Kein Duke wie jeder andere

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Damit hätte Lady Ana Maria nie gerechnet: Die Herren der Gesellschaft umschwärmen sie derart ungestüm, dass sie sich die zahlreichen Heiratskandidaten kaum vom Leibe halten kann. Deshalb sorgt ihr Bruder dafür, dass sein Freund Nash, der Duke of Malvern, ihr zeigt, wie man sich gekonnt gegen aufdringliche Verehrer zur Wehr setzt. Während sich die meisten Ladies von dem düsteren Duke eingeschüchtert fühlen, genießt Ana Maria seine Gegenwart. Und bei den täglichen Lektionen kommt er ihr so erregend nahe, dass sie sich nach mehr sehnt … Doch der Duke macht ihr unmissverständlich klar, dass er niemals heiraten will!


  • Erscheinungstag 29.03.2022
  • Bandnummer 377
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511025
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Hätte Nash Talbot, Duke of Malvern, sich jemals die Szene ausgemalt, die sein Leben unwiderruflich verändern sollte – nicht, dass ihm dergleichen je in den Sinn käme –, dann wäre er zweifellos davon ausgegangen, dass er bei der betreffenden Gelegenheit Hosen trug.

Dem war aber nicht so.

Um genau zu sein, trug er keinen Faden am Leib. Ein Zustand, der sich hervorragend geeignet hätte, um für die Skulptur eines antiken griechischen Gottes Modell zu stehen oder ein erfrischendes Bad in einem abgeschiedenen Teich auf dem eigenen Anwesen zu nehmen. Nicht jedoch für ein lebensveränderndes Ereignis.

So unkonventionell er auch war, auf seine Hosen hätte Nash in dieser Situation nicht verzichten mögen.

Dennoch er trug keine.

„Steh auf.“

Widerwillig öffnete Nash ein Auge und fragte sich, wer die Unverfrorenheit besaß, ihn so früh am Morgen zu stören.

Die Stimme war ihm unbekannt, und sie klang eindeutig unfreundlich. Doch auch wenn die Person ihm fremd war – wusste sie nicht, dass er in dem Ruf stand, erst zuzuschlagen und dann Fragen zu stellen?

„Steh. Auf.“ Diesmal begleitete ein Stoß gegen seine unteren Gliedmaßen die zornigen Worte, und er reagierte mit einem wütenden Knurren.

„Euer Gnaden, es ist die Dowager Duchess of Malvern.“ Diese Stimme erkannte Nash. Sie gehörte Finan, der noch nie so ängstlich geklungen hatte.

Nash rollte sich auf den Rücken und öffnete auch das andere Auge. Er blickte zur Decke empor und blinzelte, um einen klaren Kopf zu bekommen.

„Schändlich.“ Die Wortwahl der verwitweten Duchess war genauso brutal wie seine eigene, aber er schätzte es ganz und gar nicht, wenn jemand ihm seine Schwächen unter die Nase rieb. Abgesehen von Finan jedenfalls.

Abrupt setzte er sich auf, und die Decke sackte bis auf seine Taille herab, während die Dame, die in seinem Blickfeld erschien, unterdrückt aufkreischte, auf dem Absatz kehrtmachte und, vom hastigen Klopfen des Gehstocks begleitet, aus seinem Schlafgemach floh.

„Ich rate Ihnen ja schon wer weiß wie lange, ein Nachthemd zu tragen“, bemerkte Finan tadelnd.

„Warum sollte ich das tun, wenn die Tatsache, dass ich nackt schlafe, dazu dient, ältliche Aristokratinnen aus meinem Schlafzimmer zu vertreiben?“

Finan schüttelte nur den Kopf. Nash zuckte mit den Schultern. Seiner Meinung nach war die Frage berechtigt.

„Ich warte im Blauen Salon auf dich.“ Die Stimme der Dowager Duchess drang aus dem Korridor an sein Ohr. „Komm, sobald du dich anständig angekleidet hast.“

Finan marschierte zum Kleiderschrank und riss die Tür auf. Er zerrte Kleidungsstücke heraus und warf sie auf das Fußende von Nashs Bett.

„Sie haben gehört, was sie gesagt hat. Stehen Sie auf.“

Unerschrocken erwiderte Finan den finsteren Blick seines Dienstherrn. Dass Nash so gut mit seinem Kammerdiener auskam, lag auch daran, dass der Mann nie vor ihm katzbuckelte und ihm niemals etwas durchgehen ließ, von dem sie beide wussten, dass es sich um unverdiente Privilegien handelte.

„Ist sie wirklich so furchterregend?“

Finan verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie eine Mischung aus geladener Kanone und einem Fass voll lebendiger Aale.“

Nash zog eine Grimasse und schlug die Decke zur Seite. „So schlimm, ja?“ Er stand auf, trat zum Waschtisch und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Es war so kalt, dass er fröstelte, als seine Haut damit in Berührung kam. Doch er musste so wach wie nur irgend möglich sein, wenn er seiner Großmutter gegenübertrat – einer Frau, an die er sich kaum erinnerte.

„Hast du irgendeine Vorstellung davon, warum sie hier ist?“

„Keine Ahnung.“ Finan stieß ein schnaubendes Geräusch aus. „Und ich würde es nicht wagen, sie zu fragen.“

Eine beunruhigende Beklommenheit machte sich in Nashs Magengrube breit. Kein besonders vertrautes Gefühl; immerhin war er Nash Talbot, Duke of Malvern, ein Mann, der nackt schlief und auch sonst machte, was er wollte. Und zwar immer.

Das Unbehagen, das er verspürte, hatte seine Ursache vermutlich darin, dass er entschlossen war, seinen Verpflichtungen nachzukommen, gleichgültig, wie sehr sie ihm gegen den Strich gingen. Da er die Dowager Duchess in den vergangenen zehn Jahren kein einziges Mal gesehen hatte, musste es einen wichtigen Grund für ihre Anwesenheit geben. Sein Vater hatte die Besuche sämtlicher anständiger Familienmitglieder unterbunden und Nash wirkungsvoll von allen isoliert, die keine ausgemachten Schurken waren.

War seiner Großmutter womöglich zu Ohren gekommen, dass er die außerehelichen Kindern seines Vaters unterstützte? Es war das Mindeste, was er tun konnte, zumal sein Vater das Leben so vieler Menschen ruiniert hatte. Hoffentlich wusste die Dowager Duchess wenigstens nicht, dass sogar der Butler einer seiner Halbbrüder war.

Obwohl es ihm, bei Licht besehen, eigentlich egal war, ob sie es wusste. Er handelte richtig, ebenso, wie er sich richtig verhielt, indem er seine Wut ausschließlich an Raufbolden ausließ.

Aber weshalb war sie sonst hier? Nash fiel kein Grund ein, der einen seiner Verwandten dazu bewegen könnte, freiwillig mit ihm in Kontakt zu treten. Sein Vater hatte sämtliche Brücken hinter sich abgebrochen, und Nash sah keinen Sinn darin, sie wieder zu errichten. Wenn die Familie etwas mit ihm zu tun haben wollte, musste sie ihn so nehmen, wie er war.

Aber solange er in seinem Zimmer blieb, würden seine Fragen unbeantwortet bleiben.

Eine Viertelstunde später war er annähernd so gekleidet, wie es sich gehörte. Er hatte sich, Finans flehendem Blick zum Trotz, lediglich geweigert, ein Krawattentuch anzulegen.

„Euer Gnaden“, begrüßte er seine Besucherin, als er den Blauen Salon betrat. Es geschah selten, dass er den Raum benutzte, normalerweise zog er die Bibliothek vor, da sie über ein eigens für ihn angefertigtes Sofas verfügte. Das Kanapee im Blauen Salon war ein zierlicher Zweisitzer, geeignet für Menschen mittlerer Größe, nicht jedoch für jemanden, der so hochgewachsen war wie er.

Die Dowager Duchess saß steif auf dem Polstermöbel, ihre ebenso steif wirkende Zofe hatte hinter ihr Stellung bezogen. Der Gehstock lehnte in Reichweite seiner Besitzerin an der Armlehne.

Trotz des Höhenunterschieds musterten ihn beide Frauen von oben herab.

Eine bemerkenswerte Leistung.

Im Schlafzimmer hatte er nicht wirklich einen Blick auf sie werfen können, sie war zu schnell verschwunden, verscheucht vom Anblick seines nackten Oberkörpers und weiß der Himmel, was sonst noch. Doch jetzt fiel ihm die Ähnlichkeit mit seinem Vater auf; sie hatte die gleichen ausgeprägten Jochbeine, die gleichen dunkelbraunen Augen und die gleiche hochmütige Ausstrahlung.

Alles Attribute, die er, sehr zu seinem Bedauern, teilte.

Im Unterschied zu seinem Vater war seine Großmutter jedoch zierlich. Das ergraute Haar trug sie aus dem Gesicht gekämmt und mit einer enormen Schleife am Hinterkopf befestigt. Ihre wachen, intelligenten Augen strahlten eine Warmherzigkeit aus, die er von seinem Vater nicht kannte.

Für einen kurzen Moment bereute er, das Krawattentuch verweigert zu haben.

„Mein Junge.“ Die Dowager Duchess neigte kaum merklich den Kopf. „Es war ein Versäumnis von mir, dich nicht besuchen zu kommen …“

„Vielleicht, weil ich keine Einladung geschickt habe?“, fiel Nash ihr grob ins Wort.

Es war das Beste, ihr sofort zu zeigen, mit wem sie es zu tun hatte. Dann würde sie später nicht enttäuscht sein.

Sie rümpfte die Nase. Anscheinend war sie aus recht hartem Holz geschnitzt. Ein Teil von ihm wusste das zu schätzen.

„Aber jetzt bin ich da, und ich habe etwas Dringendes mit dir zu besprechen.“

Nun, das war ihm klar. Warum sonst hätte sie kommen sollen? Er verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Wappnete sich gegen ihre Missbilligung.

„Setz dich.“ Sie ließ die Worte so klingen, als sei es unvorstellbar, dass er der Aufforderung nicht nachkam.

Also hielt er den Atem an und ließ sich vorsichtig auf den Sessel sinken, der zu dem Zweiersofa passte. Er knarrte nur leise, und Nash umfasste die Armlehnen, ein nutzloser Versuch, das Möbelstück notfalls davon abzuhalten, unter ihm zusammenzubrechen.

Vielleicht, so schoss es ihm durch den Sinn, sollte er den Salon renovieren. Nachdem sein Vater vor drei Jahren gestorben war, hatte Nash das Stadthaus in Besitz genommen, ohne jedoch irgendetwas zu verändern, auch wenn ihm die Einrichtung eigentlich nicht gefiel. Die Umgestaltung der Residenz fühlte sich für ihn an wie eine weitere lästige Duke-Pflicht.

Natürlich kam er seinen Pflichten nach, schließlich war er nicht sein Vater, ein Mann, der nur sein Vergnügen gekannt hatte. Doch er weigerte sich, an oberflächlichem Zeitvertreib teilzunehmen, besuchte keine Partys und ließ sich auch nicht in Stadtteilen, die gerade in Mode waren, bei leichtfertigen Zerstreuungen blicken.

War die Dowager Duchess vielleicht deswegen gekommen?

Aber warum war sie dann nicht gleich auf ihn zugekommen, nachdem ihr Sohn gestorben war? Warum erst jetzt?

Soweit er sich erinnerte, hatte er sie mit zehn Jahren das letzte Mal gesehen, kurz nachdem seine Mutter fortgegangen war. Damals hatte er zu viel Angst vor seinem Vater gehabt, war zu verwirrt, zu verzweifelt gewesen, um Besuchern Aufmerksamkeit zu schenken.

„Nun?“ Langsam wurde er ungeduldig.

Seine Großmutter wirkte verunsichert, und er fragte sich, was zur Hölle sie hergeführt haben mochte.

„Geht es um deine finanzielle Zuwendung? Ich kenne mich mit diesen Dingen nicht aus, weil mein Geschäftsführer sich darum kümmert.“ Den Posten seines Geschäftsführers bekleidete ein ein anderer seiner Halbbrüder.

„Nein. Die Zuwendung ist absolut angemessen, vielen Dank.“

„Gut.“

Die Stille dehnte sich, und Nash begann auf seinem Sessel herumzurutschen, sodass es hörbar knarrte. Seine Großmutter hob hoheitsvoll eine Braue.

„Ich habe deinen Vater – meinen Sohn – nicht gemocht“, begann sie übergangslos.

Das erklärte, warum er sie jahrelang nicht gesehen hatte.

„Da haben wir etwas gemeinsam.“

„Ich verurteile sein Verhalten deiner Mutter gegenüber. Als mir klar wurde, was geschah, tat ich mein Möglichstes, um ihr zu helfen, doch das war bedauerlicherweise nicht viel.“ Sie klang angespannt.

Unvermittelt schoss Wut in ihm empor; jener berüchtigte Jähzorn, der in der Familie lag und auch in ihm schwelte. Nash hatte Mühe, ihn niederzukämpfen, aber er wollte nichts von sich offenbaren und erst recht vermeiden, seinem Ruf gerecht zu werden, indem er um sich schlug oder es zumindest versuchte.

„Ich gab ihr Geld, damit sie fliehen konnte. Dein Vater fand es heraus und untersagte mir jeglichen Kontakt mit dir. Ich hätte früher kommen sollen. Es ist mein Fehler.“

Im ersten Moment fand Nash keine Worte. „Fliehen“, sagte er schließlich tonlos. „Weißt du, wo sie ist?“

Die Dowager Duchess schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Ich hoffe, in Sicherheit.“

Ab und an hatte er Briefe bekommen, die ihm mitleidige Diener zugesteckt hatten, daher wusste er, dass sie am Leben war und dass er ihr am Herzen lag und sie sich Sorgen um ihn machte. Es hatte ihn erleichtert zu wissen, dass es ihr gut ging, auch wenn sie ihm nicht helfen konnte.

Der Tod seines Vaters war das Einzige, was ihn hatte retten können.

„Du bist nicht wegen meiner Mutter hier.“

Die Miene seiner Großmutter verdüsterte sich. „Nein. Aber ich muss jetzt dort eingreifen, wo ich seinerzeit nicht dazu in der Lage war.“ Sie atmete tief durch. „Wie es scheint, entwickelt dein Erbe, Mr. John Davies, ähnlich unerfreuliche Gewohnheiten wie dein Vater.“

Abwartend schaute sie ihn an. „Du weißt nichts davon?“

Nash schüttelte den Kopf und verbiss sich einen Laut des Unmuts. Unwillkürlich umklammerte er die Armlehnen stärker. „Es gibt nicht viele Familienmitglieder, mit denen ich spreche.“ Jedenfalls unter den rechtmäßigen.

„Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass du anders bist als mein Sohn.“ Nash konnte den Schmerz und das Bedauern in ihrer Stimme hören. Sie atmete tief durch und blickte ihn dann durchdringend an. „Die Dukes of Malvern gibt es seit der Herrschaft Heinrichs VIII. Es ist ein ehrwürdiger Titel.“

„Er war ehrwürdig, bis zu meinem Vater.“ Bilder stiegen in ihm auf, die er für gewöhnlich loswurde, indem er eine Schlägerei anfing oder seine Erinnerungen in Brandy ertränkte. Seine Mutter, die seinen Vater anflehte, sie nicht zu schlagen. Er selbst als Kind, wie er seinem Vater in den Arm zu fallen versuchte, damit er nicht noch einmal ausholen konnte.

Und dann mit gebrochener Nase zu Boden ging.

„Den Gerüchten zufolge hast du nicht die Absicht, jemals zu heiraten.“

Er würde keine Frau dieser Gefahr aussetzen. Sein Vater hatte ihm so oft eingeredet, wie sehr sie beide sich ähnelten, dass es Nash unvermeidlich erschien, seine Wut eines Tages ebenfalls an einer Unschuldigen auszulassen.

„Du musst aber heiraten.“ Seine Großmutter schlug einen dringlichen Ton an. „Je eher deinem Cousin die Möglichkeit vereitelt wird, dich zu beerben, desto besser. Auch er kennt die Gerüchte, dass du unverheiratet bleiben willst, und nimmt sie zum Anlass, unverantwortlicherweise seine Zukunft zu beleihen. Und nicht nur das, sein Verhalten wird immer schlimmer. Daher ist es unabdingbar, dass du heiratest und einen Erben zeugst. Umgehend.“

Nash hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

„Ich werde hier bleiben und dir bei der Suche nach einer geeigneten Ehefrau helfen“, kündigte seine Großmutter entschlossen an. „Es muss eine junge Dame von ausgezeichneter Herkunft sein, eine, die ihre Pflicht als deine Duchess erfüllt und dir Kinder schenkt.“

„Wie bitte? Nein!“ Nash sprang auf. Er wusste nicht, ob sein Nein ihrer Ankündigung zu bleiben galt oder der Aussicht auf eine Braut.

Er wusste nur, dass er weder das eine noch das andere wollte.

„Stell dich gerade hin.“

Erst als er es tat, wurde ihm klar, dass er ihrem Befehl gehorchte.

„Du bist sehr ansehnlich.“ Es klang nicht wie ein Kompliment. „Hochgewachsen, mit Schultern, die eher an einen Hufschmied erinnern als an einen Duke.“ Sie drehte sich zu ihrer Zofe um. „Finden Sie nicht auch?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sie sich wieder Nash zu. „Wir müssen dafür sorgen, dass du angemessen gekleidet und ordentlich frisiert bist, auch wenn ich weiß, dass dieses nachlässige Erscheinungsbild so mancher jungen Dame gefallen würde“, bemerkte sie missbilligend.

„Es hat sich jedenfalls noch keine beklagt.“ Nash verschränkte die Arme vor der Brust.

Seine Großmutter schnaubte abfällig. Ihm wurde klar, dass er sie wirklich mochte, trotz ihrer unverschämten Forderung.

Ihre Forderung – beinahe hätte er sie vergessen. „Ich heirate nicht.“ Er setzte sich wieder, woraufhin der Sessel sich lautstark beschwerte.

Seine Großmutter musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. „Willst du noch einen Duke, der so verdorben ist wie dein Vater? Willst du, dass wieder ein so abscheulicher Mensch Brotherr der Pächter und der Dienerschaft wird?“ Sie reckte das Kinn. „Ich weiß, wie gütig du dich Richards … Fehltritten gegenüber erweist.“ Als ob ein Kind ein Fehltritt wäre. „Willst du wirklich, dass dein Cousin Macht über sie erhält?“

„Verdammter Mist.“

Ihrer entsetzten Miene nach zu urteilen, hatte er laut geflucht.

„Die Kutsche mit meinem Gepäck wird in Kürze eintreffen. Wenn du bitte nach deinem Butler läuten würdest? Ich möchte mich auf mein Zimmer zurückziehen.“ Sie erhob sich, noch während sie sprach, und Nash sah, dass sie leicht schwankte. Im nächsten Moment hatte ihre Zofe ihren Arm umfasst und stützte sie.

Nash biss die Zähne zusammen. „Sehr wohl, Euer Gnaden.“

Was sollte er auch sonst sagen? Sie war entschlossen zu bleiben, und er konnte sie nicht gut vor die Tür setzen, auch wenn sie ihn aus dem Schlaf gerissen hatte und von ihm verlangte, dass er heiratete – mit anderen Worten, dass er etwas tat, was er niemals und unter keinen Umständen tun wollte.

Ganz zu schweigen davon, dass sie ihn mit ihrem Gehstock gestoßen hatte.

Aber sie gehörte nun mal zu seiner Familie, und sie hatte eingeräumt, dass sie seinen Vater verabscheut hatte. Außerdem mochte er sie, gegen seinen Willen. Und trotz des verdammten Gehstocks.

„Und in der Zwischenzeit“, sagte sie in seine Gedanken hinein und ging langsam zur Tür, „durchforste bitte deine Einladungen, damit wir entscheiden können, bei welchen Gesellschaften du dich sehen lassen solltest. Wir treffen uns dann beim Dinner. Fünf Uhr, wie ich annehme.“

Nash machte den Mund auf, um zu protestieren, doch es kam kein Ton über seine Lippen.

Sobald die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, tat er das Einzige, wozu er fähig war – er hob den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, hoch und schleuderte ihn gegen die Bücherregale. Die Trümmer fielen auf den kostbaren Teppich. Doch weil der verdammte Teppich so dick war, blieb das erwünschte laute Krachen aus, und Nash musste sich mit dumpfem Poltern zufriedengeben.

Er starrte auf die Bruchstücke des unglückseligen Sitzmöbels, und sein Schreck verwandelte sich in Panik, als ihm aufging, was er soeben getan hatte – auf schlechte Neuigkeiten gewalttätig reagiert.

Du bist genau wie ich. In jeder Hinsicht.

Er musste sich zusammennehmen. Er durfte es sich nicht durchgehen lassen, ohne Anlass um sich zu schlagen. Immerhin gab er sich große Mühe, niemals grundlos gewalttätig zu werden – zumindest rechtfertigte er mit diesem Argument den Einsatz seiner Fäuste, wann immer er seine Dämonen austrieb. Zum Glück gab es massenweise verwerfliche Menschen, mit denen er Schlägereien vom Zaun brechen konnte, um seinen ständig schwelenden Zorn zu beschwichtigen, und sei es auch nur für kurze Zeit. Außerdem tat er dabei etwas für ein übergeordnetes Wohl.

Der zertrümmerte Stuhl hingegen hatte ihm nichts getan. Ein lachhafter Gedanke, aber was wäre, wenn er irgendwann bei einem Menschen, der ihm nichts getan hatte, auf diese brutale Weise reagierte?

Konnte er sich auf sich selbst verlassen?

Verdammt, er kannte die Antwort auf diese Frage.

Ana Maria nieste und blinzelte, um wieder klar sehen zu können.

„Mylady?“ Ihre Zofe Jane hielt ihr ein Taschentuch hin.

„Nenn mich nicht so“, befahl Ana Maria mürrisch, nahm das Taschentuch und putzte sich die Nase.

Die beiden Frauen bewunderten das Empfangszimmer der Residenz des Duke of Hasford, das Ana Maria neu hatte herrichten lassen, in Farben, die ihre Lebensgeister hoben und in nichts an die vorherigen biederen Blau- und Brauntönen erinnerten. Leuchtendes Rot, dazu Purpur und Rosé erzeugten eine fantastische Atmosphäre, die Ana Maria jedes Mal, wenn sie den Salon betrat, ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Zudem standen überall im Raum farbenfrohe Blumensträuße, die Ana Maria ebenfalls zum Lächeln brachten, aber eben auch zum Niesen.

Sie musste herausfinden, welche Blumen ihr die Beschwerden verursachten, und sie aus dem Haus verbannen. Hoffentlich waren es nicht die Tulpen. Sie liebte Tulpen. Aber da sie eigentlich alle Blumen liebte, hoffte ein kleiner Teil von ihr, dass Staub sich als der Übeltäter erweisen würde. Staub konnte sie nicht leiden.

„Für mich sind Sie Mylady, solange ich Sie kenne“ erwiderte Jane missmutig. „Leider hat der Drache uns nie gestattet, Sie so anzureden.“

„Die verstorbene Duchess“, korrigierte Ana Maria geduldig.

„Der Drache von einer Duchess.“ Jane verdrehte die Augen.

Der Kutschenunfall, bei dem Ana Marias Vater und seine Gattin, ihre Stiefmutter, ums Leben gekommen waren, lag nun ein halbes Jahr zurück. Er hatte Ana Maria aus einem Dasein in Knechtschaft erlöst. Die zweite Frau des Duke hatte die Tochter ihres Gatten wie eine unerwünschte Person und unbezahlte Dienerin behandelt. Inzwischen wohnte Ana Maria zwar nach wie vor in dem Londoner Stadthaus der Familie, war jedoch aus der engen Kammer im Dachgeschoss in das luxuriöseste Gemach des Hauses im oberen Stockwerk umgezogen.

„Können wir nicht einfach weiterhin Ana Maria und Jane sein?“ Ana Maria hörte selbst, wie flehend sie klang.

Die Worte waren ihr kaum über die Lippen gekommen, als Jane schon die Arme vor der Brust verschränkte und den Kopf schüttelte. „Sie müssen es akzeptieren, Mylady. Sie sind eine Dame von Stand, die Tochter eines Duke und die Cousine eines weiteren. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, es ist Ihr Recht, bevorzugt behandelt zu werden.“ Janes Stimme wurde sanfter. „Sie sind etwas Besonderes, aber leider war der Drache – die verstorbene Duchess, wollte ich sagen –“, korrigierte sie sich auf Ana Marias strengen Blick hin, „entschlossen, Sie kleinzuhalten. Doch nun, da sie nicht mehr unter uns weilt, sollten Sie Ihren rechtmäßigen Platz unter all den anderen Damen einnehmen.“

Meinen rechtmäßigen Platz. Ana Maria seufzte. Welcher Platz sollte das sein? Mehr als zwanzig Jahre war sie die unbezahlte und unbeachtete Magd der verstorbenen Duchess gewesen, hatte sich nützlich gemacht, wann immer Ihrer Gnaden der Sinn danach stand.

Und nun? Nun sollte sie sich über Nacht in eine Dame verwandeln; eine Person, die keine Ahnung hatte, wie man Silber polierte, die sich ein Bad bereiten ließ, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie lange es brauchte, Wasser zum Kochen zu bringen, und die ihre Diener behandelte, als wären die nur Hilfskräfte, nicht Menschen oder gar Freunde. Eine Person, die in Bezug auf Staub keinerlei Ansichten vertrat, da sie nicht einmal wusste, dass er existierte.

Ihre Stellung hatte sich unerwartet verbessert. Begeistert war sie aber nicht darüber.

Wäre ihr Halbbruder Sebastian weiterhin Duke geblieben, hätte sie viel beruhigter in die Zukunft blicken können. Doch wie sich nach dem Tod ihres Vaters herausstellte, war sein Sohn aus zweiter Ehe wider Erwarten gar nicht der rechtmäßige Titelerbe. Die verstorbenen Duchess – die man in diesem Fall mit Fug und Recht als niederträchtige Duchess bezeichnen konnte – hatte nämlich bezüglich ihrer Verwandtschaftsbeziehung zu Ana Marias Mutter rundheraus gelogen. Sie und die erste Duchess waren Schwestern gewesen, nicht, wie sie stets behauptete, Cousinen. Diese Tatsache hatte dazu geführt, dass die zweite Ehe des Dukes für ungültig erklärt wurde, weil es einem Witwer laut englischer Gesetzgebung verboten war, die Schwester seiner verstorbenen Gattin zu heiraten. Damit war Sebastian von heute auf morgen unehelich und deshalb nicht berechtigt, den Titel zu erben, der stattdessen an Ana Marias Cousin Thaddeus ging.

Thaddeus war freundlich, auf seine Weise, aber er war nun mal nicht Sebastian. Und Ana Maria hatte sich nur deshalb darauf eingelassen, eine Dame zu werden, weil Sebastian es unbedingt für sie wollte. Doch nun, da er sich zusammen mit seiner frisch angetrauten bezaubernden Frau ein neues Leben aufgebaut hatte, erschien Ana Maria dieses Unterfangen sinnlos.

Allerdings war es nicht so, als ob sie sich einfach ihre eleganten Kleider vom Leib reißen, eine Schürze umbinden und so tun könnte, als hätte sich nichts geändert.

Im Gegenteil, wie der gegenwärtige Zustand des nach ihrem Geschmack umgestalteten Salons bewies: Der Raum quoll vor Blumensträußen potenzieller Heiratskandidaten förmlich über.

Sie mochte die Blumen, selbst wenn manche davon einen Niesreiz auslösten, aber die dazugehörigen Aufmerksamkeiten missfielen ihr. Denn ihr war vollkommen klar, dass all die Gentlemen, die ihr diese Sträuße zukommen ließen, sie sechs Monate, als sie noch ihre Schürze trug, keines Blickes gewürdigt hätten. Und sie machte sich keine Illusionen, weshalb sie sie jetzt zur Kenntnis nahmen. Thaddeus hatte Sebastians Versprechen erfüllt und ihr eine großzügige Mitgift ausgesetzt, die auf sämtliche heiratswürdigen Junggesellen der guten Gesellschaft wirkte wie … Zucker auf Ameisen.

„Wo sind Sie bloß mit Ihren Gedanken, Mylady?“, fragte Jane kopfschüttelnd.

„Bei Blumen, Ameisen und Zucker.“ Ana Maria schnaubte belustigt.

„Es wäre besser, wenn Sie über Ihre Verehrer nachdenken und entscheiden würden, welcher es sein soll. Mir gefällt der Sohn dieses Earl, er sieht ziemlich gut aus und hat noch fast alle Zähne.“

„Eine großartige Empfehlung“, erwiderte Ana Maria trocken. „Dann kann ich den Anblick genießen, wenn er kaut.“ Ging es darum in einer Ehe? Liebster, darf ich dir ein Stück Toast in den Mund stecken und dir dann bewundernd beim Essen zuschauen?

„Was sonst sollte ein Ehemann vorweisen können?“

Es war bedauerlich, dass Jane so viele Fragen stellte. Die meisten konnte Ana Maria zwar beantworten, aber zu niemandes Zufriedenheit außer ihrer eigenen.

Was sonst sollte er vorweisen können? Eine gute Seele. Er sollte ihr zuhören und sich etwas aus ihr machen. Er sollte sie wollen, nicht die vermögende Tochter eines Duke und Cousine eines anderen.

Woran sollte sie erkennen, ob ein Verehrer wirklich sie meinte? Ob es jemand war, der sie fragen würde, warum sie an Blumen, Ameisen und Zucker dachte, anstatt sie entsetzt zu mustern, weil ihr solch undamenhafte Dinge im Kopf herumspukten?

Sie wünschte sich jemanden, der groß, fürsorglich und zuverlässig war.

Jemanden, der war wie … nein. Sie konnte den Satz nicht beenden, nicht einmal in Gedanken.

Lieber würde sie niesend sterben, als sich ihr Interesse einzugestehen. Wenn Sebastian oder Thaddeus oder, schlimmer noch, er selbst auch nur ahnte, dass sie insgeheim fasziniert war von einem ganz bestimmten, hochgewachsenen mürrischen Gentleman mit einer Schwäche für häufiges Auf- und Abmarschieren, sie würde im Boden versinken vor Scham, und das würde keinem etwas nützen.

Er behandelte sie wie eine Schwester, eine, die er nicht einmal sonderlich mochte. Eher wie eine vergessene Schwester, die man nur dann zur Kenntnis nahm, wenn sie einem lästig fiel. Und da Ana Maria so wohlerzogen war, nahm man sie praktisch nie zur Kenntnis. Jedenfalls er nicht.

Nein. Besser, sie zog die Gentlemen in Betracht, die sie seit Neuestem zur Kenntnis nahmen. Oder noch besser, sie fand etwas für sich, das nichts mit Männern oder Heirat zu tun hatte, damit sie mit ihrem Leben zufrieden sein konnte, selbst wenn sie allein blieb.

Es klopfte, und die Tür wurde geöffnet. Auf der Schwelle stand der Butler, der stets so aussah, als hege er eine tiefe Missbilligung gegen Ana Maria.

Was durchaus Einbildung sein konnte.

„Mylady?“

Jane wandte sich zu ihm um. „Was ist, Fletchfield?“

Der Butler runzelte kaum merklich die Stirn, um unmissverständlich anzudeuten, was er von Janes Anmaßung hielt.

„Miss Octavia Holton ist eingetroffen, um Lady Ana Maria ihre Aufwartung zu machen.“

Ana Maria lächelte. „Führen Sie sie herein, Fletchfield. Und bringen Sie uns Tee.“ Miss Octavia war Sebastians junge Schwägerin und eine erfreuliche Bereicherung von Ana Marias Bekanntenkreis, obwohl der Altersunterschied von nahezu zehn Jahren sie eher wie Octavias ältere Schwester erscheinen ließ. Vor Octavia hatte Ana Maria keine Freundin in ihrem neuen Leben gehabt, und die Freunde von früher begegneten ihr inzwischen fast distanziert.

Sogar Jane.

Das war einer der Gründe, weswegen sie sich geweigert hatte, eine Gesellschafterin einzustellen. Ana Maria wusste, dass es an einen Skandal grenzte, keine Anstandsdame zu haben, aber sie ertrug nicht noch eine Person in ihrem Umfeld, die sie distanziert behandelte. Zu ihrer Erleichterung war Thaddeus zu sehr mit seinen neuen Pflichten beschäftigt, als dass ihm diese Unschicklichkeit aufgefallen wäre.

Fletchfield verbeugte sich, und Ana Maria wandte sich Jane zu. „Ich komme später am Nachmittag hinauf, damit wir überlegen können, welches Kleid ich heute Abend anziehe.“

„Das blaue, dachte ich …“

„Später, Jane.“ Einer der wenigen Vorteile, wenn man das Leben einer Dame führte – abgesehen davon, dass man keine Roste scheuern oder die Küche ausfegen musste –, bestand darin, dass man wählen konnte, welches der umwerfenden neuen Kleider man anziehen wollte. Wie stets hatte Jane eine Meinung dazu, doch Ana Maria traute ihrem eigenen Geschmack immer mehr.

Dieser Teil ihres neuen Lebens war wundervoll. Zu wissen, dass sie dank der Auswahl, die sie selbst treffen konnte, so gut aussah, wie es überhaupt nur möglich war.

So viel Selbstvertrauen hatte sie nie zuvor besessen. Jedenfalls nicht, solange sie die abgelegten Sachen hatte tragen müssen, die ihre Stiefmutter ihr zuwies. Was auch daran lag, dass Ana Maria ihr Leben lang kein Mitbestimmungsrecht über Dinge, die sie selbst betrafen, zugestanden worden war. Selbst jetzt, da sie vermeintlich eine Dame aus den höchsten Kreisen der Gesellschaft war, versuchte man, ihr dieses Recht vorzuenthalten.

Aber nicht mit ihr. Sie würde ihre eigenen Entscheidungen treffen und ihr Leben so leben, wie sie es wollte. Das bedeutete, dass sie genau dort hingehen würde, wohin sie wollte und wann sie es wollte, wenn sie es wünschte, auch ohne Begleitung, selbst wenn das für hochgezogene Brauen in der vornehmen Gesellschaft sorgte. Und sie würde auch nicht nur deshalb heiraten, weil ein Gentleman ihr ein paar Blumen schickte und selbstständig kauen konnte.

Gemessen an ihren Ansprüchen war das nicht viel, aber für den Augenblick reichte es.

Fletchfield hielt die Tür auf, und Miss Octavia kam herein. „Guten Tag, Mylady“, grüßte sie lebhaft wie immer und schaute sich dann mit großen Augen im Empfangszimmer um. „Was für prächtige Farben!“

Bei diesem verdienten Lob breitete sich eine ungewohnte Wärme in Ana Maria aus. „Vielen Dank.“ Sie klopfte auf den Platz neben sich. „Setzen Sie sich doch bitte. Der Tee ist auf dem Weg.“

„Sagen Sie nicht, dass Sie dies alles hier ganz allein ausgesucht haben.“

Die Wärme erreichte die letzten Winkel ihres Körpers. „Doch, selbstverständlich.“ Ana Maria legte den Kopf schräg und betrachtete die leuchtenden Seidenvorhänge. „Ich habe so etwas noch nie gemacht. Und ich war nicht sicher, ob es mir gefallen würde.“

„Sie müssen mir unbedingt sagen, woher Sie das alles haben. Oder besser noch, mir die Geschäfte zeigen.“ Miss Octavia kniff konzentriert die Augen zusammen. „Sie sind wirklich talentiert.“

„Vielen Da… Hatschi!“

„Gern gehatschit … geschehen“, erwiderte Miss Octavia grinsend.

Die überschwängliche Freude ihrer Freundin wirkte ansteckend auf Ana Maria, und am liebsten hätte sie alle Zweifel und Bedenken, die sie plagten, seit sie ihre jetzige gesellschaftlichen Stellung erlangt hatte, über Bord geworfen.

Und warum auch nicht? Ging es bei Unabhängigkeit nicht ganz wesentlich darum … unabhängig zu sein? Ohne Sorgen durchs Lebens zu gehen?

„Wo in aller Welt sind Sie bloß mit Ihren Gedanken? Sie blicken so angestrengt drein.“ Miss Octavia krauste die Nase. „Fast wie meine Schwester Ivy, wenn sie dabei ist, ein besonders schwieriges Buchhaltungsproblem zu lösen.“

Ana Maria schüttelte den Kopf. „Nichts annähernd so Kompliziertes.“ Bloß mein weiteres Leben. In diesem Moment brachte Fletchfield das Teetablett, und Ana Maria verkniff sich ein erfreutes Lächeln, als sie darauf einen Teller mit den köstlichen Scones der Köchin entdeckte.

Über ihre Zukunft würde sie nachdenken, wenn sie eine Tasse Tee getrunken und ein paar Scones gegessen hatte. Schließlich musste man sich über seine Prioritäten im Klaren sein.

2. KAPITEL

Das Silberfarbene sagte Ana Maria bestimmt.

„Hm.“ Kopfschüttelnd nahm Jane das gewünschte Abendkleid aus dem Schrank.

Sie befanden sich in Ana Marias neuem Schlafgemach – ein atemberaubender Fortschritt verglichen mit ihrem vorherigen Quartier im Dachgeschoss. Ursprünglich hatte der Raum als Gästezimmer gedient, war jedoch äußerst selten benutzt worden, da die verstorbene Duchess nicht gern Gäste empfing. Im Grunde mochte sie niemanden, außer ihrem Sohn Sebastian, Ana Marias Halbbruder.

Ana Maria war noch nicht dazu gekommen, dieses Zimmer in Angriff zu nehmen. Sie wollte erst eine Zeit lang mit dem neu gestalteten Salon leben, ehe sie ein größeres Projekt in Angriff nahm. Doch das Ergebnis ihres ersten Einrichtungsversuchs gefiel ihr so gut, dass es sie bereits in den Fingern juckte, auch das Schlafgemach ihrem Geschmack entsprechend zu verändern.

Leuchtende, lebhafte Farben schwebten ihr vor anstatt der betont zurückhaltenden Braun- und Beigetöne, außerdem massenhaft Kissen auf dem Bett statt der üblichen zwei pro Person. Und anstelle des riesigen Teppichs mehrere gut verteilte Läufer.

Doch wenn sie das Schlafgemach renovierte, kam dies einer Akzeptanz ihres neuen Lebens gleich. Zugegeben, sie war nahe daran, sich in die ihr zustehende Rolle zu fügen, aber noch nicht ganz entschieden. Andererseits – was sonst sollte sie tun?

Sie hatte noch keine Antwort auf diese Frage, wusste nur, dass sie sich die Entscheidung über ihre Zukunft nicht aus den Händen nehmen lassen durfte.

Im Moment reichte ihr jedoch die Wahl des Abendkleides. Ein zufriedener Seufzer entschlüpfte ihr, während sie die silberfarbene Kreation betrachtete. Es war die außergewöhnlichste, prächtigste Robe, die sie je besessen hatte, was allerdings nicht viel heißen wollte, denn bis vor einem halben Jahr hatte sie die abgelegten Sachen der Zofe ihrer Stiefmutter aufgetragen.

Selbst im Vergleich mit anderen wundervollen Abendkleidern konnte dieses nur prächtig genannt werden. Es war aus silberfarbenem Stoff gefertigt, doch das war nicht alles. Die winzigen Puffärmel bestanden aus einem hauchdünnen netzartigen Gewebe, und das Kleid war über die gesamte Länge kaskadenartig mit kleinen hellen Glitzersteinen bestickt – oben nur wenige, nach unten hin immer mehr, bis sie am Saum in einer funkelnden Wolke mündeten.

„Diese Art Kleid wird weniger von seiner Besitzerin getragen, als dass es sie trägt“, murmelte Jane beunruhigt. „Und Sie haben keine Erfahrung mit dieser Art Roben. Ich weiß noch nicht einmal, was wir mit Ihrem Haar machen sollen.“

Die Worte der Zofe, so liebevoll sie gemeint waren, verstärkten nur noch Ana Marias Unsicherheit. Zu den Zweifeln, ob der ton sie akzeptieren würde, gesellte sich die Sorge, dass die feine Gesellschaft sie als eine der ihren anerkannte und sie sich in eine jener jungen Damen verwandeln würde, denen nichts anderes wichtig war, als auf Tanzflächen herumzuhüpfen und an ihrem Tee zu nippen.

Das war natürlich ein Widerspruch in sich, aber es war ihrer, und sie fand ihn plausibel.

„Ist das nicht ein guter Grund, weshalb ich es tragen sollte?“, erwiderte sie. Sie konnte nicht widerstehen, über den Stoff des Kleides zu streichen. Das dünne Gewebe war wie ein seidiges Flüstern unter ihren Fingerspitzen. „Ich will einen Akzent setzen; so anfangen, wie ich gedenke fortzufahren, und ich werde mich nicht in den Nischen der Ballsäle verstecken, weil ich mich meiner Vergangenheit schäme.“ Auch wenn alles in ihr diese letztere Variante vorgezogen hätte. „Wenn es mir gelingen soll, mich in dieser Welt durchzusetzen, so wie du und alle andern, die mich kennen, es von mir zu erwarten scheinen, dann muss ich das auf meine Art machen – indem ich wundervolle Kleider trage, mich nicht wegen meiner Vergangenheit und meiner Herkunft geniere, und wenn das jemandem nicht gefällt, dann möchte ich mit den Betreffenden nichts zu tun haben.“

Kühne Worte von einer Frau, die erst vor kurzem kühn geworden war. Ich will so anfangen, wie ich gedenke fortzufahren.

„Sie werden absolut spektakulär aussehen in diesem Kleid“, warnte Jane. „Ich hoffe, Sie sind der Herausforderung gewachsen.“

„Das bin ich“, erwiderte Ana Maria fest, wobei sie sich selbst ebenso überzeugen musste wie ihre Zofe.

Wie sie bald herausfinden sollte, war sie der Herausforderung nicht gewachsen.

Ana Maria stand in der Tür zum Ballsaal, ihr Vetter Thaddeus an ihrer Seite. Mit angehaltenem Atem ließ sie den Blick über die Menge schweifen.

So viele Menschen, und sie kannte keinen davon. Natürlich nicht, woher auch? Es sei denn, jemand hätte sich zufällig in die Küche der Duchess verirrt, während Ana Maria die Asche aus dem Herd fegte. Und selbst dann hätte man sie übersehen, irgendwo anders hingeschaut, nur nicht auf sie, denn für Angehörige der höchsten Kreise wäre sie nur eine unbedeutende Dienstmagd gewesen. Diese Menschen hatten keinen blassen Schimmer, wozu ein Herd gut war, und erst recht nicht, wie man ihn sauber machte.

Nun, als Erstes suchte man sich seine Utensilien zusammen: einen Handfeger, ein Kehrblech, einen alten Lappen, den man anschließend in den Müll werfen konnte. Dann reinigte man von hinten nach vorne, geduldig, um auch die letzten Reste der Asche zu erwischen, und schabte die festgebackenen Teile ab.

Doch dies waren Kenntnisse, die ihr nicht länger von Nutzen waren. Jetzt musste sie lernen, wie man in einen Ballsaal rauschte, nicht, wie man einen Ofen ausfegte.

Doch in einen Ballsaal zu rauschen jagte ihr mehr Angst ein als ein Haufen Asche. Auch wenn es weit weniger schmutzig war.

Der Saal war riesig und leer geräumt bis auf die Stühle an den Wänden und ein Büfett, auf dem eine funkelnde Kristallterrine mit verlockend aussehendem rosarotem Punsch aufgestellt war.

Die Kapelle saß auf einem Podium zur Rechten, und Lakaien trugen massive Silbertabletts mit Champagnergläsern durch den Saal. Die Musik war soeben verklungen, und das leise Stimmengewirr von Menschen, die höfliche Konversation machten, drang an Ana Marias Ohren. Vielleicht war es aber auch keine höfliche Konversation, sondern hinterhältiger Tratsch, der den Ruf einer Person mit einem einzigen geflüsterten Wort zu ruinieren vermochte.

„Atme“, befahl Thaddeus leise.

„Vielleicht sollte ich einen kurzen Vortrag über Ofenreinigung halten“, murmelte Ana Maria. Der Gedanke brachte sie zum Lachen, und dies wiederum zwang sie zum Luftholen.

„Pardon?“ Thaddeus schaute sie fragend an.

Sie schüttelte den Kopf. „Ach nichts. Ich versuche nur zu atmen.“ Wie du es mir befohlen hast.

Bis vor kurzem war Thaddeus Kommandeur eines Armeeregiments gewesen, und noch immer sprach er mit den Menschen in seiner Umgebung so, als dienten sie unter ihm. Und da er nun ein Duke war, nahm niemand Anstoß daran, daher bestand anscheinend keine Notwendigkeit für ihn, etwas zu ändern.

„Gut“, sagte er in ihre Gedanken hinein.

„Der Duke of Hasford, Lady Ana Maria Dutton“, kündigte der Butler sie an.

Im nächsten Moment schien ihr alle Luft aus den Lungen zu entweichen, denn jedermann im Ballsaal wandte sich um, und sämtliche Blicke richteten sich auf sie und Thaddeus.

Nein, auf sie.

Sie umklammerte Thaddeus’ Arm fester und setzte sich in Bewegung, die gebieterische Miene aufsetzend, die sie der verstorbenen Duchess abgeschaut hatte.

Nash blieb in der Nähe der Terrine stehen, obwohl der Punsch praktisch ungenießbar war. Kein Wunder, ohne Brandy und dergleichen. Seine Großmutter saß direkt hinter ihm, und er war sich jeder ihrer Bewegungen irritierend deutlich bewusst.

Nach ihrem Nickerchen hatte sie sich in sein Büro begeben und Robert Carstairs – einen weiteren seiner zahlreichen Halbbrüder, der den Posten seines Sekretärs bekleidete –, gedrängt, ihr sämtliche Einladungen auszuhändigen, die Nash für gewöhnlich ablehnte.

Anschließend hatte sie darauf bestanden, dass sie noch am selben Abend gemeinsam einen Ball besuchten, obwohl Nash nach dem Dinner lieber wie üblich durch die Stadt gestreunt und dabei möglichst allen, die ihn kannten, aus dem Weg gegangen wäre. Mit etwas Glück hätte er vielleicht Gelegenheit gehabt, seine Fäuste für eine gute Sache einzusetzen, und wäre gegen Morgen erschöpft und blutend nach Hause zurückgekehrt.

Das war nun mal die Art, wie er seine Dämonen in Schach hielt.

Doch das konnte er seiner Großmutter nicht gut erzählen. Zum einen würde er damit enthüllen, dass er sehr wohl von einigen der … Neigungen seines Vaters umgetrieben wurde, obwohl er sich höllische Mühe gab, sich zu beherrschen. Zum anderen musste er nun auch noch verhindern, dass der Titel nach seinem Tod an einen Mann fiel, der diese Neigungen ebenfalls mitbekommen hatte und anscheinend nicht zu kontrollieren vermochte.

Aus diesen beiden Gründen sah er heute Abend aus wie ein Gentleman, der eher Punsch trank, als zum Schlag auszuholen.

„Die da käme infrage.“ Seine Großmutter stach mit ihrem teuflischen Gehstock nach ihm und deutete dann damit auf eine junge Dame, die einem Gecken zunickte, der tatsächlich aussah, als gefiele ihm seine lächerliche Aufmachung.

Sie war mittelgroß, hatte eine mittelmäßige Figur und trug ein makellos weißes Kleid. Ihr blondes Haar war hochgesteckt, und ein paar Locken ringelten sich um ihre Ohren.

Plötzlich schaute sie in seine Richtung, und als ihre Blicke sich trafen, weiteten sich ihre Augen. Eine ihrer perfekt geschwungenen Brauen schoss in die Höhe, und um ihre Lippen zuckte ein kaum merkliches Lächeln. Nash konnte förmlich sehen, wie die Rädchen in ihrem Kopf sich zu drehen begannen – ich habe die Aufmerksamkeit eines Duke erregt. Denn dass sie ihm seiner äußeren Erscheinung wegen einen solchen Blick schenkte, war ausgeschlossen. Nash wusste, dass er zu groß, zu breitschultrig und zu abweisend war. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er ständig an seinem viel zu eng gebundenen Krawattentuch zupfte.

„Nein.“

„Und warum nicht?“ Sie klang so beiläufig, als hätte er gerade eine Süßigkeit abgelehnt, nicht die Person, mit der er möglicherweise den Rest seines Lebens verbringen würde.

Obwohl er nicht wollte, dass seine potenzielle Lebensgefährtin ihm auch nur annähernd so viel bedeutete wie eine Süßigkeit. Und wenn er die Wahl zwischen ihr und einem Glas guten Brandy hätte?

Er würde den Alkohol jederzeit vorziehen.

„Ich könnte es mir noch einmal überlegen.“ Er hatte die Sache nicht gründlich durchdacht, wie ihm in diesem Moment klar wurde. Seine Großmutter wollte, dass er heiratete und Kinder zeugte, damit der zur Gewalttätigkeit neigende Mr. John Davies dem Titel keinen Schaden zufügte. Bislang hatte Nash sich noch nicht viele – oder genauer gesagt gar keine – Gedanken übers Heiraten gemacht. Er wusste nur, dass es ihm widerstrebte, weil die einzige Ehe, die er kannte, aus Gewalt und Tränen bestanden hatte und damit endete, dass seine Mutter ihr einziges Kind zurücklassen musste, weil sie sonst wahrscheinlich durch die Hand ihres Ehemanns umgekommen wäre.

Doch da Nash nun an einer Heirat offenbar nicht vorbeikam, lag es nahe, eine Frau zu wählen, für die er nichts empfand. Eine Frau, die er einigermaßen ertrug. Von der er getrennt leben konnte, sobald die Erbfolge gesichert war. Ja, schoss es ihm durch den Kopf, genau das wäre die ideale Lösung – eine Ehefrau, die ihr eigenes Leben lebte, genau wie er, und die ihn genauso wenig belästigte wie er sie. Eine Frau, der er genauso wenig bedeutete wie sie ihm, sodass es von vornherein keine Ausgangssituation für Gewaltausbrüche gab.

Und diese Blondine, die in einiger Entfernung stehen geblieben war? Die ihn leicht angelächelt und die Braue gehoben hatte? Die mit dem annehmbaren Erscheinungsbild?

Vielleicht war sie ja einigermaßen erträglich.

Er holte Luft, um etwas zu sagen, und plötzlich entdeckte er sie. Sie stand in der Tür des Ballsaals, eine Vision in Silber, und sah aus, als hätte man sie vom Nachthimmel gepflückt und hergeschickt, um die versammelte Gästeschar mit ihrer Anwesenheit zu beehren.

Sie hatte nachtschwarzes Haar, das zu einem üppigen Lockentuff aufgesteckt war, gehalten nur von einem schlichten Silberband. Ihre Figur war sinnlich und wohlgerundet, und er hätte schwören können, dass seine Hände genau wussten, wie sie sich anfühlen würde. Oder genauer gesagt, es juckte ihm in den Fingern, sie zu berühren.

Ihre Haut war nicht alabasterweiß wie die der meisten Damen im Ballsaal, sondern golden überhaucht, so als hätte auch die Sonne ein wenig Anspruch auf ihre Schönheit erhoben.

„Wer ist das?“, hörte er seine Großmutter fragen. Deutliche Missbilligung lag in ihrer Stimme.

„Ich habe nicht den blassesten …“ Er verstummte abrupt, als er den Gentleman an ihrer Seite erkannte und ihm klar wurde, wer die junge Dame war.

„Lady Ana Maria Dutton“, korrigierte er sich verblüfft.

„Oh!“ Diesmal klang seine Großmutter überrascht. „Die Cousine des Duke of Hasford. Eine höchst achtbare junge Dame.“

Es war klar, was sie meinte.

„Vergiss es.“

„Weshalb …?“

„Nein.“ Er riss den Blick von ihr los und wandte sich zu seiner Großmutter um. „Auf keinen Fall.“

Denn es handelte sich ja um Ana Maria, die er kannte, und zwar fast schon sein ganzes Leben lang. Auf seine Art mochte er sie. Und darum würde er nicht zulassen, dass sie vielleicht irgendwann unter seiner Gewalttätigkeit zu leiden hatte.

Das Risiko, bei ihr die Beherrschung zu verlieren, war viel zu groß. Wie könnte es anders sein, bei einem so köstlichen Erscheinungsbild, hinter dem sich, wie er wusste, eine gütige, warmherzige, intelligente Persönlichkeit verbarg?

Nash unterdrückte ein Knurren, als er Thaddeus’ Blick begegnete und dann sah, wie sein Freund ein paar Worte an sie richtete. Gleich darauf setzten die beiden sich in seine Richtung in Bewegung und erinneten ihn mit jedem Schritt, den sie näherkamen, an das, was er war – und was er anzurichten vermochte, wenn er sich nicht unter Kontrolle hielt.

„Sieh mal, da drüben steht Nash.“ Thaddeus bemühte sich um einen beruhigenden Ton.

Erfolglos, denn Thaddeus besaß ganz offensichtlich nicht viel Erfahrung darin, jemanden zu beruhigen. Dennoch wusste Ana Maria den Versuch zu schätzen. Er legte sich ihre Hand in die Armbeuge. „Lass uns zu ihm gehen.“

Weil sie kein Wort über die Lippen brachte, nickte sie nur. Sie hatte nicht erwartet, Nash hier zu treffen. Er ließ sich nur selten, wenn überhaupt, bei Zerstreuungen dieser Art blicken. Angeblich hatte er zu Hause einen Harem williger Frauen, die seine ungehobelte Art genossen – und die unartikulierten Laute, die er für Konversation hielt.

Eine Vorstellung, die bei ihr eigentlich kein sinnliches Kribbeln im ganzen Körper hervorrufen sollte, aber sie war nun mal ein Rätsel auf zwei Beinen, und vielleicht sollte sie es dabei bewenden lassen.

Mehr noch als seine Anwesenheit überraschte sie seine Kleidung, die dem Anlass absolut angemessen war – nicht der übliche abgetragene Gehrock, der an den Schultern spannte. Und Wunder über Wunder, er hatte sogar ein Krawattentuch umgebunden. Soweit sie sich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass sie ihn mit einem solchen Accessoire sah.

Irgendjemandem war es gelungen, ihm das Haar zurückzukämmen, und außerdem schien er sich kürzlich rasiert zu haben. Er sah untadelig aus, wie ein Gentleman, und Ana Maria stellte fest, dass sie bei seinem Anblick unwillkürlich den Atem anhielt.

Er hätte nicht so attraktiv sein sollen.

Auch nicht so eindrucksvoll, so, als ob seine Anwesenheit die aller anderen Personen im Saal überflüssig machte.

Er hätte nicht so oft Gegenstand ihrer Gedanken sein sollen, besonders nachts.

Ach, verdammt.

Sie schluckte, versuchte sich auf die arrogante Haltung der verstorbenen Duchess zu besinnen, was nicht ganz leicht war, wenn einem das Herz bis zum Hals schlug. Sie war sich Nashs Gegenwart mit jeder Faser ihres Seins bewusst.

„Euer Gnaden“, grüßte Thaddeus und hob pikiert die Brauen, als Nash und Ana Maria ihn beide fragend anstarrten. „Was ist?“ Sein Blick ging zwischen den beiden hin und her. „Wir sind nicht mehr die, die wir einmal waren. Von uns wird jetzt etwas anderes erwartet, und diese Erwartungen erfordern andere Umgangsformen.“

Andere Erwartungen erfordern andere Umgangsformen.

Also konnte sie womöglich so tun, als wäre sie dem Duke of Malvern noch nie begegnet und als handele es sich bei dem gutaussehenden Teufel, der vor ihr stand, um eine ganz neue Bekanntschaft.

Vielleicht half ihr das ja, ihre Aufmerksamkeit von der überwältigenden Männlichkeit abzulenken, die er ausstrahlte. Vielleicht führte es dazu, dass sie ihn für einen gewöhnlichen Aristokraten halten konnte, der wie all seine Standesgenossen glaubte, dass Frauen wie sie es nur wegen ihrer Abstammung und ihrer Mitgift wert waren, wahrgenommen zu werden und nicht als die Person, die sie wirklich waren. Vielleicht konnte sie ihn als einen Aristokraten betrachten, der entsetzt wäre, wenn er wüsste, dass sie bis vor kurzem Kartoffeln geschält und Töpfe geschrubbt hatte und schlechter behandelt worden war als der niederste Bedienstete. Weil der niederste Bedienstete wenigstens Lohn erhielt, wohingegen Ana Maria sich Ermahnungen hatte anhören müssen und Aufforderungen, noch mehr zu leisten, weil sie nichts anderes verdiente.

„Ana Maria?“ Thaddeus’ scharfer Ton brachte sie in die Wirklichkeit zurück.

„Ja? Oh. Euer Gnaden.“ Sie nickte in Nashs Richtung, woraufhin er sein attraktives Gesicht verzog und die Stirn runzelte.

„Mylady.“ Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, und er drehte ihr und Thaddeus den Rücken zu.

„Hör auf, mich zu stoßen“, hörte Ana Maria ihn sagen und reckte den Hals, damit sie um ihn herumschauen konnte. Sie erblickte eine alte Dame, die majestätisch auf ihrem Stuhl saß und ihren Gehstock auf Nashs Bein gerichtet hielt.

Nash streckte der alten Dame eine Hand entgegen, die sie ergriff. Finster blickend gestattete sie ihm, ihr auf die Füße zu helfen.

Wer war diese Person, die Nash so unsanft mit ihrem Stock anstupste, als hätte er nicht das Temperament eines zornigen Bären? Und ihn dazu brachte, sich ordentlich zu kleiden und einigermaßen höflich zu benehmen?

„Darf ich Ihnen meine Großmutter vorstellen, die Dowager Duchess of Malvern.“

Aha. Ana Maria knickste, während Nash fortfuhr. „Lady Ana Maria Dutton, und dies ist der Duke of Hasford.“

Die alte Dame musterte sie so aufmerksam, dass Ana Maria verlegen wurde. Klebte ihr vielleicht ein Krümel am Mund? Andererseits war sie oft verlegen, daher musste sie der Sache vielleicht keine besondere Bedeutung zumessen.

Aber für alle Fälle leckte sie sich über die Lippen.

„Es ist mir ein Vergnügen“, sagte die Dowager Duchess, obwohl es nicht danach klang. „Ich bin gerade eingetroffen, und mein Enkel war so freundlich, mich zu bitten, eine Weile zu bleiben.“

Ana Maria streifte Nash mit einem unauffälligen Blick. Seine Miene war verschlossen, aber sie konnte sehen, dass er die Zähne zusammenbiss.

Also war es seine Großmutter, die ihn dazu gebracht hatte, sich anständig anzuziehen und den Ball zu besuchen, doch das Unmögliche hatte auch sie nicht bewerkstelligen können – ihn in jemand anderen zu verwandeln als den gereizten, wortkargen Nash.

So viel zu der Vorstellung, dass er für sie ab sofort ein Aristokrat wie alle anderen war. Schon jetzt entging ihr nicht das winzigste Zucken in seiner Miene, keine noch so unauffällige Veränderung seiner Körperhaltung. Sie wusste, was diese kaum spürbare Anspannung zu bedeuten hatte: Wie sehr er es verabscheute, in diesem Ballsaal sein zu müssen – und dass er womöglich etwas zertrümmern würde, wenn er nicht bald hier herauskam.

Dennoch unterließ er jegliche Form der Zerstörung. Im Gegenteil, er reagierte so, wie sie es am wenigsten erwartet hatte.

„Lady Ana Maria, darf ich Sie zum Tanz bitten?“

3. KAPITEL

Lady Ana Maria, darf ich Sie zum Tanz bitten?“

Nash sagte sich, dass er das Richtige tat. Immerhin kannte sie noch nicht viele Mitglieder der guten Gesellschaft und fühlte sich vielleicht unbehaglich, weil sie fürchtete, dass niemand sie aufforderte.

Doch auch er fühlte sich unbehaglich – immerhin hatte er sie vor ein paar Minuten angeschaut wie eine begehrenswerte Frau und nicht wie die Schwester seines besten Freundes.

Mit ihr zu tanzen bedeutete, sie anzufassen. Und sie anzufassen bedeutete – nun, sie anzufassen eben. Aber es handelte sich um Ana Maria. Und er kannte sie, seit er zehn gewesen war, ein kleiner Junge, völlig aus der Bahn geworfen vom Verlust seiner Mutter, auf der Suche nach jemandem, der ihm Zuflucht bot. Er hatte zunächst Sebastian und Thaddeus gefunden und durch die beiden dann auch Ana Maria. Obwohl er sie nie besonders beachtet hatte, weder damals noch später, und auch nie etwas anderes in ihr gesehen hatte als eine Art Schwester.

Doch was er im Augenblick für sie empfand, war nicht mal ansatzweise brüderlich. Was sich eindeutig falsch anfühlte, vor allem, wenn er sich vor Augen führte, wie Sebastian und Thaddeus wohl reagieren würden, wenn sie davon wüssten.

Die beiden durften es nicht erfahren, niemals. Und Ana Maria genauso wenig.

Er war immer noch völlig erschlagen von der Wirkung, die sie auf ihn ausübte. Und die Schuld daran, dass ihr Anblick ihm den Atem raubte, konnte er nicht seinem Krawattentuch zuschieben. Es lag an ihr. Aus der Nähe betrachtet war ihr Kleid ein hauchdünnes Wunderwerk und unfassbar schön – nicht dass er so etwas schon jemals über ein Kleidungsstück gedacht hätte. Doch das Kerzenlicht verlieh dem Stoff einen geradezu überirdischen Schimmer, und das fließende Gewebe hob die sanften Rundungen ihrer Brüste höchst verlockend hervor.

An ihrer Taille lag das Kleid eng an und wurde von der Hüfte an weit. Ana Maria hatte schöne, wohlgerundete Hüften, die Hüften einer Frau. Hüften, die wie gemacht dafür schienen, einen Mann zu halten, während er … verdammt, so etwas durfte er nicht einmal denken.

Autor

Megan Frampton
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