchfuhr, mochte sie lieber nicht näher untersuchen, sondern sagte schnell. „Ich versuche es.“

Behutsam schob sie die flache Hand zwischen ihre Leiber. Noch durch den dicken Mantelstoff hindurch spürte sie seine straffen Muskeln und die Wärme seines Körpers. Sie zögerte kurz, denn sie wusste, sie könnte leicht an etwas streifen, das sie besser nicht berühren sollte. Lord Hauxton unter ihr regte sich, doch sie wagte nicht, zu ihm hoch und in seine Augen zu schauen.

Rasch schob sie ihre Hand tiefer, stieß, da sein Mantel offen stand, an seinen Hosenbund und wäre, zu ihrem Entsetzen, beinahe mit der Hand darunter gefahren. Ihre Wangen glühten, während sie sich neu orientierte. Dann endlich konnte sie ihre Hüften anheben und bekam die Leine zu fassen.

„Ich hab es gleich …“ Das Ding war wirklich ein einziges Knäuel, und es half auch nicht gerade, dass Bertie am anderen Ende noch immer aufgeregt hin und her sprang.

„Ich komme nicht ganz ran.“

Was sie nun tun musste, wusste sie, nur sträubte sich ihr Verstand dagegen. Hektisch suchte sie nach einer anderen Möglichkeit, ihr fiel aber keine ein.

„Ich muss weiter nach unten rutschen.“ Sie sprach ruhig, wagte jedoch nicht, Lord Hauxton ins Gesicht zu sehen. Nach der Katastrophe gestern Nacht und dieser Geschichte hier war sie mit Lord Hauxtons Körper besser vertraut als je zuvor mit dem Körper eines Mannes.

„Was immer nötig ist.“ Er klang ein wenig angespannt, was vielleicht kein Wunder war, da sie ihm nun schon eine Weile die Luft abdrückte. Sie war kein Schwergewicht, trotzdem musste es ihm langsam unbequem werden.

Nach und nach rutschte sie mit schlängelnden Bewegungen tiefer. Um endlich die Leine zu erreichen, musste sie ihre Wange an seinen Körper schmiegen – genau genommen drückte sie sie direkt gegen seine Hosenklappe.

„Gleich hab ich es!“ Sie wollte zuversichtlich klingen, doch heraus kam eher ein nervöses Piepsen.

Endlich gelang es ihr nach einigem Gezappel, die Leine zu entwirren und sie sich von den Beinen zu streifen. Sofort machte sie sich daran, auch Lord Hauxton zu befreien. Um sie zu unterstützen, rückte er ein klein wenig beiseite, wodurch Henrietta ihr mühevoll gewahrtes Gleichgewicht verlor. Sie sackte zusammen und plumpste wieder auf ihn nieder.

Konnte es noch peinlicher werden? Hastig kämpfte sie sich auf die Füße, stets in Gefahr, wieder auszugleiten. Glücklicherweise gelang es ihr, aufrecht zu bleiben. Lord Hauxton erhob sich bedeutend würdevoller und klopfte sich den Schnee vom Mantel.

„Ich denke, das war genug Aufregung für heute“, stellte er fest, nahm Berties Leine und sah den Hund streng an. Dann bot er Henrietta seinen Arm, und sie machten sich auf den Rückweg. Entschlossen hielt Henrietta den Blick zu Boden gerichtet. Sie wollte dem Mann, an den gefesselt sie einige lange Minuten zugebracht hatte, lieber nicht in die Augen sehen.

3. KAPITEL

Nach ihrem etwas anstrengenden Spaziergang mit Bertie und den fünf Minuten, die er, unter Miss Harvey begraben, auf dem Rücken im Schnee zugebrachte hatte, hatte Thomas um heißes Wasser für ein Bad gebeten. Die Dienstboten waren seinem Wunsch nachgekommen und hatten die Wanne in dem Raum, den Heydon und Caroline sich als Badestube hatten einrichten lassen, gefüllt. Auf seinen eigenen Gütern gab es so etwas nicht, dort musste ein Zuber in ein Schlafgemach geschleppt und dann kannenweise mit heißem Wasser gefüllt werden. Ein Extraraum wie hier war viel vernünftiger, und er hatte schon oft überlegt, dass er in seinem Stammwohnsitz eine ebensolche Badestube einrichten lassen sollte. Genüsslich lehnte er sich zurück und spürte das köstlich warme Wasser an seiner Haut. Seine Gedanken wanderten zu Miss Harvey. Inzwischen war er davon überzeugt, dass das Schicksal sie zu ihm gesandt hatte, um ihn zu verspotten.

Zuerst hatte sie in seinem Bett ihren wohlgeformten Körper an ihn gepresst, dann hatte sie auf dem Weg zur Tür irgendwie ihre Hüllen fallen. Das Bild, wie sie in ihrer ganzen Blöße dastand, würde er wohl nie wieder aus dem Sinn bekommen. Und heute Vormittag, als sie beide in den Schnee stürzten, ging das weiter. Als sie auf ihm lag, hatte sie sich so gewunden, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte … und dann ihre Hand …

Er blinzelte. Das alles war in völliger Unschuld geschehen, ganz bestimmt. Miss Harvey hatte nicht den berechnenden Blick einer erfahrenen Frau. Sie hatte nicht beabsichtigt, ihn zu erregen. Doch als sie ihre Wange, ach, so behutsam, mitten auf seine Hosenklappe gelegt hatte, musste er sich sehr in Zaum halten, um nicht einzig und allein daran zu denken, dass nur wenige Lagen Stoff ihre Lippen von seiner Haut trennten.

All das hätte er verzeihen können, aber dies hier ging einen Schritt zu weit.

Plötzlich hatte sich die Tür der Badestube geöffnet. Anstelle eines Hausburschen, der ihm zusätzliche Handtücher und frische Kleidung bringen sollte, trat Miss Harvey ein.

Die Wanne wurde durch einen Paravent abgeschirmt, um den Badenden vor Blicken zu schützen, falls die Zimmertür offen stand, deshalb bemerkte die junge Dame ihn nicht sofort. Thomas hingegen hörte, wie sie vor sich hin summte. Im Spiegel konnte er erkennen, wie sie die Nadeln aus ihrem Haar löste und ihr die dunkelbraunen Locken über die Schultern fielen.

Er räusperte sich und unterdrückte nur mit Mühe ein amüsiertes Schmunzeln, als er ihren Gesichtsausdruck sah: Ihre Augen wurden groß, und sie öffnete den Mund, brachte jedoch keinen Ton heraus. Einen Moment stand sie erstarrt, dann wandte sie sich überstürzt ab, wobei sie gegen den Waschtisch prallte. Voller Panik riss sie die Tür auf und entfloh.

Wieder allein ließ Thomas sich tiefer ins Wasser sinken und lag so eine Weile, ehe er wieder auftauchte. Diese Situation mit Miss Harvey, diese erzwungene Nähe, ließ sich nicht ändern. Beide hatten sie auf Hailsham Hall Zuflucht gesucht, und beide saßen sie hier fest, bis Tauwetter eintrat. Da die Wolken schwer und grau am Himmel hingen und der Landsitz von der Außenwelt abgeschnitten war, würde es sicher noch ein paar Tage dauern, bis einer von ihnen abreisen konnte.

„Sie ist nur eine Frau“, murmelte er vor sich hin. Eine reizvolle junge Frau, aber trotzdem einfach eine Frau. Er gönnte sich noch eine halbe Minute im warmen Wasser, stieg dann aus der Wanne und trocknete sich mit einem der Handtücher, die auf einem marmornen Waschtisch lagen, ab. Seine Kleider waren feucht vom Schnee, deshalb schlang er sich einfach ein weiteres Handtuch um die Hüften. Auf dem kurzen Weg zu seinem Schlafzimmer würde ihn wohl niemand sehen, also öffnete er die Tür und tat in den Korridor.

„Ich kam nicht absichtlich zu Ihnen hinein“, sagte Miss Harvey. Sie hatte draußen gewartet und sprach ihn an, bevor sie seinen halbnackten Zustand wahrgenommen hatte. Er bemerkte, wie ihr Blick über seinen Körper wanderte und etwas länger darauf verharrte, ehe sie hastig aufblickte und ihm ins Gesicht sah.

„Vielleicht setzen wir das Gespräch fort, wenn ich angekleidet bin.“

Miss Harvey nickte und wandte sich eilig zum Gehen.

„Sagen wir, Tee in der Bibliothek, in zehn Minuten?“, rief er ihr nach. Ohne ihre Antwort abzuwarten, entfernte er sich in die entgegengesetzte Richtung, wo sein Zimmer lag.

Drinnen drehte er sogleich den Schlüssel im Schloss um, damit er nicht noch weiteren Überraschungsbesuch bekam, während er sich ankleidete. Falls er sich auf seinem Stammwohnsitz eine Badestube einrichten ließ, würde sie auf alle Fälle abschließbar sein.

Henrietta hockte sich vorn auf die Kante eines unbequem steifen Armsessels. Nervös klopfte sie mit einem Fuß auf den Boden, stand dann auf und nahm ihre Wanderung durch die Bibliothek wieder auf.

Die letzten beiden Tage waren die peinlichsten ihres Lebens gewesen. Sie war nicht nur nackt zu einem Angehörigen des Hochadels ins Bett gestiegen, nun war sie auch noch in die Badestube geplatzt, als er in der Wanne lag. Zugegeben, der Paravent hatte ihn größtenteils vor ihr verborgen, sodass sie tatsächlich nur Kopf, Hals und den oberen Brustkorb gesehen hatte, aber das konnte er nicht wissen.

Sie zwang sich, wieder Platz zu nehmen. Als Lord Hauxton eintrat, zuckte sie heftig zusammen. Er hingegen wirkte ruhig und gelassen und war perfekt gekleidet.

„Ich versuche nicht, Sie in eine Ehe zu manövrieren“, platzte sie heraus, noch bevor er sich setzen konnte.

Er betrachtete sie lange und abschätzend. „Gut. Da wir das geklärt haben, wollen wir den Tee einnehmen?“

Henrietta konnte nur zusehen, wie er die Kanne ergriff, die ein Hausmädchen kurz vorher hereingebracht hatte, und ihnen eingoss.

„Ich sorgte mich, dass Sie denken könnten …“ Unsicher, wie sie fortfahren sollte, brach sie ab.

„Sie sorgten sich, dass ich denken könnte, Sie hätten all diese Dinge fein eingefädelt: in mein Bett steigen, Ihr Laken an der Tür fallen lassen, Bertie trainiert, damit er uns zusammenbindet, zu mir in die Badestube kommen …“

„Ja.“

„Aber das ist nicht so.“

„Nein.“

„Dann gibt es keinen Grund für eine Entschuldigung und auch keinen zur Sorge. Zucker?“

Sie schüttelte den Kopf und nahm die Tasse entgegen, die er ihr reichte. Sie war dankbar, dass sie ihre Hände beschäftigen konnte.

„Ich habe so einige berechnende Frauen gekannt, Miss Harvey. Frauen, die versuchten, sich durch List und Verführungskunst eine vorteilhafte Ehe zu erschleichen.“ Er hielt einen Moment inne und suchte ihren Blick, ehe er weitersprach: „Sie gehören nicht zu denen, das weiß ich.“

„Danke.“

„Außerdem weiß ich, dass Sie eng mit Lady Heydon befreundet sind. Vielleicht hat sie erwähnt, dass ich nicht vorhabe, wieder zu heiraten.“

„Nein, das erwähnte sie nicht.“

Nicht mehr ganz so angespannt lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und betrachtete den Mann vor sich. Caroline hatte stets gesagt, er sei ein guter Mann, einer der besten. Auch Henrietta erkannte es unter seiner rauen Schale. Viele Männer wären nicht so großmütig gewesen, er aber hatte die Geschehnisse der letzten Tage als dumme Zufälle akzeptiert und war rasch darüber hinweggegangen.

„Warum denn nicht?“ Sie hatte noch nie zur rechten Zeit den Mund halten können, so auch jetzt nicht. Dabei ging es sie nichts an, warum Lord Hauxton sich nicht noch einmal eine Gemahlin suchen wollte.

Eine ganze Weile schwieg er, und sie dachte schon, er würde nicht antworten. Dann seufzte er und trank einen Schluck Tee. „Glauben Sie an das Schicksal, Miss Harvey?“

„Ja.“

„Ich auch. Nicht in dem Sinne, dass alles, was wir tun, vorherbestimmt ist, sondern dass bestimmte Dinge unausweichlich sind. Ich bin inzwischen seit fast sechs Jahren verwitwet und natürlich habe ich anfangs nicht an eine neue Heirat gedacht. In den letzten beiden Jahren ändert sich das.“ Er hatte Caroline einen Antrag gemacht, das wusste Henrietta. Doch dann hatten Caroline und Heydon erkannt, wie sehr sie einander liebten. Vage erinnerte Henrietta sich, dass Hauxton sich danach mit jemand anders verlobt hatte. Das konnte noch nicht lange zurückliegen, doch die Einzelheiten waren ihr nicht bekannt. Schließlich achtete sie nie auf den geistlosen Klatsch ihrer Mutter. Sie schwieg deshalb lieber, um nichts Falsches zu sagen.

„Die erste Dame, um die ich nach Emilys Tod anhielt, heiratete meinen besten Freund.“ Er lächelte schief. „Nicht, dass ich den beiden ihr Glück nicht gönnte.“

Henrietta sagte nichts. Bisher waren ihre Gespräche eher kurz gewesen, daher fürchtete sie, er würde sich erneut verschließen und auf die knappen Antworten zurückgreifen, die sie bisher von ihm kannte.

„Dann, letztes Jahr, traf ich Jemima.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie kannten sie vielleicht. Ihre Familie stammt aus Bath; sie leben die meiste Zeit dort.“

„Jemima Greenway“, sagte Henrietta leise. Nun erinnerte sie sich. Sie blickte auf und bemerkte, wie Lord Hauxtons Augen kurz von Schmerz überschattet wurden. Wie sehr wünschte sie sich, sie könnte ihm, vielleicht durch eine sanfte Berührung, ein wenig Trost spenden.

„Ich machte ihr ein paar Monate den Hof, schließlich bat ich um ihre Hand. Wir brauchten nichts zu überstürzen; wir beide wussten, was wir wollten.“ Er stellte seine Tasse ab, lehnte sich zurück und schüttelte aufs Neue den Kopf, als wollte er die auf ihn einstürmende Erinnerung abwehren. „Eine Woche nach unserer Verlobung starb sie.“ Nach dem, was Henrietta aufgeschnappt hatte, war die junge Frau einfach tot umgefallen, während sie zusammen mit ihrer Mutter ihr Brautkleid aussuchte. In einem Augenblick hatte sie noch aufgeregt all die verschiedenen Stoffe betrachtet, im nächsten war sie leblos zusammengebrochen.“

„Das tut mir so leid, Lord Hauxton.“

Er nickte dankbar, ohne sie jedoch anzuschauen.

„Ich bin vierunddreißig. Drei Mal habe ich um eine Frau angehalten.“ Er ließ den Satz so stehen, doch Henrietta wusste, was er ungesagt ließ. Er hatte in seinem Leben um drei Frauen angehalten und keine der drei war jetzt an seiner Seite.

Bei manchem Mann würde es wie Selbstmitleid klingen, Lord Hauxton hingegen neigte nicht zu Selbstmitleid. Er hatte beschlossen, ledig zu bleiben, und so würde es eben sein.

Beinahe hätte Henrietta erklärt, dass auch sie nicht heiraten wollte, hielt sich aber zurück. Ihr Grund für diesen Entschluss würde trivial klingen, verglichen mit dem Leid, das Lord Hauxton erfahren hatte. Dennoch war ihr Motiv für sie selbst von großer Bedeutung.

„Wie wäre es mit etwas Stärkerem als Tee?“ Mit diesen Worten stand er auf, holte aus einer Nische zwischen den Bücherregalen eine Karaffe und zwei Gläser.

„Brandy?“

„Ja, bitte.“

Wortlos schenkte er ein, hob sein Glas zu einem stummen Toast und nahm einen großen Schluck. Henrietta machte es ihm nach und leerte ihr Glas mit ein paar Schlucken.

„Noch eins?“ Er wirkte leicht überrascht, als hätte er nicht erwartet, dass sie mit dem starken Alkohol so geübt umgehen könnte.

„Ja, bitte.“

Als sie das Glas an die Lippen hob, beobachtete er sie, und sie musste ein Lächeln unterdrücken. Sie war es gewohnt, von den Leuten für eine langweilige Debütantin gehalten zu werden, die nichts interessierte als das Kleid, das sie beim nächsten Ball tragen würde oder wer sie wohl zum Tanz bitten werde. Normalerweise machte ihr das nichts aus. Seit drei Jahren hatte sie sich darauf verlassen, dass niemand genauer hinschaute, denn das gab ihr die Freiheit, ihrer wahren Leidenschaft nachzugehen.

Bei dem Gedanken daran stiegen ihr Tränen in die Augen. Hastig trank sie noch einen Schluck.

„Ich hätte nicht vermutet, dass Sie gern Brandy trinken, Miss Harvey“, äußerte Lord Hauxton, als sie das leere Glas auf dem Tisch absetzte. „Anscheinend habe ich mich geirrt.“

„Warum dachten Sie das?“

„Die meisten jungen Damen bevorzugen Wein oder Punsch.“

Sie zog eine Grimasse. „Auf den meisten Veranstaltungen wird Punsch serviert, aber ich kann ihn nicht ausstehen. Oft ist er ekelhaft süß.“

„Und woher stammt Ihre Vorliebe für Brandy? Zwar kenne ich Ihren Vater nicht sonderlich gut, doch ich kann mir nicht vorstellen, dass er seiner einzigen Tochter starke Getränke vorsetzt.“

Einen Moment schloss Henrietta die Augen. Ob Mutter wohl Vater erzählt hat, worüber wir gestritten haben? Der Ausdruck von Unglauben und Ekel im Blick ihrer Mutter war schwer genug zu ertragen gewesen, aber die gleiche Empfindung bei ihrem Vater zu sehen, würde sie vernichten. Er war immer ihr Fürsprecher, ihr Verbündeter gewesen, trotzdem reichte vielleicht auch seine unendliche Güte nicht aus, um ihr alles zu verzeihen.

„Manche Dinge sollte eine junge Frau ihren Eltern lieber vorenthalten.“

„Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht. Was denn noch außer Brandy?“, fragte Lord Hauxton.

„Alles, was einen von der Menge abhebt. Der ton wünscht nicht, dass die jungen Frauen Individuen sind, man will die perfekte Nachbildung der perfekten Dame.“

„Und was hält man für die perfekte Dame?“

Henrietta beugte sich zum Tisch vor und fuhr mit dem Finger über den Rand des leeren Glases. Wie waren sie nur auf das einzige Thema gekommen, über das sie nicht reden wollte?

„Sie muss geziert und respektabel sein. Muss Konversation machen können, darf jedoch keine eigene widerstreitende Meinung äußern. Sie muss ihre Ansichten stets an die der Eltern oder des Gatten anpassen. Und sie darf nur Interessen haben, die von der Gesellschaft als achtbar angesehen werden.“

„Achtbar?“

„Sticken oder Pianospielen oder verdammte Aquarelle malen.“ Henrietta hob den Kopf. Ihr wurde bewusst, wie viel Gift in ihrem Tonfall gelegen hatte.

„Verdammte Aquarelle malen“, wiederholte Lord Hauxton leise. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit verdammter Aquarellmalerei vertraut bin.“

Irgendwie verrauchte ihre Wut ein wenig und im nächsten Augenblick musste sie unwillkürlich lächeln. Aquarelle hasste sie unerklärlicherweise wirklich sehr.

„Bestimmt gibt es Leute, die Aquarellmalen spannend finden.“ Sie schaute Lord Hauxton an. „Und es ist nicht die Technik, die ich verabscheue, sondern die geistlosen Themen, die erwartet werden, wenn man mit Aquarellfarben malt.“

Er beugte sich vor, als wäre er an ihren Ausführungen tatsächlich interessiert. „Was wird denn erwartet?“

„Blumen, sanft geschwungene Hügel oder vielleicht Blumen auf sanft geschwungenen Hügeln.“

„Was würden Sie denn lieber malen?“

Henrietta atmete scharf aus und bemühte sich, nicht an das Gemälde zu denken, in das sie so viel Herzblut gesteckt hatte. Das Gemälde, das ihre Mutter zerfetzt hatte.

„Das echte Leben. Nicht die idealisierte Form – eine liebliche Landschaft mit einer hübschen Maid, die durch Kornfelder tänzelt. Sondern etwas viel …“ Sie suchte nach Worten. „… Ehrlicheres.“

Lord Hauxton lehnte sich wieder zurück und betrachtete sie mit scharfem Blick. „Sie malen also?“

Henrietta nickte. Normalerweise gab sie es nicht zu. Sie hatte es so lange für sich behalten, aber vermutlich konnte sie sowieso nicht weitermachen wie bisher. Sie würde sich nicht mehr jede Woche für ein oder zwei Stunden davonschleichen können, um im Atelier zu malen. Sollte sie je nach Hause zurückkehren, würde ihre Mutter garantiert ihre Malerei für immer unterbinden.

„Ölgemälde. Vorwiegend häusliche Szenen.“ Das war nur die halbe Wahrheit. Ja, sie malte häusliche Szenen, allerdings keine gestellten Szenen aus der vornehmen Welt. Sie malte Armut und Verzweiflung, und darin den Hauch von Liebe und Hoffnung.

„Das ist ungewöhnlich. Wie kamen Sie dazu?“

„Ein Freund besaß ein Atelier, dort konnte ich malen und hatte das Glück, von einigen etablierten Künstlern lernen zu dürfen.“ Auch das war nur die halbe Wahrheit. Henriettas rebellische Ader hatte sich schon gemeldet, bevor sie sich jede Woche zum Malen davonstahl. Bei einem ihrer Streifzüge durch London hatte sie die Tür eines Ateliers offen gefunden, war einfach eingetreten und sofort wie behext gewesen. Seitdem lebte und träumte sie vom Malen. Sie gab ihr gesamtes Geld dafür aus, einen Raum zum Malen zu mieten und Malutensilien zu kaufen.

„Sind Sie gut?“ Eine direkte Frage, aber langsam erwartete sie von Lord Hauxton nichts anderes.

„Ja.“

„Ich würde gern einmal eins ihrer Werke sehen.“

„Ich zweifele, ob man mir je wieder erlauben wird zu malen“, sagte sie verdrossen.

„Warum nicht?“

„Offensichtlich ist es kein passender Zeitvertreib für eine vornehme junge Dame.“ Selbst zwei Tage später stachen jene Worte ihrer Mutter noch wie Messer. „Besonders nicht für eine, die sich darauf konzentrieren sollte, einen Gatten zu finden, da sie auch nicht jünger wird.“

„Aua. Ihre Mutter?“

„Ja. Dass ich nicht jünger werde, stimmt natürlich, doch ihre Logik setzt voraus, dass ich heiraten will.“

„Und das wollen Sie nicht?“

Sie war sich bewusst, dass sie mehr von sich preisgab als sie ursprünglich gewollt hatte. Mit Lord Hauxton ließ sich erstaunlich gut reden, nachdem die zwei Gläser Brandy ihr die Zunge gelöst hatten. Außerdem, fand sie, war es schon lange her, dass sie jemandem ihre wahren Empfindungen anvertraut hatte.

„Nein. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen. Einen Mann zu heiraten, den du kaum kennst, ihm die Kontrolle über dein Leben und alles, was du tust, zu überlassen … Wissen Sie, dass die meisten Paare heiraten, nachdem sie nur ein paar Stunden miteinander verbracht haben? Wie soll man nach so kurzer Zeit sagen können, ob jemand freundlich ist oder nicht? Oder vielleicht verrückt? Es wäre, als wenn wir beide nach diesen zwei Tagen heirateten würden.“

„Ich verstehe, was Sie meinen.“ Er musterte sie einen Moment forschend. „Obwohl ich denke, da ist noch etwas anderes.“

„Etwas anderes?“

„Es hält Sie noch etwas anderes vom Heiraten ab. Die Gründe, die Sie genannt haben, sind allgemein, nicht auf Ihre Umstände bezogen. Ich würde wetten, etwas Spezielles hält Sie vom Heiraten ab.“

„Sie meinen, mit mir stimmt etwas nicht?“ In ihr stieg Ärger auf. Er mochte recht haben, trotzdem klang es wie eine Beleidigung.

„Nein, das meine ich nicht, Miss Harvey. Ich meine, Sie haben einen weiteren Grund, die Ehe zu abzulehnen.“ Beschwichtigend hob er die Hände. „Sie sind nicht verpflichtet, es mir zu erzählen. Ich weiß, wie es ist, wenn man etwas ganz für sich behalten möchte.“

Ehe sie antworten konnte, stand er auf, verbeugte sich kurz und ließ sie allein. Verblüfft schaute sie ihm hinterher.

Natürlich war ihre Malerei der Grund, warum sie nicht heiraten wollte. Jahrelang hatte sie von einem Leben geträumt, das über das hinausging, was man von ihr erwartete. Man hatte sie vielleicht dazu erzogen, Ehefrau und Mutter zu sein, nur war es nicht das, wonach sie sich sehnte. Wenn sie in ihrem Bett lag und ihren Träumen nachhing, sah sie nicht einen stattlichen Gatten und hübsche Kinder, sondern eine erfolgreiche Ausstellung und Menschen, die ihr Aufträge für ein Gemälde erteilten. Sie träumte davon, das zu tun, was ihr mehr als alles andere bedeutete. Und sie wollte es offen tun, ohne sich schämen zu müssen.

Wenn sie heiratete, würde ihr Gemahl ihr nicht erlauben, mit ihrer Art der Malerei fortzufahren, das wusste sie. Für die Gattin eines Adeligen würde es sich nicht schicken, mit der Art von Leuten zu verkehren, der ihr künstlerisches Interesse galt. Nein, es war besser, sie blieb unverheiratet und endete als alte Jungfer, dann gab es wenigstens eine Person weniger, die ihre Leidenschaft fürs Malen missbilligte.

Sie lehnte sich zurück, schloss sie die Augen und genoss die Wärme des Feuers. Trotz des schwierigen Beginns ihrer Bekanntschaft mit Lord Hauxton und trotz seiner notorischen Schroffheit war er erstaunlich angenehm zu ertragen. Sie wünschte, Caroline wäre wieder hier, sodass sie ihr all ihren Kummer anvertrauen könnte. Noch ein paar Tage hier auf Hailsham Hall mit Lord Hauxton gefangen zu sein, war jedoch nicht so schrecklich, wie sie anfangs gedacht hatte.

Die Erinnerung an seinen warmen Körper neben ihr unter den Bettdecken lebte auf, und sie verspürte ein Fünkchen Erregung, das sie hastig unterdrückte. Lord Hauxton mochte ein annehmbarer Gesellschafter sein, aber das hieß nicht, dass sie ihn je als etwas anderes betrachten sollte als den etwas distanzierten Freund des Gatten ihrer Cousine.

4. KAPITEL

Thomas schlüpfte in seinen Mantel und zog sich den Kragen bis unters Kinn, dann öffnete er die Haustür und trat ins Freie. Über Nacht hatte war neuer Schnee gefallen, der die Spuren ihres gestrigen Ausflugs zugedeckt hatte. Alles sah frisch und rein aus und ein wenig unwirklich, wie die Szenerie eines Bildes.

„Aber kein Aquarell“, murmelte er vor sich hin, während er forsch die Stufen hinabging. Miss Harvey hatte ihn gestern, als sie über Malerei und die damit verbundenen Erwartungen sprach, fasziniert. Noch lange nach jenem Gespräch fragte er sich, was sie eigentlich vor der Welt verbarg.

Und das war nicht der einzige Grund, warum sich seine Gedanken bis in die frühen Morgenstunden mit Miss Harvey beschäftigt hatten. Trotz aller Bemühungen, in dieser Nacht genügend Schlaf zu bekommen, war sein leichter Schlummer immer wieder von Wachträumen gestört worden. In all diesen Träumen kam die junge Dame vor – in diversen mehr oder weniger bekleideten Zuständen. Dank der Vorkommnisse der letzten Tage brauchte er dahingehend nicht einmal seine Fantasie zu bemühen. Deswegen hatte sein Hirn alle seine schöpferischen Kräfte genutzt, um sich unmissverständliche, abgründige Dinge auszumalen, die er und Miss Harvey miteinander tun könnten.

„Ungehörig“, schalt er sich streng. Die junge Dame hatte gestern deutlich gemacht, dass sie nicht zu heiraten gedachte, und er wiederum hatte die Entscheidung getroffen, besser allein zu blieben. Er mochte für die hübsche Brünette heftiges Begehren empfinden, doch er durfte nicht mit ihr spielen. Also musste er für seine überschüssige Kraft ein anderes Ventil finden.

Ein Spaziergang bei diesen frostigen Temperaturen schien bestens geeignet. Er hoffte, er könnte ihm helfen, sein Begehren ein wenig abzukühlen und ihn von unschicklichen Gedanken abzulenken.

Durch die Schneewehen zu stapfen, war mühsam und bald waren seine Beinkleider bis zu den Knien durchweicht. Ohne Bertie, der an der Leine zerrte, und ohne Miss Harvey an seinem Arm konnte er sich etwas weiter vom Haus entfernen, doch es schien unmöglich, weiter als bis in den Park vorzudringen. Bis es so weit taute, dass der Weg ins Dorf passierbar wurde, würde es noch ein paar Tage dauern. Immer vorausgesetzt, es fiel nicht noch mehr Schnee.

Als ihm vor Kälte langsam die Zehen schmerzten, kehrte er um und ging in seiner alten Spur zurück zum Haus. Er hielt den Kopf gesenkt, und so bemerkte er nicht sofort, dass sich die Eingangstür öffnete und ein Hausmädchen mit Bertie an der Leine herauskam. Erst, als er den Hund bellen hörte, schaute er auf.

„Vorsicht, Polly!“, rief er entsetzt.

Das Mädchen hob den Kopf. Im gleichen Moment zerrte Bertie an der Leine und rannte los.

Polly verlor das Gleichgewicht und suchte auf dem vereisten Podest verzweifelt nach Halt. Thomas stürmte vorwärts, aber nicht schnell genug. Er erreichte den Fuß der Treppe, als das Mädchen auf der obersten Stufe aufschlug. Man hörte das hässliche Geräusch brechender Knochen, und Polly stieß einen fürchterlichen Schrei aus. Eine Sekunde stand Thomas wie festgefroren, dann reagierte er ganz instinktiv, wie er es im Krieg gelernt hatte, und er eilte zu ihr hinauf.

„Polly, können Sie sich bewegen?“

Sie schluchzte nur. Er hockte sich neben sie, um zu prüfen, wie schlimm sie verletzt war. Die Tür wurde erneut geöffnet, und er nahm vage wahr, dass sich dort ein paar Leute einfanden. Er musste sich erst einmal auf das verletzte Mädchen konzentrieren.

„Ruhig, Polly, es wird alles gut. Ich weiß, es tut weh, aber wir müssen sehen, dass wir Sie ins Haus bekommen und irgendwo bequem hinlegen können.“

„Nein, nicht anfassen“, jammerte sie und umklammerte ihre Oberschenkel.

„Was ist passiert?“, fragte Miss Harvey und trat sehr vorsichtig vor die Tür. Als sie den Schrei gehört hatte, war sie, nur im Kleid, herbeigeeilt. Thomas verspürte den merkwürdigen Drang, sie zu tadeln, weil sie ihre Gesundheit so närrisch aufs Spiel setzte. Doch im Moment gab es natürlich Wichtigeres.

„Sie ist ausgeglitten.“

Miss Harvey musterte das Mädchen kurz, das mit verkrampftem Gliedern auf der Treppe lag. Ein Blutfleck zeichnete sich auf seinem Rock ab.

Sie kniete sich hin, umfing Pollys Hand und sagte tröstend: „Hören Sie, wir müssen Ihre Röcke anheben, um uns die Verletzung anzuschauen.“

Thomas bedeutete ihr, sie möge das tun. Als er gleich darauf sah, dass der gebrochene Knochen die Haut des Unterschenkels durchstoßen hatte, konnte er sein Entsetzen nur mühsam verbergen.

„Haben Sie noch anderswo Schmerzen?“, fragte Miss Harvey. Er hatte halbwegs erwartet, dass sie bei dem fürchterlichen Anblick ohnmächtig werden würde, doch sie wirkte erschrocken, aber gefasst.

Polly, die inzwischen sehr bleich war, schüttelte den Kopf.

„Perkins, welches Schlafzimmer können wir Polly geben?“

„Das Rote Zimmer ist bereit und liegt nah bei der Treppe, Mylord.“

Thomas beugte sich über Polly und erklärte ihr eindringlich: „Ich hebe Sie nun auf, Polly. Wir müssen Sie unbedingt ins Haus bringen und auf ein Bett legen, damit wir Ihr Bein ansehen und etwas gegen die Schmerzen tun können. Es wird jetzt vielleicht wehtun, aber ich werde vorsichtig sein und mich beeilen.“

Polly wimmerte leise. Als er behutsam seine Arme unter ihren Körper schob und sie sanft vom Boden aufhob, schrie sie vor Schmerz auf.

Hinter ihm gab Miss Harvey Anweisungen. „Wir brauchen heißes Wasser und Tücher, um das Bein zu säubern, und etwas zum Verbinden. Anna, Sie sind mit Polly befreundet, kommen Sie mit und schauen Sie, ob Sie ihr gut zureden können.“

So rasch es ihm unter den Umständen möglich war, brachte Thomas das Mädchen ins Haus und hinauf in das Rote Zimmer. Sachte legte er es auf das Bett, das in der Zwischenzeit schon aufgedeckt worden war. Miss Harvey zog ihn sanft zu sich hinüber, damit Anna sich zu ihrer Freundin setzen und sie ein wenig trösten konnte.

„Das Bein sieht schlimm aus“, sagte Miss Harvey gedämpft. „Ich sprach mit den Hausburschen. Sie meinen, sie kämen möglicherweise bis ins Dorf, halten es aber für unwahrscheinlich, dass sie Dr. Beckett herbringen könnten. Er ist über sechzig Jahre alt und nicht mehr besonders rege.“

Mit einem stummen Fluch zog Thomas Mantel und Jackett aus und rollte sich die Hemdsärmel hoch.

„Was haben Sie vor?“

„Der Knochen hat die Haut durchbrochen. Das bedeutet, dass es kein glatter Bruch ist. Man muss ihn einrichten, sonst wird sie lahm bleiben.“

„Und das wollen Sie tun?“

„Wenn wir auf den Arzt warten, könnte sie das Bein verlieren oder sogar sterben.“

„Haben Sie das schon einmal gemacht?“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht eigenhändig, aber ich habe schon dabei geholfen. Während des Krieges …“ Er brach ab. Während des Krieges hatte er, der Not gehorchend, so manches tun müssen.

„Meinen Sie, Sie schaffen es?“ Sie flüsterte, damit Polly ihren zweifelnden Ton nicht hörte.

„Ich muss es versuchen. Fragen Sie Perkins, ob es im Haus Laudanum gibt. Und wir brauchen zwei kräftige junge Männer, die Polly festhalten.“

Miss Harvey zögerte nur eine Sekunde, dann hatte sie sich gefasst und eilte davon.

„Sie müssen mir jetzt gut zuhören, Polly.“ Thomas setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Nur mit Mühe schlug das Mädchen die Augen auf. Seine Wangen waren tränenfeucht, sein Atem ging schwer. „Ich muss Ihr Bein gründlich untersuchen und schauen, was wir gegen den Schmerz tun können. Ich werde ganz vorsichtig sein.“

Einen Augenblick später nickte Polly, atmete jedoch noch schwerer, als er sie auf dem Bett zurechtrückte.

„Lassen Sie mich helfen.“ Miss Harvey war zurück. „Polly, ich ziehe Ihnen nun ganz, ganz behutsam den Strumpf aus, damit wir das Bein erst einmal säubern können.“

Miss Harveys Hände bebten kaum merklich, als sie sich niederbeugte. Ohne zu zögern fasste sie die Kante des Strumpfs, rollte ihn sanft bis zu der verletzten Stelle hinab und dehnte den Strickstoff dann so weit mit den Händen, dass sie ihn über die Verletzung heben konnte, ohne die Wunde auch nur zu streifen. Trotzdem versteifte sich Polly und schrie auf. Zum Glück kam endlich Perkins mit einem Fläschchen Laudanum.

Zuerst einmal begutachtete Thomas die Verletzung, ohne das Bein zu berühren, das inzwischen an dem Bruch angeschwollen war und sich rot verfärbt. Die offene Wunde war nur klein, eine Spitze des Knochens stach daraus hervor.

Autor

Laura Martin
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Annie Burrows
Annie Burrows wurde in Suffolk, England, geboren als Tochter von Eltern, die viel lasen und das Haus voller Bücher hatten. Schon als Mädchen dachte sie sich auf ihrem langen Schulweg oder wenn sie krank im Bett lag, Geschichten aus. Ihre Liebe zu Historischem entdeckte sie in den Herrenhäusern, die sie...
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