Miss Denniston entdeckt die Leidenschaft

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Ein frivoler Vorschlag: Der umschwärmte Augustus Rushworth bittet ausgerechnet Euphemia, dem Londoner ton seine Geliebte vorzuspielen! So will der zukünftige Baron die vielen heiratsinteressierten Debütantinnen entmutigen. Freudig sagt Euphemia Ja: Mit ihren dreißig Jahren war sie überzeugt, nie mehr die Aufmerksamkeit eines Gentlemans zu wecken – wenn auch nur zum Schein. Gewagt beschließt sie, das pikante Spiel in der Öffentlichkeit aus ganzem Herzen zu genießen, Augustus' Nähe und seine zärtlichen Berührungen ... und rechnet keine Sekunde damit, dass daraus echte Leidenschaft werden könnte!


  • Erscheinungstag 02.04.2024
  • Bandnummer 398
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526609
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Er trat an ihr Bett, suchte ihren Blick; das Dunkel der Nacht überschattete seine Augen und ließ die Wangenknochen scharf hervortreten.

Er war schön.

Stets war seine Schönheit besänftigend, machte es ihr leichter, einfacher. Machte es richtig für sie. Half ihr, sich entspannt dem Augenblick zu ergeben.

Sie regte sich, als seine Finger ihre Lippen berührten und in sanfter Liebkosung die Konturen nachzogen. Sie spürte ihn im Raum, begriff seine Anwesenheit, wusste, dass er sie nur behüten wollte. Er sprach nicht, und sie war froh darüber, derweil ihrer beider Finger sich verschränkten, sanft und ohne Zwang. Sie schmiegte sich an ihn, Haut an Haut, nah, ein Mantel gegen die Kälte.

Er küsste sie nicht – das tat er nie –, doch federleicht glitt sein Mund über die zarte Haut ihres Halses.

Sie zog sich nicht zurück. Öffnete auch nicht die Augen, um Helligkeit zu finden. Doch sie fuhr mit ihrer Zunge über seine warme Haut, schmeckte … Salz und Moschus, das Aroma eines vom Mondlicht übergossenen Mannes.

Anders als gewöhnlich.

Sie verharrte reglos, denn das waren neue Regeln, ein neues Spiel, das gefährlicher war als das vorherige, und falls er lächelte, verbarg er es vor ihr, die Heiterkeit gefangen in seinen Mundwinkeln, immer begierig auf das, was als Nächstes kam …

Die Uhr auf dem Kaminsims schlug laut, vier Schläge, ein misstönendes Geräusch, das ihre Wirklichkeit veränderte. Ihr Körper verkrampfte sich, und die Erinnerung kehrte zurück, das fröstelnde Erschaudern eines Albtraums riss sie aus dem verschwommenen Land der Träume.

„Nein?“

In dem Wort schwebte eine Frage mit.

„Nein!“, wiederholte sie, doch schon war er gegangen, fort aus ihren Träumen, wie Aladins Flaschengeist fort in eine jenseitige Welt, fern von dieser hier.

Der Schweiß brach ihr aus, benetzte ihre Achselhöhlen und perlte zwischen ihren Brüsten, während sie unwillkürlich mit bebenden Fingern die zarte Haut ihrer Lippen ertastete. Beschämung. Sogar auf brachem Land fanden sich Wegweiser, und ihre ragten gerade deutlich empor.

Tu es nicht! Tu es nicht! Tu es nicht!

„Bitte, Gott, hilf mir.“

Gegen ihren Willen formte sich dieses Flehen, die erbärmliche Anrufung einer Gottheit, die weitaus Besseres zu tun haben würde. Hilf mir wobei? Zu vergessen? Mich zu erinnern? Hilf mir zu verstehen, dass ich nicht wie andere Frauen bin und nie sein werde?

Sie griff nach dem Deckbett und warf es sich um die Schultern, ehe sie aufstand und zum Fenster ging. Draußen war es kalt, Sprühregen verschleierte den Schein der Lampe, die am Ende des Weges an einen Pfosten gebunden war. Eine winterliche Stadt und keine Wärme zu erwarten. Selbst durch das Fensterglas spürte sie die frostige Luft und zitterte.

Ihr Bein schmerzte, und sie reckte es, versuchte, den Schmerz zu lindern. Die Kälte machte es schlimmer, denn der Knochen im Unterschenkel war schlecht zusammengefügt worden und meldete sich nun.

All meine Glieder, mein gesamter Körper wird mit jedem Jahr schwächer, dachte sie dann. Beinahe einunddreißig, und ihre Hoffnung, dass etwas anders werde, schwand mit jedem scheidenden Monat.

Ihre Stiefmutter schnarchte, das Geräusch dröhnte durch die dünne Wand, die sie trennte, konstante Misstöne, untermalt von dem Husten, der die ältere Frau plagte und deren Konstitution untergrub.

Sorgsam malte sie ihre Initialen in das beschlagene Fensterglas und rahmte sie mit einem Herz ein. ED. Die Buchstaben zerflossen zu missförmigen, bedeutungslosen Streifen, ganz wie es ihr selbst erging, wenn auch der Gedanke sie dieses Mal lächeln ließ.

Ihre Vorstellungskraft gewann stets die Oberhand und eilte zu Orten voraus, die es nicht geben sollte, doch dieser nächtliche Traum wiederholte sich nun schon seit Jahren – die Schönheit des Antlitzes überschattet, kostbar und vertraut, ein Traum, so fern der Wirklichkeit, dass sie sich darin sicher fühlte.

Sie versuchte, ihn in ihren Wachzustand zurückzuholen – einen Geliebten, der behutsam und höflich war und der genau tat, was sie wollte – doch vergebens.

Heute Nacht allerdings hatte sie überraschend gehandelt. Gewöhnlich gab es eine stille Umarmung und eine sanfte Liebkosung. Diese neue Sinnlichkeit fand sie besorgniserregend, denn sie verstand nicht, was es sollte. Würde es das nächste Mal wieder so sein?

Die Glocken von Westminster hallten durch die Nacht, meldeten die Viertelstunde. Nur die, denen die Seele schwer war, wachten zu dieser Zeit, da das Morgengrauen herankroch und die Welt bald erwachen würde.

Sie wünschte, sie könnte zurück ins Bett gehen und schlafen, doch es würde ihr nicht gelingen, denn eine Empfindung, die neu, die anders war, ließ jede Faser ihres Körpers vibrieren.

Eine unfruchtbare, alternde Jungfer, die ihre Chance gehabt und sie vergeben hatte. Und sie würde keine weitere bekommen, das wusste sie.

1. KAPITEL

London – Dienstag, 1. Februar 1814

Augustus Anthony Andrew Rushworth traf im Winter 1814 wieder in London ein und wurde daher Zeuge des lang anhaltenden, harten, eisigen Frostes. Der Wind trieb seinen Schoner, der, schwer beladen, tief im Wasser lag und alle Segel gesetzt hatte, mit kalter, wilder Wut die Themse empor, vorbei an Reihen anderer Schiffe, die darauf warteten, an den Docks anlegen zu können.

Vor zehn Jahren war er das letzte Mal in seiner Heimat gewesen, und die Stadt wirkte auf ihn geschäftiger und größer, in der Ferne, vor Bankside, präsentierte sich der zugefrorene Fluss mit Zelten und Verkaufsständen und fröhlich umherschwärmendem Volk; Banner und Fahnen flatterten im Wind.

„Das ist der Frostjahrmarkt, Sir“, bemerkte Mr. Thomas Pemberton, der neben ihm stand. „Ein erstaunlicher Anblick, nicht wahr?“

Augustus ließ seinen Blick über die vielen Zelte und Menschen auf dem Eis gleiten. Alles war in Bewegung, dunkel gekleidete Gestalten vor dem Weiß von Eis und Schnee, Rauchfahnen stiegen von den Feuern auf. Die Blackfriars Bridge mit ihren hohen Bögen auf der einen Seite all dieses Getriebes, auf der anderen London Bridge. Dazwischen nur Eis, kein Wasser war zu sehen. Der Wind trug die Stimmen der Händler mit sich, ein eindringliches singsangartiges Auf und Ab, um Kunden anzulocken.

Teils lag es an der strengen Kälte, dass das Schiff verspätet anlegte, denn die Eisschollen trieben fast bis hinunter zum Meer. Weiter hinauf sei der Fluss vollständig zugefroren, hatte er gehört, und das konnte er durchaus glauben.

Während die Segel über ihm sich klatschend senkten, fühlte Augustus sich plötzlich am falschen Ort; die kalte Düsternis Englands war so ganz anders als die Hitze Indiens. Nebel wallte über dem Wasser, und die aufsteigende Feuchtigkeit war so deutlich spürbar, dass er seinen Kragen hochklappte.

„Es ist die kälteste bisher dokumentierte Weihnachtszeit, Sir, und London hat sich im Verhältnis zu dem, wie Sie es vor Ihrer Abreise kannten, sehr verändert, nehme ich an?“

Als erkenne er seinen Fehler, fuhr Pemberton rasch fort: „Und nun, da Ihr Vater nicht mehr unter uns weilt …“ Der Verwalter seines Großvaters brach ab, und seine Wangen röteten sich.

Einst hätte es Augustus etwas ausgemacht, doch diese Gefühle waren längst vergangen, und er war weder um der Liebe zur Familie noch um einer Versöhnung willen nach England zurückgekehrt. Er fragte sich, warum es ihn noch kränken könnte, so lange nach dem Geschehenen. So viele Jahre waren vergangen, so viele Meilen lagen zwischen dem, der er gewesen, und dem, der er heute war.

„Das Stadthaus der Familie in St. James steht Ihnen zur Verfügung, Mr. Rushworth. Ich ließ es auf Anweisung Ihres Großvaters herrichten.“

„Danke.“

Augustus schluckte und versuchte zu lächeln; es gefiel ihm gar nicht, wie seine Finger heftig zitternd an den Wollstoff seines Mantels stießen. Selbst schlichte Gesten waren manchmal schwierig, doch Pemberton sprach schon weiter, also zwang er sich zuzuhören.

„Ihr Großvater erwartet Sie auf Amerleigh House. Er bat mich, Ihnen seine besten Wünsche auszurichten, und Ihnen zu sagen …“

Ihm wurde das Wort abgeschnitten, weil das Deck unter ihren Füßen jäh heftige erzitterte. Augustus klammerte sich hastig an die Reling, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Eisschollen waren gegen das Holz geprallt und hatten die Erschütterung ausgelöst, die jedoch gleichzeitig eine willkommene Unterbrechung der Äußerungen waren, die er nicht hören wollte.

Schon hallten die Rufe der Seeleute und Dockarbeiter durch die Luft, und in der lärmenden Betriebsamkeit ging das Gespräch unter. Über ihnen schossen Möwen durch die Lüfte, zweifellos auf Futtersuche, allerdings hatte die Fracht im Bauch der Minerva – Tee, Gewürze und Stoffe – ihnen diesbezüglich wenig zu bieten.

Wie aus dem Nichts flogen Taue und wurden um die uralten Poller entlang des Kais geschlungen, um das Schiff zu sichern. Weiter voraus sah er mehrere Burschen, die kurz zuvor von dem zerklüfteten Eis gesprungen waren, stehen blieben und das massige Schiff, das in den Hafen einlief, neugierig betrachteten.

Nun lag es still, nach hundertundfünfzig Tagen auf See. Pemberton war vor zwei Tagen mit einem Flachboot zu ihnen gestoßen, daher konnte er keine Vorstellung davon haben, wie zutiefst erleichternd es war, einfach anzuhalten. Augustus schlang die Finger um die Reling und hielt sich fest, während ein ganzer Schwarm Männer nun über das Dock hastete.

Er roch nach Feuer und Öl und Talg, und der Wind, der von der Stadt herwehte, brachte weitere weniger eindeutige Gerüche mit sich. Irgendwo in der Nähe wurde Fisch entladen, und der tranige Geruch kehrte ihm fast den Magen um. Auch roch es scharf nach Vieh.

Captain McAdams trat an seine Seite, seine Stimme laut und befehlend, wie es seiner Stellung entsprach.

„Ich kann Sie hinunterbringen; es wurde nämlich für Sie eine Kutsche herbestellt, und Ihr Gepäck wird Ihnen dann nachgeschickt. Zum St. James Square, nicht wahr, Mr. Rushworth? Ihr Verwalter sagte, er habe es angeordnet.“

„Recht so.“

Während er dem Kapitän zu den Planken folgte, die das dunkle, kalte Wasser darunter querten, schien der Wind auf dieser Seite des Schiffs aufzufrischen, sodass er sich seinen Hut fester auf den Kopf drückte.

Wo die Planken aufs Dock trafen, standen etwa zehn Schritt entfernt seitlich unter einem von allen Seiten offenen Holzdach drei Frauen, eine ältere und zwei junge. Die Stimme der älteren klang gereizt.

„Ich hätte wissen sollen, dass dieser Ausflug, um den Frostjahrmarkt zu sehen, einfach dumm war, Mia! Nun sitzen wir hier fest, bis wir ein Fahrzeug finden, und mein Husten wird schlimmer und schlimmer.“

Die zierlichere Frau, zu der sie sprach, trug einen Hut, dessen überdimensionale Krempe Augustus von seinem Standpunkt aus keinen Blick auf ihr Gesicht gestattete, doch ihre Stimme war fesselnd.

„Es ist ganz belanglos, Mama“, sagte sie, doch ein Hauch Verzweiflung war deutlich zu vernehmen. „Schau, ich finde einen Wagen, ehe du es noch merkst, und der wird uns heimbringen, und wir werden im Handumdrehen vor dem warmen Feuer sitzen, und dieses Abenteuer, den Jahrmarkt auf dem Eis zu besuchen, wird hinter uns liegen.“

Doch die Mama wollte nichts davon hören. „Dieses Abenteuer, wie du es nennst, hat mir nicht das mindeste Vergnügen bereitet, also gib bitte nicht vor, es wäre anders. Es ist einfach zu kalt, um sich draußen aufzuhalten, und die Leute hier sind vulgär – ganz zu schweigen von der andauernden Gefahr, durch das Eis zu brechen.“

Dann schwankte die größere Frau jäh, und die beiden jungen Damen beeilten sich, ihr zu helfen, die sich mit ihrer kräftigen Gestalt schwerer auf die schlankere stützte, die eben gesprochen hatte.

„Möchtest du dich vielleicht hinsetzen?“ Das Mädchen schaute suchend umher, wobei sie Augustus ein Antlitz präsentierte, das perfekt war wie je eines, das er in seinem Leben gesehen hatte. Strahlend blaue Augen mit besorgtem Ausdruck begegneten den seinen, weiteten sich wie im Schock.

Sie hielt die ältere Frau mit purem Todesmut aufrecht, ihre Arme zitterten vor Anstrengung, und Schweißtropfen glänzten trotz der Kälte auf ihrer hübschen Oberlippe.

Er trat auf sie zu. „Nehmen Sie meine Kutsche.“

„Sie bieten uns Ihren Wagen an, Sir?“

Ihr derart nah, entdeckte er Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken, und ihre Wangen zeigten tiefe Grübchen, nicht vom Lächeln, sondern weil sie entnervt und bestürzt die Lippen zusammenpresste.

Er nickte und machte eine einladende Geste. „In der Tat.“

„Nun, wir sollten Ihnen keine Ungelegenheiten bereiten, doch wir können Ihr gütiges Angebot einfach nicht ablehnen, weil Mama so unwohl ist, und wenn wir zaudern, bin ich mir nicht sicher, ob wir je eine andere Fahrgelegenheit finden …“

Ihr Satz wurde unterbrochen, da die ältere Frau plötzlich schlaff gegen sie sank, sodass das Gewicht sie aus dem Gleichgewicht brachte. Im Nu war Augustus da, stützte die jüngere Dame und hob die ältere auf den Sitz der Kutsche.

Noch ehe er das Ganze bewerkstelligt hatte, drängte die blauäugige Tochter sich dazwischen, und ihr blumiger, ein wenig fruchtiger Duft verwirrte ihn.

„Verzeihung, aber Mamas Röcke sind hochgerutscht, und man sieht ihre Strümpfe …“ Mit geschicktem Griff verhüllte sie die Beine ihrer Mutter und rückte ihr den Hut zurecht. Er konnte, anders als bei dem anderen Mädchen, nicht die geringste familiäre Ähnlichkeit zwischen den beiden entdecken. „Sie wäre entsetzt von allem Vulgären, deshalb ist es meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie auch unter diesen Umständen so gestellt ist, wie sie es wünschen würde. Ich weiß, Sir, Sie würden das verstehen … eine weibliche Albernheit, gleichwohl wichtig.“

Er ließ all diese Worte an sich vorbeirauschen, die sich um die Erklärung rankten und jede Sekunde ausfüllten. Hörte das Mädchen mit den Grübchen nie auf zu reden? Er fand so recht kein Motiv für diesen verbalen Überschwang, doch sie war sowieso noch nicht fertig, bei Weitem nicht.

„Wenn Sie mir Ihren Namen und Ihre Adresse geben wollten, werden wir Sie natürlich für solch eine Freundlichkeit entschädigen und dafür sorgen, dass Ihnen Ihre Mühe entgolten wird. Sehen Sie, Mama hat den Geldbeutel tief in ihren Taschen verborgen, und ich mag sie in ihrer Verfassung nicht belästigen.“ Ihre Stirn umwölkte sich, während sie umherblickte. „Wissen Sie, es könnte eine Weile dauern, bis eine andere Kutsche beschafft werden kann, denn der Verkehr ist mit all dieser Betriebsamkeit an den Docks sehr lebhaft, doch werden wir diese hier zu Ihnen zurückschicken, sobald wir daheim angelangt sind, und es ist keine weite Strecke, Sir, dessen kann ich Sie versichern.“

Augustus schüttelte den Kopf, wünschte, sie möge weggehen, wünschte, er könnte weggehen, wünschte von ganzem Herzen, dass es keiner langen Diskussion bedürfe, damit sie sich endlich auf den Weg machte.

Die andere Tochter löste das Problem, denn sie rief aufgeregt, ihrer Mutter werde womöglich übel.

Die blauen Augen, groß vor Bestürzung, musterten ihn hastig. „Es tut mir so leid.“

Die Worte lösten das Dilemma. In der nächsten Sekunde war sie fort, der Wagenschlag schloss sich hinter ihr, mit einem Zuruf trieb der Kutscher die Pferde an. Hufgeklapper auf Holz, der Wagen ratterte eilig davon, und dann Stille. Er war allein.

Er hatte ihr weder Namen noch Adresse genannt und nichts dergleichen von ihr bekommen. Er hatte nicht die mindeste Ahnung, wer sie war, und keine Möglichkeit, es herauszufinden, aber sein Tag hatte eine Veränderung der Art erfahren, die er noch nicht begreifen konnte – unerbittlich und endgültig.

„Gott“, sagte er vor sich hin. Zu erkennen, dass er erschüttert war, brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Mia hatte die ältere Dame sie genannt. War das ihr Name oder nur eine Abkürzung für einen anderen? Sie hatte gesagt, ihr Heim liege nicht weit entfernt, und während sie wie eine Dame sprach, waren ihre Kleider doch entschieden abgetragen.

Miss Euphemia Denniston saß hoch aufgerichtet in dem geliehenen Vehikel, während der Abstand zwischen ihr und den Docks größer wurde.

Dieser Fremde, er war schön, auf eine dunkle, ungezähmte, düstere Art; seine Körpergröße erlaubte ihm, ihre Stiefmutter auf den Wagensitz zu heben, als wäre sie leicht wie eine Feder. Quer über die Finger seiner rechten Hand zogen sich Narben, deutlich sichtbare alte Narben, die von einem Unfall kündeten – sie hatte sie gesehen, als sie sich dicht an ihm vorbeiquetschte –, und in seiner Stimme klang ein fremdländischer Akzent mit.

Ein Außenseiter. Von irgendwoher weit weg. Sie wusste, sein Schiff hatte den Ozean überquert, denn die Segel sprachen von langer Fahrt, von Sturm und schwerem Wetter. Könnte sie sich doch einfach umwenden und schauen, aber natürlich war sie für solch unmögliche Fantastereien viel zu alt.

„Wer wohl unser Retter war, Mama?“ Die Frage ihrer Stiefschwester klang scharf. „Er hob dich ganz mühelos hoch, und seine Kleider waren von bester Qualität. Fandest du nicht auch, Mia?“

In Wahrheit hatte Mia seine Kleider kaum beachtet. Sie war viel zu konzentriert auf seine Augen gewesen. Obsidian. Ein Schwarzbraun ohne auch nur einen hellen Funken. Harte Augen, mit einem Ausdruck von Befehlsgewalt und Arroganz, Eigenschaften, denen sie bei einem Mann stets aus dem Weg gegangen war.

Ihre Stiefmutter bedachte die Frage.

„Er sprach kaum etwas, Susan, und schien auch kein Lust dazu zu haben, obwohl er in der Tat sehr gut aussah.“

Mittlerweile hatte Lucille sich ein wenig erholt; ihre Wangen waren nicht mehr so bleich wie zuvor. Ihre Direktheit, die viel typischer für sie war, stand wieder im Vordergrund.

„Vielleicht hat die Kälte dich angegriffen, Mama? Ist es dir warm genug?“

„Ja, aber ich denke, ich werde mich für ein paar Tage ins Bett zurückziehen, nicht, dass mich sonst noch Ärgeres ereilt. Vielleicht könntest du den Kutscher nach dem Namen des Fremden fragen, Mia, damit wir ihm wenigstens danken können?“

„Natürlich.“ Euphemias Bedrücktheit nahm zu, und mit einem Seufzer wandte sie sich zum Fenster. „Die Wolken hängen so tief; es wird bald schneien. Das ist für den Jahrmarkt sicher gut, dann schmilzt das Eis noch nicht so bald.“

Über das Wetter zu sprechen – etwas Normales, Gewöhnliches – fiel ihr leichter. Das brauchte sie nun, da sie außer Fassung war und irgendwie aufgeregt, am Rande einer Veränderung; es war eine Empfindung, als sei ihr das Gleichgewicht abhandengekommen und sie falle und falle, eine schwindelig machende Sehnsucht, die für sie ganz unvertraut war und ihre übliche Vernunft verdrängte.

Lächerlich, schalt sie sich, konnte das Gefühl jedoch nicht abschütteln. Wäre sie allein gewesen, wäre sie vielleicht in Tränen ausgebrochen, was sie noch mehr verwunderte, da sie kaum einmal weinte.

Wer ist er?

Die Worte hallten in ihr wider, während sie sich jeder Einzelheit ihres seltsamen Zusammentreffens zu erinnern suchte. Er hatte kniehohe Stiefel getragen, mit silbernen Knöpfen – das war ihr aufgefallen, als er die Gangway herunterkam –, und er war groß, viel größer als sie selbst. Sein Haar war zurückgekämmt, eher damit es ihm nicht in die Augen fiel als aus modischen Gründen, und es war schwarz wie die Nacht.

Ein Mann der Schatten und des Schweigens.

Er roch nach Gewürzen, dachte Mia, und rief sich die Düfte ins Gedächtnis – Zimt vielleicht oder Muskat –, und um ein Handgelenk trug er einen silbernen Reif mit seltsamen Schriftzeichen, die ihr unbekannt waren.

Ein Fremder. Fremdartiger noch in ihrer Erinnerung. Er passte nicht in ein Muster oder glich den Männern der Gesellschaft, die sie gesehen hatte. Hirngespinste. Unwillkürlich zuckte sie, was ihre Stiefmutter bemerkte.

„Nun, wenigstens sind wir schon beinahe zu Hause, und ich bin so erleichtert, dass ich denke, ich werde mich nicht mehr hinauswagen, bis dieser Frost vorbei ist.“

„Aber da ist der Ball der Allans, Mama“, wandte Susan ein. Der war in vier Tagen. „Vielleicht wird der Gentleman dort sein, den wir vorhin trafen.“

In der Stimme ihrer Stiefschwester klang ein merkwürdiger Ton mit. Mit ihren zwanzig Jahren war Susan ein schönes Mädchen mit vielen Bewunderern, aber bisher hatte nichts darauf hingedeutet, dass sie sich mit einem fest einlassen werde. Könnte sie an diesem hier interessiert sein?

Lucille, die Susans Kummer besänftigen wollte, lenkte ein. „Bestimmt wird es draußen bis dahin schon ganz anders aussehen, mein Liebes. Wenn du unbedingt möchtest, dann sollten wir hingehen, und Euphemia kann uns begleiten, falls es weitere Schwierigkeiten geben sollte, denn meine Gesundheit macht mir langsam Sorgen, und ich möchte nicht auffallen. Das dunkelblaue Kleid, das wir vergangenes Jahr erwarben, wird für einen solchen Anlass genügen, Mia, denn in deinem Alter wird sich dir kaum ein Verehrer nähern, und für ein neues haben wir sowieso kein Geld.“

Bei Erwähnung des Balls und ob der Erwartung, dass sie teilnehmen werde, sank Euphemia das Herz. „Das blaue Kleid wird absolut akzeptabel sein.“

Im Stillen fragte sie sich, ob Lucille das Gewand jemals richtig angeschaut hatte. Eine Freundin der Familie hatte es ihr beschafft, es war schon getragen gewesen, und es hatte viel Näharbeit gekostet, um die beträchtlichen Gebrauchsspuren auszubessern.

Doch in anderer Hinsicht hatte ihre Stiefmutter recht. Vor beinahe vierzehn Jahren hatte Euphemia ihre Zeit in der Gesellschaft gehabt, und es war eine Katastrophe gewesen. In der Folge hatte sie ihre Stellung in der neuen Familie ihres Vaters, der ein zweites Mal geheiratet hatte, fraglos akzeptiert, da sie genau wusste, dass auf eine andere Zukunft zu hoffen fruchtlos und sinnlos war.

Es würde kein Ritter in schimmernder Rüstung auf weißem Rosse in ihr Leben geritten kommen und sie ins Paradies entführen, keine zweite Gelegenheit für sie in Anbetracht dessen, was bei der Ersten geschehen war. Sie verwarf den Gedanken, da der Wagen eben vor ihrem Haus vorfuhr.

Während der Fahrt hatte sich der heftige Eisregen sich zu einem feinen, kalten Dunst gewandelt, und als sie ausstiegen, trat sie an den Kutscher heran, der bei den Pferden stand und einen Riemen am Zaumzeug richtete.

„Meine Mutter möchte dem Gentleman danken, der uns erlaubte, diesen Wagen zu nehmen. Ich weiß, Sie fahren zurück, um jene Fahrgäste aufzunehmen. Würden Sie mir bitte seinen Namen und seine Adresse verraten?“

Der Kutscher schüttelte lächelnd den Kopf. „Der Wagen wurde schon ein paar Tage zuvor geordert, Miss, und man befahl uns einzig, an diesem speziellen Kai zu warten, wenn das Schiff anlegte. Ich befolgte nur die Anweisungen und sorgte dafür, dass ich rechtzeitig dort war.“

„Ich verstehe.“

Sie trat zurück und sah zu, wie er auf den Kutschbock stieg und die Pferde antrieb. Sie würde nicht herausfinden können, wie der Fremde hieß, das musste sie einsehen. Als sie ins Haus eilte, begann sie ob der Eiseskälte dieses Tages zu zittern.

Augustus löste sein Krawattentuch und warf es auf den Stuhl neben dem Bett, dann zog er seinen Gehrock aus. Im Stadthaus waren zahllose Feuer entzündet worden, und in seinem Zimmer war es beinahe erstickend warm. Draußen fiel der Schnee, der sich schon den ganzen Tag angekündigt hatte, und der Park auf der anderen Straßenseite war bald in Weiß gehüllt.

Mr. Thomas Pemberton hatte sich endlich entfernt, womit Augustus, mittlerweile deswegen ziemlich beunruhigt, schon nicht mehr gerechnet hatte, weil der Verwalter seines Großvaters ihm jeden Raum des Gebäudes einzeln und in aller Ausführlichkeit vorgeführt hatte. Natürlich erinnerte er sich des Hauses, wenn er auch in seiner Jugend nur drei- oder viermal hier gewesen war und es nicht sonderlich gemocht hatte.

Er drückte die Hände auf die Augen, um das Kopfweh zu vertreiben, das sich beim Gedanken an seinen Großvater zu verschlimmern drohte. Der alte Baron war misslaunig und reizbar, doch weder unmoralisch noch schwach. Es waren Augustus’ Vater und Bruder, die sich diese Eigenschaften zum eigenen Nutzen angeeignet hatten.

„Gott“, murmelte er. England brachte wirklich das Schlimmste in ihm zutage. Er war nur zurückgekehrt, weil der kürzliche Tod seines Vaters eine Lücke in der Nachfolge hinterlassen hatte, die sein Großvater geschlossen sehen wollte, und da Augustus der nächste Erbe des Titels war, war es schwierig, diesem Ruf nicht zu folgen.

Unbewusst drehte er den silbernen Armreif an seinem Handgelenk nach oben, las die eingravierte Botschaft und versank in Erinnerung. Er hörte, wie der Wind auffrischte, der Eisregen gegen die Scheiben schlug. Die Eisfläche auf dem Fluss würde sich höher türmen und zweifellos jedem Gang ins Freie ein Ende setzen.

Das blauäugige Mädchen, dem er heute geholfen hatte, kam ihm in den Sinn. Hoffentlich war sie mit ihrer Familie irgendwo warm und sicher untergebracht. Er wünschte, er hätte ihren Namen erfahren, doch am Dock hatten sie nicht auf die Rückkehr der Kutsche gewartet, da der Verwalter müheloser als erwartet eine andere hatte beschaffen können. Vielleicht hätte er die Abfahrt verzögern und den ersten Kutscher nach der Adresse fragen sollen? Was war das für ein Gedanke? Stirnrunzelnd verwarf er ihn.

Euphemia betrachtete durch ihr Fenster das lebhafte Getriebe Londons – die Lichter, die Umrisse der Gebäude, die letzten Fahrzeuge, die durch den Schnee heimwärtsrollten.

Sie löste ihr Haar, fuhr mit den Fingern durch die schwere Masse und schloss die Augen.

Allein. Endlich.

Sie hatte heute bei ihrer Begegnung mit dem Mann am Kai zu viel geredet, das wusste sie, doch wenn sie nervös war, strömten die Worte stets nur so aus ihr heraus. Und nach dem Tod ihres Vaters hatten die langen Jahre mit ihrer Stiefmutter und Stiefschwester die Angewohnheit noch verstärkt.

Sie lebte hier nur von Lucilles Gnaden, und schwere Augenblicke hatten sie gelehrt, dass man sie für sich einzunehmen erreichte, indem man sich familiär gab und Vertraulichkeit, Freundlichkeit, gute Laune und liebevolle Zuwendung anwandte.

Oberflächlich bleiben, plaudern, niemanden merken lassen, wie man sich fühlte. Die Wahrheit war ein gefährlicher Feind, und falls Lucille sie nicht als unentbehrliches Mitglied der Hausgemeinschaft ansah, gab es für sie kaum andere Optionen.

Ihr Vater war durch diese Heirat vor dem Bankrott bewahrt worden, und das wusste jeder in der Familie: ihre Stiefmutter, ihre Stiefschwester und ihr Vater mit seiner zunehmenden Verzweiflung und Trinksucht. Lucille Hitchkins mochte einiges an Geld in die Ehe mitgebracht haben, doch auch zugeknöpfte Taschen, und Mia hatte nach ihrem desaströsen Debüt in jener Londoner Saison nur, wenn sie sich den Zwängen beugte, in der Familie verbleiben dürfen. Ein weiterer Mund, der zu füttern war. Zusätzliche Ausgaben. Eine alternde Stieftochter, für die keine großartige Verbindung zu erwarten war. Eine Last.

Aber daran mochte Mia nicht denken.

Sie war hier, und sie würde das Beste daraus machen; in London gab es viele Frauen in der gleichen Position, die noch viel schlechter dran waren. Sie hatte ein Heim, ihr Essen und Wärme, und in den letzten Monaten seines Lebens hatte ihr Vater ihr immer und immer wieder eingeschärft, dass sie für ihr Los dankbar sein musste.

Dankbar war sie tatsächlich, denn Lucille war nicht die böse Stiefmutter aus dem Märchen, nicht die kaltherzige, grausame Hexe, die ihre unerwünschte Verwandte einsperrte und ihr dann und wann eine Brotkruste zuwarf.

Nein, so war sie nicht, aber eine Frau mit Launen, die zum Schmollen neigte, die sich aber unter schwierigen Bedingungen ihrer Verantwortung gestellt und Mia einen Platz in ihrem Heim zugestanden hatte.

Auch meine eigenen Fehler haben Teil an dieser Prüfung, gestand sie sich ein: Meine Torheit damals auf dem Ball der Dashwoods ist Ursache für all das, was gefolgt ist. Meine unbesonnenen, unklugen Entscheidungen haben mich alles gekostet.

Allein der Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit, denn sie wusste, wenn sie auch immer noch nicht an großen Gesellschaften des ton teilnahm, zu dem Ball der Allans würde sie gehen müssen. Sie ging zum Kleiderschrank, zog das marineblaue Kleid heraus und hielt es sich vor dem Spiegel an.

Die Farbe passte zu ihrem Haar und betonte das Blau ihrer Augen. Alt mochte es sein, doch es war gut geschnitten, fein genäht und der Stoff von guter Qualität.

Ihr kam ein Gedanke, und sie zögerte, öffnete dann das Schubfach ihres Nachttischchens und nahm eine schlichte hölzerne Schatulle heraus. Darin lag das Einzige, das sie vom Besitz ihrer Mutter hatte, ein zweireihiges Perlenhalsband mit einer fein gearbeiteten goldenen Schließe. Sie hatte es nur selten getragen, aus Angst, dass Susan es sich werde ausleihen wollen und es dann verlieren würde. Also hatte es seit Jahren, sorgsam in Watte gehüllt, hier verwahrt gelegen.

Sie drapierte das Halsband über den blauen Stoff und betrachtete sich, sah die Hoffnung in ihren Augen und die Traurigkeit.

„Dazu bist du geworden“, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. „Zu dieser Frau, die Sachen versteckt.“

Sie stellte sich die Mutter vor, die sie nie gehabt hatte, wie sie ihr die Perlen um den Hals legte. Waren ihre Augen blau? Ihr Haar blond? War auch sie zart und hellhäutig?

Ihr Vater hatte von ihrer richtigen Mama nie gesprochen, und alle ihre Fragen hatte er abgewehrt. Sie hatte nie ein Bild von ihr gesehen oder ein Tagebuch mit persönlichen Aufzeichnungen, so lieb und teuer ihr beides gewesen wäre.

Mehr, als dass ihre Mutter, eine Miss Elizabeth Anne-Marie Caughey, klug und vernünftig gewesen war, hatte ihr Vater ihr nie erzählt. Und dass sie ganz sacht und ohne Umstände gestorben, am Abend nach Euphemias Geburt still und leise ins Jenseits geglitten war, kaum, dass sie einen Hauch getan hätte.

Unbewusst strich Mia über die Perlen, die so glatt und seidig waren. Es hatten sich keine anderen Verwandten gemeldet, die sie hätte fragen können, und so musste sie mit diesen wenigen kurzen Sätzen zurechtkommen. Als sie noch jünger war, hatte sie sich ausgemalt, ihr Vater müsse vor Gram über den Tod ihrer Mutter so außer sich gewesen sein, dass er es nicht über sich brachte, ihren Namen zu erwähnen; als sie dann älter wurde, sah sie das anders.

Es war ihm einerlei. Er vergaß nur zu gerne. Für ihn war es nur wichtig, vorwärtszuschauen, und als Lucille Hitchkins, eine junge, vermögende Witwe mit einer noch kleinen Tochter ihm ins Auge fiel, hatte er die Chance genutzt und sie geheiratet.

Mia schloss ihre Hand fester um die Perlen. Die zweite Ehe ihres Vaters war vermutlich in etwa genauso erfolgreich gewesen wie seine erste; fehlende Liebe, fehlender Gedankenaustausch hatte sie vom ersten Moment an geprägt. Nach schon zwei Jahren verbrachte er viel Zeit fern der Familie und auch fern von ihr, Mia, und wenn er dann heimkam, sah sie ihm die Enttäuschung und Ernüchterung an.

Nie schrie und schimpfte er, stritt oder schlug gar, er trank einfach, stumm und allein, und als der Alkohol ihn schließlich umbrachte, begrub Lucille ihn ohne großes Tamtam und machte einfach weiter wie zuvor.

Wie ich selbst nun auch, und mache das Beste aus der schlimmen Lage, dachte Mia.

Außer dass sie sich zum ersten Mal seit Langem anders fühlte, und das hatte mit dem Mann mit dem dunklen Haar und den dunklen Augen zu tun, den sie heute an den Docks gesehen hatte.

Sie war gerade einmal siebzehn und auf Hinterlist nicht vorbereitet gewesen, als der junge Mr. Rushworth sie überredet hatte, ihm aus dem Ballsaal in den einsamen Korridor zu folgen. Nun war sie dreißig, ein „altes“ Mädchen ohne die Illusion, dass ihr noch etwas Besseres begegnen würde. Falls ihre Instinkte schwach ausgebildet gewesen waren, so waren sie nun von verhärteter Vernunft und absolut praktischer Sachlichkeit.

So besonnen und altmodisch wie ihr Name. Vernünftig, nüchtern. Wie einst ihre Mutter.

Sie würde niemals heiraten. Nein, sie würde einfach ihr Leben leben und für die kleinen Wohltaten dankbar sein, die ihr zugeteilt wurden, und für den Platz im Hause, der ihr Sicherheit bot. Sie verstaute das Halsband und das Abendkleid, nahm sich ein Buch von dem Regal an einer Wand des Zimmers und machte sich fertig, um zu Bett zu gehen.

Doch die Ereignisse des Tages drängten immer wieder empor, die Stimme des Fremden, seine dunklen Augen, seine Hand an ihrem Ellenbogen …

Ein Mann, der gefährlich und unlenkbar wirkte. Ein Mann, der sich nicht ihren Bitten fügen würde, wie der willfährige Geliebte aus ihren Träumen. Ein Mann, der so weit von ihrem Bild von Wohlgefühl und Behagen entfernt war, wie sie sich nur vorstellen konnte. Ein Mann, dem man ausweichen und vor dem man auf der Hut sein sollte. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass er nicht auf dem Ball der Allans sein werde.

Immer schon war Augustus des Nachts umhergewandert, doch London fühlte sich anders an als Bombay. Das Klima natürlich war ein Unterschied, doch es gab auch unzählige weitere. Zum einen empfand er die Stadt nicht mehr als Heimat. Nein, nun war sie fremd und bedrohlich; die Armut und die Wut, die den heruntergekommenen Gassen entströmten, schienen fast greifbar. Da war eine Leere, eine Trostlosigkeit, für die es keine Lösung, keine Abhilfe geben mochte. Auch Indien hatte seine Armut, doch es war eine sanftere, und die Religion nahm der Ungleichheit die Schärfe.

Dennoch konnte er nicht dahin zurück, denn seine Zeit dort war abgelaufen, vorbei und beendet. Nur schwang hier für ihn in diesem Gefühl der Leere eine Furcht mit, die ihn zaudern ließ – was er nur sehr selten tat, da er seine viel bereisten Pfade bisher stets wohl erwogen hinter sich gebracht hatte.

Nebel stieg auf, kalt und unzweifelhaft, ließ die Umrisse der Gebäude verschwimmen und senkte Stille über die nassen Straßen, doch wenigstens hatte der Schneefall nachgelassen. Er wollte diese Beschwerlichkeit, wollte, dass die Kälte ihm in die Haut schnitt und ihn fühlen ließ … irgendetwas fühlen ließ, weil dieses Nichts nicht zu ertragen war.

Ein Geräusch veranlasste ihn, sich umzuwenden. Große Männer, grob gebaute Männer, die so gefährlich wie dumm aussahen mit ihren törichten Absichten.

„Her mit der Börse, Chef, dann könn’ Sie weitergehen.“

Der Bursche, der ihm am nächsten war, feixte. „Eher schon weitergehen ins nächste Leben.“

Augustus hob die Hände in der uralten Geste der Abwehr.

„Ihr Herren, ich rate Ihnen, sich fortzumachen. Ich suche keinen Kampf.“

„Wenn das so is’, Chef?“ Der Erste zog ein langes Messer aus der Tasche und reckte ihm die zackige Klinge entgegen. Auch die anderen hatten Messer, die silbrigen Schneiden blitzten im Mondlicht.

Geduckt stürzte er sich auf den ersten Kerl, packte dessen Beine und riss ihn zu Boden, ermutigt von dem dumpfen Geräusch, mit dem der Kopf aufs Pflaster aufschlug. Beim nächsten ging es noch einfacher. Eine rasche Drehung des Arms, und er hörte Knochen splittern. Was auch der dritte Dieb hörte. Mit ungläubigem Blick ließ der sein Messer fallen, das mit im Licht blinkender Klinge in der Gosse landete, wo Wasser dunkel wie Blut über das Metall schwappte.

Dann hörte man nur noch den Klang schwerer Stiefel, der sich in den nächtlich leeren Gassen verlor. Ein willkommener Rückzug, dachte Augustus, während er sich den Mantel abklopfte und seinen Hut, der ihm abhandengekommen war, von der Straße aufhob und fest auf den Kopf stülpte.

Morgen früh würden sie Kopfweh und Schlimmeres haben, diese Halunken, ganz gewiss. Während er mit dem Fuß das Messer auf einen Haufen Unrat stieß und sich dann entfernte, lauschte er sorgsam, ob vielleicht andere kämen oder die drei zurückkommen würden oder ob er verfolgt werde.

Um eine Ecke und dann um zwei weitere suchte er seinen Weg zurück nach Piccadilly und quer durch den Green Park, hinein ins Dunkel. Schließlich lehnte er sich gegen einen Baum, spürte dessen tröstliche Kraft.

Indien hatte Gefahren eigener Art, doch hatte ihn die Armee der East Indian Company das Überleben gelehrt. Anfangs war er, noch ein grüner Junge, anfällig für Unfälle und Verletzungen gewesen, doch nach einem Jahr hatte er begriffen, dass man, um fähig zur Verteidigung zu sein, Gelassenheit brauchte und für den Angriff Schnelligkeit. Er hatte dort im Dienste der Armee Menschen getötet; allerdings hatte er zu dem drastischen Mittel schon seit Jahren nicht mehr greifen müssen.

Er nahm den Hut ab und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, massierte sich die schmerzende Nackenmuskulatur und lauschte seinem Herzschlag, der dröhnte wie eine Trommel. Die vielen Tage auf See hatten ihn verweichlicht. Wie mein Vater war, dachte er, verbannte den Gedanken jedoch sofort.

Familie. Seine Betrachtungen ließen ihn erschauern. Er brauchte einen Drink, und er brauchte Gesellschaft, und White’s war gleich um die nächste Ecke am Ende der St. James’ Street.

Als er dort ankam, war der Club gestopft voll, jeder Raum der beiden Stockwerke hell erleuchtet. Wie der Zufall es wollte, saß einer seiner besten Freunde aus seiner Schulzeit, der Honorable Bramwell Baker-Hill, an einem der vorderen Tische im Foyer und rief ihn an.

„August, ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen, nachdem du so plötzlich fort warst. Wie schön, dich wieder hierzuhaben!“ Er bemerkte die nassen Flecke auf Augustus’ Mantel. „Hat dich der Regen überrascht?“

„Ein Überfall in Sheperd’s Street. Drei Schurken!“

„Mein Gott! Bist du verletzt?“

„Nein, sie machten sich schnell davon, als sie merkten, dass ich mir von ihnen nicht einfach die Taschen leeren lassen würde.“

„Teufel, wohin ist es mit England gekommen!“

Während Bram sprach, schenkte er zwei Gläser randvoll und bedeutete Augustus, den Stuhl gegenüber zu nehmen. „Wann bist du heimgekommen?“

„Erst vor zwei Tagen, nach einer langen Seereise.“

„Als neuer, edlerer Erbe des Rushworth-Titels?“

Augustus schaute rasch auf, denn der Tonfall des Freundes passte nicht zu der Aussage.

„Ich weiß, er war dein Vater, aber er war ein lästiger Bursche und ein Schwindler. Man sagt, dass die Londoner Frauen erleichtert aufatmeten, als er verschied. Sein lüsterner Blick sorgte für eine Anzahl schockierender Skandale, Bettgeschichten wie auch anderes.“

Augustus zwang sich, stumm zu bleiben. Dann hatte das wahre Böse in seiner Familie sich noch nicht in Klatschgeschichten niedergeschlagen, denn an was Bram erinnerte, das waren nur ziemlich milde Geschichten, die anrüchige Herumtreiberei eines lüsternen Lords.

Die Gesellschaft konnte solche Neigungen schlucken und verzeihen, als ausufernde Verfehlungen eines heißblütigen Mannes. Es waren die Makel seines Bruders, die sie niemals vergeben würde.

Er nahm das ihm gebotene Glas und leerte es fast auf einen Zug; der milde Brandy war genau das, was er nun brauchte.

„Wir haben dich vermisst, bei Gott! Du sagtest uns nicht einmal Lebewohl.“

„Nun, abzureisen war eine Entscheidung aus dem Moment heraus, und die Gezeiten waren günstig.“

„Günstig genug, um entkommen zu können?“

Bramwell war von seinen Freunden stets der scharfsichtigste gewesen.

„Ich bin wieder hier und werde bleiben. Ich will einfach … Frieden, Bram.“

„Frieden? ‚Ich hasse das Wort, wie ich die Hölle hasse und alle Montagues‘.“

Augustus lachte ob des Zitats, und ihm fiel wieder ein, warum sie so gute Freunde gewesen waren. „Im Vergleich zu meiner Familie waren die Capulets Unschuldsengel.“

„Ich weiß.“

Und das war’s. Ein Schlusspunkt. Ein Vorsatz. Für diesen Augenblick schienen ihm England und seine Stellung hier gewisser als seit Jahren, und langsam rieselte Wärme in seine innere Kälte.

„Weiß noch jemand, dass du zurück bist?“

„Mein Großvater. Er schickte nach mir.“

„Nach dem verlorenen Enkelsohn?“

Das ignorierte Augustus.

„Ich hörte, du hattest in Indien geheiratet?“

„Ja, aber meine Frau starb.“

„Das tut mir leid.“

„Danke.“

Bram goss ihnen noch einmal ein, und eine Weile saßen sie einfach stumm da, inmitten der heiteren Atmosphäre des Clubs, die so weit von dem entfernt war, was sie bisher gesprochen hatten.

„Man sagt, du habest bei der East India Company in Bombay ein Vermögen gemacht?“

„Nun, der Aufbau eines Weltreiches ist nicht ohne Risiken, denn der Handel und die Politik bereiten einem kein gemütliches Bett. Aber ja, Rohbaumwolle und Gewürze sind immer gut verkäuflich, einerlei, in welchen Häfen, und ich verkaufte eine Menge.“

Bram runzelte die Stirn. „Ich wünschte, ich wäre damals mit dir gegangen, August, obwohl ich inzwischen verheiratet bin und eine Tochter habe.“

„Eine Tochter?“ Augustus’ Herzschlag setzte kurz aus. „Wie heißt sie?“

„Catherine, aber wir rufen sie Kit. Sie ist jetzt sechs Jahre.“

Alice. Der Name ertrank in Gram, während er auf das silberne Band an seinem Handgelenk niedersah, das er immer trug. Er rieb mit einem Finger über die eingravierten Zeichen.

„Ein schönes Leben also, dem Klang nach. Ein Leben mit einem Sinn?“

„Das denke ich wohl. Komm am Dienstag zum Ball der Allans, August. Rupert Forsythe wird da sein und auch Tobias Balcombe. Tony Ferris allerdings besucht seine Mutter in Oxford und wird nicht vor einer Woche zurückerwartet. Sie werden alle begeistert sein, dich wiederzusehen.“

Augustus trank sein Glas leer. Die Namen seiner Freunde aus einem anderen Lebensabschnitt weckten in ihm die Frage, ob er den Mut hatte, sich jenes Leben zurückzuholen.

„Vielleicht komme ich“, sagte er, unsicher zögernd.

„Ich hoffe doch! Und nun, erzähl mir von der East India Company und von Bombay. Ich habe Dinge darüber gehört, die ich kaum glauben kann, und Lance Sedgwick kam letztes Jahr mit Geschichten von Pracht und Ausschweifungen zurück. Auch er wird Dienstag auf dem Ball sein und wird zweifellos etwas von deiner Zeit in Anspruch nehmen wollen.“ 

Da war sie wieder, die verstiegene Welt der englischen Gesellschaft, die Welt, der er einst, vor vielen Jahren, angehört hatte, eine Welt von Bällen und Benimm und Etikette.

Autor

Sophia James
Romane von Georgette Heyer prägten Sophias Lesegewohnheiten. Als Teenager lag sie schmökernd in der Sonne auf der Veranda ihrer Großmutter mit Ausblick auf die stürmische Küste.
Ihre Karriere als Autorin nahm jedoch in Bilbao, Spanien, ihren Anfang. Nachdem ihr drei Weißheitszähne gezogen wurden, lag sie aufgrund starker Schmerzmittel tagelang flach. Die...
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