Mein zärtlicher Beschützer

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In Neapel will James Richardson, Adjutant von Admiral Nelson, nur eins: sich von den Schrecken der Seeschlacht gegen Napoleon erholen. Aber die betörend unschuldige Abigail, die er auf einem prächtigen Empfang im Haus des britischen Botschafters kennenlernt, versetzt sein Herz in Aufruhr …


  • Erscheinungstag 12.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733788339
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Königreich Neapel, September 1798

Mit beiden Händen klammerte Abigail Layton sich an die aus Weidengeflecht bestehenden Seiten des kleinen Eselkarrens, der die enge Straße entlangrumpelte. Nach fast zwei Monaten auf See während ihrer Reise aus England hatte Abigail sich so sehr an das Schlingern des Schiffes gewöhnt, dass es ihr heute Morgen, als sie von Bord ging, so erschienen war, als würde die Erde unter ihren Füßen schwanken. Die Fahrt über das unebene Straßenpflaster war fast noch schlimmer für sie. Jeden Moment fürchtete sie, dass sie genauso seekrank werden könnte – oder „landkrank“, wenn so etwas überhaupt möglich war – wie an jenem Tag, als sie von Gravesend aus zum ersten Mal in See stach.

„Das Haus des britischen Botschafters, Signorina.“ Der Kutscher wies mit seiner Peitsche zur Spitze des Hügels.

„Die britische Botschaft, sagen Sie?“, fragte Abigail mit schwacher Stimme und zog die Hutkrempe etwas tiefer, um sich vor der Sonne zu schützen. „Danke.“

Das Gebäude, riesig und eindrucksvoll, machte auf Abigail eher den Eindruck eines Palastes als eines Hauses. Sie zwang sich, die Botschaft nüchtern zu betrachten, wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte, um das ungute Gefühl in ihrem Magen zu vergessen. Zwölf hohe Fenster in jedem Stockwerk, eine lange Reihe weißer Säulen im klassischen Stil. Ja, darauf musste sie sich konzentrieren und nicht auf die Art, wie ihr der Schweiß unter ihrem viel zu dicken wollenen Trauerkleid den Rücken hinabrann. Als sie ihr Zuhause in Oxford verlassen hatte, war der Sommer vorüber gewesen, doch hier in Neapel herrschte noch sengende Hitze.

Unwillkürlich schloss sie die Finger um das kleine goldene Herz, das sie immer an einer Kette um den Hals trug – ein Geschenk ihres Vaters am letzten Weihnachtsfest, das sie zusammen verbracht hatten. Wie seltsam, sich vorzustellen, dass sie dieses Jahr Weihnachten unter Palmen statt Stechpalmen verbringen würde – zumindest falls der Botschafter sich entschloss, sie hierzubehalten.

„Hier, Signorina.“ Der Fahrer brachte den Wagen vor den breiten Stufen zum Halten, die schwungvoll zur imposanten Eingangstür des Botschaftsgebäudes hinaufführten. Der Kutscher sprang auf den Gehweg, stellte ihren einzigen Koffer auf die ersten Stufen und hielt ihr die Hand hin.

„Ja, natürlich.“ Abigail kramte in ihrer Tasche nach Münzen für die Fahrt, aber das war es nicht, was der Mann gemeint hatte.

„Nein, nein, Signorina.“ Er verbeugte sich tief, bevor er ihr wieder galant die Hand hinhielt und Abigail zu verstehen gab, dass er ihr vom Wagen herunterhelfen wollte. „Zuerst bin ich der Diener der schönen englischen Dame, ja?“

Abigail errötete. Man hatte sie bereits vor den Italienern gewarnt, die eine Art galanten Ritter in sich sahen. Allerdings war sie nicht all den Weg bis hierher gereist, um sich auf einen Flirt einzulassen. Sie war gekommen, um ein Geschäft abzuschließen – ein sehr wichtiges Geschäft. Mit Nachdruck legte sie dem Mann einige Münzen in die ausgestreckte Hand und kletterte ohne seine Hilfe vom Karren herunter. Dann glättete sie ihre Röcke, atmete tief ein, um ihre Nerven zu beruhigen, und stieg entschlossen die Stufen hinauf, um an die Tür zu klopfen.

Der hochgewachsene Lakai, der ihr öffnete, bemühte sich nicht, seine Geringschätzung zu verbergen, sondern betrachtete sie kühl. „Der Name, Signorina?“

„Miss Layton.“ Abigail reichte ihm eine der Visitenkarten ihres Vaters. „Miss A. R. Layton. Sir William erwartet mich.“

Der Lakai, der eine gepuderte Perücke trug, zögerte, offensichtlich daran zweifelnd, dass der Botschafter irgendwelche Erwartungen dieser Art hegte. Abigail konnte seinen Widerwillen gut verstehen. Sie sah ja auch wirklich recht verwahrlost aus. Trotz ihrer größten Bemühungen, es zu verhindern, war der Saum ihres schwarzen Trauerkleids übersät mit weißen Salzflecken von der Meeresgischt, und die billige Wolle hatte sich zu einem rostigen Braun verfärbt. Aber ihr Vater verdiente ihren Respekt, so sehr die Trauerzeit sie auch zermürbte. Abgesehen davon hatte sie auch nur schwarze Garderobe mitgebracht. Nach dem prächtigen Hauseingang zu schließen, bezweifelte Abigail, dass der Lakai jemanden einlassen würde, der so armselig gekleidet war wie sie.

Dennoch ließ sie sich nicht einschüchtern, immerhin kam sie ja auf Einladung des Botschafters. Der Brief ihres Vaters in ihrer Tasche bewies es, und vor allem hatte sie gar nicht die Mittel für die Reise zurück nach England.

„Bitte teilen Sie Sir William mit, dass ich hier bin.“ Sie bemühte sich, entschlossen zu klingen und nicht verzweifelt oder bemitleidenswert. „Ich möchte ihm nicht erklären müssen, dass ich auf seiner eigenen Schwelle aufgehalten wurde.“

„Ich sehe nach, ob Sir William zu sprechen ist.“ Endlich trat der Lakai beiseite. Er wies auf einen der harten kleinen Empfangssessel und ließ sie in der großen Eingangshalle mit der hohen Decke allein. Nach der heißen Sonne draußen war die Kühle hier eine Erleichterung. Abigail seufzte leise und setzte sich auf den Rand eines Sessels, während der Kutscher ihren Koffer recht lieblos vor ihren Füßen fallen ließ. Sie war erschöpft und enttäuscht, aber sie hatte keine andere Wahl, als sich den Launen des Botschafters zu fügen.

Diener kamen und gingen, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen. Irgendwo schlug eine Uhr immer wieder die Viertelstunde. Während der Morgen verging, glitten die Sonnenstrahlen, die durch das Oberlicht über der Tür drangen, über den Boden. Und noch immer wartete Abigail. Und wartete.

Schließlich hörte sie Schritte und Stimmen. Jemand kam näher. Ein alter Gentleman in einem prächtigen Leibrock kam die Treppe herunter, gefolgt von einer Schreibkraft und zwei Lakaien, die seinen Mantel und seinen Degen trugen. Ein weiterer Diener eilte herbei, um die Tür zu öffnen, vor der bereits die Kutsche wartete.

Abigail erhob sich und trat entschlossen vor. Das musste Sir William Hamilton sein. Obwohl es sich nicht ziemte, ihn anzusprechen, war sie nicht bereit, ihn entkommen zu lassen.

„Vergeben Sie mir, Sir William“, begann sie, und er blieb zwei Stufen über ihr abrupt stehen, sodass sie zu ihm aufsehen musste. „Ich bin auf Ihre ausdrückliche Einladung gekommen, warte seit heute Morgen darauf, Sie zu sehen, und …“

„Sie sind Engländerin“, bemerkte er in offensichtlichem Erstaunen. „Und ich habe Sie warten lassen? Carter, warum wurde mir nicht mitgeteilt, dass diese Dame mich sehen wollte?“

Der Sekretär eilte geschäftig herbei, die Hände nervös zusammenpressend. „Ich glaube, Thompson informierte Sie über ihre Ankunft, Sir William, und gab Ihnen diese Karte. Miss … äh, Miss Layton.“

Der Botschafter hob erstaunt die Brauen. „Aber A. R. Layton …“

„War mein Vater, Sir William“, beendete Abigail schnell seinen Satz. „Wir haben … hatten die gleichen Initialen, sehen Sie. Ich habe nach seinem Tod letztes Jahr seine Arbeit übernommen, und wenn Sie nur einige Momente für mich erübrigen könnten, werde ich Ihnen versichern, dass mein Wissen in nichts …“

„Hier herein, Miss Layton.“ Brüsk wies er auf die Tür zum Salon. „Ich kann keinen Moment erübrigen, aber offensichtlich muss diese Angelegenheit sofort geregelt werden.“

„Ich danke Ihnen, Sir William.“ Stolz erhobenen Hauptes und klopfenden Herzens betrat Abigail als Erste den Raum und blieb vor dem Kamin stehen, während Sir William die Tür hinter sich schloss. Er musste sie einfach anstelle ihres Vaters annehmen. Unmöglich konnte er ihre Dienste ablehnen. Nicht, nachdem sie so weit gekommen war.

Der Botschafter räusperte sich. Er war ein hochgewachsener, großväterlicher Gentleman, und insgeheim betete sie, dass er so freundlich war, wie er aussah.

„Der Verlust Ihres Vaters tut mir sehr leid, Miss Layton“, begann er verlegen, „aber ich fürchte …“

„Bitte hören Sie mich an, Sir William, bevor Sie eine Meinung über mich fassen“, rief sie aufgeregt. „Mein Vater hat mich von klein auf alles gelehrt, was es über das Altertum zu wissen gibt. Ich kann mit Überzeugung sagen, dass ich Ihre Sammlung mit all der Sorgfalt, die sie verdient, katalogisieren und für den Transport vorbereiten werde. Sie werden niemanden finden, der eine größere Sachkenntnis besäße oder vorsichtiger dabei sein würde!“

Er räusperte sich wieder. „Sie sprechen mit großer Leidenschaft über meine alten Gefäße, Miss Layton. Ganz besonders für eine junge Dame.“

„Es sind sehr viel mehr als nur alte Gefäße, Sir William“, protestierte Abigail. „Man sagt, Ihre Antiquitätensammlung sei die erlesenste auf dem ganzen Kontinent. Außerdem habe ich mich natürlich mit dem Katalog vertraut gemacht, den Baron d’Hancarville für Sie erstellt hat.“

„Sie haben ihn gesehen?“, fragte er überrascht.

„Jawohl, Sir, und von vorn bis hinten durchgelesen“, bestätigte sie selbstbewusst. Sie verriet ihm nicht, dass die Arbeit des Barons ihrer Meinung nach nicht völlig fehlerfrei war. „Es wäre mir eine unvorstellbar große Ehre, an einer so wundervollen Sammlung arbeiten zu dürfen.“

Geschmeichelt lächelte Sir William, doch er zögerte offensichtlich noch immer.

„So leicht ist das nicht, Miss Layton, und es hat nichts mit Ihren Fähigkeiten zu tun. Wie kann ich Sie bitten, hier in meinen Diensten zu bleiben und sich auf diese Weise womöglich gefährlichen Kampfhandlungen auszusetzen? Selbst auf See müssen Sie doch von der großen Schlacht gehört haben, die die Flotte Seiner Majestät gegen Bonapartes Schiffe geschlagen hat.“

„Nein, davon weiß ich nichts, Sir William.“ Als einziger weiblicher Passagier an Bord des Handelsschiffes, das sie nach Neapel gebracht hatte, war sie die meiste Zeit für sich geblieben und hatte ihre Mahlzeiten allein eingenommen. Die wenigen Male, da sie sich an Deck wagte, hatten die Matrosen gepfiffen und sie mit Namen verspottet. Zum Glück hatte sie nicht alle verstanden, denn sie ahnte, dass es sich um Zoten und Beleidigungen handelte. Selbst der Captain war ein grober, ungesitteter Mann gewesen. Abigail hatte ebenso wenig mit ihm zu tun haben wollen wie er mit ihr.

„Eine sehr große Schlacht an der Mündung des Nils, Miss Layton, und ein großer Sieg für Admiral Nelson. Gar nicht so weit von hier entfernt, wissen Sie. Auf der anderen Seite des Mittelmeers.“ Der Botschafter lächelte stolz. „Wir rechnen jeden Tag mit der Ankunft der englischen Flotte hier in Neapel. Alle notwendigen Reparaturen sollen hier durchgeführt werden.“

Abigail zwang sich zu einem Lächeln. Das hatte ihr gerade noch gefehlt – noch mehr Seemänner. „Dann ist die Gefahr also vorüber, Sir William?“

„Oh, ganz und gar nicht!“ Der Ausdruck seines mageren Gesichts wurde plötzlich grimmig. „Wir mögen ja Bonapartes Flotte geschlagen haben, aber das wird seine Armee im Norden erst recht entflammen. Wir müssen wachsam bleiben, Miss Layton, in ständiger Bereitschaft. Weswegen ich auch hoffte, mir die Dienste Ihres Vaters sichern zu können. Auf keinen Fall will ich meine Sammlung in die Hände jener beutehungrigen französischen Teufel fallen lassen.“

„Wie günstig ist es dann, dass ich mich anstelle meines Vaters um Ihre Sammlung kümmern kann.“ Zum ersten Mal gelang es Abigail nicht, ihre Verzweiflung zu verbergen. „Stellen Sie mich auf die Probe, Sir William. Mehr verlange ich nicht. Gewähren Sie mir nur einen Tag, um meine Fähigkeiten und mein Wissen zu demonstrieren.“

Er runzelte wieder die Stirn, aber Abigail spürte, dass er ihr Angebot in Betracht zog. Sachkenntnisse wie die ihren konnte er so weit von London entfernt sonst nicht finden. Welche Wahl blieb ihm also?

„Ich werde jedenfalls keine Rücksicht auf Ihr Geschlecht nehmen“, warnte er sie. „Sie werden als unser Gast hier im Haus wohnen, doch ich werde dieselbe Arbeit von Ihnen erwarten, die ich von Ihrem Vater erwartet hätte.“

„Ich werde Sie nicht enttäuschen, Sir William.“ Ihre Erleichterung war so groß, dass ein leichter Schwindel sie erfasste. Sie hatte nicht gefrühstückt, und man hatte ihr nicht einmal ein Glas Wasser angeboten, während sie auf den Botschafter gewartet hatte. „Ich kann anfangen, sobald … sobald …“

Sie suchte am Kaminsims Halt.

„Miss Layton?“ Sir Williams Stimme schien von weither zu kommen und hallte ihr in den Ohren wider. „Meine Liebe, ist Ihnen nicht wohl?“

„Es geht mir … gut“, brachte sie leise hervor. Dann spürte sie, wie sie langsam zu rutschen begann, als würden die Beine unter ihr dahinschmelzen. Und danach spürte sie nichts mehr.

„Sie haben Neapel noch nicht besucht, Lieutenant, oder?“ Der Admiral wandte sich nicht um, sondern fuhr fort, durch das Fernglas, das er sich an das gesunde Auge hielt, zur nur schwach auszumachenden Küste hinüberzuschauen. Er trug einen Verband um den Kopf, der schwarze Dreispitz saß in einem trotzigen Winkel über der Wunde auf seiner Stirn. Er war schwach und blass, und obwohl er trotzig darauf bestand, dass kein Aufhebens um ihn gemacht wurde, standen die meisten Offiziere in seiner Nähe bereit, ihn aufzufangen, sollte er wanken. „Es ist eine schöne Stadt, eine wundervolle Stadt. Sie werden verzaubert sein.“

„Jawohl, Sir.“ Selbstverständlich stimmte Lieutenant James Richardson ihm zu. Er hatte im Alter von dreizehn Jahren als Seekadett bei der Kriegsmarine Seiner Majestät angeheuert, und jetzt, nach zehn Jahren im Dienst, hätte er Admiral Nelson selbst dann zugestimmt, wenn der gesagt hätte, rosa Stiere und grüne Affen würden über Neapel dahinfliegen. In diesem Punkt allerdings pflichtete James ihm von ganzem Herzen bei. Er wollte sich von Neapel verzaubern lassen.

Nein, mehr als das – es war wichtig, dass er verzaubert wurde. Er hatte viele Schlachten geschlagen und viele Männer, gute und schlechte, auf entsetzliche Art sterben sehen, aber das Gemetzel an der Nilmündung, bei dem fast zweitausend Männer gefallen waren und bei dem nur ein einziges französisches Schiff vernichtet werden konnte, übertraf alles, was er jemals erlebt hatte. Er selbst gehörte zu den Glücklichen, war am Leben und unverletzt. Doch obwohl er das Grauen der Schlacht niemals vergessen würde, hoffte er, die Erinnerung daran abschwächen zu können. In der Offiziersmesse war viel von der Schönheit der neapolitanischen Frauen die Rede gewesen und davon, wie sehr sie darauf erpicht waren, die englischen Seehelden willkommen zu heißen.

James hatte gelauscht und insgeheim gebetet, dass sie recht hatten. Mit etwas Glück würden sie mindestens bis zum Dreikönigstag in der Bucht stationiert sein, um alle nötigen Reparaturen durchzuführen, vielleicht sogar länger. Welche Erholung würde es sein, die süßen Seufzer einer willigen Geliebten zu hören, statt der Schreie der sterbenden Männer, die noch immer in seinen Ohren widerhallten. Besser, er verlor sich in den Freuden des Fleisches, statt sich daran zu erinnern, welche Verheerung eine Kanonenkugel anrichten konnte.

„Ah, hier kommt bereits das erste Empfangskomitee.“ Der Admiral lächelte schief und senkte sein Fernglas. Die englischen Kriegsschiffe waren gesichtet worden. Schon segelte eine Gruppe kleinerer Schiffe und Fischerboote aus der Bucht heraus, um sie zu begrüßen. Bunte Wimpel flatterten zwischen ihren Segeln, und hier und da konnte man an mehreren Mastbäumen das vertraute britische Rot, Weiß und Blau ausmachen. „Keinen an Bord lassen, Captain Hardy. Mir wäre es lieber, wir erschienen nicht wie ein treibendes Bordell im Hafen, sondern machten einen geziemenden Auftritt. Die Männer werden noch genügend Zeit haben, sich am schönen Geschlecht zu erfreuen, oder?“

Der Captain der „Vanguard“ und die übrigen Offiziere lachten darüber, wie von Admiral Nelson beabsichtigt, doch James lächelte nur und strich noch einmal unnötigerweise die schneeweißen Ärmelaufschläge seiner Uniformjacke glatt. In Anerkennung seiner Tapferkeit und Findigkeit während der Schlacht – und weil er Italienisch sprach – hatte der Admiral ihn gebeten, sich zu seiner Gruppe von Offizieren zu gesellen, die ihren Antrittsbesuch bei Sir William Hamilton und dessen Gattin machen würden.

Man ging davon aus, dass James als der jüngste Sohn des Earl of Carrington wusste, wie man sich in vornehmer Gesellschaft verhielt. Allerdings war es lange her, seit er an Land diniert hatte, und noch viel länger, seit er das in gehobener Gesellschaft getan hatte. Der Gedanke an all jene wohlerzogenen Damen, die von ihm gepflegte Konversation erwarten würden, gefiel ihm nicht sonderlich.

Die „Vanguard“ kam an der Insel Capri vorbei. Von steuerbord konnte James den rauchumhüllten Vesuv und in der Ferne Neapel sehen – Neapel mit den weißen, überall an der Küste verstreuten Villen der Wohlhabenden. Eine davon musste Sir William gehören, und darin war die Dienerschaft gewiss schon dabei, den Tisch mit kostbaren Damastservietten und Silberbesteck zu decken.

Auch diesen Abend würde er überstehen, doch danach würden die fröhlichen Mädchen in einem der vielen Wirtshäuser ungeduldig darauf warten, ihn willkommen zu heißen.

„Ach ja, Neapel“, sagte der Admiral wieder, mehr zu sich selbst als zu sonst jemandem. „Unsere Befehle und die Bewegungen der französischen Armee sollten uns eigentlich bis zu den Feiertagen hier festhalten. Was sehr gut ist. Neapel, Neapel. Gewiss gibt es keinen zauberhafteren Ort auf der ganzen Welt.“

Abigail war noch nie zuvor ohnmächtig geworden, und noch nie so tief beschämt, als sie erwachte, sich auf dem Boden liegend wiederfand und vor ihrer Nase die Silberschnallen an den Schuhen Sir Williams aufblitzen sah. Sie versuchte zu erklären, dass nur die Hitze, die Erschöpfung, die Überraschung daran schuld waren, dass sie wie eine verwelkte Blume eingegangen war. Sir Williams allerdings bestand darauf, sie von seinen Dienern auf ihr Zimmer bringen zu lassen. Dort sollte sie mit schwachem Tee und Toast verköstigt werden und sich zu Bett begeben – bei zugezogenen Vorhängen, als wäre sie krank.

Zwar protestierte Abigail, so heftig sie konnte, doch kaum legte sie einige Minuten später den Kopf auf das Kissen, sank sie bereits in den tiefsten Schlaf, seit sie vor Monaten aus ihrer Heimat abgereist war.

Als sie schließlich erwachte, war die Sonne untergegangen, aber es drangen noch immer Stimmen und Gelächter von irgendwoher im Haus zu ihr durch. Leicht benommen vom Schlaf, tastete sie nach der Taschenuhr ihres Vaters auf dem Nachttisch neben sich und kniff leicht die Augen zusammen, um die Ziffern auszumachen.

Sieben Uhr! Oh, wie hatte sie nur so lange schlafen können? Hastig schlug sie die Tagesdecke zurück. Wie sollte sie Sir William beweisen, dass sie seines Vertrauens würdig war, wenn sie faul im Bett herumlag? Schnell schlüpfte sie in ein sauberes Kleid, holte ein Heft für ihre Notizen aus den Tiefen ihres Koffers und eilte hinaus in den Gang.

Ein Hausmädchen – eine Neapolitanerin mit rabenschwarzem Haar und runden Wangen – reinigte gerade die Armleuchter an den Wänden mit einem Staubwedel.

„Entschuldigen Sie.“ Abigail lächelte freundlich und hoffte, das Mädchen sprach Englisch. „Könnten Sie mir den Raum zeigen, in dem Sir William seine Antiquitätensammlung aufbewahrt?“

„Niemand darf dort hinein, Signorina.“ Sie rümpfte die Nase, als wollte sie klarmachen, dass die Stellung ihres Gegenübers zwar nicht die einer Dienerin war, aber doch wohl kaum die eines geehrten Gastes. „Nicht einmal, um zu putzen. Sir Wiliams Anweisungen.“

„Aber es ist sein Wunsch, dass ich seine Sammlung katalogisiere“, sagte Abigail. „Deswegen bin ich hier. Wenn Sie ihn fragen würden, bin ich sicher, er …“

„Lady Hamilton und Sir William sind jetzt mit Admiral Nelson zusammen, Signorina, und dürfen nicht gestört werden. Hören Sie sie denn nicht? Das Haus ist voll von den Offizieren der Flotte, die hier heute zu Abend essen.“

Jetzt erst lauschte Abigail aufmerksamer und stellte fest, dass die Stimmen, die von unten heraufdrangen, eindeutig männlich waren. „Gewiss können Sie mir doch aber zeigen, wo sich die Sammlung befindet.“

Autor

Miranda Jarrett
Hinter dem Pseudonym Miranda Jarrett verbirgt sich die Autorin Susan Holloway Scott. Ihr erstes Buch als Miranda Jarret war ein historischer Liebesroman, der in der Zeit der amerikanischen Revolution angesiedelt war und 1992 unter dem Titel "Steal the Stars" veröffentlicht wurde. Seither hat Miranda Jarrett mehr als dreißig Liebesroman-Bestseller geschrieben,...
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