Romana Weihnachten Band 23

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HAPPY END IN DER KLEINEN WEIHNACHTSMANUFAKTUR von NIKA MAIWALD
Alte Bräuche und traditionelles Kunsthandwerk? Nichts für Berliner Unternehmer Ruben Veltmann! Doch mitten im Erzgebirge wird er von einem Schneesturm überrascht und landet in der kleinen Weihnachtsschmuck-Manufaktur der bezaubernden Luisa. Kann sie den nüchternen Städter vom wahren Geist der Weihnacht überzeugen?

WINTERZAUBER MIT ZUCKERGUSS von EMMA WINTERBERG
Konditorin Hanna backt die besten Lebkuchen in ganz Salzburg. Nur für die Liebe hat sie noch nicht das richtige Rezept gefunden. Da schneit kurz vor Weihnachten der charmante Felix in ihr Leben – und stürzt Hanna in ein Chaos der Gefühle. Schon träumt sie von einem Happy End, da erfährt sie, wer Felix wirklich ist …

DREI WÜNSCHE NUR FÜR DICH von LILLI WIEMERS
Weihnachtsball auf Schloss Moritzburg! Wie gerne würde Johanna dabei sein, aber für sie als einfache Illustratorin nur ein ferner Traum. Als sie unerwartet ein Ballkleid und eine Eintrittskarte bekommt, fühlt sie sich wie im Märchen. Der Tanz mit dem attraktiven Gastgeber Adrian von Müritz macht das Cinderella-Gefühl komplett. Doch was passiert, wenn die Uhr Mitternacht schlägt?


  • Erscheinungstag 07.10.2023
  • Bandnummer 23
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517287
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nika Maiwald, Emma Winterberg, Lilli Wiemers

ROMANA WEIHNACHTEN BAND 23

1. KAPITEL

Schnee. Wohin er sah, nichts als Schnee. Nur dass die Flocken nicht leise vom Himmel rieselten, wie es in diesem albernen Weihnachtslied hieß, mit dem Geschäfte und Kaufhauspassagen in Berlin seit Tagen ihre Kundschaft beschallten, sondern lautlos. Absolut lautlos sogar. Nun, wo der Motor seines Wagens mit röchelndem Geräusch zum Stillstand gekommen war, herrschte eine nahezu unwirkliche Stille.

Und zu sehen gab es auch nichts in dieser schweigenden Welt, die ihn jetzt umgab – nichts außer einem grauen Himmel, aus dem unaufhörlich große Flocken herabschwebten. Sie legten sich auf Tannen, Kiefern und Fichten und bedeckten die Umgebung allmählich mit einem dicken weißen Mantel, der alle anderen Geräusche schluckte.

Unwillig machte Ruben den Sicherheitsgurt los, öffnete die Autotür und spürte im selben Augenblick, wie die Kälte in den Wagen drang. Da der Motor nicht mehr lief, arbeitete die Heizung natürlich auch nicht mehr. Die Temperatur im Wagen fiel so rasch, dass es ihn erschauern ließ.

Als moderner Städter hatte er sich während der Fahrt natürlich ordentlich mit frisch aufgebrühtem Bio-Tee aus seiner doppelwandigen Thermosflasche versorgt, sodass seine coole Designerjacke längst auf der Rückbank lag, weil ihm zu warm geworden war. So machte er es generell: Er nahm sein bequemes Loft quasi mit auf die Reise, heizte sich und den Wagen gehörig auf und schützte sich auf diese Weise vor den Elementen. In der Stadt ließ er die Natur generell eher vor der Tür, erfreute sich durch die großen Fenster seines Industrieapartments am Wechsel der Jahreszeiten und lief gut abgesichert in schicken Outdoorklamotten durch den Schneematsch zum nächsten Kiosk.

Dummerweise hatte er ausgerechnet heute Morgen danebengegriffen und seine relativ dünnen Boots angezogen, mit denen es sich zwar sehr komfortabel Auto fahren ließ, in denen er aber sofort eiskalte Füße bekam.

Damn! Ein Motorschaden. Ausgerechnet in dieser weißen Einöde, damit war nun wirklich nicht zu rechnen gewesen. Und auch nicht damit, dass seine Sohlen heute außer dem Boden eines alten Fabrikgeländes noch Kontakt mit einer archaischen Schneelandschaft bekommen würden. Klar, das verschneite Erzgebirge war nicht das ordentlich schneegefegte Berliner Umland, aber mal ehrlich, schafften es die Räumfahrzeuge hier nicht mal innerhalb mehrerer Stunden die Straßen freizumachen?

Wo genau befand er sich überhaupt? Das blendende Weiß vor der Windschutzscheibe sorgte dafür, dass er trotz der vorangeschrittenen Tageszeit die Augen zusammenkneifen musste, als er zum wiederholten Mal auf das Display seines Handys schaute. Das hatte er in der letzten Stunde schon mehrfach getan, leider immer mit dem gleichen Ergebnis: Nichts. Auch jetzt suchte das Gerät vergeblich nach einem Signal.

Kein Empfang. Und damit auch kein Navi. Und, so wurde ihm klar, auch kein Abschleppdienst, auf dessen Erscheinen man im Notfall in aller Ruhe warten konnte, während man sich in der nächsten Raststätte mit einem Latte Macchiato über die kalten Füße hinwegtröstete. Genauso gut hätte er am Nordpol gestrandet sein können. Hier gab es buchstäblich nichts.

Und nun? Die Uhrzeit immerhin zeigte sein Handy an: Vierzehn Uhr fünfundvierzig. Früher Nachmittag also. In Berlin hätte er jetzt kurz vom Schreibtisch seines Büros, das in einem dieser himmelhohen Bürotürme aus Glas und Stahl in der oberen Etage lag, durch die riesigen Glasscheiben auf die weihnachtlich geschmückten Straßen hinuntergeblickt und sich auf den kommenden Feierabend gefreut. Hier jedoch bedeutete die Anzeige, dass es in einer Stunde stockdunkel sein würde. Dunkel im wahrsten Sinne des Wortes. Hier gab es nicht mal Laternen am Wegesrand. Nur die Schneedecke würde ein schwaches Licht reflektieren; vorausgesetzt, dass der Mond und die Sterne sich in einer Stunde nicht mehr hinter einer dichten Wolkendecke verbargen.

Bei diesen Gedanken wurde es Ruben zum ersten Mal richtig mulmig. In Island, so hatte er gehört, gab es Straßen, auf denen im Winter Schilder aufgestellt waren: Ist jemand informiert, dass Sie diesen Weg nehmen?

War jemand informiert, dass er hier, in dieser Einöde, unterwegs war? Außer vielleicht Jennifer, seiner … Wie nannte man eigentlich eine ständige On-Off-Freundin? Partnerin wohl eher nicht. Außerdem hatte er ihr nicht genau gesagt, wann er wieder zurück sein würde, sondern etwas von ein, zwei Tagen gemurmelt. Und sein Chef, der gerade wieder am Hauptsitz der Firma in den USA weilte, wusste lediglich, dass Ruben ihm in den nächsten Tagen Bericht erstatten wollte.

Was, wenn er hier jetzt nicht mehr wegkam?

Warum, verdammt noch mal, hatte er seinen eigenen Sportwagen für die Fahrt benutzt und sich nicht auf Firmenkosten einen winterfesten Mietwagen mit Allradantrieb gegönnt? Die Antwort lag auf der Hand: Weil es sich in seinem Ford Mustang so ungemein cool über die Autobahn sprinten ließ. Ein Sportwagen, der Ihnen aufgrund des Heckantriebs vor allem viel Leistung bietet, wobei die Kurvendynamik weniger im Mittelpunkt steht als die Beschleunigung auf gerader Strecke.

Na super. Heckantrieb. Beschleunigung. Alles Dinge, die er hier im verschneiten Erzgebirge so gar nicht brauchen konnte. Der Heckantrieb versprach zwar ein besseres Handling des Wagens, war aber im Winter eher kontraproduktiv, denn bei glatten Straßenverhältnissen konnte das Heck schnell mal ausbrechen. Was auf den eis- und schneegeräumten Berliner Straßen normalerweise keine Rolle spielte. In dieser Gegend sah die Sache allerdings anders aus.

Es half alles nichts. Darauf zu warten, dass hier heute noch jemand vorbeikam, war genauso illusorisch wie zu glauben, dass an Heiligabend tatsächlich ein Weihnachtsmann durch den Kamin rutschte und die Geschenke brachte. In der letzten Stunde hatte Ruben keine Menschenseele mehr gesehen. Wahrscheinlich hatte er den Hauptfehler schon begangen, als er auf diese schmale Straße abgebogen war. Um ein paar läppische Minuten Zeit zu sparen, nachdem er die vierhundert Kilometer von Berlin bis zum Erzgebirge in drei Stunden und fünfundzwanzig Minuten geschafft hatte.

Na toll. Das hatte ja fantastisch geklappt. Inzwischen in seine Designerjacke gehüllt, stapfte Ruben missmutig zum Heck, öffnete den Kofferraum und schaute auf den Rollkoffer, der dort lag. Den würde er tragen müssen, wenn er ihn mitnehmen wollte, denn die schicken gummigepolsterten und damit geräuscharmen Rollen nutzten ihm hier gar nichts. Die waren für Stadtpflaster gemacht und nicht für holprigen Waldboden oder verschneite Straßen.

Perfekt mitgedacht, Ruben Veltmann!

Verärgert packte er ein paar Sachen in seine Umhängetasche um, von denen er annahm, dass sie wichtig werden könnten: ein paar warme Unterhosen, Zahnbürste und Zahnpaste, einen weiteren Pullover, die Brandschutzfolie aus dem erste-Hilfe-Kasten, weil sie im Notfall Körperwärme speicherte, Ausweis, Fahrzeugpapiere, Geld. Ein paar Werbeartikel kamen auch noch mit in die Tasche, man wusste ja nie.

Und nun? Mit zusammengekniffenen Augen sah Ruben sich um. Das flimmernde Weiß der Schneedecke stach ihm in die Augen, verbarg aber nicht die Tatsache, dass die Schatten der Bäume schon ziemlich lang geworden waren. Ein bläulich-violetter Farbton hatte sich in die Atmosphäre geschlichen, und die Sonne, von der er nur vage vermuten konnte, wo sie zurzeit stand, warf ein ziemlich fahles Licht in die Landschaft.

Hier noch länger zu warten, machte keinen Sinn. Also losgehen. Was aber, wenn er die falsche Richtung nahm? Dann würde er sich hoffnungslos verirren. Wer weiß, in welchem Zustand man ihn dann später fand. Und vor allem: wann. Von einer eisigen Winternacht im Gebirge hatte er auch als überzeugter Städter eine ausreichend realistische Vorstellung, um es nicht auf einen Versuch ankommen zu lassen.

Fröstelnd zog sich Luisa die Schöße der langen Schaffelljacke um Taille und Hüften, während sie durch die geöffnete Haustür in den Flur und schnell weiter in die warme Stube schlüpfte. Dort empfing sie das anheimelnde Bollern des Kamins. Er war so etwas wie das Herzstück der Stube, zumindest im Winter, denn um ihn herum zog sich eine gemauerte und grob verputzte Sitzbank. Um sich aufzuwärmen, setzte sie sich auf die Planken aus duftendem Kiefernholz, die jetzt im Winter zusätzlich mit Fellen belegt waren.

Den Kamin hatte ihr Ururgroßvater noch selbst gesetzt. Es saß sich fantastisch hier nach getaner Arbeit, mit einem wollenen Tuch um die Schultern, der Wärme des Ofens im Rücken und einem Glas dampfenden Glühweins in den Händen. Auch Barbarossa, Luisas vierzehn Jahre alter Golden Retriever, liebte den Ofen und hatte die kuscheligste Stelle unter der Ofenbank zu seinem Lieblingsplatz auserkoren. Damit seine alten Knochen auf dem Steinboden unter der Bank nicht auskühlten, hatte Luisa ihm zusätzlich ein flauschiges Fell bereitgelegt.

Barbarossa war Luisas Ein und Alles. Mit fünfzehn hatten ihr die Eltern den Welpen geschenkt. Es war jene Zeit gewesen, als sich die kleinen Kümmernisse ihrer Kindheit zu ersten Pubertätsproblemen ausgewachsen hatten, als eine nicht erwiderte Jugendliebe das Ende der Welt bedeutete und das Zerbrechen einer langen Mädchenfreundschaft fast noch schlimmer gewesen war. Der flauschige quirlige Barbarossa, das hatten ihre Eltern ganz richtig eingeschätzt, war knuddelig, aufgeweckt und anstrengend genug, um Luisa die ganzen Schwierigkeiten zumindest zeitweilig vergessen zu lassen. Zusammen mit ihm hatte sie die Umgebung unsicher gemacht, war sowohl in hellen Sommernächten als auch an kalten Wintertagen unterwegs gewesen. Er war ihr bester Freund. Seinetwegen wäre sie sogar beinahe nicht zum Studium in die USA gegangen. Aber da hatte ihr Vater als Oberhaupt der Familie ein Machtwort gesprochen.

Gerade betrat auch er den warmen Raum und reichte ihr ein Glas selbst zubereiteten Glühwein.

„Alles in Ordnung drüben?“, fragte ihr Vater dabei und deutete mit dem Kinn in Richtung Stall.

„Soweit ja“, antwortete Luisa und strich mit der Hand über das Schaffell, das die Sitzbank bedeckte. Es fühlte sich weich und kuschelig an, so wie ihr ganzes Elternhaus, in das sie immer wieder gern zurückkehrte. „Ich habe bei den Haflingern noch zusätzlich ein bisschen Stroh eingestreut. Ronjas Fohlen kann jederzeit kommen.“

„Na ja“, widersprach ihr Vater, „ein paar Tage wird es bei Ronja schon noch dauern. Aber mach es ihr ruhig schon jetzt richtig gemütlich. Wir haben genug Stroh in der Scheune. Es war ein gutes Jahr.“ Er setzte sich zu Luisa auf die Bank und seufzte auf. „Es ist ein Kreuz, dass mein Rücken zurzeit nicht richtig mitmacht. Sonst hätte ich dir natürlich geholfen.“

Luisa schüttelte den Kopf.

„Ach, Papa, das mach ich doch gerne. Kuriere du deinen Hexenschuss richtig aus. Später, wenn ich wieder weg bin, hast du hier noch genug zu tun. Komm, leg dir noch ein Schaffell in den Rücken“, fügte sie hinzu und hielt ihm eins hin.

Ihr Vater nahm es, stopfte es sich in den Rücken und lehnte sich damit gegen den Ofen.

„Ja, das ist angenehm. Wie gut, dass du damals so vehement dagegen warst, die Schafe und Ziegen abzugeben. Nun klopft der alte Gruber ständig bei mir an und will von unserer Ziegenbutter haben, weil sie das Einzige ist, was gegen sein Rheuma hilft. Und seine Marie schwört geradezu auf Ziegenmilch, seit sie selbst keine mehr haben. Du kriegst es ja nicht mit, weil du die meiste Zeit in Sonneberg bist, aber sie halten hier immer noch sehr große Stücke auf dich.“

Luisa hob ihr Glas und prostete ihm zu. „Na ja, sagen wir lieber: Sie halten wieder große Stücke auf mich. Als ich damals nach Kalifornien gegangen bin, kam das vor allen bei den Alten nicht so gut an. Sie haben mir Heimatflucht vorgeworfen und was nicht noch alles.“

Ihr Vater zuckte mit den Schultern. „Warst halt unsere Einzige. Und die meisten dachten, du studierst dort nicht nur, sondern heiratest anschließend diesen amerikanischen Schnösel und lässt deine alten Eltern …“ Bei den letzten Worten war seine Stimme leiser geworden und erstarb schließlich ganz.

Luisa biss sich auf die Lippen. Sie wusste, woran ihr Vater gerade dachte: An den Unfall vor vier Jahren, als ein betrunkener Autofahrer seine Frau Gitta, Luisas Mutter, überfahren hatte. Wenige Tage vor Weihnachten war das gewesen, ihre Mutter hatte in der entfernten Kreisstadt schnell noch etwas besorgen wollen und wegen des vielen Schnees vorsichtshalber den Bus nehmen wollen. Aber alle Vorsicht hatte ihr nichts genutzt, denn der Betrunkene hatte sie mit seinem Auto direkt vor der Bushaltestelle erwischt.

Der Unfall war ebenso tragisch wie sinnlos gewesen. Und natürlich hatte ihr Vater recht: Luisa war auch deshalb sofort zurückgekommen, um ihm in den schweren Wochen nach dem Begräbnis beizustehen, als die Trauergäste wieder fort waren und die Ruhe sich ins Haus zurückgeschlichen hatte wie ein ungebetener Gast, der von nun unbarmherzig anzeigen würde, wer hier fehlte.

Luisa atmete tief durch. Inzwischen hatte sie im einhundertachtzig Kilometer entfernten Sonneberg einen gut bezahlten, anspruchsvollen und zudem wichtigen Job, nämlich den der Geschäftsführerin bei einem großen Spielzeughersteller. Dessen Unternehmen hatte sie in kürzester Zeit aus den roten Zahlen herausgeholt, in die er vor ein paar Jahren aufgrund einer wirtschaftlichen Fehlkalkulation gerutscht war.

Ihr Vater räusperte sich.

„Sag mal“, begann er, als wache er aus einem Traum auf, „bist du damals eigentlich ausschließlich meinetwegen hiergeblieben? Du weißt schon, damals nach Gittas Unfall.“

Luisa hob den Kopf. Noch nie in den letzten vier Jahren hatten sie über dieses Thema geredet.

„Wieso?“, fragte sie vorsichtig.

„Weil ich manchmal das Gefühl habe, dass du für deine Arbeit in Sonneberg überqualifiziert bist und eigentlich lieber in Amerika geblieben wärst.“

Erstaunt sah Luisa ihn an. „Wieso überqualifiziert? Meinst du, eine Firma aus den roten Zahlen zu führen, macht man so eben nebenbei? Das ist hier wie dort ein harter Job.“

Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Das meinte ich nicht. Aber erst seit der Sache mit Röderers Fabrik habe ich begriffen, was du wirklich kannst. Und ich glaube, dein Talent ist in Sonneberg verschwendet. Bestimmt wärst du in einem amerikanischen Konzern inzwischen ziemlich weit oben angekommen.“

Joseph Röderer war ein alter Tuchfabrikant, dessen Familie seit Generationen im Besitz einer alten Fabrik war, die eine Fertigungsstraße für Textilien beherbergte. Kürzlich aber hatte er das Firmengelände aus Altersgründen zum Verkauf gestellt, denn er hatte keinen Erben. Die Maschinen waren inzwischen zwar ebenfalls alt, aber die gesamte Fabrikanlage befand sich in nur dreißig Kilometern Entfernung vom Dorf und war deshalb mit ihren Fertigungshallen, den Speichern und Büros von allergrößter Wichtigkeit für die „Neue Zunft“ – einem Zusammenschluss von Weihnachtsschmuckherstellern aus der Umgebung, die sich dem Druck der Globalisierung durch die Gründung einer eigenen Genossenschaft entgegenstellen wollten.

„Glaubst du denn, dass der alte Röderer an uns verkaufen wird?“, fragte Luisas Vater.

Luisa zuckte mit den Schultern. „Ich denke, ja. An meinem Businessplan ist jedenfalls nicht zu kratzen, der ist nach allen Seiten abgesichert und könnte sogar auf internationalem Parkett bestehen. Es spricht eigentlich nichts dagegen, dass wir den Zuschlag bekommen.“

Ihr Vater legte seine Hand auf ihre. „Ich bin jedenfalls sehr stolz auf dich, Luisa. Du wirst es allen zeigen. Wir lassen uns doch unsere alten Traditionen nicht durch irgendwelche Billiganbieter kaputt machen, was?“

„Nein, das tun wir nicht“, bekräftigte Luisa und streckte gleichzeitig ihre andere Hand nach Barbarossa aus, der unter der Bank leise vor sich hin schnarchte.

Verflixt. Die Schatten wurden länger und länger, und das wenige Licht zwischen den Bäumen schimmerte inzwischen beängstigend diffus.

Er hätte wenigstens auf dieser schmalen Straße bleiben sollen, auf die er vorhin mit seinem Ford Mustang eingebogen war. Stattdessen stapfte er mittlerweile zwischen dichten Tannen durch eine scheinbar unberührte Schneelandschaft, die sich anfühlte, als sei hier noch nie ein Mensch entlanggekommen. Was nicht stimmen konnte, denn irgendein Mensch musste den schmalen Pfad, auf dem er sich befand, mal angelegt haben.

Wege entstehen dadurch, dass man sie geht. War das nicht einer dieser unseligen Kalendersprüche, die gerade in der Weihnachtszeit wieder überall zu lesen waren? Was hatte ihn nur bewogen, von der Straße abzubiegen, auf der sein Auto nun irgendwo in dieser gottverlassenen Einöde stand? Normalerweise folgte man immer den breiteren Wegen, wenn man sich verirrt hatte, weil das die Chancen erhöhte, irgendwann tatsächlich in besiedeltem Gebiet anzukommen. Stattdessen war er diesem schmalen Pfad gefolgt, der bei genauerem Nachdenken wohl doch eher ein Wildwechsel war.

Es war eisig kalt, und in vermutlich weniger als einer halben Stunde würde es stockdunkel sein. Wie hatte er nur so dumm sein können, zwischen den düsteren Tannen eine Abkürzung zu vermuten. Eine Abkürzung wohin überhaupt?

Die Antwort war so seltsam wie lächerlich: Er hatte vorhin das Gefühl gehabt, ein Licht durch die Bäume schimmern zu sehen. Und Lichter ließen auf die Anwesenheit von Menschen schließen. Also war er dem Licht gefolgt, war von der schmalen Straße abgebogen und quer durch die Bäume in den Wald gestapft, immer dem Lichtschein nach. Aber es war wie verhext: Je tiefer er in den Wald hineinkam, umso weiter schien sich das Licht von ihm zu entfernen. Inzwischen war es kaum noch zu sehen.

Geschichten von Irrlichtern fielen ihm ein, von bösen Waldgeistern, die einsame Wanderer ins Moor lockten, wo sie jämmerlich ertranken. Aber das waren erstens nur Geschichten, denn Irrlichter wurden eigentlich von Methangasen erzeugt, die aus dem Sumpfwasser aufstiegen und sich manchmal selbst entzündeten. Und zweitens gab es hier weit und breit kein Moor; schon gar keins, was bei diesen Temperaturen noch nicht zugefroren gewesen wäre.

Woher also war dieses Licht gekommen? Und noch viel wichtiger: Wo war es jetzt?

Irritiert blieb Ruben stehen und schaute sich um: Inzwischen war die Dämmerung weit fortgeschritten. Seine Füße in den dünnen Boots fühlten sich eisig an, und die Kälte war unbarmherzig seine Oberschenkel hinaufgekrochen, bis unter seine Designerjacke, die diesen Temperaturen ganz offensichtlich nicht gewachsen war. Das Allerdümmste aber war: Er hatte seine Handschuhe im Wagen liegenlassen. Jetzt froren ihm die Finger fast ab beim Versuch, das Handy aus der Tasche zu ziehen und zu schauen, ob es hier, entgegen jeder Logik, nicht doch irgendwie Empfang gab.

Das tat es nicht. Ruben fühlte, wie ihm die Angst ins Herz kroch. Eine Übernachtung hier im Wald, unter diesen Bedingungen, würde den sicheren Tod bedeuten.

Es war genau der Moment, in dem das Licht erneut zwischen den Bäumen aufblinkte. Und diesmal schien es noch viel näher zu sein. Erleichtert folgte er dem schwachen Schein, der sich nach kurzer Zeit auf wundersame Weise zu verdoppeln, dann sogar zu verdreifachen schien. Mit einem freudigen Herzschlag begriff Ruben, was er vor sich sah: Ein Dorf, mitten im Wald, mit Häusern, aus dessen Schornsteinen heimelige Rauchschwaden aufstiegen und in dessen erleuchteten Fenstern zusätzlich Kerzen brannten, die durch ihr Flackern zusätzlich auf sich aufmerksam machten.

Noch nie zuvor, so schien es ihm in diesem Augenblick, hatte er eine solche Dankbarkeit gefühlt. Mit klammen Händen und fast gefühllosen Zehen stolperte er durch den Schnee auf das Dorf zu, erreichte das erste Haus, klopfte an die schwere Eichenholztür und wartete ungeduldig, bis ihm geöffnet wurde.

2. KAPITEL

Eine Erscheinung, wie er sie noch nie gesehen hatte, stand vor ihm.

„Ja?“, fragte die Erscheinung und verwandelte sich unversehens zurück in eine junge Frau Mitte bis Ende zwanzig, die in ein seltsames Kleidungsstück gehüllt war und mit einer Hand eine Laterne in die Höhe hielt.

Was, zum Teufel, hatte sie da an? Eine Felljacke? Welches Tier hatte denn so ein zotteliges schmutzig-weißes Fell? Und hatte man daraus tatsächlich nichts Modischeres herstellen können als diese Jacke, die vermutlich jeden ihrer Träger in einen Yeti verwandelte? Verwirrt glitt Rubens Blick zurück nach oben, zum Gesicht der jungen Frau, die ihn mit leuchtendblauen Augen und mit einem solchen Ausdruck von Offenheit und Wärme anstrahlte, dass er beinahe seine Coolness verloren hätte.

Beinahe! So schnell ging es dann doch nicht.

„Hallo“, sagte er.

„Hallo“, antwortete die junge Frau.

„Ich habe mich im Wald verirrt“, versuchte er zu erklären. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie seltsam er wirken musste in seinen modischen, aber viel zu dünnen Boots und der Designerjacke – beides Kleidungsstücke, die ihrem ursprünglichen Zweck nicht annähernd gerecht wurden. Er fror zum Steinerweichen. Seine Lippen waren vermutlich vor Kälte schon blau.

Er räusperte sich. „Genau genommen bin ich auf einer Dienstreise. Aber dann bin ich irgendwo hier in der Nähe mit meinem Wagen liegen geblieben und … Dürfte ich vielleicht mal kurz telefonieren? Falls Sie hier Empfang haben“, fügte er hinzu und sah sich stirnrunzelnd um. „Scheint ja fast so, als würden sich Fuchs und Hase in dieser Gegend noch analog Gute Nacht sagen.“

Die Frau musterte ihn mit einem Blick, in dem er Belustigung zu sehen meinte, dann nickte sie und trat beiseite. „Bitte. Kommen Sie rein.“

Erleichtert schlüpfte Ruben in den Flur und spürte, wie ihn sofort eine anheimelnde Wärme umfing. Er stellte seine Tasche in der Diele ab und ließ sich gleich weiter in den nächsten Raum führen.

Es schien eine Art Wohnzimmer zu sein. Im selben Augenblick hatte Ruben das Gefühl, bei den Hobbits gelandet zu sein. Der Raum hatte eine niedrige Deckenhöhe und war fast vollständig holzgetäfelt. An einer Seite stand ein riesiger Kamin, um den sich eine klobige Bank wand, auf der ein Waldschrat saß: Ein Mann im karierten Hemd und mit einem Rauschebart, wie ihn Ruben zum letzten Mal im Film gesehen hatte. Der Mann schaute ihn aus einem zerfurchten Gesicht mit einem Blick an, aus dem Ruhe, Ernsthaftigkeit und die Erfahrung eines langen Lebens sprachen, sagte aber nichts.

„Bitte setzen Sie sich doch“, bot die junge Frau an und deutete auf die Ofenbank. „Möchten Sie auch ein Glas Glühwein? Sie sehen aus, als könnten Sie ein bisschen innere Wärme gut gebrauchen. Oder soll ich schnell einen Tee machen?“

„Glühwein ist okay“, erwiderte Ruben und nahm erst jetzt den Duft wahr, der in der Luft lag – ein Aroma aus Zimt, Orange, Weihrauch und duftendem Kiefernholz.

Weihnachten stand bevor, klar, es war bereits der Freitag vor dem dritten Advent, und die Leute machten natürlich auf Heimeligkeit.

„Hi“, sagte er zu dem Mann auf der Ofenbank und setzte sich so weit wie möglich von ihm entfernt. Der Mann wies eine gewisse Ähnlichkeit mit der jungen Frau auf, nur dass ihre Haut rosig wirkte und frisch durchblutet statt wettergegerbt, ihre nachlässig hochgesteckten Haare seidig blond schimmerten, statt struppig um ihren Kopf zu stehen, und ihre Haltung gerade und stolz war, während der Mann zusammengesunken auf der Bank saß.

Fehlt eigentlich nur noch ein Filzhut, dachte Ruben. Und dass er eine Pfeife in den Händen hält. Meine Güte, in welche Welt war er hier geraten?

„Bitte schön“, sagte die junge Frau und reichte ihm lächelnd ein Glas mit Glühwein, wobei ihre warme Hand seine klammen Finger kurz berührte. Ihr Blick war offen, ihre Lippen voll und sinnlich, das Haar weich und seidig … aber ihre Füße steckten in unsäglichen Schlappen aus grauem Filz, und ihre Hose sah aus, als wäre sie damit gerade einem Heuschober entstiegen. Und erst diese Jacke! Der Waldschrat trug ein ähnliches Teil, ärmellos, mit langen Schößen und tiefen Taschen, dazu eine Kordhose sowie ähnliche Filzschlappen in undefinierbarem Mausgrau.

„Dienstreise also“, brummte der alte Mann, während er einen Schluck aus seinem Glas nahm.

„Ja“, erwiderte Ruben und setzte sich gerade hin, obwohl er dadurch im Rücken den angenehmen Kontakt zum Kamin verlor. „Ich bin hier für meine Firma unterwegs. Yuletide Decorations, ein junges amerikanisches Unternehmen. Kennen Sie vielleicht.“

Der alte Mann hob belustigt eine Braue. „Müssten wir?“

„Wir exportieren Weihnachtsartikel in die ganze Welt“, erklärte Ruben, „und haben uns dabei die Modernisierung alter und überkommener Traditionen auf die Fahne geschrieben. Unsere Artikel gehören in die neue Zeit, eine Zeit, die sich durch Weltläufigkeit, globales Denken und Modernität auszeichnet.“

„So so“, brummte der alte Mann. „Das haben Sie aber schön auswendig gelernt. Und wie genau sieht das aus, Ihre Modernisierung alter Traditionen?“

„Warten Sie, ich zeige es Ihnen“, erwiderte Ruben und stand auf, um seine Tasche zu holen, die er im Flur abgestellt hatte. Als er vom Wohnzimmer in den Flur trat, musste er den Kopf einziehen, um sich nicht am Oberbalken der Türzarge zu stoßen, die genauso zusammengezimmert wirkte wie das ganze Haus.

Er schnappte seine Tasche und kam damit ins warme Wohnzimmer zurück.

„Hier“, sagte er und fischte den ersten Werbeartikel aus der Tasche. Es war ein Rentier aus Plastik, das er gegriffen hatte, sehr naturgetreu nachgebildet, dessen Schaufeln zusätzlich mit einem samtartigen Stoff überzogen waren. Ruben stellte es neben sich auf die Ofenbank und drückte einen Knopf am Bauch des Tieres.

Sofort begann das Rentier den Kopf in beide Richtungen zu drehen.

„Beim zweiten Knopfdruck bewegen sich auch die Beine“, erklärte Ruben stolz, „sodass es einen Schlitten ziehen kann. Und beim dritten …“, er drückte abermals zu, „… fängt es an, zu singen.“

War das sein Ernst?

Entsetzt starrte Luisa auf das Rentier, das sein Maul auf und zu klappte und dazu rhythmische Trabbewegungen machte, während ein sonores Jingle Bells die Stube erfüllte. Dann sah sie verstohlen zur Seite, zu ihrem Vater, wobei sie Mühe hatte, nicht laut herauszulachen, denn ihr Vater schaute genauso perplex auf das plärrende Ding, das sich auf der Ofenbank vorwärts mühte. Wegen des Schaffells kam es trotz seiner koordinierten Bewegungen nicht recht voran. Immerhin fiel es nicht um.

Auch Barbarossa unter der Bank hatte den Kopf gehoben und knurrte das seltsame Ding an.

„Was, bitte, ist das?“, fragte Luisa schließlich.

„Das sieht man doch“, erklärte der fremde Mann im Brustton der Überzeugung. „Ein multifunktionales Rentier, wie es zu einer modernen Weihnachtsdekoration gehört. Es gibt auch noch die beleuchtete Variante, aber die kann ich jetzt leider nicht vorführen, weil ich den dazugehörigen Schlitten nicht dabeihabe. In den ist ein leistungsfähigerer Akku eingebaut, der die Beleuchtung der Zugtiere übernimmt.“

„Aha“, sagte Luisa und verschränkte amüsiert die Hände vor der Brust. „Sie wissen aber schon, dass Sie sich hier in der Hochburg der traditionellen Weihnachtsbräuche befinden? Im Erzgebirge wird seit Jahrhunderten echter Weihnachtsschmuck gefertigt. Per Hand.“ Es war doch nicht zu fassen! Wollte ihnen der Typ tatsächlich mit diesem Plastikschrott die neue Zeit demonstrieren?

„Klar weiß ich das“, gab der junge Mann zurück, „deshalb bin ich ja hier. Mein Unternehmen will expandieren, und welche Gegenden würden sich dazu besser eignen als die, aus der die ursprünglichen Weihnachtstraditionen kommen.“ Dabei sah er ihr provozierend in die Augen, und Luisa konnte nicht umhin zu bemerken, dass er schöne Augen hatte. Sie wirkten dunkel und geheimnisvoll.

Das war es aber auch schon.

„Das immerhin ist Ihnen also klar“, brummte Luisas Vater von der Ofenbank.

„Ja“, bestätigte der Fremde und schaute jetzt ihrem Vater genauso provozierend in die Augen, wie er es zuvor bei Luisa getan hatte. „Trotzdem ist die Fabrikation hier ja schon ein bisschen hinterwäldlerisch, oder?“

Luisa klappte der Mund zu. Da stolperte der Typ in diesen Klamotten bei starkem Schneefall durch die Gegend, verirrte sich dabei und bewies allein schon dadurch, dass er vom Erzgebirge keine Ahnung hatte, und dann benahm er sich auch noch wie die Axt im Wald! Kein Handwerker aus der Gegend, der etwas auf sich hielt, würde so ein industriell gefertigtes Plastikrentier über seine Schwelle lassen.

Überhaupt: Rentiere! Sie waren hier doch nicht in Lappland! Im Erzgebirge stapfte der Weihnachtsmann noch zu Fuß durch den Tann und klopfte persönlich an. Rentiere, und dass der Weihnachtsmann die Geschenke während seiner rasenden Fahrt über den Himmel einfach durch den Kamin warf, das hatte sich doch vor Jahrzehnten nur ein kommerzorientiertes Unternehmen ausgedacht …

„Ach, ist sie das, unsere Fabrikation? Hinterwäldlerisch?“, fragte sie kämpferisch zurück.

„Natürlich. Alles handgeschnitzt. Das geht doch in der Herstellung inzwischen viel billiger, vor allem bei großen Stückzahlen. Überlegen Sie mal: Wir wollen die hiesigen Weihnachtstraditionen – die ja nicht schlecht sind, das gebe ich zu – durch unsere Firma der ganzen Welt nahebringen. Und wenn nun zum Beispiel die Menschen in China und Indien auch Nussknacker wollen …“

„Wieso sollten sie das?“, ging Luisa erneut dazwischen. „Diese Länder haben ihre eigenen Feste und Traditionen. Und falls wirklich jemand einen echten Nussknacker haben will, gut, dann soll er ihn auch bezahlen. Handarbeit kostet nun mal.“ Wütend funkelte sie den Typen an. „Außerdem ist es ja nicht so, dass wir nicht schon in andere Länder exportieren würden. In die USA zum Beispiel, denn wie es aussieht, leben auch dort Leute, die das Echte vom Falschen zu unterscheiden wissen.“

„Das Echte vom Falschen unterscheiden? Klingt als Vermarktungsstrategie gar nicht mal so schlecht. Trotzdem, mit moderner Fertigung könnte man viel mehr rausholen. Denken Sie nur mal dran, wie beliebt zum Beispiel Kuckucksuhren inzwischen auf der ganzen Welt sind. Wenn man die alle noch per Hand herstellen wollte …“

„Kuckucksuhren kommen aus dem Schwarzwald“, warf Luisa ihm ungehalten entgegen. „Die haben erstens nichts mit unseren Traditionen zu tun und zweitens auch nichts mit Weihnachten.“

„Das weiß ich“, erwiderte der Mann verstimmt. „Trotzdem war es ursprünglich ein altes Handwerk.“

„Ja eben. Aber inzwischen gibt es in jedem Touristenshop von Melbourne bis Marrakesch Kuckucksuhren aus chinesischer Produktion. Wollen Sie unsere Produkte wirklich damit vergleichen?“

Heiliges Kanonenrohr! Da hatte er offensichtlich in ein Wespennest gestochen!

Mit in die Hüfte gestemmten Händen stand die junge Frau vor ihm und funkelte ihn an. Ein paar Strähnen ihres goldblonden Haars waren ihr auf die Schultern gefallen und bildeten dort einen merkwürdigen Gegensatz zu dem grau-weißen Fell der unförmigen Jacke, die sie immer noch trug. Ihre Augen, deren wundersames Blau er gern „unschuldig“ genannt hätte, hatten einen kämpferischen Ausdruck angenommen. Sie sah fast aus wie eine Rachegöttin.

Aber irgendwie hatte das auch was. Außerdem war sie ziemlich hübsch. Und offensichtlich nicht auf den Mund gefallen.

Er sollte wohl besser eine andere Strategie anwenden. Immerhin war er hier zu Gast. Ruben räusperte sich und setzte ein Lächeln auf, von dem er überzeugt war, dass es freundlich und zuvorkommend wirkte, denn es war sein antrainiertes Verkäuferlächeln.

„Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen.“

„Gute Idee“, brummte der alte Mann von der Ofenbank her.

„Also: Ich heiße Ruben Veltmann. Und bin aus Berlin.“

Die junge Frau schob die Unterlippe vor. „Luisa Leitner. Aus Weißenberga.“

„Angenehm.“

Die junge Frau sah ihn belustigt an. „Tatsächlich?“

Das Blau ihrer Augen war unglaublich. Es sah aus, aus leuchte sie von innen. Ruben schaute sie einen Augenblick länger an, als es geboten war, und nickte dann. „Ja, tatsächlich.“

„Gregor Leitner“, kam es von der Ofenbank. „Luisas Vater.“

„Angenehm“, wiederholte Ruben und hob sein Glas in die Richtung des Mannes. Es war sicherlich gut, wenn er erst mal für bessere Stimmung sorgte, und ein simples Kompliment konnte dabei nicht schaden.

„Übrigens, ich habe selten so einen guten Glühwein getrunken.“ Er nahm einen nächsten Schluck und fühlte, wie ihm der samtige Rotwein tatsächlich angenehm die Kehle hinunterrann, in seinem Mund einen runden Geschmack von Zimt, Orange und Nelken hinterließ und in seinem Magen eine wohlige Wärme verbreitete.

„Das glaube ich gern“, erwiderte die junge Frau und sah ihn triumphierend an. „Das ist nämlich kein Wein aus einer zusammengepanschten Literflasche von irgendeinem Discounter. Dieser hier ist selbst gemacht, und die Zutaten sind genau abgewogen.“

„Ja, so schmeckt er auch“, gab Ruben mit seinem Verkäuferlächeln zurück. „Verraten Sie mir das Rezept?“

Jetzt stahl sich ein amüsierter Ausdruck in ihre Augen. „Damit Sie unseren Glühwein in Ihre Produktpalette aufnehmen und ihn als Billiggetränk in der ganzen Welt vermarkten? Ganz sicher nicht.“ Sie legte den Kopf leicht schräg. „Wie hieß Ihre Firma noch mal?“

Yultide Decorations.

„Und die vertreibt tatsächlich solche Sachen?“, fragte sie und deutete auf das Rentier, das inzwischen umgefallen war und nun im Liegen weiterstrampelte. Wenigstens sang es nicht mehr.

„Ja“, sagte Ruben und zuckte mit den Schultern. „Das und andere Weihnachtsartikel. Alles, was die Herzen der Menschen erfreut.“

Jetzt prusteten Tochter und Vater gemeinsam los, und der alte Mann schlug sich sogar mit der Hand auf den Schenkel. „Haben Sie gerade gesagt: Was die Herzen der Menschen erfreut?“, rief er, während er auf das Rentier schaute und sich Lachtränen aus den Augen wischte.

„Warum nicht?“, gab Ruben verärgert zurück. „Alles, was mit Weihnachten zu tun hat, erfreut normalerweise die Herzen der Menschen. Rentiere, Tannenbäume, Geschenke …“

Sein eigenes Herz ließen diese Sachen allerdings kalt. Überhaupt hätte ihm der ganze Weihnachtsrummel, der rund um die Welt jedes Jahr von Neuem veranstaltet wurde, gestohlen bleiben können. Aber das war eine andere Geschichte und ging die beiden nichts an.

„Kommen Sie“, sagte der alte Mann, während er sich ächzend von der Ofenbank erhob. „Ich zeige Ihnen jetzt mal was. Drüben in der Werkstatt. Kommst du mit, Luisa?“

Wie, der Alte wollte mit ihm wieder hinaus in die Kälte? Ruben musste so entgeistert dreingeblickt haben, dass die junge Frau, nach einem zustimmenden Nicken, hell auflachte.

„Hier, ziehen Sie die an, dann bleibt Ihnen warm“, sagte sie und hielt etwas Sackartiges in die Höhe. Ruben wand sich fast vor Peinlichkeit: Es war genauso eine Jacke, wie sie sie selbst trug, zottelig und schwer, mit langen Schößen und einer Tasche an je einer Seite. Er würde darin ebenfalls wie ein Yeti aussehen. Allerdings war das wahrscheinlich besser, als gleich wieder jämmerlich zu frieren. Und von seinen Berliner Freunden oder seinen amerikanischen Kollegen sah ihn hier ja keiner.

„Von was für einem Tier ist die eigentlich?“, murmelte er, während er das Teil entgegennahm und sich überstreifte. Das Fell fühlte sich tatsächlich warm an und auch viel weicher, als es auf den ersten Blick gewirkt hatte. „Von einem Eisbären?“

Erneut prusteten Vater und Tochter los.

„Klar, Eisbären gibt es hier zuhauf“, japste der Alte. „Die wohnen alle gleich um die Ecke und sagen uns jeden Abend Gute Nacht.“ Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Haben Sie schon mal einen Eisbären mit dermaßen weichem Fell gesehen? Das ist ein Schaffell.“

Ruben fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Gut, dass wirklich niemand aus der Firma oder von seinen Freunden mitbekam, wie er sich hier bei diesen Hinterwäldlern schon das zweite Mal bis auf die Knochen blamierte.

In der Werkstatt duftete es nach Holz und Harz. Ruben sog die Luft tief ein und fühlte sich unmittelbar in eine andere Welt versetzt – in eine andere Werkstatt, wo sein Vater das Holz für die Uhrenkästen zugeschnitten, gewachst und poliert hatte. Für einen Moment glaubte er sogar, seinen Vater zu sehen, wie er die duftenden Holzscheiben sorgsam zum Trocknen schichtete, um sie später zu bemalen und zu lackieren.

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er sich wieder bewusst wurde, wo er sich befand. Dann bemerkte er die Werkbank, hinter die der alte Mann getreten war und ihm nun bedeutete, ebenfalls näherzukommen.

Luisa reichte dem Vater, der sich in der Zwischenzeit eine Lederschürze umgelegt hatte, eine Baumscheibe hinüber. Der alte Mann nahm sie, hobelte mit einem scharfen Messer überraschend schnell die Rinde ab und fräste anschließend ein großes Loch in die Mitte, sodass nur noch ein schmaler Ring übrig blieb. Diesen spannte er ein und warf die Drechselmaschine an. Ein tiefes Brummen erfüllte den Raum.

Mit hochgezogenen Schultern stand Ruben da und sah zu. Nie hätte er zugegeben, welche Erinnerungen in diesem Moment in ihm aufstiegen. All dies gehörte in eine andere Welt, eine Welt, die für ihn nicht mehr existierte, weil er sie erfolgreich verdrängt hatte. Klar, noch immer hätte er die Holzsorten benennen können, die hier verwendet wurden – Esche, Fichte, Kiefer, Buche und sogar Eiche. Aber von Bedeutung war das nicht mehr.

Luisas Vater hatte den Ring inzwischen fertig bearbeitet. Er spannte ihn wieder aus und reichte ihn Ruben hinüber, damit der ihn sich genauer anschauen konnte. Der Ring war jetzt noch etwa sieben Zentimeter dick, seine Oberfläche war glatt, aber nicht mehr gleichmäßig, denn Längsrillen von unterschiedlicher Tiefe liefen innen und außen um ihn herum.

Unwillig drehte Ruben den Ring in seinen Händen. Ja und?

Luisas Vater nahm ein scharfes Stecheisen und einen Hammer und führte einen schnellen Hieb auf den Ring aus. Er setzte das Eisen einen Zentimeter neben dem entstandenen Riss an, hieb erneut zu, und ein schmales Holzplättchen fiel aus dem Ring. Luisa nahm es und reichte es Ruben.

Der schaute überrascht auf das Teil in seiner Hand. Ein Fuchs? Wie hatte der Alte wissen können, dass der Ring mit diesen unregelmäßigen Furchen im Querschnitt einen Fuchs ergeben würde? Während er sich noch darüber wunderte, hatte der Alte schon zehn weitere Füchse vom Ring abgeschlagen und schob sie zu ihnen hinüber. Dann hob er den Kopf und sah Ruben an. Na, schnell genug, unsere Fertigung? schienen seine hellen Augen zu fragen.

„Und?“, fragte auch Luisa.

„Ich gebe zu, nicht schlecht.“

„Nicht schlecht“, brummte der Alte und schob ihm den Ring zu. „Na, dann versuchen Sie es doch mal selbst.“

Ruben nahm den Ring, setzte den Stechbeitel an, schlug zu … und der Holzring zersplitterte in einen einzigen großen Riss.

Missmutig legte Ruben Stechbeitel und Hammer wieder beiseite. „Sage ich doch. Einer Maschine wäre das nicht passiert.“

„Mir auch nicht“, gab der Alte zurück. „Das hat was mit Erfahrung zu tun. Und mit Liebe natürlich. Man muss die Natur von Holz verstehen.“ Er drehte sich um, nahm einen fertigen Ring aus dem Regal hinter ihm und strich liebevoll mit seiner rauen Hand darüber, ehe er ihn an Ruben weiterreichte.

„Welches Tier, meinen Sie, ist das?“

„Keine Ahnung“, erklärte Ruben unwillig und gab den Ring an Luisa weiter.

„Ein Reh“, sagte diese sofort. „Und das hier“, fuhr sie fort und zog ein paar weitere vorgefertigte Ringe aus dem Regal, die sie vor ihm auf der Werkbank aufschichtete, „sind Hirsche, das hier Hasen, noch mal Rehe, das hier Wildschweine und das … einen Moment … Wölfe.“

Das war schon irgendwie beeindruckend. Trotzdem.

„Kann ja gut sein, dass Sie das ohne Liebe nicht hinkriegen“, entgegnete Ruben stur. „Aber richtig große Stückzahlen schaffen Sie auch mit Liebe nicht. Das können nur Maschinen. Und genau das hat meine Firma vor. Die alten Traditionen in der Herstellung auf so ein Niveau zu heben, dass die Ergebnisse für alle Welt und jederzeit verfügbar sind.“

„Okay. Wenn Sie meinen.“ Luisas Vater legte den Stechbeitel zurück auf die Werkbank. „Dann bauen Sie Ihre Maschinen doch, und lassen Sie sie ein derartig feines Holzspielzeug im Akkord produzieren. Ich garantiere Ihnen, Ihr Spielzeug wird keine Seele haben.“

Seele? War er hier im falschen Film? Wovon redete der alte Mann? Spöttisch verzog Ruben den Mund und spürte im gleichen Augenblick, wie ihn Luisa forschend von der Seite ansah.

„Sagen Sie“, begann sie, „Sie haben doch vorhin gesagt, dass Sie dienstlich unterwegs sind. Was will Yuletide Decorations eigentlich hier im Erzgebirge? Über unsere Produkte und Bräuche können Sie sich schließlich auch im Internet informieren. Dafür braucht niemand extra hier vorbeizukommen.“

„Das stimmt. Aber wir planen eine Fertigungsstraße direkt vor Ort. Damit können wir unseren Produkten nämlich das Echtheitssiegel verpassen: Made in Thuringia. Sie verstehen?“

„Vor Ort? Na, hier gibt es aber nicht viel industrielle Infrastruktur. Wo genau soll Ihre Fertigungsstraße denn entstehen?“

Ruben hauchte sich in die klammen Hände. „Irgendwo hier in dieser Einöde steht eine alte Tuchfabrik. Die werden wir, falls sie sich für unsere Zwecke eignet, kaufen.“

3. KAPITEL

Er bemerkte, wie Luisa und ihr Vater sich verstohlen anschauten. Beide wirkten mit einem Mal eigentümlich blass um die Nase, auf Gregor Leitners Stirn stand sogar eine scharfe Falte.

Hatte er etwas Falsches gesagt?

„Und falls“, fragte Luisa mit kratziger Stimme, „der Eigentümer das Fabrikgelände nicht an Sie verkauft? Sondern im Gegenzug einen dezidierten Businessplan verlangt, der auch die Entwicklung der Region im Auge behält?“

Ruben lachte. „Dann werden wir ihm den bieten. Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Im Notfall legen wir einfach ein paar Dollar obendrauf, das hat bisher noch jeden überzeugt.“

Als sie zusammen ins Haus zurückgingen, gaben sich Vater und Tochter wortkarg. Sie sahen einander an, als würden sie mit den Augen kommunizieren und sich dabei etwas ganz anderes mitteilen als das, was sie ihm sagten. Und als hätten sie größtes Interesse daran, dass er auf keinen Fall mitbekam, was sie sich da wirklich übermittelten.

Sehr seltsam. Ruben runzelte die Stirn. Unvermittelt fühlte er sich ausgeschlossen, und das war ziemlich unangenehm. Genauso hatte er sich früher immer gefühlt, wenn seine Eltern mit seinem Bruder gesprochen hatten.

Hatte er den beiden eben in der Werkstatt zu deutlich gezeigt, wie albern er dieses ganze Traditionsgeschwafel fand? Wie sehr es ihm auf den Geist ging, dieses Gerede von Liebe und Seele? Dabei war ihm doch völlig egal, wie das ganze Zeug produziert wurde, das sich die Leute in der Weihnachtszeit massenhaft in ihre Häuser stellten und hingen, um eine paar Tage lang heile Familie zu spielen: Kränze, Engel, Tannenbäume, Glaskugeln, Räuchermänner, Nussknacker, Strohsterne, Lametta nicht zu vergessen. Und natürlich Kerzen in allen Formen und Farben.

Und das alles für eine sogenannte friedliche Weihnacht im Kreise der Familie. Dass er nicht lachte! Es war ein ausgemachter Unsinn, den man da seit Jahrhunderten tradierte und der jedes Jahr weiter aufgebauscht wurde, mit all diesen Figürchen, wie er sie gerade wieder in der Werkstatt gesehen hatte; nicht nur Tiere, sondern auch Weihnachtsmänner, Hirten mit Pfeifen im Mund, Bischöfe, Sängerknaben. Sowie weiteres Zubehör: Häuser, Kirchen, Tannenbäume, Krippen, Dorfläden. Und natürlich Heuhaufen für die Rehlein im Walde.

Schon vom bloßen Hinschauen konnte einem schlecht werden von dieser ganzen Gefühlsduselei.

„Wollen Sie mit uns essen?“, drang Luisas Stimme an sein Ohr.

Ruben schaute auf. „Ähm … eigentlich wollte ich nur …“ Überrascht bemerkte er, dass er seit seiner Ankunft gar nicht mehr ans Telefonieren gedacht hatte. „Sagen Sie, gibt es hier im Ort vielleicht ein Hotel? Oder eine Pension?“ Die Art, wie sich die beiden ansahen, ließ ihn vermuten, dass seine Frage unsinnig gewesen war.

„Sie können gern bei uns übernachten“, schlug der Alte nach einigen Sekunden vor. „Wir haben oben eine kleine Kammer, die kann Luisa Ihnen herrichten. Morgen schauen wir dann, was mit Ihrem Auto ist.“

Ruben kniff die Lippen zusammen. Aber wahrscheinlich war dieser Vorschlag das Beste, was im Moment zu haben war. Um diese Zeit kam er hier aus eigener Kraft nicht mehr weg, zumal sein Auto mit großer Wahrscheinlichkeit kaputt war. Außerdem sah die Welt morgen bestimmt um einiges freundlicher aus.

Obwohl: So unfreundlich schien sie ihm bei Lichte betrachtet gar nicht. Wenn er es recht bedachte, gab es durchaus Schlimmeres, als mit einer ziemlich attraktiven jungen Frau in einer gut geheizten Stube zu sitzen, Glühwein zu trinken und später bestimmt noch ein warmes Essen serviert zu bekommen. Den grummeligen Waldschrat musste er dabei halt in Kauf nehmen. Die Welt war nirgends perfekt.

Luisa war dabei, das Abendessen zuzubereiten, wie sie es jeden Abend tat, seit sie bei ihrem Vater war. Er hatte sich in der letzten Woche einen Hexenschuss geholt und saß nun fast den ganzen Tag auf der Ofenbank, wo er den Rücken gegen die warme Kaminwand lehnen konnte. Daher hatte Luisa ihren Weihnachtsurlaub vorverlegt, denn eigentlich waren es noch neun Tage bis Heiligabend, der dieses Jahr auf einen Sonntag fiel.

Luisa war es recht. Es war angenehm, endlich mal wieder in der elterlichen Küche zu stehen und für jemand anderen zu kochen als für sich selbst. Genauso, wie es schön gewesen war, die Schafe, Ziegen und Haflinger mal wieder zu versorgen. Dieses einfache Leben kam bei ihr in Sonneberg definitiv zu kurz, dort jonglierte sie als Geschäftsführerin den lieben langen Tag mit Zahlen, hielt Meetings ab und leitete Mitarbeiter an.

Dank ihres unermüdlichen Einsatzes war die Firma tatsächlich aus den roten Zahlen herausgekommen. Aber es war ein schwieriges und sehr anstrengendes Unterfangen gewesen. Luisa hatte sich in den letzten Jahren nur selten länger in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung in Sonneberg aufgehalten. Jeden Morgen hatte sie sie in aller Herrgottsfrühe verlassen und war erst spät am Abend wieder zurückgekehrt. Sie wusste gar nicht mehr, wie sich freie Tage anfühlten, und „Freizeitgestaltung“ war inzwischen ein Fremdwort für sie.

Natürlich hätte sie die Arbeit nicht so verbissen fortführen müssen, seit die Firma aus den roten Zahlen heraus war. Niemand verlangte von ihr, dass sie sich weiterhin aufopferte. Aber im Grunde war Luisa die unablässige Geschäftigkeit ganz recht, denn sie bewahrte sie davor, zu oft an die Zeit ihres Studiums in den USA zu denken. Und an alles, was dort passiert war.

Tatsächlich hatte sie es inzwischen fast vollständig geschafft, das Vorkommnis zu verdrängen – the incident, wie sie es nannte. Männer gab es hier natürlich auch, sogar ganz annehmbare, aber keine, die auch nur annähernd so beeindruckend, so attraktiv und so weltgewandt gewesen wären wie Ricky – Richard McHollister, Sohn eines amerikanischen Konzernchefs und ihr damaliger Ehemann in spe. Sie waren verlobt gewesen, und ineinander verliebt natürlich auch, zumindest, soweit es sie betraf. Bei Ricky würde sie dafür keine Hand mehr ins Feuer legen.

Und nun stand genauso ein Exemplar wie Ricky in der Küche ihres Elternhauses und sah ihr mit vor der Brust verschränkten Armen zu, wie sie das Abendessen zubereitete. Dieselbe weltmännische Attitüde, dasselbe selbstbewusste Auftreten, das gleiche Überzeugt sein von sich selbst. Ruben Veltmann, wie er sich vorhin vorgestellt hatte, war mindestens genauso attraktiv wie ihr Ex-Verlobter. Seine zum Glück nicht blonden, sondern pechschwarzen Haare standen ihm widerspenstig vom Kopf ab und bildeten sowohl am Hinterkopf als auch an der rechten Seite der Stirn einen vorwitzigen kleinen Wirbel. Und die dunklen Augen …

Wenn er nicht vorhin in der Werkstatt ziemlich deutlich gezeigt hätte, was er vom kunstvoll ausgeführten Handwerk ihres Vaters, von den mit Liebe gefertigten Holzfigürchen hielt, wäre er eventuell sogar ein Kandidat für einen zweiten interessierten Blick gewesen. Aber so …

Immerhin hatte Luisa vorhin zumindest eine leise Wehmut in seinem Gesicht bemerkt, eine hinter seinem coolen Verhalten und den lockeren Sprüchen versteckte Einsamkeit, eine sorgfältig verborgene Traurigkeit, als er die nach Holz duftende Werkstatt betreten hatte. Aber dort war er mit der Botschaft herausgerückt, dass er nur hierhergekommen war, um im Namen seiner Firma das alte Fabrikgelände zu kaufen; jenes Gelände, das die Neue Zunft dringend brauchte, um in Zukunft unter einem gemeinsamen Dach und einem gemeinsamen Namen Herstellung und Vertrieb ihrer Waren zu organisieren.

Luisa schob die Unterlippe vor. Es war ganz klar: Ruben Veltmann war kein Gast. Er war der Gegner. Und deshalb war es geboten, sich so gut wie möglich über ihn zu informieren, bevor er begriff, wen er hier vor sich hatte, nämlich die kompetente kaufmännische Beraterin der Neuen Zunft. Luisa musste schnellstens erfahren, wie weit die Pläne der Gegenseite schon gediehen waren. Vielleicht konnte man ihnen das Fabrikgelände ja noch irgendwie madig machen.

Eine Tür klappte. Ihr Vater war wohl noch einmal hinüber in den Stall gegangen. Er konnte es einfach nicht lassen, trotz des Hexenschusses selbst nach dem Rechten zu sehen.

„Aus Berlin kommen Sie also“, begann sie, während sie die Kürbissuppe mit Koriander, Kreuzkümmel, etwas Zitrone sowie Salz und Pfeffer abschmeckte. Ein einfaches Mahl, das sie für den heutigen Abend geplant hatte, als noch kein Besuch zu erwarten gewesen war.

„Ja“, sagte Ruben und nickte.

„Wie sind Sie denn ausgerechnet zu Yuletide Decorations gekommen? Hatte Ihre Firma eine Ausschreibung in Deutschland?“

„Das nicht.“ Ruben verschränkte die Arme und lehnte sich lässig gegen den Küchentisch. „Ich habe in Kalifornien studiert und bin dort auf die Anzeige gestoßen. Dass man mich allerdings dauerhaft in die deutsche Filiale nach Berlin schicken würde … nun ja, damit hatte ich eigentlich nicht gerechnet.“

Er hatte ebenfalls in den USA studiert? Überrascht sah Luisa ihn an. Es klang ganz so, als wäre er danach nicht gern nach Deutschland zurückgekehrt. Ganz ähnlich wie sie damals – sie würde ebenfalls, wenn damals alles nach Plan gegangen wäre, noch in den USA leben.

„Was genau haben Sie denn studiert?“

„Ach, das wird Ihnen nichts sagen. Business Administration.“

Luisa schüttelte innerlich den Kopf, während sie die dampfende Suppe in tiefe irdene Teller füllte. Ruben Veltmann ging anscheinend davon aus, dass er hier bei Leuten gestrandet war, die von der Welt keine Ahnung hatten. Wie kam er nur darauf? Weil sie hier im Gebirge lebten statt im weltgewandten Kalifornien? Komisch, dass Leute, die sich der Natur verbunden fühlten und mit ihr lebten, so oft als rückschrittlich wahrgenommen wurden; in Amerika waren es die Hillbillies, hier die Hinterwäldler.

Gerade wollte sie den Mund öffnen, um ihm eine gepfefferte Antwort zu geben, als ihr ein Gedanke kam: Es konnte nur von Vorteil sein, wenn er sie dermaßen unterschätzte.

Die Suppe dampfte satt orangefarben im Teller, der mit einer leuchtend türkisfarbenen Glasur überzogen war. Allein der Anblick war ein Augenschmaus, und als Ruben die Suppe probierte, wärmte sie tatsächlich wunderbar, ebenso wie der heiße Kräutertee, den Luisa dazu serviert hatte.

Nach dem Essen zeigte sie ihm, wo er übernachten konnte. Hinter ihr stieg er die alten Holzstufen zu der kleinen Kammer hinauf, die sie inzwischen hergerichtet hatte. Flinke Hände scheint sie ja zu haben, dachte er und schämte sich im selben Augenblick für den Gedanken, denn er klang wie aus einem Märchen, das ihm seine Mutter – stopp: seine Adoptivmutter – früher immer erzählt hatte: Allerleihrau. In diesem Märchen war das Mädchen auch immer in so einem Flickwerk aus verschiedenen Fellen herumgelaufen. Immerhin bekam der Prinz dort am Ende eine richtige Prinzessin, genau wie bei Aschenputtel, wohingegen er …

Nachdem seine Gastgeberin mit den schönen blauen Augen ihm kurz angebunden eine gute Nacht gewünscht und die Tür hinter sich zugezogen hatte, hatte er sich mit gerunzelter Stirn auf die Bettkante gesetzt. Die Matratze erschien ihm kalt und klamm. Vermutlich war der Raum längere Zeit nicht benutzt und vorhin erstmals wieder kräftig durchgelüftet worden. Obwohl ein kleiner Ofen in der Ecke bollerte – daran hatte Luisa also auch gedacht – brauchte das Zimmer wahrscheinlich etwas Zeit, um warm zu werden. Das Bettzeug immerhin schien für diese Temperaturen gemacht. Ruben schlug die Bettdecke zurück und musste lächeln. Unter den dicken Daunen lag zusätzlich eine Wärmflasche.

Er stand auf und trat ans Fenster, auf dessen Sims einer dieser Schwibbögen stand, die sie hier anscheinend mit echten Kerzen bestückten. Und das in einem Haus aus Holz! Ein Feuerzeug lag auf einem kleinen Tisch neben dem Bett. Ruben zögerte einen Moment und drehte sich dann zum Fenster zurück. Das fehlte noch, dass er die Kerzen anzündete. Er machte diesen Weihnachtszirkus schon seit Jahren nicht mehr mit und fing jetzt auch nicht wieder damit an. Morgen würde er erfahren, was mit seinem Ford Mustang war, und dann war dieses Gastspiel hoffentlich beendet.

Wenig hoffnungsvoll zog er sein Handy hervor, schaltete es an und schaute überrascht auf das Display. Hier gab es Empfang. Er hätte sich also schon vorhin, kurz nach seiner Ankunft, bei Jennifer und seinem Chef melden können. Irgendwie hatte er die Telefoniererei völlig vergessen. Kurz überlegte er, wen er zuerst anrufen sollte, und entschied sich für Jennifer. In Kalifornien war es jetzt ohnehin erst Mittag und sein Chef sicher zum Lunch außer Haus, während sich Jennifer in Berlin wahrscheinlich gerade für den Abend fertigmachte.

Nach dreimaligem Klingeln nahm sie ab.

„Hi, Ruben.“

„Hi, Jennifer. Alles okay bei dir?“

„Ja. Und bei dir? Wie ist es, kann ich heute noch mit dir rechnen?“

„Hör zu, Jennifer“, begann Ruben und zögerte kurz, „ich schaffe es heute nicht mehr zurück. Ich stecke hier in einem Dorf fest, irgendwo in the middle of nowhere. Der Mustang hat seinen Geist aufgegeben.“

Shit!

„Das kannst du laut sagen.“ Ruben schaute aus dem Fenster, wo der Schnee unermüdlich vor sich hin rieselte. Drei ältere, schon ziemlich überschneite Spuren führten unten zur Werkstatt und zurück, das waren die, die er, Luisa und ihr Vater hinterlassen hatten, als der Alte ihm vorhin die Werkstatt gezeigt hatte. Eine weitere, leicht verdeckte Spur führte vom Haus zum Tor, hinein ins Dorf und wieder zurück, und zwei noch ganz frische abermals hinaus ins Dorf.

Offensichtlich hatten Luisa und ihr Vater das Haus noch einmal verlassen. Das hieß, er war ganz allein hier, und zwar um – Ruben sah kurz auf das Handy – gerade mal zwanzig Uhr. Wo in Berlin das Nachtleben gerade erst begann, konnte er hier nichts machen, als sich ins Bett zu legen, denn auf einen Winterspaziergang in der Kälte verspürte er keine Lust mehr. Und sich allein in die Küche oder gar in ein fremdes Wohnzimmer zu setzen, kam ihm unpassend vor.

„Das heißt, du kommst erst morgen?“, klang Jennifers Stimme aus dem Handy.

Ruben runzelte die Stirn. Das wollte er doch hoffen. Wenn er allerdings an den Schnee dachte, der in der Nacht vermutlich noch fallen würde, und daran, dass der Mustang womöglich einen Motorschaden hatte, sollte er wohl besser eine längere Wartezeit einkalkulieren.

„Ich denke, in zwei, maximal drei Tagen bin ich wieder da.“

„Das klang jetzt aber nicht überzeugend“, kam es vom anderen Ende zurück. „Wo bist du überhaupt untergekommen?“ Ein kurzes Lachen flackerte durch die Leitung. „Ist die Wirtin hübsch?“

Das ist sie, dachte Ruben. Aber sie war es auf eine Art, die ihn irritierte, und das musste Jennifer nicht wissen.

„Keine Pension, keine Wirtin“, beeilte er sich zu erklären. „Ich habe hier einfach ans erstbeste Haus geklopft und um Hilfe gebeten. Und stell dir vor: Als ich in die gute Stube geführt wurde, saß dort ein Waldschrat auf der Ofenbank. Jennifer, ich glaube, ich bin hier im vorigen Jahrhundert gelandet.“

Daraufhin wollte sich Jennifer ausschütten vor Lachen, während Ruben überlegte, warum er ihr nichts von Luisa erzählte. Weil Jennifer aus jeder Mücke einen Elefanten machte, entschied er, selbst wenn es dafür keinen Grund gab. Luisa Leitner hatte in ihrer zauseligen Schaffelljacke und der alten Hose ohnehin nicht sonderlich attraktiv auf ihn gewirkt – wenn man von den blauen Augen absah, dem blonden seidenweichen Haar, das sich auf dem Schafspelz gekringelt hatte, und dem sinnlichen Mund, der immer dann zufällig in sein Blickfeld geraten war, wenn sie ärgerlich die Lippen schürzte.

Am Ende hatte er sie genau deshalb ständig zum Widerspruch herausgefordert?

Nein, er hatte nur gesagt, was er dachte. Aber das möglicherweise zu deutlich, denn als sie auf das alte Fabrikgelände zu sprechen gekommen waren, hatte er Beunruhigung in ihren Augen gesehen, sowie eine Warnung an ihren Vater, sich nicht mehr zu diesem Thema zu äußern. Er konnte sich schon vorstellen, dass es für traditionelle Hobbykunsthandwerker wie ihren Vater Absatzprobleme geben würde, wenn sich Yuletide Decorations demnächst hier breitmachte.

Aber Geschäft war nun mal Geschäft.

„Hör zu, Jennifer“, sagte er ins Telefon. „Ich bin ziemlich fertig. Ich bin vorhin stundenlang bei Eiseskälte durch den Wald gestapft.“ Na gut, stundenlang stimmte nicht ganz, aber es klang so schön dramatisch. „Ich lege mich jetzt ins Bett, damit ich morgen früh wieder fit bin. Drück mir die Daumen, dass mit dem Mustang alles in Ordnung geht.“

„Mach ich.“

„Also dann.“

„Mach’s gut. Bussi. Und süße Träume.“

Ruben rief ebenfalls „Bussi“ ins Telefon – ein Wort, dass er eigentlich albern und belanglos fand, und legte auf. Jennifer gefiel das „Bussi“. Alle ihre Berliner Freundinnen benutzten es, und so nutzte er es auch, genauso wie er sich im Laufe ihrer On-Off-Beziehung noch an andere Gepflogenheiten gewöhnt hatte. Zum Beispiel an die, jedes Jahr am vierundzwanzigsten Dezember eine Anti-Weihnachts-Party zu feiern. Jennifer und ihre Clique taten das schon seit einiger Zeit, um „ein Zeichen gegen den Konsumterror“ zu setzen, wie sie behaupteten. Es war ein Ritual, das ganz nach Rubens Geschmack gewesen wäre, wenn Jennifer nicht trotzdem jedes Jahr teure Geschenke von ihm erwartet hätte. Und sie konnte ihr Missfallen ziemlich deutlich kundtun, wenn er danebengriff.

Was würde sich wohl eine junge Frau wie Luisa Leitner zu Weihnachten wünschen? Was war ihr wichtig? Was schenkte oder womit überraschte man sich hier in dieser gottverlassenen Gegend? Im letzten Jahr hatte er Jennifer eine dreiwöchige Reise in die Karibik geschenkt und vor Ort selbstverständlich auch alle Kosten übernommen, trotzdem hatte er das Gefühl gehabt, dass es nicht genug war. Woher kam dieses Bedürfnis, es immer allen recht machen zu wollen? Und das gleichzeitige Gefühl, dabei ständig mit anderen Leuten in Konkurrenz zu stehen?

Konkurrenz, das war das Stichwort. Er musste endlich seinen Chef anrufen, um zu erfahren, wie weit die Dinge in der Firma gediehen waren.

„Wir müssen was tun.“

Das war Winfried Böttinger. Breitbeinig saß der alte Mann auf seinem Stuhl und schaute Luisa auffordernd an, denn er verstand sich als Sprachrohr aller Kunsthandwerker der umliegenden Dörfer. „Wenn uns das alte Fabrikgelände vor der Nase weggeschnappt wird, können wir einpacken. Dann überschwemmen die uns sogar hier mit ihrem neumodischen Schnickschnack.“

„Direkt im Erzgebirge werden sie damit vermutlich nicht weit kommen, aber ansonsten schon. Wenn da überall Made in Thuringia draufsteht, kann das von außerhalb doch kein Mensch mehr unterscheiden, der von unseren Traditionen keine Ahnung hat“, stimmte sein Nachbar Siegbert Münzel in die Klage ein.

„Das ist uns allen klar“, erklärte Luisas Vater düster. Er war vorhin, während Luisa dem Fremden in seinem Haus das Zimmer gezeigt hatte, losgehumpelt und hatte das Vereinshaus vorgeheizt. Dann hatte er ein paar Freunde aus der Neuen Zunft angerufen und die hatten weitere Mitglieder in den anderen Dörfern informiert, sodass das Vereinshaus jetzt zu fast achtzig Prozent gefüllt war – eine beachtliche Leistung, gemessen an der Tatsache, dass solche Zusammenkünfte normalerweise ein paar Tage vorher angekündigt wurden.

„Wir dürfen uns jetzt nicht verrückt machen lassen“, sagte Luisa eindringlich. „Bei einem singenden Rentier aus Plastik werden sicher auch die Gutgläubigsten hellhörig.“

„Du hast gut reden, Mädel“, entgegnete Winfried Böttinger finster. „Du hast ja notfalls deinen Job in Sonneberg.“

„Und ihr habt eure Wirtschaften, euren Wald, eure Tiere … falls ihr sie nicht vor Jahren schon abgeschafft habt“, schoss Luisa zurück. „Viel zu früh übrigens, das habe ich euch immer gesagt.“

„Ja, das hast du. Aber erstens haben nun mal einige von uns ganz auf das Kuns...

Autor

Nika Maiwald
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Emma Winterberg

Emma Winterberg hat schon früh ihre Liebe zum Schreiben entdeckt. Bereits als Kind hat sie sich Geschichten ausgedacht und zu Papier gebracht. Lesen und Schreiben ist für sie wie eine Reise in andere Zeiten und Länder. In der Wirklichkeit reist Anne Taylor vorzugsweise nach...

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Lilli Wiemers
Früher zog es Lilli Wiemers stets in die weite Welt hinaus. Kein Reiseziel war zu weit, kein Flug zu anstrengend. Erst durch ihren Ehemann hat sie erkannt, wie viel Wahrheit in dem alten Sprichwort steckt: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah liegt? Heute erforscht sie gemeinsam...
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