Auf Brautschau mit einer Lady

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Was tut eine Lady in einer Spielhölle? Thomas Sharpe ist schockiert, als er die Schwester seines besten Freundes in einem skandalträchtigen Club trifft. Er muss ihren Ruf retten! Dabei hat der Lebemann bereits genügend eigene Probleme: Weil sein Vater das Familienvermögen verloren hat, muss Thomas schnellstens das Herz – und vor allem die Hand – einer reichen Erbin gewinnen, um sein Auskommen zu sichern. Unverhofft bietet Jane ihm Hilfe bei der Brautschau an, wenn er im Gegenzug ihre Abenteuerlust unterstützt. Bald fühlt Thomas, dass die unkonventionelle Lady die ideale Frau an seiner Seite wäre. Doch Jane ist leider völlig mittellos …


  • Erscheinungstag 07.10.2023
  • Bandnummer 396
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516273
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Megan Frampton

Dinge, denen Megan Frampton nicht widerstehen kann: der Farbe Schwarz, gutem Gin, dunkelhaarigen Briten und großen Ohrringen. Neben historischen Romanen schreibt sie unter dem Namen Megan Caldwell auch gefühlvolle Liebesromane. Die Autorin lebt mit Ehemann und Kind in Brooklyn, New York.

1. KAPITEL

Für Thomas Sharpe war das Leben ein Spiel.

Er war geistreich, liebenswürdig und unerwartet charmant. Er pflegte Räume nicht zu betreten, er nahm sie in Besitz. Frauen wollten von ihm verführt werden, Männer suchten seine Gesellschaft. Er war hochgewachsen, gut aussehend, und was er auch anfing, er tat sich darin hervor.

Das Leben war ein Spiel.

Bis es aufhörte, ein Spiel zu sein.

An den Moment, der alles veränderte, erinnerte er sich auf die Sekunde genau. Sein Vater betrat den Speisesalon der Familie, den Hut in Händen, das Gesicht aschfahl.

Seine Mutter erhob sich halb aus ihrem Sessel, ihre Hand flog zu ihrer Kehle.

Es war ein kalter, trüber Tag, ein Tag, an dem die Vorstellung von Sonnenschein nicht mehr war als das – eine Vorstellung, nicht die Wirklichkeit. Ein Tag, an dem man aus dem Fenster blickte und sich ausmalte, was alles schiefgehen konnte dort draußen, während man sicher in seinem behaglichen Zuhause saß und wusste, dass das, was man sich vorstellte, nur Vorstellungen waren.

Nur waren sie es nicht.

Sein Vater sah seine Mutter unverwandt an. „Es ist verloren, Matilda. Alles. Verloren.“

Seine Mutter riss die Augen auf, sackte zurück in ihren Sessel, die Hand nunmehr auf das Herz gepresst. Die Verzweiflung in ihrer Miene verwandelte sich in verzweifelte Hoffnung.

Ein Gefühl von Übelkeit stieg in Thomas’ Kehle auf, als seine Mutter den Blick auf ihn heftete. In ihren Augen stand grimmige Entschlossenheit.

„Es ist an dir“, beschied sie ohne lange Vorrede und machte eine Kinnbewegung in Richtung seiner jüngeren Schwestern. „Was soll aus ihnen werden? Aus uns?“

Thomas’ Blick glitt zu den Mädchen, zu Julia, die im Begriff war zu debütieren und seit Wochen von nichts anderem mehr redete. Zu der vierzehnjährigen Alice, die so schrecklich schüchtern war wegen ihres Stotterns und wahrscheinlich niemals bereit sein würde, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, aber für den Rest ihres Lebens versorgt werden musste.

Zu seinen Eltern, die schon alt waren. Sie hatten erst spät Kinder bekommen, und die Kapitalanlage, auf die sie alles gesetzt hatten, was nicht bereits mit einer Grundschuld belastet war, hätte ihnen für den Rest ihres Lebens den Unterhalt sichern sollen. Dazu eine Mitgift für Julia, die nicht mit Thomas’ gutem Aussehen gesegnet war. Als mittellose, unscheinbare Debütantin aus einer respektablen Familie hatte Julia ebenso große Chancen, eine gute Partie zu machen, wie Thomas, bei einer gesellschaftlichen Zusammenkunft unbemerkt zu bleiben.

Es war an ihm. Ganz allein an ihm.

Seine Mutter musste ihm nichts weiter erklären. Bei anderer Gelegenheit hatte Alice darauf hingewiesen, dass junge Damen seit Hunderten von Jahren das Gleiche für ihre Familien taten: einen vermögenden Mann heiraten, damit ihre Familie überlebte. Sie hatten sogar Scherze darüber gemacht, in Zeiten, da es undenkbar erschienen war, dass sie selber in diese Lage geraten würden.

Doch nun war aus dem Scherz Realität geworden, und es war an ihm, die Familie zu retten. Ganz allein an ihm.

Wie konnte er die Bitte seiner Mutter ablehnen? Er hatte keine andere Wahl, keine jedenfalls, die seine Familie versorgen würde. Dennoch verspürte er brennenden Zorn in der Brust. Was für eine Ungerechtigkeit, sich verschachern zu müssen, um sicherzustellen, dass seine Familie überlebte.

Er atmete tief durch und nickte. „Ich mache es.“

Drei Worte, mit denen er sich auf die Jagd begab. Auf die Jagd nach einer Erbin.

Fast zwei Jahre nachdem er sein Schicksal besiegelt hatte, war Thomas seinem Ziel kein Stück näher. Er hatte die Frau seiner Träume, genauer gesagt, eine unverheiratete junge Dame mit einem Vermögen, das groß genug war, um seiner Familie ein einigermaßen angenehmes Leben zu ermöglichen, nicht gefunden. Sein früherer Traum – in dem eine Frau seine Aufmerksamkeit so lange fesselte, dass er eine dauerhafte Zuneigung zu ihr entwickelte – hatte sich auf die gleiche Weise verflüchtigt wie das Geld seiner Familie.

Julia hatte debütiert und glücklicherweise den dritten Sohn eines Baronet geheiratet, einen Pfarrer. Sie schien zufrieden, war Mutter eines Kindes und erwartete ein zweites. Für sie war gesorgt.

Für seine Eltern und Alice nicht. Und die Situation wurde immer schwieriger. Alice war inzwischen sechzehn und immer noch furchtbar schüchtern. Sein Vater bewegte sich immer langsamer, und seine Mutter wurde den Husten, den sie sich im letzten Winter zugezogen hatte, nicht los.

Arztrechnungen. Unterhaltskosten für das Anwesen, dessen Farmer Pacht bezahlten, die einzige Einkommensquelle, seit es keine Kapitalanlagen mehr gab. Keine Ersparnisse. Ein paar Kleinigkeiten für Alice, die niemals etwas erbat und Angst hatte, sich allein durchschlagen zu müssen, wenn die Eltern starben.

Alles kostete Geld. Und Geld war außerhalb Thomas’ Reichweite. Geld ging an andere, weniger gut aussehende Gentlemen in weniger verzweifelten Notlagen.

Trotz oder vielleicht wegen seines unbestreitbaren Charmes hatte er es bis jetzt nicht geschafft, eine Dame dazu zu bewegen, sich ihm für den Rest ihres Lebens anzuvertrauen.

Er war ein Mann, mit dem die Frauen flirteten und sich manchmal auch zu mehr hinreißen ließen, aber als Lebensgefährte?

Nein.

Wahrscheinlich dachten sie, seine Unwiderstehlichkeit mache ihn für alle unwiderstehlich. Dass ein Ehegelübde nicht reichte, um das unablässige Interesse zu bremsen, das er erregte, wo immer er auftauchte. Es war ermüdend, ehrlich gesagt, charmant zu sein, aber nicht zu charmant, geistreich, aber nicht übermäßig gescheit, gut gekleidet, ohne herauszukehren, dass er bei Weitem besser aussah als jeder andere Gentleman.

Weshalb er auf der Jagd war. Wieder.

Der Saal war brechend voll mit den Besten, die die Gesellschaft zu bieten hatte. Lästernde Anstandsdamen, die es sich nicht nehmen ließen, herumzutollen, zu trinken und dem Glücksspiel mehr zu frönen als ihre sittsamen Schützlinge. Familienoberhäupter, die von ihren beharrlichen Gattinnen zu dem Ballbesuch gezwungen worden waren und sich, so schnell es ging, in einen der hinteren Räumen zurückzogen, um sich eine Zigarre und einen Port zu genehmigen. Züchtige junge Damen, deren einziges Ziel es war, einen Gentleman für sich zu gewinnen, mit dem sie es den Rest ihres Lebens aushalten konnten, und umgekehrt. Und natürlich die Mütter, denen nichts entging und die anscheinend erschnüffeln konnten, wie viel Geld ein geeigneter Heiratskandidat besaß – und zwar bis auf den Penny. Die Nachtluft war kühl und erfrischend, doch im Raum war es stickig warm, ein unabweisbares Zeugnis dafür, dass der Ball ein Erfolg war.

Und Thomas war mittendrin, bahnte sich seinen Weg durch die wogende Menge und änderte sein Benehmen, je nachdem, mit wem er plauderte.

„Miss Porter“, begrüßte er, so sanft er konnte, eine junge Dame, die allein am Rand der Tanzfläche stand und sehnsüchtig ein Grüppchen schnatternder Debütantinnen beobachtete, die plötzlich in Lachen ausbrachen. In der Hand hielt Miss Porter ein Glas Punsch, mit der anderen strich sie sich eine verirrte Haarsträhne hinter das Ohr, betastete ihr Halsband, kratzte sich die Nase oder ließ die Hand einfach sinken, bis ihr eine neue Aufgabe einfiel, die sie damit ausführen konnte.

Miss Porter erinnerte ihn an seine Schwester Alice – sie war eindeutig schüchtern und fühlte sich alles andere als wohl bei einer so großen Gesellschaft.

Im Gegensatz zu Alice war Miss Porter jedoch alt genug, in die Gesellschaft eingeführt zu werden, und wie man hörte, hatte sie mehrere Schwestern, die es kaum erwarten konnten, dass die älteste sich mit dem Heiraten beeilte, damit auch die jüngeren debütieren konnten.

An diesem Abend trug Miss Porter makelloses Weiß wie die meisten jungen Damen unter den Gästen, als Hinweis für die unverheirateten Gentlemen, dass sie noch zu haben waren. Eigentlich hätten sie genauso gut ein rotes Cape vor einem Bullen schwenken können.

Bei gesellschaftlichen Zusammenkünften war Thomas auf diesen Hinweis eingegangen, indem er Miss Porter etwas mehr Beachtung geschenkt hatte, jedoch nicht so viel, dass die anderen Damen auf die Idee kamen, er sei vergeben.

Miss Porter allerdings hatte Thomas’ zurückhaltende Bemühungen entweder gar nicht bemerkt oder sie ignoriert, und er wollte sie mit seinen Aufmerksamkeiten nicht überrumpeln oder sie in die Enge treiben, nur weil sie von Natur aus schüchtern war.

Ja, er brauchte eine Ehefrau, und Miss Porters Familie besaß eindeutig genug Geld, aber wenn sie mit seiner Werbung nicht wirklich einverstanden war, wenn es nicht das war, was sie wollte, würde er sich ihr nicht aufdrängen.

An und für sich hätte es keine Rolle spielen sollen, ob die junge Dame glücklich war, nicht wenn er auf die Weise seine Familie retten konnte. Aber Thomas sah sich außerstande, seine Menschlichkeit bei der Brautschau ganz aufzugeben. In diesem Punkt unterschied er sich von anderen Gentlemen in seiner Situation und hatte auch bereits ein paar potenzielle Heiratskandidatinnen an angriffslustigere Bewerber verloren, Bewerber, denen es gleichgültig zu sein schien, ob die Dame, die sie erwählt hatten, sich etwas aus ihnen machte. Er war Zeuge geworden, wie die Gleichgültigkeit solcher Ehemänner Frauen zermürbte oder ihnen noch schlimmeres Leid zufügte.

Diese Art Ehemann würde er nicht sein, selbst wenn seine Beweggründe für eine Heirat die gleichen waren.

„Ja, Mr. Sharpe?“, reagierte Miss Porter ein wenig verspätet auf seine Begrüßung.

„Darf ich?“ Er deutete auf die zitternde Hand, in der sie das Punschglas hielt. „Es würde mir leidtun, wenn Ihr bezauberndes Kleid zu Schaden käme.“

Ein scheues Lächeln huschte über ihre Züge. Dann nickte sie.

Wieder brachen die jungen Damen in Gelächter aus. Wieder ein sehnsuchtsvoller Blick.

Der nicht ihm galt. Was er eindeutig nicht gewöhnt war, doch er empfand es fast als befreiend, einmal nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.

„Miss Porter, darf ich Sie Lady Emily vorstellen?“ Er machte eine Kinnbewegung zu der Anführerin der Gruppe, einer jungen Dame, die mit einem Gentleman aus ihrer Heimat verlobt und nach London gekommen war, um, wie sie sagte, „nichts zu verpassen“.

Thomas hatte die Erfahrung gemacht, dass Lady Emily Bewunderung genoss; ein Charakterzug, den sie mit allen anderen Menschen der Welt teilte, doch es gab eine unbedingt einzuhaltende Grenze für Schmeicheleien. Für gewöhnlich zählte Thomas seine Komplimente an den Fingern der linken Hand ab. Wenn er den Daumen erreichte, konnte er davon ausgehen, ein Kompliment zu viel gemacht zu haben.

„Oh ja, bitte“, sagte Miss Porter in seine Gedanken hinein.

„Dann darf ich Ihnen einen guten Rat geben, Miss Porter.“ Thomas beugte sich zu ihr, damit er ihr ins Ohr flüstern konnte. „Wenn Sie Lady Emily ein Kompliment über ihr Aussehen oder was auch immer sonst machen wollen, beachten Sie bitte die Regeln.“

„Welche Regeln?“ Miss Porter klang verwirrt.

„Nicht mehr als vier Schmeicheleien. Sonst wird Lady Emily bissig. Wie ein Hund, dem man zu viele Leckereien gibt.“

Miss Porter unterdrückte ein Kichern und sah ihn mit strahlenden Augen an. Zu seiner Erleichterung wirkte sie entspannter, viel weniger sorgenvoll, dass die jungen Damen, von denen einige ausgesprochen kritisch sein konnten, wie er wusste, sie ungünstig beurteilten.

Mit seinem Eingreifen hatte er jeder der Kandidatinnen, die für die Rettung seiner Familie infrage kamen, sorgfältige Aufmerksamkeit gezollt.

Lady Emily stand nicht mehr auf seiner Liste, doch sie war eine wertvolle Bereicherung. Miss Hemingsworth würde sich mit nichts weniger als einem Titel zufriedengeben, den er ihr nicht bieten konnte. Lady Thomasina und Lady Theodora waren praktisch nicht voneinander zu unterscheiden, obwohl sie nicht verwandt waren.

Er hatte die eine zu oft mit der andern verwechselt, als dass er davon ausgehen konnte, es ernst zu meinen mit seiner Werbung. Die beiden waren unfassbar dumm, und ein Teil von ihm fragte sich, ob er sie gleichsam absichtlich durcheinandergeworfen hatte, damit er keine von beiden heiraten musste.

Er bot Miss Porter den Arm. Sie hakte sich bei ihm unter.

„Danke, Mr. Sharpe“, sagte sie noch einmal.

„Keine Ursache.“ Er tätschelte ihre Hand, die auf seinem Ärmel lag.

„Meine Damen.“ Sie traten zu der Gruppe, und Thomas neigte den Kopf. „Darf ich Sie mit Miss Porter bekannt machen? Sie äußerte den Wunsch, den schönsten und charmantesten jungen Damen der Stadt vorgestellt zu werden. Also brachte ich sie zu Ihnen.“ Er unterstrich seine Worte mit einer Verbeugung, ohne den Blick von Lady Emily zu nehmen, denn ihre Reaktion war ausschlaggebend dafür, was die anderen tun würden.

„Oh, Mr. Sharpe.“ Ein wissendes Lächeln zuckte um Lady Emilys Mundwinkel. „Was für ein hübsches Kompliment.“

„Kein Kompliment, sondern die reine Wahrheit“, konterte Thomas glatt.

„Glauben Sie diesem Schlawiner kein Wort, Miss Porter.“ Lady Emily lächelte freundlich. „Kommen Sie, ich möchte mich ein bisschen mit Ihnen unterhalten. Ich glaube, wir haben einander noch nicht kennengelernt.“

Miss Porter gab Thomas’ Arm frei und formte ein stummes Dankeschön mit den Lippen, ehe sie sich ihrer neuen Freundin zuwandte.

„Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden.“ Thomas lächelte in die Runde. „Damit Sie in Ruhe über mich lästern können.“

Die jungen Damen lächelten, und Thomas suchte sich eine diskretere Ecke als die, in der Miss Porter sich versteckt hatte. Er atmete tief durch und entspannte sich.

Es war mühsam. Und er fühlte sich erschöpft.

Als er sich umwandte, stellte er fest, dass ein entzücktes Lächeln auf Miss Porters Zügen lag. Seine Aufgabe war beschwerlich, doch wenn er nebenbei jemandem behilflich sein konnte, war es die Sache beinahe wert.

Und für morgen hatte er sich einen freien Abend genehmigt.

Er stand am Eingang von Miss Ivy’s, einem Spielclub, der seit Kurzem besondere Veranstaltungen anbot. Wie etwa die heute Abend, bei der ausnahmslos jeder willkommen war, vorausgesetzt, man brachte das nötige Geld mit und außerdem eine Maske.

Thomas genoss das Gefühl der Anonymität, auch wenn er wusste, dass es eine Illusion war, denn es gab nicht viele Männer in London, die seine Größe und seine männliche Ausstrahlung besaßen. Eine Feststellung, mit der er keine Eitelkeit zum Ausdruck brachte, sondern eine schlichte Tatsache, die ihm schon lange eine wohlhabende Ehefrau hätte sichern sollen.

„Guten Abend“, hörte er jemanden hinter sich sagen, als er eintrat.

Thomas wandte sich um und lächelte. Es war seine gute Freundin Octavia. Sie erledigte das Tagesgeschäft im Miss Ivy’s, während ihre Schwester – die Namensgeberin des Clubs – die Buchhaltung und den Einkauf sowie den ganzen Rest der Arbeiten hinter den Kulissen erledigte.

Seit jenem schicksalhaften Tag vor zwei Jahren war Thomas überaus vorsichtig, jedenfalls in finanziellen Angelegenheiten. Er wusste, dass beim Glücksspiel Vermögen gewonnen und wieder verloren wurden, daher war es ihm nie in den Sinn gekommen, seine Familie auf diesem Weg retten zu wollen. Es war zu riskant. Sich gut zu verheiraten erschien ihm viel einfacher. Und er würde sich lieber auf sein Aussehen verlassen als auf sein Glück am Spieltisch.

Obwohl die Chancen, dass er sich zu Letzterem hinreißen ließ, im Augenblick stiegen. Vielleicht sollte er einfach alles auf eine Karte setzen wie sein Vater.

Aber war es nicht genau das, was er gerade tat?

Ach, zum Teufel, er war in einer lausigen Stimmung.

„Thomas?“ Diesmal klang Octavia belustigt.

„Guten Abend.“ Er lächelte schief und verbeugte sich. „Ich brauche einen ordentlichen Drink und einen Moment für mich, in dem ich nicht gezwungen bin, Konversation zu machen.“

„So ein schweres Schicksal“, erwiderte Octavia trocken, „charmant sein zu müssen, wo immer du dich blicken lässt. Wie geht es vorwärts mit deiner Jagd nach einer Ehefrau?“

Thomas zuckte mit den Schultern.

„So gut, ja?“

Octavia und er waren aus demselben Holz geschnitzt: charmant, liebenswürdig und manchmal verwegen. Sie hatten einmal kurz miteinander geflirtet, sogar ein paar Küsse getauscht, doch sie wussten beide, dass ihre Beziehung nicht tragfähig war. Sie waren beide wie Feuersteine, durchaus fähig, Funken zu schlagen, aber außerstande, ein Feuer in Gang zu halten.

Aber während Thomas eine potenzielle Geliebte verloren hatte – Octavia war nicht so reich, dass er sie hätte heiraten können, und sie wollte unabhängig bleiben –, hatte er eine Freundin gewonnen. Eine, die ihn verstand, die wusste, wie es sich anfühlte, gesellschaftlich abgestürzt zu sein. Denn ehe sie das Gesicht von Miss Ivy’s geworden war, hatte sie zum Landadel gehört und bei ihrer älteren Schwester gelebt.

Doch die Dinge änderten sich, und nun war sie hier und setzte sich mit Eifer über die Regeln der Wohlanständigkeit hinweg. Er wusste, dass es einen bemerkenswerten Gentleman erfordern würde, um sie dazu zu bringen, auch nur ein kleines bisschen ihrer Unabhängigkeit aufzugeben – sie war ein Wirbelwind geradeheraus geäußerter Meinungen und unverblümter Rede.

Octavia ergriff ihn beim Arm und führte ihn durch den Raum zur Bar.

Der Club war in leuchtenden Fuchsia- und Goldtönen gehalten, ein kühnes Zeugnis der Verschönerungen, die eine der besten Freundinnen Octavias vorgenommen hatte – die Duchess of Malvern, die den Wert gewagter Farbkombinationen zu schätzen wusste. Die Wirkung des Ganzen war einladend und herausfordernd zugleich. Von den Gästen trugen die meisten Masken, die von einfachen Schals mit Augenschlitzen bis zu höchst anspruchsvollen Kreationen reichten, die aussahen, als habe Marie Antoinette sie in den Tuilerien getragen.

„Wenn du doch nur reich genug wärst, dir mich leisten zu können“, sagte Thomas bedauernd, als Octavia ihn mit sich durch die Menge zog.

„Ich wüsste nicht, dass ich den Wunsch hätte, dich zu kaufen“, spöttelte Octavia zuneigungsvoll. „Du bist viel zu schwierig zu halten.“

Thomas blieb stehen, legte sich theatralisch schockiert die Hand auf das Herz. „Getroffen bis ins Mark.“ Er deutete auf sich selbst. „Alles, was ich von einer Ehefrau erwarte, ist ein gut gefülltes Bankkonto, nicht zu viele lästige Verwandte und dass sie mir eine angenehme Gefährtin ist.“ Er dachte nach. „In genau dieser Reihenfolge.“

„Wie ich schon sagte“, versetzte Octavia schelmisch, „zu schwierig zu halten.“

Thomas konnte nicht anders, er lachte. Dann waren sie an der Bar.

Der Angestellte hinter dem Tresen nickte ihm zu, während er ihm bereits seinen Whisky einschenkte – mit einem Schuss Wasser – und den Drink vor ihn hinstellte.

Thomas hob sich das Glas an die Lippen, als Octavia plötzlich hörbar den Atem einsog. Er drehte sich um, weil er sehen wollte, was seine unerschütterliche Freundin derart aus der Fassung gebracht hatte.

Und dann entdeckte er sie.

Sie trug eine Robe, die sich besser für eine Vorstellung bei Hofe geeignet hätte als für einen Spielclub. Ihr blondes Haar schimmerte im Kerzenlicht, ihre verführerischen Lippen waren zu einem entzückten Lächeln nach oben gebogen, ihre Maske verhüllte nur wenig von ihrem schönen Gesicht und nichts von ihrer Identität.

Lady Jane Capel, die Tochter des Earl of Scudamore. Die Schwester seines besten Freundes. Eine Frau, die mit Schönheit und Reichtum gesegnet und vor zwei Jahren beinahe Duchess geworden war – zur selben Zeit, da Thomas’ Schicksal sich so dramatisch gewendet hatte. Dann jedoch war ihre Schwester die Gattin des Dukes geworden, und Lady Jane hatte sich mit ihrem nächsten Nachbarn verlobt.

Sie war immer noch unverheiratet. Vor zwei Jahren hatte sich ihr Leben auf den Kopf gestellt oder genauer gesagt, sie hatte ihr Leben auf den Kopf gestellt, nachdem der Duke die Verlobung gelöst hatte. Und anstatt sich in der Sicherheit ihres Elternhauses zu verkriechen, bis jemand von ihrer Schönheit und ihrem ruhigen Wesen angelockt wurde, hatte sie den Familienstammsitz verlassen und war bei ihrem Halbbruder Percy Waters eingezogen, Thomas’ engstem Freund.

Thomas war Jane oft begegnet, doch statt mit ihrem Bruder und seinem Freund pflegte sie ihre Zeit lieber mit einem Buch oder im Park zu verbringen. Abgesehen davon gab es jedes Mal, wenn sie sich bei einem gesellschaftlichen Ereignis sehen ließ, Gerede über ihre Art zu leben, und er konnte es sich nicht leisten, dass sein Ruf Schaden nahm, weil er Zeit mit ihr verbrachte.

Es war nicht gerecht, aber so ging es nun einmal zu in ihren Kreisen.

Er bewunderte sie für ihre Tapferkeit, dafür, dass sie den ausgetretenen Pfad, wie er für junge Damen der Aristokratie vorgesehen war, verlassen hatte. Am liebsten hätte er es genauso gemacht, doch sein Weg war der, den sie hätte gehen sollen – Heirat mit einer Fremden, und die Verbindung war ebenso sehr ein Geldgeschäft wie eine Angelegenheit der Gefühle. Ein charmanter Ehemann im Tausch gegen das Vermögen, das nötig war, um die Familie des charmanten Ehemannes über Wasser zu halten.

„Was macht sie denn hier?“ Octavias leise geäußerte Frage war ein Echo der Worte, die ihm im Kopf herumgingen. Gäste aller Art kamen in das Miss Ivy’s, doch stille, sittsame, belesene junge Damen waren eher nicht darunter. Sie in dieser Umgebung zu sehen war nicht weniger verstörend, als wenn Thomas bei einem Treffen todernster Zeitgenossen aufgetaucht wäre, die es vorzogen, zu Hause zu bleiben und Bücher zu lesen, anstatt auszugehen.

Auch bekannt unter dem Namen Lady-Jane-Club, dachte er sarkastisch.

Lady Jane saß an einem der Spieltische, umgeben von einem halben Dutzend oder mehr Gentlemen. Sie griff nach dem Würfelbecher, schüttelte ihn mit dem gleichen entzückten Gesichtsausdruck, der ihm schon zuvor aufgefallen war. Als handle es sich bei dem Becher um ein neues Buch, in das sie sich gerade vertiefen wollte.

Die Männer um sie her trugen Mienen zur Schau, in denen Faszination, Interesse und unverhohlene Wollust zu lesen waren; Gefühle, die ihre Masken nicht zu verbergen vermochten.

Es war die Wollust, die Thomas veranlasste, sein Glas unberührt zurück auf den Tresen zu stellen und sich auf den Weg zu ihr zu machen. Er schuldete es Percy, auf seine kleine Schwester achtzugeben, obwohl die kleine Schwester eine Menge Spaß zu haben schien.

Doch mehr als die meisten anderen Menschen war Thomas sich der Tatsache bewusst, dass der Schein trügen konnte.

Er trat an ihren Tisch, als sie gerade gewürfelt hatte. Ihre Augen hinter der Maske weiteten sich, als die Würfel über den grünen Filz rollten.

„Glückszahl sieben!“, verkündete der Kartengeber laut und schob Lady Jane einen Stapel Spielmarken zu. Sie lehnte sich vor und kehrte die Jetons mit der Hand zu dem Haufen, der sich vor ihr türmte.

„Ich gratuliere.“ Einer der Gentleman platzierte seine Hand besitzergreifend auf ihrer Stuhllehne. „Wenn Sie gestatten, Lady Jane, könnte ich Sie mit anderen, interessanteren Spielen vertraut machen.“

Thomas kannte den Sprecher. Es war Lord Joseph Calender, ein weiterer Gentleman auf der Jagd nach einer Erbin, ein gut aussehender Mann, der Geld brauchte, um seinen Lebensstil und die kostspieligen Pferde, die kostspieligen Frauen und den kostspieligen Wein, die dazugehörten, zu finanzieren.

In ein paar Jahren, so dachte Thomas, würde Lord Calenders Aussehen von den zahlreichen Lastern zeugen, denen der Mann frönte. Insofern hatte er nur begrenzt Zeit, seine Attraktivität zu seinem Vorteil zu nutzen.

Nicht dass dies Lord Joseph bewusst gewesen wäre. Er brauchte einfach Geld und hatte genau wie Thomas erkannt, dass der beste Weg aus seiner finanziellen Klemme eine gute Partie war.

Lady Jane zählte nicht mehr zu den guten Partien. Denn als sie zu Percy gezogen war, hatten ihre Eltern sie enterbt.

Lord Josephs Absichten waren also keineswegs ehrenhaft. Was bedeutete, dass Thomas eingreifen musste.

„Ich glaube“, begann er in seinem sanftesten Tonfall, „Sie hatten mir versprochen, dass ich Sie auf einem Rundgang durch den Club begleiten darf, Mylady.“ Er fing Octavias Blick und machte eine Kinnbewegung zu der Tür zu ihrem privaten Büro. Octavia nickte verstehend, zog einen Schlüssel aus ihrem Mieder und hielt ihn hoch.

Mit ihren großen blauen Augen sah Lady Jane zu ihm auf. „Tatsächlich?“ Dann erkannte sie ihn offenbar und musterte ihn finster. „Hatte ich nicht“, setzte sie ungnädig hinzu und senkte den Blick auf den Spieltisch. „Sie haben Ihre Pflicht getan, Mr. Sharpe. Danke.“

Thomas erstarrte. Zurückweisungen war er nicht gewöhnt.

„Sie haben gehört, was die Dame sagte, Mr. Sharpe“, mischte Lord Joseph sich ein. „Ich kümmere mich um Lady Jane.“

Lady Janes Kopf ruckte zu Lord Joseph herum. „Nicht Sie auch noch“, sagte sie entnervt. „Ich brauche niemanden, der sich um mich kümmert, vielen Dank.“ Sie erhob sich, verstaute ihre Spielmarken in einem Beutel, den sie an ihrem Handgelenk trug. „Ich werde mein Glück an einem anderen Tisch versuchen.“

Thomas folgte ihr, als sie statt zu einem anderen Tisch entschlossenen Schritts zur Bar marschierte und Octavia zunickte, deren verblüffte Miene zweifellos ein Spiegelbild seiner eigenen war.

„Lass mich das machen“, murmelte er Octavia zu und nahm ihr den Schlüssel ab. Sie nickte, und er ging zur Bar, setzte sich auf den Hocker neben Lady Jane, die ihn entschlossen ignorierte.

Und wenn schon. Solange sie nicht mit irgendwelchen Halunken in einem Hinterzimmer verschwand, konnte es ihm egal sein.

Der Barmann stellte ein Glas vor ihn hin, doch just als er danach griff, schnappte Lady Jane es ihm fort.

Das Kinn trotzig gereckt, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet, setzte sie das Glas an die Lippen und trank.

Im nächsten Moment begann sie zu husten und sah beiseite. Ihre freie Hand flog zu ihrer Kehle, während sie das Glas mit Nachdruck auf dem Tresen abstellte.

Thomas verkniff sich ein Grinsen und ebenso eine Bemerkung der Sorte „hatte ich Ihnen doch gesagt“. Schließlich war er gar nicht dazu gekommen, sie zu warnen, weil sie so schnell zugegriffen hatte.

„Puh“, sagte sie, als sie endlich in der Lage war zu sprechen, „damit hatte ich nicht gerechnet.“ Sie nahm die Maske ab und rieb sich die tränenden Augen. Obwohl sie sich an dem Whisky verschluckt hatte, trug sie eine vergnügte Miene zur Schau.

„Gestatten Sie mir, Sie nach Hause zu bringen, Lady Jane.“ Thomas umfasste ihren Ellbogen und erhob sich.

„Nach Hause?“ Wieder musterte sie ihn finster. „Nein.“ Sie zeigte auf das Glas auf dem Tresen. „Das da bedeutet, dass ich hier noch nicht fertig bin. Ich möchte bitte noch einen“, wandte sie sich mit einem warmherzigen Lächeln an den Barmann.

Und ehe Thomas einen Einwand anbringen konnte, hob sie sich den Whisky erneut an die Lippen und trank ihn in einem Zug aus. Dann stellte sie das Glas mit Aplomb auf den Tresen. Diesmal blieb das Husten aus.

„Na also!“, rief sie triumphierend. „Schon viel besser.“

Thomas starrte sie an. Was zur Hölle war geschehen, dass sich die zurückhaltende Lady Jane in eine dem Glücksspiel frönende, trinkende Abenteurerin verwandelt hatte?

Lady Jane musste sich davon abhalten, ihm ins Gesicht zu lachen. Der durch nichts aus der Fassung zu bringende Thomas Sharpe, stets verbindlich, immer angenehm, starrte sie an, als sei er jemandem wie ihr noch nie begegnet.

Was vielleicht auch stimmte.

Jedenfalls hatte sie nie den Eindruck gehabt, dass er sie wahrnahm, wirklich wahrnahm, obwohl sie oft Zeit unter dem gleichen Dach verbrachten – er war Percys bester Freund, sein Komplize bei allen anrüchigen Unternehmungen, denen ihr Bruder nachging. Jane wusste nicht genau, um was für Unternehmungen es sich handelte – Percy weigerte sich, ihr davon zu erzählen, und behauptete, sie sei viel zu naiv und verstünde nichts von diesen Dingen –, doch ihrem Eindruck nach drehten sie sich um Alkohol, ausufernde Partys und die Sorte Zerstreuungen, von denen junge Damen nichts wissen durften.

Leider gehörte sie selbst zu diesen unwissenden unverheirateten jungen Damen.

Und das war der Grund, weswegen sie nun im Miss Ivy’s saß, würfelte und Whisky trank. Dinge lernte, über die sie nichts wusste. Ihre Naivität ablegte und weltgewandt wurde.

Und leider gerade den besten Freund ihres Bruders getroffen hatte. Der ihre Pläne eindeutig vereiteln würde, wenn sie nicht rasch herausfand, wie sie ihn von seiner Lancelot-Mission abbringen sollte.

„Mr. Sharpe“, begann sie mit Nachdruck, als der Barmann den gewünschten Drink vor sie hinstellte, „es besteht wirklich keine Notwendigkeit, mir Gesellschaft zu leisten. Ich kann sehr gut alleine sein.“ Sie schlug einen selbstsicheren Ton an, so wie ihre Mutter, wenn sie ihrer Tochter Ansprachen darüber gehalten hatte, dass sie sich gut und bald verheiraten musste.

Genau das würde sie nicht tun. Aber der Tonfall war wirkungsvoll. Wenigstens hoffte sie das.

Eine seiner sündhaft interessanten Brauen schoss hinter seiner Maske in die Höhe, eindeutig ein Zeichen von Zweifel. Warum zum Teufel glaubte er ihr nicht, wenn sie ihm zu verstehen gab, dass es ihr gut ging?

Und warum musste er so bemerkenswert attraktiv sein? Sie hatte gerade erst gelernt, ihre Atmung zu kontrollieren, wenn er zu Percy kam, und das, obwohl sie dort die Möglichkeit hatte, sich auf seine Besuche vorzubereiten.

Sein Auftauchen im Miss Ivy’s hatte sie komplett überrumpelt, und auf die Wirkung des durchdringenden und gleichzeitig verführerischen Blicks seiner wissenden dunkelblauen Augen war sie nicht im Mindesten gefasst gewesen. Auch nicht auf die lässige Anmut seiner Bewegungen, auf sein männliches Kinn und seinen sinnlichen Mund. Nicht einmal auf sein schönes dunkles Haar, das ihm in Wellen bis auf die Schultern fiel.

Manchmal juckte es sie in den Fingern, ihm eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn zu streichen, und dann musste sie sich klarmachen, dass es ein äußerst merkwürdiges Verhalten von ihr wäre, so etwas zu tun.

Aber sie stellte es sich vor.

Die Maske, die er trug, verbarg nichts von seinem Reiz. Wenn überhaupt, stachelte sie einen nur dazu an, herauszufinden, ob man ihn dazu bringen konnte, sie abzunehmen. Sich zu zeigen. Ihr zu zeigen, nur ihr.

Solche Dinge hätte sie sich vom besten Freund ihres Bruders nicht vorstellen sollen. Schon gar nicht, wenn der besagte Freund nichts unversucht ließ, sie wie ein verlorenes Lämmchen nach Hause zu geleiten.

Sie hatte es satt, ein Lämmchen zu sein.

„Weiß Percy, dass Sie hier sind?“ Er schien ihrer Bitte, sie in Ruhe zu lassen, nicht nachkommen zu wollen. „Wahrscheinlich nicht“, fügte er, ohne auf eine Antwort zu warten, hinzu. Vielleicht bestand seine Reaktion auf ihr Interesse an ihm darin, dass er sie zu kontrollieren versuchte. Was jede Regung, es ihm leichter zu machen, im Keim ersticken würde.

„Natürlich nicht“, erwiderte sie hitzig und stach anklagend mit dem Zeigefinger in seine Richtung. „Weil mein Bruder nämlich erwachsen ist, genau wie ich. Schließlich frage ich ihn auch nicht, wo er sich herumtreibt, wenn er mit Ihnen zusammen ist.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und hob ebenfalls eine Braue.

Wobei sie wahrscheinlich lange nicht so spöttisch aussah wie er, wie sie annahm. Lady Jane Capel spottete nicht. Sie war entgegenkommend, ruhig, fügsam, bescheiden und hatte gute Manieren.

Genau besehen mochte sie Lady Jane Capel nicht besonders. Jedenfalls nicht diese Version von ihr.

„Das sind zwei gänzlich verschiedene Dinge“, erwiderte er in herablassendem Tonfall. Der sie so störte, dass sie für einen Moment vergaß, wie attraktiv er war.

„Weil ich eine Frau bin?“

Sein Kiefer arbeitete, und sie unterdrückte ein Triumphgefühl, weil sie ihn doch noch dazu gebracht hatte, sie wahrzunehmen – obwohl er sie wahrscheinlich lästig fand. Und wenn schon.

„Könnten wir diese Frage in einem vertraulicheren Rahmen erörtern?“ Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, dann bemerkte sie, dass er die Augen verengte, und wandte sich um. Mit entschlossener Miene, begleitet von einigen seiner Freunde, kam Lord Joseph in ihre Richtung.

„Oh Gott.“ Sie stöhnte entnervt und legte ein paar Jetons auf den Tresen. „Stimmt so.“

Alles, nur keinen weiteren Skandal, bei dem sie nichts machen konnte.

Und wenn es unbedingt einen Skandal geben musste, wollte sie diejenige sein, die das Heft in der Hand hatte.

Anstatt ohnmächtig mitansehen zu müssen, wie der Mann, den sie zu lieben geglaubt hatte, ihr den Laufpass gab. Anstatt sich anhören zu müssen, wie man hinter vorgehaltener Hand über sie und ihren Lebensstil tuschelte. Anstatt sich gefallen lassen zu müssen, dass Männer, von denen sie geglaubt hatte, dass sie Ehrenmänner waren, ihr unanständige Angebote machten, nun, da sie ihnen anscheinend nichts entgegenzusetzen hatte.

Mr. Sharpe erhob sich ebenfalls und wies auf eine Tür zur Linken der Bar. Jane setzte sich in Bewegung und ging ihm voraus, erleichtert, dass er nicht ihren Ellbogen umfasst hatte, um sie zu führen, oder sein Recht auf Vorherrschaft anderweitig geltend machte.

Sie trat zur Seite, als er einen Schlüssel aus der Tasche zog, die Tür aufschloss und ihr bedeutete, vorauszugehen. Er folgte ihr, schloss die Tür hinter ihnen.

Sie befanden sich in einem kleinen Büro mit einem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch und mehreren Bücherschränken an den Wänden. Statt Büchern jedoch standen Flaschen mit Alkohol in den Regalen. Auf dem Schreibtisch brannte eine einzelne Kerze.

Es war schockierend intim. Umso mehr, als Jane aufging, dass sie zum ersten Mal seit Mr. McTavish, diesem Wolf im Schafspelz, der ihr vor ein paar Jahren das Herz gebrochen hatte, wieder mit einem Mann allein war. Im Grunde musste sie dem Kerl dankbar sein, denn hätte er ihr nicht den Laufpass gegeben, wäre sie wohl mit ihm verheiratet, ahnungslos wie ein Schaf.

Was die Intimität anging, so musste sie sich darüber keine Sorgen machen. Sie wusste genau – und zugegebenermaßen zu ihrem Kummer –, dass Mr. Sharpe in ihr nichts anderes sah als Percys kleine Schwester. Das hatte er bei allen vorherigen Begegnungen deutlich gemacht, und sein Beweggrund im Augenblick war einfach der, dass er sich für sie als die Schwester seines besten Freundes verantwortlich fühlte. Sonst gar nichts.

Sein Mangel an Interesse hätte ihr eine Erleichterung sein sollen. Immerhin erregte sie seit dem Alter von sechzehn Jahren das Interesse der Gentlemen. Ihre Mutter hatte ihr versichert, dass sie eine atemberaubend gute Partie machen würde und dafür nichts anderes tun musste, als sich sehen zu lassen. Sich bereitzuhalten, sozusagen.

Und als die fügsame Jane, von der sie so verzweifelt wünschte, sie nicht zu sein, hatte sie genau das getan.

Mit dem Ergebnis, dass sie von einem Mann, der sie nicht im Entferntesten verdiente, auf eine höchst demütigende Weise sitzen gelassen worden war.

„Und nun?“ Sie bemühte sich um einen ungeduldigen Tonfall.

„Bin ich wirklich neugierig.“ Mr. Sharpe nahm seine Maske ab und trat zu ihr. Um sie besser erkennen zu können in dem spärlichen Licht, das wusste sie, obwohl ihr verräterisches Herz zu flattern begann. „Wie sind Sie auf die Idee gekommen, das Miss Ivy’s zu besuchen? Und dann noch allein?“

Das Irritierende war, dass er aufrichtig klang. Nicht wertend, nicht belehrend, nicht herablassend.

Jane dachte nach, dann reckte sie das Kinn und sah ihm in die Augen. „Ich wollte einfach nicht mehr ich sein“, antwortete sie schlicht.

2. KAPITEL

Thomas runzelte verwirrt die Stirn.

„Nicht mehr Sie?“ Er erwiderte ihren Blick. „Wer wollen Sie stattdessen sein?“

Sie nahm ihre Maske ab und atmete tief durch. „Wer auch immer, nur nicht ich. Jemand, die macht, was sie will und wann sie es will. Jemand, die keine Erlaubnis braucht, einfach nur zu sein.“ Frustriert warf sie die Hände in die Luft. „Jemand, die man nicht in einem Hinterzimmer in Sicherheit bringen muss, weil sie die Dreistigkeit besitzt, abends auszugehen.“

Thomas verschränkte die Arme vor der Brust. Was sie wollte, war gerecht, aber … „Unmöglich“, stieß er unbedacht hervor und bereute es, sobald er ihren Gesichtsausdruck sah. „Sie sind Sie, Lady Jane“, fuhr er ein wenig sanfter fort. „Und eigentlich sollten Sie genau das sein wollen. Nach allem, was ich von Percy höre, sind Sie eine bemerkenswert loyale Schwester, gütig und großzügig.“ Er zögerte. Weil sie die Schwester seines besten Freundes war, hatte er entschlossen ausgeblendet, wie hinreißend sie war. Es wäre höchst unpassend gewesen, eine Beziehung zu ihr aufzubauen, doch genau das tat er gerade.

„Außerdem sind Sie schön. Und daran können Sie nichts ändern.“

„Ich wünschte, ich könnte“, erwiderte sie leise.

Er auch – seine Freundschaft mit Percy war zu wichtig, um sie durch seine Reaktionen auf Lady Jane zu gefährden.

Also pflegte er in ihrer Anwesenheit Gleichgültigkeit zur Schau zu tragen, außer wenn er so überrumpelt war wie heute Abend.

Es war nicht von Nutzen, dass das Kleid, das sie trug, eine elegante Kreation aus Spitze und cremefarbenem Satin war, ein Überbleibsel aus der Zeit, da sie debütiert hatte. Es gab ihre Schultern frei und betonte die sanften Rundungen ihres Busens, der nicht groß, aber auch nicht klein war.

Perfekt geformt, jedenfalls soweit Thomas’ sachkundiges Auge es erkennen konnte.

Eigentlich war alles an ihr perfekt. Ihr Haar, das in dem sanften Kerzenlicht golden glänzte, die helleren, beinahe silbrigen Strähnen, die ihr ein ätherisches Aussehen verliehen. Ihre großen Augen, deren Blauton an einen Sommerhimmel erinnerte, ihr Mund mit den vollkommenen Lippen, von denen die untere sich wölbte, als warte sie darauf, geküsst zu werden.

Aber Lady Jane zu küssen konnte und würde er sich nicht gestatten.

„Sie wissen, wie es ist, wenn man nach seinem Aussehen beurteilt wird“, setzte sie verächtlich hinzu. „Ich würde lieber gar nicht beurteilt.“

Thomas schnaubte. „Und Sie wissen genau, dass wir beide davon nur träumen können. Es ist ermüdend, nicht wahr?“ Er lächelte schief. „Sie dürfen mir glauben, ich weiß, wovon ich rede.“ Er hätte ihr gewünscht, dass es anders wäre. Ihnen beiden, wenn er ehrlich war.

Besser nicht. Denn ohne sein bemerkenswertes Erscheinungsbild, so wurde ihm klar, hätte er kaum eine Möglichkeit gehabt, eine Frau mit Geld zu finden und seine Familie zu retten. Allein deswegen musste er für sein gutes Aussehen dankbar sein.

„Das erklärt immer noch nicht, weshalb Sie hier sind.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust, um Distanz zu ihr zu wahren. Und nicht am Ende wegen ihrer beider umwerfenden Aussehens eine mitfühlende Verbindung zwischen ihnen herzustellen.

Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, verriet, was sie von seinen analytischen Fähigkeiten hielt. Nicht viel anscheinend.

„Weil das Miss Ivy’s, soweit ich weiß, der einzige Ort ist, an dem ich mich aufhalten kann, ohne kritisch beurteilt zu werden. Jedem wird hier Einlass gewährt, solange er oder sie das nötige Geld hat.“ Sie musterte ihn mit hochgezogener Braue. „Was mich zu der Frage bringt – wie ist es Ihnen gelungen, Zutritt zu erhalten?“ Sie klang argwöhnisch. „Denn soweit ich weiß, haben Sie kaum genug Geld, um Ihre Schneiderrechnungen zu bezahlen.“ Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, dann sah sie ihm in die Augen. „Wobei ich hoffe, dass Sie es tun, denn der Mann leistet hervorragende Arbeit.“

Thomas verbeugte sich übertrieben, zeigte auf die Art seine Verärgerung. „In der Tat, ich bezahle meinen Schneider“, erwiderte er scharf.

Es war eine Investition, die seine Eltern bereitwillig tätigten, da sie davon ausgingen, dass der Ertrag es lohnen würde. Aber der Schmuck seiner Mutter würde nicht ewig reichen. Die Zeit lief ihm davon, und bis hierher bestand die einzige Rendite in den bewundernden Blicken, mit denen man ihn bedachte, sobald er einen Raum betrat.

Und bewundernde Blicke würde er erhalten, egal, was er trug.

„Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie so nicht weitermachen können.“ Er lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf sie. „Es stimmt, dass das Miss Ivy’s das einzige Etablissement ist, das Sie ohne Begleitung betreten können, ohne Schaden zu nehmen.“ In seinen nächsten Worten lag ein Anflug von Bedauern. „Dass Sie nicht einfach tun dürfen, was Sie wollen, finde ich auch unfair. Aber so ist es nun einmal in unseren Kreisen.“

Sie machte den Mund auf, um etwas zu sagen, schloss ihn wieder. Frustration malte sich in ihren Zügen.

„Sie haben natürlich recht.“ Sie klang bitter, und Thomas wurde eng um die Brust bei ihrer unübersehbaren Enttäuschung. Aber damit durfte er sich nicht aufhalten, nicht wenn ihre Reaktion bedeutete, dass sie einwilligte, sich in Sicherheit bringen zu lassen. Die zu sein, die sie war.

Erleichtert atmete er aus. „Darf ich Sie dann nach Hause begleiten?“

„Nach Hause begleiten?“ Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Ihre Augen weiteten sich, und in ihren Zügen malte sich Verblüffung, so deutlich, dass er versucht war, sich umzudrehen, um zu sehen, was oder wer sie so überraschte. Aber er wusste genau, dass sie allein waren.

„Sie!“, rief sie aus. Als sei er die Lösung für ein Problem, mit dem sie sich schon viel zu lange herumschlug.

„Ich?“ Wahrscheinlich hörte er sich genauso schwachsinnig an, wie er ihrer Meinung nach war.

„Ja, Sie! Himmel, es ist so naheliegend, dass ich wahrhaftig auch schon früher darauf hätte kommen können!“ Sie musterte ihn befriedigt. Es stimmte, hin und wieder war er tatsächlich die Lösung für eine Dame, aber er bezweifelte sehr, dass Lady Jane auf der Suche nach dieser Art von Befriedigung war.

„Darauf kommen? Verzeihen Sie, Mylady, aber ich scheine begriffsstutzig zu sein. Worauf kommen?“

Bei der Frage stieg ein Anflug von Beklommenheit in ihm auf.

Der sich verstärkte, als sie mit dem Finger auf ihn deutete.

„Sie … können … mich … mitnehmen … und … mir … alles … zeigen.“ Bei jedem Wort stach sie ihm die Fingerspitze in die Brust, Aufregung malte sich in ihren Zügen. „Ich will alles erleben, alles, was Lady Jane nie erleben durfte.“

Die Ahnung von Beklommenheit verwandelte sich in eine ausgewachsene Beklemmung.

„Warum sollte ich das tun?“ Er machte nicht einmal den Versuch, seine Ablehnung zu verbergen. Sie war Percys Schwester und niemand, dem er zu helfen wünschte. Jedenfalls nicht so, wie er es am besten konnte.

Sie nickte, ein zufriedenes Lächeln auf den bezaubernden Lippen.

„Wenn Sie es tun, helfe ich Ihnen, eine reiche Braut zu finden.“

Ihre Worte kamen so unerwartet wie ein Schlag in die Magengrube. Das, was er am dringendsten brauchte, bot sie ihm an. Als wäre es so einfach wie ein Stück Kuchen servieren oder ein Kompliment machen. Sie bot ihm ihre Unterstützung, was außer ihr niemand getan hatte, obwohl alle von seiner Notlage wussten.

„Aber wie?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ganz einfach. Ein paar wie nebenbei im Damenzimmer fallen gelassene Bemerkungen über Sie, die durchblicken lassen, welch guter Charakter sich hinter Ihrer charmanten Fassade verbirgt. Vielleicht ein beiläufiger Hinweis, dass mein Versuch, Ihr Interesse zu erregen, gescheitert ist wegen einer anderen …“ Lady Jane wedelte mit der Hand. „Natürlich würde ich keinen Namen nennen, sodass jede der anwesenden Damen glauben könnte, sie wäre die Glückliche.“ Lady Jane sah ihn an. „Das würde Gerüchte über Ihre spätere Treue zum Verstummen bringen, nicht wahr?“ Sie zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Je nachdem, wie es läuft, würde ich Verfeinerungen anbringen. Das Ganze ist natürlich nur ein vorläufiger Plan, aber wie ich schon sagte, es wäre einfach.“

Die Idee war so naheliegend, dass Thomas sich verwundert fragte, wieso er nicht selbst darauf gekommen war. Allerdings hatte er keine gut aussehende Unterstützung gehabt, außer vielleicht Percy, der ebenso attraktiv war wie er selbst, wenn auch auf eine andere Art – die eines melancholischen Dichters. Aber Percy pflegte keine Damenzimmer aufzusuchen.

„Und als Gegenleistung?“, fragte er angespannt.

Die Art, wie sie darüber geredet hatte, ließ es aussehen, als würde sie nichts verlangen. Eine Kleinigkeit, die man erledigte und die dann vergessen war.

Aber Thomas vermutete, dass Letzeres nicht der Fall sein würde.

Ihr Gesichtsausdruck war der gleiche wie der seiner Mutter, wenn sie ihm einen Auftrag erteilte. Grimmige Entschlossenheit, die keinen Widerspruch duldete.

„Sie nehmen mich mit in die Etablissements, die Sie mit Percy besuchen. Ich will mir alles ansehen.“ Im spärlichen Licht der Kerze begannen ihre Augen zu funkeln. „Etablissements wie das Miss Ivy’s und solche, in denen der Aufenthalt für mich sicherer ist, wenn Sie mich begleiten.“ Sie breitete die Arme aus. „Ich möchte Whisky trinken, lachen und meine Meinung sagen.“ Das hörte sich nach sehr bescheidenen Wünschen an, Dingen, die Thomas tagtäglich tat, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Diese Wünsche konnte er ihr erfüllen, oder etwa nicht? Zumal, wenn es ihm endlich eine Braut bescherte?

Tief Luft holend begegnete sie seinem Blick. „Und ich will Erfahrungen sammeln.“ Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne, und auf einmal schossen Thomas Bilder durch den Kopf, die er von der Schwester seines besten Freundes auf keinen Fall hätte haben dürfen.

„Sie meinen …?“ Er war nicht sicher, wie er es sagen sollte. Denn wenn es nicht das war, was sie meinte, würde sie entsetzt sein. Und wenn es war, was sie meinte, würde er entsetzt sein.

Und in Versuchung geraten. Was er auf keinen Fall zulassen durfte. Nicht mit Percys Schwester.

„Jawohl“, erwiderte sie langsam. „Ich möchte, dass Sie mir alles zeigen, was eine Frau und ein Mann miteinander anstellen.“ Sie atmete aus. „Ich finde es nicht fair, die Erfahrungen, die für Sie selbstverständlich sind, nicht auch machen zu dürfen. Bloß weil ich nicht verheiratet bin.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ohne Verpflichtungen für beide Seiten, wenn wir unsere Abmachung erfüllt haben.“ Er sah, wie sie schluckte, das Kinn reckte, ohne den Blick von ihm zu lösen. „Ich meine, ich will alles erleben. Jedenfalls das meiste“, verbesserte sie sich rasch. „Wir werden natürlich Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, denn weder Sie noch ich wollen in die Lage kommen, heiraten zu müssen. Aber das ist in Ordnung, weil ich glaube, dass Sie meine Unabhängigkeit ebenso wenig ertragen könnten wie ich Ihre Herablassung.“

Er würde nicht darauf antworten. Obwohl sie wahrscheinlich recht hatte. „Mit anderen Worten, alles außer …?“

Wieder nickte sie, diesmal, der Himmel mochte ihm beistehen, energischer.

„Genau.“

Sie ließ es alles so einfach erscheinen – wie einen Tausch von Geschick und Erfahrung.

Trotzdem hatte er es mit der Schwester seines besten Freundes zu tun, einer jungen Dame, die er nur als sanft und zurückhaltend kannte. Einer jungen Dame, die Bücher mochte und Spaziergänge im Park. Wer hätte auch ahnen können, was sie sich von ihm ausbitten würde?

Doch wenn sie in der Lage war, eine Braut für ihn zu finden, wie konnte er ablehnen? Ohne wenigstens zu verhandeln?

„Was ist mit Percy?“

Sie hob eine Braue. Herausfordernd. „Was soll mit ihm sein?“ Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah ihn fragend an.

Im Geist ging er mehrere Antworten durch – dass Percy sich als Beschützer seiner Schwester betrachtete. Dass Percy sie keiner Gefahr ausgesetzt sehen wollte. Dass Percy es vielleicht komisch fand, wenn sein bester Freund Umgang mit seiner Schwester pflegte. Doch all diese Antworten unterstellten, wie ihm schien, dass ihren eigenen Wünschen nicht zu trauen war.

Außerdem war es ganz und gar nicht das, was er sagen wollte. Hauptsächlich weil er sehen konnte, dass diese Art Argumente sie nicht überzeugen würde. Wenn überhaupt, so befand er nach dem, was er gerade über sie herausgefunden hatte, würden solche Antworten sie in ihrer Haltung nur bestärken.

„Sehen Sie?“ Sie klang triumphierend. „Was immer Sie erwidern könnten, es verringert meine Wahlmöglichkeiten in der Sache. Ich bin mein eigner Herr, oder jedenfalls will ich es sein. Und es ist meine Entscheidung.“

Mr. Thomas Sharpe, dem gewandtesten Plauderer der Gesellschaft, fehlten die Worte.

„Oh.“ Nun klang sie entschuldigend. „Ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie mit diesem Teil unserer Vereinbarung einverstanden sind. Ich verhalte mich schon genauso schlimm wie einige jener Gentlemen, die ausnutzen wollten, dass …“

„Sie nutzen mich nicht aus“, erklärte Thomas energisch. Dies war die seltsamste Unterhaltung, die er je geführt hatte. Jedenfalls hatte ihn noch nie jemand gefragt, ob es ihm etwas ausmachen würde, seine Talente im Schlafzimmer zur Verfügung zu stellen.

Lady Janes Züge hellten sich auf. Es war gut, dass sie nicht Karten gespielt hatte – ihre Gefühle standen ihr völlig unverhüllt ins Gesicht geschrieben.

„Dann würden Sie also …?“ Sie unterbrach sich, und selbst bei dem spärlichen Licht der einzelnen Kerze konnte er sehen, wie ihr die Röte in die Wangen kroch.

„Ja.“ Es war die Wahrheit. Obwohl er nicht der Wahrheit entsprechend handeln würde. Egal, wie sehr er in Versuchung geraten mochte. Und obwohl es ihr zu gefallen schien, mit ihm streiten zu können.

„Gut.“ Sie wirkte erfreut, und es fiel ihm schwer, ihre Begeisterung nicht zu teilen – immerhin hatte sie ihn gebeten, sie in die unterhaltsamsten Etablissements mitzunehmen, die er in London kannte, und ihr außerdem zu zeigen, wie sich Leidenschaft anfühlte.

Was hätte ihm daran nicht zusagen sollen?

Dass er, wenn er sich mit ihr einließ, wahrscheinlich seinen besten Freund verlor. Und dass, wenn er sich mit ihr einließ, womöglich einer von ihnen beiden tiefere Gefühle entwickelte, obwohl es für sie beide keine gemeinsame Zukunft gab.

Denn sie sagte zwar, dass sie all diese Dinge erleben wollte, aber er wusste, dass sie vollkommen unschuldig war, und er wollte diese Unschuld nicht ausnutzen, selbst wenn sie es anbot.

Und weil er, selbst wenn er etwas mit ihr anfing, eine Fremde würde heiraten müssen, von der er als Einziges sicher wusste, dass sie eine üppige Mitgift mitbrachte.

Es war besser, im Augenblick nicht daran zu denken. Sondern sich auf Lady Janes Vorschlag zu konzentrieren. Und herauszufinden, wie er die Einlösung seines – des skandalösen – Teils der Abmachung aufschieben konnte, bis sie erkannte, dass sie ihn doch nicht brauchte. Er würde die Entscheidung ihr überlassen, so, wie sie es wollte. Und dann, wenn ihm seine reiche Erbin sicher war, konnte er in dem Wissen gehen, dass er sich Lady Jane gegenüber nichts hatte zuschulden kommen lassen.

Er streckte ihr die Hand entgegen. „Ich verspreche, Sie mitzunehmen in Etablissements, die Sie eigentlich nicht kennen dürften, und Sie versprechen, dass Sie mir helfen, eine Ehefrau zu finden.“

„Und das andere auch.“ Sie ergriff seine Hand.

„Ja.“ Er lächelte schief. „Ich nehme Sie mit an Orte, die Sie eigentlich nicht kennen dürften.“ Er senkte die Stimme, tränkte sie mit seinem gewohnten verführerischen Charme. Und versuchte gleichzeitig verzweifelt, nicht auf sie zu reagieren.

Sie schüttelte ihm die Hand, während sich die unterschiedlichsten Emotionen in ihren Zügen spiegelten – Entzücken, gespannte Erwartung und Verlangen. „Wann fangen wir an?“

Alles, was ihm gerade durch den Kopf gegangen war, und ebenso die Leitlinien ehrenwerten Verhaltens, jene Standards, an denen er sich und seine Mitmenschen maß, würden ihm niemals gestatten, Lady Jane in die Geheimnisse der Leidenschaft einzuführen. In die körperliche Liebe. Sosehr ihn die Vorstellung auch fesselte. Reizte.

Aber er konnte ihr nicht sagen, dass er nicht vorhatte, seinen Teil der Abmachung zu erfüllen, sonst würde sie sich weigern, ihm zu helfen. Oder schlimmer, sich vielleicht einen weniger ehrenwerten Gentleman suchen, der sie unterwies. Das durfte er nicht zulassen. Er schuldete es Percy, und ihr schuldete er es auch.

Der Kunstgriff würde also darin bestehen, sie bis dorthin zu locken, wo die verbotenen Gefilde begannen, und es so aussehen zu lassen, als wäre es ihre Idee, wenn sie sich zurückzog.

Sie wusste nicht, was sie von ihm verlangte. Aber wenn sie es begriff, würde sie verstehen, dass es um viel mehr ging als nur ihren Wunsch, nicht die zu sein, die sie war. Sie würde verstehen, dass sie ganz und gar sie selbst sein konnte, ohne Beeinträchtigung, in jedem Sinne des Wortes.

Er suchte ihren Blick. „Warum nicht gleich?“

Warum nicht gleich?

Oh. Jane spürte, wie ihr ganzer Körper auf seine Worte reagierte, auf die Berührung seiner Hand. Er hielt ihre immer noch in seiner, und sie standen da und sahen einander in die Augen, während er langsam seine Handfläche drehte, bis sie unter ihrer Hand ruhte und seine Finger ihr Handgelenk berührten. Er verstärkte den Griff kaum merklich und zog sie zu sich. So sanft, dass sie jederzeit Widerstand hätte leisten können.

Sie wollte es nicht.

Ihr wurde bewusst, dass sie nur ein paar wenige Zoll von ihm entfernt stand und in sein attraktives Gesicht sah. Ihre Blicke verfingen sich, während er langsam die Fingerspitzen über ihren Unterarm kreisen ließ. Sie hatte Angst. Sie war fasziniert. Sie war aufgeregt.

„Die erste Lektion“, murmelte er mit tiefer, leiser Stimme, bei der sie ein Prickeln überlief, „besteht darin, dass der Moment der Erwartung, der Vorwegnahme, genauso wichtig ist wie das, was dann folgt.“ Er senkte die Stimme noch ein wenig mehr. „Erwartung, Lady Jane. Vorwegnahme.“ 

Bei seinem intensiven Blick – oder war es sein Tonfall? – hielt sie den Atem an.

Er streichelte ihre Haut, und wieder überlief sie ein Prickeln. Ein zufriedenes Lächeln bog seine Mundwinkel nach oben, so, als gefiele ihm ihre Reaktion.

„Haben Sie hieran gedacht, als Sie nicht Sie sein wollten?“ Mit seinen kundigen Fingern streichelte er immer noch ihren Arm, und sie fragte sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn er seine Finger an eine andere Stelle wandern ließ. Ließ ein Mann seine Finger zum Beispiel auch dorthin wandern?

Sie wusste es nicht, verwünschte ihre Ahnungslosigkeit. Doch dann rief sie sich in Erinnerung, dass sie gerade eine Unterweisung ausgehandelt hatte. Bald würde sie nicht mehr zu den Frauen gehören, die unwissend waren.

Autor

Megan Frampton
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