Romantik und Leidenschaft - Best of Digital Edition 2020

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Mit diesem eBundle präsentieren wir Ihnen die schönsten und erfolgreichsten Romane 2020 aus unserer Digital Edition - leidenschaftlich, aufregend und romantisch. Die kleine Auszeit vom Alltag für die selbstbewusste Frau … Happy End garantiert!

ZÄHMUNG EINER WIDERSPENSTIGEN LADY von ELIZABETH BEACON

Es ist die Sensation des Sommers: Der unwiderstehliche Duke of Dettingham begibt sich auf Brautschau! Nur eine Dame hält sich zurück: Miss Jessica Pendle. Sie ist überzeugt, dass sie nie für ihn in Frage käme... und dass sie ohnehin niemals heiraten will! Doch da hat sie die Rechnung ohne den hartnäckigen Duke gemacht ...

MISS IN MASKERADE von ANNE ASHLEY

Die junge Georgiana spielt ein riskantes Spiel: Als Page verkleidet, schleicht sie sich beim berüchtigten Viscount Fincham ein, um den Tod ihres Onkels aufzuklären. Doch der Hausherr ist nicht so kalt und ruchlos, wie sie es vermutet hat. Im Gegenteil! Er ist ein richtiger Gentleman. Je näher sie dem Viscount kommt, desto schwerer fällt es ihr, die Rolle aufrechtzuerhalten. Denn er bringt ihr Herz in größte Gefahr ...

VERFÜHRUNG AUF DEM MASKENBALL von ANNIE BURROWS

Lord Ledbury war der Held jedes Schlachtfeldes - doch das Chaos in den Ballsälen Londons entsetzt ihn. Eine kichernde Debütantin heiraten? Niemals! Er sucht eine Herausforderung ... und findet sie in Julie: Die "Eiskönigin" wies bisher jeden Mann zurück. Kann er ihr kaltes Herz mit heißen Küssen zum Schmelzen bringen?


  • Erscheinungstag 21.01.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505468
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Elizabeth Beacon, Anne Ashley, Annie Burrows

Romantik und Leidenschaft - Best of Digital Edition 2020

IMPRESSUM

Zähmung einer widerspenstigen Lady erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
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E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2012 by Elizabeth Beacon
Originaltitel: „The Duchess Hunt“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISON
Band 17 - 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Eleni Nikolina

Umschlagsmotive: lavendertime/GettyImages, angelinast/GettyImages

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733729509

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Und du bist dir ganz sicher, Eugenia? Der Duke of Dettingham hat den hinreißenden Mr Richard Sea­borne, für den wir alle immer so geschwärmt haben, entführt oder sogar getötet?“, fragte eine junge Dame entsetzt. Um sie herum drängten sich Debütantinnen, die schon neugierig die Ohren spitzten. Es war einer der letzten Bälle der Londoner Saison.

„Allerdings! Die Gentlemen schließen schon Wetten darüber ab, wie er es geschafft hat, so lange ungestraft davonzukommen, Lottie“, flüsterte ihre aufgeregte Informantin so gewichtig, als verkünde sie das Evangelium. „Natürlich wurde nichts in die Wettbücher geschrieben, da der Duke jeden herausfordern müsste, der ihm die Schuld an einem solch fürchterlichen Verbrechen geben würde! Und er ist ein ausgezeichneter Schütze. Er würde wohl kaum davor zurückschrecken, jeden Gentleman niederzuschießen, der tollkühn genug wäre, ihn zu beschuldigen, sollte er tatsächlich seinen Erben auf diese hinterlistige Weise beseitigt haben.“

„Dennoch ist der Duke faszinierend“, meinte Lottie wehmütig. „Seine Art, uns alle wissen zu lassen, dass es ihn nicht im Geringsten kümmert, was wir von ihm halten, lässt mein Herz schneller schlagen. Und wenn er mich dann auch noch mit seinen strahlenden smaragdgrünen Augen zufällig ansieht … Oh, schon bei dem Gedanken daran kann ich dann kein klares Wort mehr herausbringen.“

„Ich habe kein Interesse an diesem gewissenlosen Lebemann“, bemerkte Eugenia steif.

„Ach was! Früher hättest du deine beste Perlenkette dafür gegeben, nur ein einziges Mal mit ihm tanzen zu können – und deine Seele verkauft für alles andere.“

„Was nur bedeutet, dass ich nun weiß, was für ein hartherziger, gefühlloser Mensch er tatsächlich ist“, verteidigte Eugenia sich verärgert.

„Und wie sehr du dir wünschst, er hätte auch bei dir einmal den Wüstling herausgekehrt“, beharrte Lottie.

„Nur, um eines Tages von ihm ermordet zu werden, sobald er meiner überdrüssig geworden wäre? Wohl kaum“, erwiderte ihre Freundin kühl und entfernte sich, um woanders ihr Gift zu verspritzen.

Jessica Pendle war es noch nie schwerer gefallen, still zu bleiben und kein Wort zu äußern.

„Jessica!“

Sie spürte den strengen Blick ihrer Mutter auf sich, die verhindern wollte, dass Jessica empört aufsprang und jenes bösartige Weib öffentlich beschuldigte, welches auf so niederträchtige Weise versuchte, das Ansehen von Jack Seaborne, dem Duke of Dettingham, in den Schmutz zu ziehen.

Jack und sein Cousin Richard würden sich selbst dann nichts Böses antun, wenn ihr Leben davon abhinge. Und jeder, der sie auch nur ein wenig kannte, würde das sofort beschwören. Andererseits wusste Jessica natürlich, dass eine unverheiratete Dame – selbst eine in fortgeschrittenem Alter, so wie sie – keinen Mann verteidigen durfte, der nicht mit ihr verwandt war, ohne alles nur noch schlimmer zu machen.

„Tu einfach so, als hättest du sie nicht gehört“, drängte Lady Pendle sie sanft.

„Es ergibt ja nicht einmal Sinn“, sagte Jessica verwirrt. „Jack ist doch bereits der Duke, warum sollte er jemand umbringen müssen, um seine Position zu sichern, noch dazu seinen Cousin? Glauben die denn, Jack wird jetzt Jagd auf jeden männlichen Seaborne im ganzen Land machen, um seine vermeintlichen Rivalen auszuschalten?“

„Du denkst doch wohl nicht, dass solch unverbesserliche Klatschmäuler sich Gedanken darüber machen, ob die Geschichten, die sie verbreiten, wahrscheinlich sind oder nicht, mein Liebling. Aber meinst du denn, wir können Jack dadurch helfen, dass wir uns seinetwegen in einen Kampf stürzen?“

„Nein, sicher nicht“, gab Jessica zu. „Aber gerade diese Frau ließ keine Tricks aus, um Jack in die Ehe zu locken, als wir damals in die Gesellschaft eingeführt wurden. Falls er entschlossen wäre, jemanden zu ermorden, dann doch wohl eher sie.“

„Eine verschmähte Frau kann in der Tat sehr gefährlich werden. Aber lass uns zu Hause darüber reden, wo uns niemand belauschen kann. Außer Papa … wenn er gerade in der Stimmung sein sollte, sich an unseren Gesprächen beteiligen zu wollen. Hier und jetzt allerdings müssen wir vorgeben, nichts gehört zu haben“, riet ihre Mutter eindringlich.

„Jack ist ein Ehrenmann. Auch wenn er manchmal eine Arroganz an den Tag legt, dass es mir in den Fingern juckt, ihm eine Ohrfeige zu geben. Doch niemals wäre er zu einem Mord fähig, so viel weiß ich.“

„Du lässt dich aber auch schnell von seinen Neckereien herausfordern, mein Liebling, und das beflügelt ihn nur“, mahnte ihre Mutter.

Zu Jessicas Erstaunen ärgerte Jacks selbstherrliches Gehabe weder ihre Familie noch seine.

„Es besteht keine Notwendigkeit für ihn, sich mir gegenüber so aufzuspielen und den Lebemann herauszukehren. Es ärgert mich aber auch, dass ich von niemandem erfahre, was er eigentlich so treibt, seit er aus Oxford zurück ist“, beschwerte sie sich missmutig. Ihre Mutter warf ihr nur einen belustigten Blick zu.

„Manchmal klingst du genau wie Jacks Großmutter, meine Liebe.“ Ihre Mutter schenkte ihr ein Lächeln, das Jessica misstrauisch machte. Vor allem war sie jedoch entsetzt über diese Bemerkung.

„Das meinst du nicht wirklich so, oder?“ Sie zuckte bei der bloßen Vorstellung zusammen, jener fürchterlichen alten Dame in irgendeiner Weise ähnlich zu sein. „Na gut, ich werde in Zukunft netter zu ihm sein“, fügte sie mit Nachdruck hinzu und fragte sich verwundert, warum ihre Mutter so selbstzufrieden aussah.

Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, gab es einen kleineren Aufruhr am Eingang zum Ballsaal. Offenbar trafen gerade wichtige Gäste ein, denn entzücktes Gemurmel erfüllte den Raum. Jessica erkannte schon bald den Grund dafür. Der Duke of Dettingham höchstpersönlich kam gleich darauf so ungezwungen hereingeschlendert, als würde er einen Spaziergang in seinem eigenen Garten machen. Mit der ihm ganz eigenen lässigen Eleganz verbeugte er sich vor der Gastgeberin, ein verschmitztes Grinsen um die Lippen. Und jene nicht mehr ganz so junge Dame errötete wie eine Debütantin und erwiderte sein Lächeln, als er ihr die Hand küsste.

Jessica beobachtete stirnrunzelnd, wie Jack sich auf seine gewohnt unbekümmerte Art in eine Gesellschaft begab, die ihm eigentlich nicht wohlgesonnen war. Im Grunde sollte er aussehen wie jemand, der sich im Dunkeln angekleidet hat, so wenig Aufmerksamkeit wie er seiner Erscheinung schenkte. Stattdessen wirkte er in seinem nicht ganz auf den Leib geschneiderten Rock und dem achtlos gebundenen Krawattentuch so elegant und verwegen, dass selbst die modebewussten jungen Männer des ton sich bemühten, seinem Beispiel nachzueifern … Was ihnen nach Jessicas Meinung allerdings nicht gelang.

Inzwischen war der Duke of Dettingham dabei, die versammelte Gesellschaft zu begutachten, bis er in der Menge einige Freunde entdeckte und sich einen Weg zu ihnen bahnte. Allerdings musste man nicht fürchten, ihn aus den Augen zu verlieren, dachte Jessica aufgebracht. Jeder wandte den Kopf nach ihm um und begrüßte ihn freudig – auch die Menschen, die sich gerade eben noch über ihn und seinen vermissten Erben das Maul zerrissen hatten.

Jack Seaborne gehörte allerdings zu einer aristokratischen Familie, deren Mitglieder in der Gesellschaft sehr angesehen waren. Und obwohl über ihn getuschelt wurde, war er sogar noch größer, schöner und intelligenter als die meisten anderen Seabornes. Wahrscheinlich war er deshalb auch ein wenig arroganter und herrischer als seine Verwandten. Dennoch glaubte Jessica nicht, dass irgendeiner von ihnen aus Neid eine so niederträchtige Geschichte über Jack und Rich in Umlauf bringen würde, um ihm auf diese Weise zu schaden.

Da Jack sich offensichtlich keine Gedanken darüber machte, ob die Gesellschaft ihn akzeptierte oder nicht, zwang Jessica sich, auch nicht weiter über den Klatsch nachzudenken. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Denn jedes Mal, wenn Jack in ihrer Nähe erschien, begann ihr Herz, aufgeregt zu klopfen, und sie wurde von einer seltsamen Hitze ergriffen. Natürlich musste sie es um jeden Preis vermeiden, diese beschämenden Empfindungen offen zur Schau zu tragen … Schließlich ist er nur einer von vielen, versuchte sie sich einzureden. Es gab genug andere attraktive Männer, die von hohem Rang waren und großen Einfluss in der guten Gesellschaft ausübten. Jack ist gar nichts Besonderes, sagte Jessica sich, doch tief in ihrem Innern wusste sie, dass keiner seine Gelassenheit besaß, seine verflixt verführerische, von der Natur gegebene Ausstrahlung. Die wäre ihm selbst dann eigen gewesen, wenn er mit sechzehn Jahren ein Hausknecht geworden wäre und kein Duke!

Damals war Jessica ein trauriger kleiner Wildfang gewesen und hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als an Jacks und Richards wilden Ausritten und sonstigen Unternehmungen teilzunehmen. Allerdings war es ihnen meistens gelungen, ihr zu entkommen. Jetzt erinnerte sie sich an das zwölfjährige Mädchen aus jener Zeit, das hartnäckig bergauf und bergab nach ihnen gesucht hatte, bis die beiden Freunde kurz vor Einbruch der Dunkelheit wieder nach Hause gekommen waren. Gewiss wäre ihr jetzt vor Scham die Röte in die Wangen gestiegen, doch Jessica hatte gelernt, sich zu beherrschen.

„Richard hatte immer entsetzliche Angst gehabt, Jack könnte etwas zustoßen und er müsste dann den Titel und die Verpflichtungen eines Dukes auf sich nehmen“, sagte sie leise zu ihrer Mutter, sodass diese sie erschrocken ermahnte, jetzt nicht einmal an solche Dinge zu denken.

„Erinnere dich bitte, wo du dich befindest, bevor du anfängst, von dem vorzeitigen Hinscheiden deines sehr guten Freundes zu sprechen, Jessica.“

„Das meinte ich doch gar nicht, und außerdem schenkt mir sowieso niemand die geringste Aufmerksamkeit. Sie sind alle viel zu sehr damit beschäftigt, sich von Jack faszinieren oder schockieren zu lassen, als dass sie einem kleinen Niemand wie mir zuhören würden.“

„Du setzt dich immer viel zu sehr herab“, tadelte ihre Mutter.

Jessica vernahm den besorgten Ton in ihrer Stimme und gab sich Mühe, eine fröhliche Miene aufzusetzen, während ihr keineswegs entging, dass Jack durch den Raum schlenderte, als gehörte er ihm.

Sie brachte es sogar fertig, ein mühsames Gespräch mit einem jungen Gentleman zu führen, der politische Ambitionen besaß und eine Gattin suchte, die über gute gesellschaftliche Beziehungen verfügte. Jessica war von vornehmer Geburt und sogar mit vielen Mitgliedern des ton verwandt, fragte sich aber dennoch, warum dieser schwerfällige Mr Sledgeham glaubte, sie könnte diese Gattin sein. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren war sie schon fast eine alte Jungfer und das achte Kind ihrer Eltern, die weder reich noch mächtig genug waren, um besonders erstrebenswerte Schwiegereltern abzugeben. Darüber hinaus war ihr linker Fußknöchel verletzt worden, sodass sie seitdem leicht hinkte.

Andererseits besaß sie ein bescheidenes Vermögen, das ihre Großtante ihr in dem Glauben hinterlassen hatte, Jessica würde unverheiratet bleiben und es somit brauchen. Sonst ließ sich zu ihren Gunsten nur noch sagen, dass ihr Vater ein Viscount war und ihre Patentante die angeheiratete Lieblingstante des Duke of Dettingham. Glücklicherweise mochte Jessica den armen Mr Sledgeham nicht genug, um seinen unverhohlenen Ehrgeiz bewundernswert zu finden.

„Was sagen Sie also dazu, Miss Pendle?“, fragte der fehlgeleitete Gentleman plötzlich, und Jessica wurde sich bewusst, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, worüber sie sich gerade unterhielten.

„Danke, nein“, brachte sie in ihrer Verzweiflung hervor, und die Antwort schien gut genug zu passen, da er nur leicht enttäuscht wirkte.

„Kann ich Ihnen dann wenigstens eine Erfrischung bringen, Lady Pendle?“, erkundigte er sich daraufhin höflich bei ihrer Mutter, und Jessica atmete erleichtert auf.

„Nein, aber vielen Dank für das Angebot und Ihre Gesellschaft, Mr Sledgeham“, erwiderte ihre Mutter freundlich, aber nachdrücklich, sodass er sich gehorsam entfernte.

Jessica blieb kaum Zeit, einen Schauder zu unterdrücken bei der bloßen Vorstellung, ein Leben mit einem solchen öden Langweiler verbringen zu müssen – da erschien plötzlich Jack Seaborne höchstpersönlich neben ihr, und es war, als wäre Mr Sledgeham nie hier gewesen. Ihr Herz schlug heftig, und es kostete sie einige Mühe, ruhig zu bleiben. Es war nur zu erwarten gewesen, dass Jack zu ihnen kommen und sie höflich begrüßen würde, da er heute Abend entschlossen zu sein schien, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Lady Pendle war eine alte Freundin seiner Tante Melissa und Jessica ihre Patentochter, also konnte er schließlich nicht einfach an ihnen vorbeigehen, als wären sie lediglich flüchtige Bekannte – obwohl sie mittlerweile wirklich nicht mehr als das waren.

Jack reichte ihr ein Glas Limonade, ohne sie zu fragen, ob sie überhaupt welche wollte. Dann nahm er seelenruhig auf dem Stuhl zwischen ihrer Mama und ihr Platz.

„Euer Gnaden“, begrüßte Jessica ihn, nickte knapp und murmelte etwas vor sich hin, das der Dank für die Limonade sein könnte, wenn Jack es vorzog, sich das einzureden.

„Miss Pendle“, erwiderte er mit leichtem Spott. „Ich hoffe, Sie erfreuen sich guter Gesundheit und gehobener Stimmung?“, erkundigte er sich, als würde er mit einer mindestens zwanzig Jahre älteren Frau sprechen.

„Es geht mir sehr gut, danke“, antwortete sie in ungnädigem Ton.

Schon immer hatte er Spaß daran gehabt, sie in aller Öffentlichkeit herauszufordern und dann voller Schadenfreude zu beobachten, wie sie um Fassung rang. Es war ärgerlich und eines Gentleman nicht würdig, und Jessicas Blick machte deutlich, was sie davon hielt. Jack allerdings lächelte nur und streckte zufrieden die langen Beine aus. Seine männliche Ausstrahlung war so überwältigend, dass sie sich wünschte, er wäre ganz am anderen Ende des Ballsaals. Mit seinem mitternachtsschwarzen Haar, das so verführerisch im Kerzenlicht schimmerte, dem vollkommen geformten, sinnlichen Mund und den schelmischen grünen Augen war er wohl die Antwort auf die Gebete der meisten jungen Frauen – aber Jessica wusste, dass sie sich solche Träume nicht erlauben durfte.

Wenn auch nur mühsam, gelang es ihr, sich einzureden, dass es sich bei ihm lediglich um einen Gentleman handelte, der kurz mit ihnen plaudern wollte. Sonst hätten ihre Wangen sich vor Aufregung womöglich ebenso gerötet wie die so vieler junger Mädchen, die ihn heute Abend anhimmelten. Bei dem Gedanken daran, wie er sich vor sie hinknien und ihr einen Antrag machen könnte, schnürte sich ihre Kehle zu. Denn Jessica wusste, dass Jack Seaborne sie niemals heiraten würde.

„Das ist schön“, bemerkte er so fröhlich, dass sie ihm einen misstrauischen Blick zuwarf, „denn ich möchte Sie zu einer Gesellschaft einladen, die meine geliebte Tante entschlossen ist, diesen Sommer auf Ashburton abzuhalten. Wir hoffen sehr, Sie und ihre reizende Mama einschließlich ihres nicht ganz so reizenden Papas werden geneigt sein, uns zwei Wochen lang in Herefordshire Gesellschaft zu leisten. Und zwar sobald dieses Fiasko von einer Saison endlich vorüber ist.“

Er war plötzlich sehr ernst geworden, und sein Blick ruhte mit einem seltsam flehenden Ausdruck auf ihr. Jessica rief sich insgeheim zur Ordnung. Sie musste sich irren. Schließlich war er der begehrteste Junggeselle im ganzen Land, und sie war … wie sie nun einmal war.

„Sie werden so willkommen sein wie die Blumen im Frühling“, setzte er sein schamloses Schmeicheln fort. „Sie gehören zu den wenigen, die mit mir reden wie mit einem Menschen, nicht wie mit einem Duke. Wollen Sie uns die langen Tage nicht mit Ihrer Anwesenheit versüßen?“

„Wenn ich mir einer Sache sicher bin, Euer Gnaden“, zwang Jessica sich zu antworten, obwohl sie ihm am liebsten jeden Wunsch erfüllen würde, wenn er sie so ansah, „dann, dass Sie sehr wohl in der Lage sind, allein auf sich achtzugeben.“

„Dieses Mal nicht, Prinzessin. Ich habe die böse Vorahnung, dass mein Drachen von Großmutter angeordnet hat, ich müsste schnellstens heiraten. Immerhin gehe ich auf die dreißig zu und werde wohl schon bald an Altersschwäche zu leiden haben“, fügte er mit einem Anflug von Bitterkeit hinzu, der Jessica aufhorchen ließ.

Sie betrachtete ihn etwas aufmerksamer, als sie bisher gewagt hatte, und bemerkte die feinen Linien um seinen festen Mund und die leichten Schatten unter den Augen, die von tiefer Anspannung und Müdigkeit zeugten.

„Wollen Sie sich nicht einige Wochen auf Ashburton zu uns gesellen und einer langweiligen Angelegenheit ein wenig Würze verleihen, Prinzessin Jessica?“, wiederholte er seine Bitte. „Nur Sie können mich vor den aufdringlichen kleinen Debütantinnen retten, die meine Tante auf mich angesetzt hat“.

Nicht ganz sicher, ob sie sich geschmeichelt oder gekränkt fühlen sollte, ärgerte sie sich vor allem über den Spitznamen. Seit seine Tante ihr nach ihrem Unfall das Queen-Zimmer im Erdgeschoss zur Verfügung gestellt hatte, um ihr das Treppensteigen zu ersparen, nannte er sie so.

„Ich hab Sie so oft gebeten, mich nicht so zu nennen, dass ich bald anfangen werde, es im Schlaf vor mich hinzumurmeln“, fuhr sie ihn bissig an.

„Versprechen Sie mir, dass Sie im Sommer nach Ashburton kommen, und ich werde mir die größte Mühe geben, es nicht wieder zu tun, Miss Pendle“, drängte er sie.

„Und Sie versprechen mir auch, dass Sie sich nicht über mich lustig machen werden?“

„Nie würde ich so etwas Unfreundliches tun.“ Er klang, als wäre schon der Gedanke unvorstellbar für ihn, und das trotz all der Hänseleien, die sie früher von ihm hatte hinnehmen müssen. „Sie werden ein geschätzter Gast sein, und sollte irgendjemand es wagen, Sie in einem anderen Licht zu sehen, wird er sich schon bald gezwungen sehen, woanders Unterkunft zu suchen.“

Seine Worte sollten eigentlich ihr Herz erwärmen. Warum war ihr also plötzlich nach Weinen zumute? Wahrscheinlich weil sie jetzt schon wusste, dass sie sich auf der Gesellschaft wie ein weiblicher Hofnarr fühlen würde. „Ich bezweifle sehr, dass Papa bereit sein wird, Winberry Hall zu verlassen, noch dazu während der Heuernte“, brachte sie scheinbar gelassen hervor.

„Er würde sich schon davon losreißen, wenn ihn nur das zu Hause halten würde, mein Liebes! Aber vergiss nicht, dass sein erstes Enkelkind auf dem Weg ist. Dein Vater ist ein sehr viel liebevollerer Vater und Großvater, als er vor aller Welt zugeben würde“, warf ihre Mutter lächelnd ein.

„Und wir können doch ebenso wenig fehlen, Mama. Es ist Rowenas erstes Kind, also wird sie uns sogar noch nötiger haben“, protestierte Jessica.

„Bis zur Geburt sind es noch viele Wochen, und Rowena ist so robust wie immer – auch wenn sie ihrem armen, gutgläubigen Gatten vorzumachen versucht, sie sei zerbrechlich und zart. Man sollte meinen, er hätte sie nach über einem Jahr Ehe durchschaut. Genau wie dein Papa ist auch er ein fürchterlicher Schwarzseher, aber ich gedenke nicht, mich wie eine besorgte Glucke zu benehmen, nur damit sie sich besser fühlen. Eine erholsame Woche auf Ashburton, bevor ich mich meinen Pflichten als Großmutter widme, klingt wundervoll. Also vielen Dank für die Einladung, Euer Gnaden“, sagte Lady Pendle in entschiedenem Ton.

Wie es aussah, würden Lord und Lady Pendle mit ihrer letzten unverheirateten Tochter diesen Sommer in Herefordshire verbringen, um dem Duke of Dettingham dabei zuzusehen, wie er seine Duchess aussuchte …

„Und ich danke Ihnen, denn mit Ihrer Anwesenheit werden Sie dem Ganzen Würze verleihen“, meinte Jack mit einem so charmanten Lächeln, das selbst einen zänkischen Drachen verzaubert hätte.

Jessica ertappte sich bei dem unfrommen Wunsch, der Duke möge von seiner Auserwählten abgewiesen werden, obwohl sie wusste, dass sie sich da zu große Hoffnungen machte. Jack Seaborne war eine Versuchung, der keine Frau widerstehen würde. Selbst Jessica fühlte, dass es ihr nicht möglich war, seinen charmanten Hilferuf zu ignorieren. Warum aber beugte er sich widerspruchslos dem Plan seiner Großmutter, ihn auf diese Weise zu verheiraten? Seine zynische, nüchterne Art hielt für gewöhnlich selbst die entschlossensten Mamas fern, und bis jetzt war er sorgfältig allen unerfahrenen jungen Damen aus dem Weg gegangen, so reizend sie auch sein mochten. Warum entschied er sich nun also doch zu heiraten, nach all der Mühe, die er sich gemacht hatte, um der Ehe zu entgehen? Leise seufzend über die Unergründlichkeit von Jack Seabornes Gedanken und Beweggründen, sagte Jessica sich, dass sie die Antwort ja nur allzu bald herausfinden würde.

„Vielleicht könnte ich wenigstens zu Hause bleiben … Nur für den Fall, dass Rowena mich braucht“, unternahm sie noch einen letzten verzweifelten Versuch, der Situation zu entkommen.

„Warum sollte sie? Jetzt da sie verheiratet ist, hat sie einen Gatten, der froh und sehr wohl in der Lage ist, sich um sie zu kümmern, und zwar sehr viel besser als Sie es je könnten. Wir andererseits brauchen Sie wirklich, Prinzessin! Wenn Sie also darauf bestehen, jemandem nützlich zu sein, warum dann nicht uns Seabornes?“, sagte der Duke mit einer nicht zu überhörenden Unnachgiebigkeit in der Stimme, die Jessica seltsam erschien. Es klang so, als wäre ihm ihre Anwesenheit wirklich wichtig, während er auf Brautschau ging – als müsste sie aus einem unersichtlichen Grund dafür in seiner Nähe sein.

„Sie brauchen mich nicht, und ich wäre bei einer solchen Zusammenkunft fehl am Platz“, beharrte sie. Irgendetwas in ihr warnte sie davor, sich in eine solche Lage zu bringen.

„Ganz und gar nicht“, entgegnete er scharf, und Jessica erschauerte, als sie dem herausfordernden Blick aus seinen grünen Augen begegnete.

„Ich bin keine unbedarfte kleine Debütantin“, sagte sie.

„Waren Sie denn jemals eine, Prinzessin?“, fragte er mit einem Lächeln, das ihre Entschlossenheit zu untergraben drohte.

„Nein, niemals. Und jetzt bin ich sogar noch weniger naiv als damals.“

„Ich denke, das ist uns allen bewusst.“

„Dann muss Ihnen ebenfalls bewusst sein, dass ich nicht zu der Art Menschen gehöre, die Sie auf Ashburton haben wollen, wenn Sie eine der geladenen Damen dazu überreden wollen, Ihre Duchess zu werden“, fügte sie unbedacht hinzu und wusste in dem Moment, als sie es ausgesprochen hatte, dass sie zu weit gegangen war.

Seine Augen schienen dunkler zu werden, und er verzog den Mund zu jenem hochmütigen Lächeln, das Jessica schon immer erbost hatte. Seine unausgesprochene Verachtung für ihre Offenheit wirkte ungemein einschüchternd auf sie. Jessica spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen, und ihr stockte der Atem, während sie sich die Entschuldigung verbiss, die ihr bereits auf der Zunge lag.

„Vielleicht sind Sie ja genau die Richtige, um mich dazu zu verleiten, Ihr genaues Gegenteil zu suchen, Miss Pendle“, meinte er nach kurzem Schweigen, das alles irgendwie nur noch schlimmer machte.

Er war offenbar gekränkt und wütend, aber wenigstens hatte sie vor ihm verbergen können, wie schrecklich sie es fände, ihm dabei zusehen zu müssen, wie er einer schönen Debütantin den Hof machte und sie dann zur Frau nahm. Genau vor dieser Art von Situation hatte sie sich als Sechzehnjährige immer in Acht nehmen wollen. Aber konnte es sein, dass sie die alberne romantische Liebe von damals noch immer nicht ganz überwunden hatte? Wenn sie wirklich gegen ihren Willen würde zusehen müssen, wie ein unschuldiges Mädchen seinem Charme, seinem umwerfenden Aussehen und seiner unglaublichen männlichen Ausstrahlung erlag … dann wappnete sie sich am besten schon jetzt dagegen, so gut sie nur konnte.

„Ich bin bereits all das, was Ihre Duchess nicht sein wird“, erwiderte sie ausdruckslos. „Wozu also die Mühe?“

„Genau das werden Sie nie herausfinden, weil Sie sich viel zu gut in Ihrer Rolle als Märtyrerin gefallen, Prinzessin“, antwortete er geheimnisvoll.

„Sehr wahr“, unterbrach Lady Pendle ihn mit einem weisen Nicken, das Jessica vor Wut erröten ließ.

„In solchen Momenten sollte ich mich eigentlich auf die Unterstützung meiner Mutter verlassen können“, sagte sie mit all der Würde, die sie aufbringen konnte.

„Die wirst du immer haben, mein Liebes“, entgegnete Lady Pendle, „aber es wird höchste Zeit, dass du deine Flügel ausbreitest.“

„Obwohl sie gebrochen sind?“ In ihrer Entrüstung enthüllte sie ein wenig zu viel von ihren innersten Gefühlen.

„Unsinn! Sie haben Ihrem verletzten Knöchel schon immer zu viel Beachtung geschenkt“, sagte Jack ungeduldig.

„Und Sie haben sich noch nie so sehr geirrt, Euer Gnaden“, schnaubte sie.

„Nicht so sehr wie Sie, wenn Sie sich von einigen hohlköpfigen Narren dazu bringen lassen, Ihren wahren Wert zu verkennen“, fuhr er unverblümt fort. „Und wenn Sie es tun, sind Sie genau so hohlköpfig wie sie.“

„Ach, wirklich?“, entgegnete sie herablassend.

Jahrelang hatte sie auf verschiedenen Gesellschaften bemühte Gespräche und mitleidige Blicke erdulden müssen. Gleichzeitig war der Duke of Dettingham bei diesen Gelegenheiten immer von einer Traube eifriger junger Damen umringt gewesen. Diese Jahre hatten sie nur allzu sehr mit ihren Grenzen vertraut gemacht. Ein Mann, der nur mit dem Finger zu schnippen brauchte, damit ihm die unverheirateten Frauen im ganzen Königreich zu Füßen lagen, konnte sich über ihre Lage kein Urteil erlauben.

„Ja, wirklich“, antwortete er mit seiner gewohnten Überheblichkeit.

„Ich denke wenigstens nicht, dass ich das Recht habe, andere Menschen herumzukommandieren.“

„Wie leidenschaftlich Sie plötzlich sind, Miss Pendle. Könnte es sein, dass meine Fehler Ihnen doch wichtiger sind, als Sie bereit sind zuzugeben?“, fragte er schlau.

„Nein! Außerdem haben Sie so viele Fehler, ich bräuchte ein ganzes Leben, um sie alle aufzuzählen“, teilte sie ihm mit und zwang sich zu einem ausdruckslosen Lächeln. Niemand sollte ihr ansehen, wie wütend sie war.

„Wie gut Sie sich doch mit meiner Großmutter verstehen würden.“

Die Dowager Duchess of Dettingham war eine herrische, oftmals richtiggehend unhöfliche alte Dame. Unter anderen Umständen hätte Jessica vielleicht gelacht bei der Vorstellung, sie könnte ihr ähneln. Aber stattdessen musste sie an die Bemerkung ihrer Mutter von vorhin denken, die Jacks Worte fast genau wiedergaben, und plötzlich war ihr eher traurig zumute.

„Sehen Sie, es gibt also noch jemanden auf dieser Welt, der sich weigert, Sie kritiklos hinzunehmen“, verteidigte sie sich.

„Was den meisten aber nicht schwerfallen dürfte, mein Junge“, lenkte Lady Pendle ein und warf ihrer Tochter einen vorwurfsvollen Blick zu. „Sagen Sie Ihrer Tante Melissa, dass wir selbstverständlich kommen werden. Und sollte es mir gelingen, Pendle von seinem Besitz und unserer lieben Rowena fortzuzerren, wird auch er Ihnen zur Seite stehen.“

„Vielen Dank, Mylady. Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar“, sagte er galant, und Jessica spürte den nicht sehr damenhaften Drang, ihn gegen das Schienbein zu treten – um zur Abwechslung einmal ihn davonhumpeln zu sehen, statt sich selbst immer nur so unbeholfen vorzukommen. Doch da gab ihre Mutter endlich das Zeichen zum Aufbruch, indem sie sich erhob. Auch Jack erklärte, ebenfalls die Gelegenheit nützen zu wollen und sich davonzuschleichen.

„Ich freue mich darauf, Sie wieder auf Ashburton zu begrüßen, Prinzessin“, meinte er zum Abschied, während er ihnen in die Kutsche half. Seine Fürsorglichkeit machte Jessica sogar noch zorniger.

„Sie werden mich unter so vielen schönen jungen Damen gar nicht bemerken“, erwiderte sie schroff.

„Ich bemerke Sie immer, Prinzessin“, sagte er, als müsste man ihm dazu gratulieren.

Und damit trat er zurück, ein unerträglich selbstgefälliges Lächeln auf dem attraktiven Gesicht, während der Diener die Tür der Kutsche zuwarf. Lässig winkend schlenderte der Duke weiter, ohne auch nur einen Spazierstock zu seiner Verteidigung bei sich zu führen. Wahrscheinlich pfeift er auch noch sorglos vor sich hin, dachte Jessica verstimmt. Genauso gut könnte er die auf der Lauer liegenden Straßenräuber persönlich einladen, ihn zu überfallen und auszurauben.

„Wenn du dein Wort immer so gewissenhaft halten würdest wie gerade eben, wären dein Vater und ich bald gezwungen, dich zu enterben“, sagte ihre Mutter gereizt.

„Was meinst du damit? Ich halte immer meine Versprechen“, verteidigte Jessica sich.

„Du hast vor nicht ganz einer halben Stunde geschworen, du würdest höflich zu Jack sein! Und dann verhältst du dich so kindisch, dass es einfach nur unangenehm ist.“

„Wahrscheinlich wirst du mich noch ohne Abendbrot zu Bett schicken“, spottete Jessica so ungerührt sie konnte. Aber insgeheim wusste sie, dass ihre Mutter recht hatte. Sie hatte sich von ihren widerstreitenden Gefühlen zu offener Unhöflichkeit mitreißen lassen, weil sie ahnte, wie sehr Jacks Heiratspläne ihre Welt auf den Kopf stellen würden. „Ich werde versuchen, von jetzt an meine Zunge im Zaum zu halten“, versprach sie und hoffte nur, sie würde sich während der zwei Wochen auf Jacks Gut auch daran halten können.

Jack Seaborne war sicherlich zu sehr Gentleman, um ihr die schlechte Laune übel zu nehmen, und sie bedeutete ihm nicht so viel, dass er sich die Mühe machen würde, über längere Zeit einen Groll gegen sie zu hegen. Er gehörte sowieso nicht zu den Menschen, die leicht gekränkt waren, und nach dem geplanten Besuch auf seinem Besitz würden sie sich nicht mehr sehen, außer vielleicht zufällig oder bei gelegentlichen Gesellschaften des ton. Jessica hatte sieben Geschwister und er fünf Cousins und Cousinen – eigentlich vier, wenn man von Rich absah – und eine Legion entfernter Verwandter, also würde es Taufen und Verlobungsbälle in Hülle und Fülle geben, bei denen auch Jessicas Familie anwesend sein musste. Doch sie, die jungfräuliche Tante, würde sich dabei ganz einfach unauffällig im Hintergrund halten.

Natürlich bedauerte sie jedes verblendete Mädchen, das sich von der Anziehungskraft des hinreißenden Duke of Dettingham täuschen ließ und sein wahres Wesen nicht erkannte. Jack Seaborne verfügte über einen tyrannischen Willen und eine unnachgiebige Entschlossenheit, das Leben all jener zu bestimmen, die ihm nahestanden – selbstverständlich nur zu deren Besten, wie er behauptete. Zweifellos würde er einen ausnehmend unbequemen Gatten abgeben. Dass Jessica dabei würde zusehen müssen, wie er seiner Braut den Hof machte, durfte sie nicht wie eine Qual empfinden. Es war lediglich eine weitere Pflicht, die sie hinter sich bringen musste, bevor sie sich aufs Land zurückziehen konnte. Dort würde sie vielleicht Schweine züchten oder auch Dampfmaschinen finanzieren und sich einen Namen als exzentrische vermögende Dame machen.

„Ist es etwa zu viel verlangt, ganze zwei Wochen höflich zu bleiben?“, fragte Lady Pendle spöttisch, sodass Jessica verlegen den Blick abwandte und aus dem Fenster blickte. „Außerdem sollst du nicht die alte Jungfer spielen, wenn die ganze Familie sich doch nichts anderes wünscht, als dass du dich gut unterhältst. Ashburton ist zu jeder Zeit wunderschön, aber im Hochsommer ist es dort besonders zauberhaft“, fuhr ihre Mutter fort, als könnte die Schönheit der Natur und des Familiensitzes der Seabornes Jessica über die Tatsache hinwegtrösten, dass sie sich ihrem Gastgeber gegenüber zusammenreißen musste.

„Es macht mir immer viel Freude, Tante Melissa und die Kinder zu besuchen“, erwiderte sie nur vage.

„Stimmt, es wird fast so sein wie in früheren Zeiten“, meinte Lady Pendle glücklich.

„Fast“, bestätigte Jessica trocken und dachte daran, wie hingebungsvoll sie Jack früher bewundert hatte und wie sie ihm immer auf dem Fuß gefolgt war … wie ein ergebenes kleines Hündchen.

Damals war sie davon überzeugt gewesen, dass sie füreinander bestimmt waren, und in ihren Träumen von einer märchenhaften Hochzeit und dem ewigen Glück hatte er immer die Rolle ihres Bräutigams eingenommen. Doch dann war sie eines Tages mit dem Lieblingspferd ihres Vaters mitten in einem heftigen Sommergewitter ausgeritten und hatte sich schwer verletzt. An den Folgen litt sie noch heute.

Vergiss deine Kindheitstorheiten, ermahnte sie sich und kam zu dem Schluss, dass in der stürmischen Familiengeschichte der Seabornes kein Paar weniger zusammengepasst hätte als Jack und sie. Der Sommeraufenthalt auf Ashburton würde ein angenehmes Zwischenspiel sein, bevor Jessica sich endgültig ihrer wahren Bestimmung widmete. Und zwar allein.

2. KAPITEL

Als sie Jack am folgenden Tag im Park spazieren gehen sah, erkannte Jessica plötzlich, warum ihr bei dem Gedanken an die geplante Gesellschaft so unbehaglich zumute war. Sie entdeckte ihn lange, bevor er den Landauer der Pendles bemerkte. Trotz der plaudernden Leute überall und der fröhlichen Zurufe seiner Freunde sah er einsam aus.

Und gleich darauf erkannte Jessica, warum er ihr so erschien – selbst jetzt noch erwartete sie, Richard an seiner Seite zu sehen. Die beiden Cousins waren als Jungen unzertrennlich gewesen und hatten auch als junge Männer viel zusammen unternommen. Plötzlich wurde ihr auch bewusst, warum Jack beschlossen hatte zu heiraten. Ein entsetztes Keuchen entfuhr ihr, das sie sofort in ein Hüsteln zu verwandeln suchte. Natürlich! Er hoffte, dadurch seinen Taugenichts von einem Erben wieder nach Hause zu locken. Denn wenn Richard feststellte, dass Jack verheiratet war, gab es auch kaum mehr ein Risiko für ihn, das Oberhaupt der Familie zu werden – und damit eine riesige Verantwortung übernehmen zu müssen.

Was für ein unromantischer Grund für eine Heirat! Am liebsten hätte sie Jack trotz der vielen Leute an den Kopf geworfen, welch ein Narr er doch war.

„Dummkopf“, sagte sie leise, weil er in diesem Moment bereits auf sie zugeschlendert kam. Es war, als hätten Jessicas finstere Gedanken ihn magisch angezogen.

„Dettingham“, begrüßte ihr Vater ihn herzlich.

„Euer Gnaden.“ Betont freundlich hielt ihre Mutter Jack zur Begrüßung die Hand hin, um in aller Öffentlichkeit deutlich zu machen, was sie von den letzten Gerüchten über den Duke hielt.

„Jack …“, brachte Jessica tonlos hervor und konnte sich gerade noch zurückhalten, um ihn nicht direkt anzuherrschen, was in aller Welt er sich eigentlich dabei gedacht hatte, seinen albernen Cousin auf diese hanebüchene Weise aus seinem Versteck aufscheuchen zu wollen.

„Wirklich, Jessica, ich habe dich zwar gebeten, freundlich zu ihm zu sein, aber in der Öffentlichkeit seinen Vornamen zu verwenden, geht ein wenig zu weit“, tadelte Lady Pendle sie geistesabwesend, da sie damit beschäftigt war, ihrem Gatten einen sanften Tritt vor das Schienbein zu verpassen. Irgendjemand musste ihn daran erinnern, dass er nicht so offen seine Freude zeigen durfte. Man merkte ihm an, dass er sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als seine Tochter und den Duke of Dettingham in ein vertrauliches Gespräch vertieft zu sehen.

„Haben Sie Ihrer Mama wirklich etwas so Schwieriges versprochen, Prinzessin?“, fragte er mit diesem strahlenden Lächeln, das stets die seltsamsten Gefühle in ihr auszulösen drohte.

„Wenn ich es täte, würde ich ebenso schnell zum Lügner werden wie Sie, Euer Gnaden“, sagte Jessica mit einem vorwurfsvollen Blick. Jack schien entschlossen zu sein, unter keinen Umständen auf ihren verhassten Spitznamen zu verzichten.

Er verbeugte sich mit so übertriebener Eleganz, dass Jessica ein Kichern unterdrücken musste. Ausgerechnet jetzt, da es noch dieses ganz bestimmte Hühnchen mit ihm zu rupfen gab, kam ein Waffenstillstand zwischen ihnen überhaupt nicht in Frage.

„Ich entschuldige mich für meine Entgleisung, Miss Pendle, aber Ihr majestätischer Blick schafft es immer wieder, meine ohnehin schon armseligen Manieren noch zu verschlechtern“, entgegnete er etwas zu kleinlaut, um glaubwürdig zu sein.

„Wenn ich mir erlauben würde, eine solche Entschuldigung für meine Torheit vorzubringen, würde man mich sofort aus der guten Gesellschaft verbannen“, erklärte sie ihm streng.

„Dann muss ich mich in Zukunft noch schlechter benehmen, da ich mir nichts Angenehmeres vorstellen kann, als von den kleinlichen Pedanten des ton gemieden zu werden – am besten für den Rest meines Lebens.“

Jessicas Vater lachte laut auf, und mehrere Passanten drehten sich voller Neugier zu ihnen um. „Der Gedanke gefällt mir, mein Junge“, vertraute Lord Pendle ihm amüsiert an. „Vielleicht sollte ich es auch mal ausprobieren.“

„Nein, das wirst du nicht, wenn du es dir mit deiner Gattin nicht verderben willst“, erwiderte Lady Pendle leise, wohl in der Hoffnung, nur ihr Mann könnte sie hören.

Doch Jacks ausdrucksloser Miene nach zu schließen, hatte auch er die drohende Bemerkung gehört, und Jessica wünschte den Mann insgeheim ans andere Ende des Parks.

„Würden Sie gern eine Fahrt mit mir unternehmen, Pr… Miss Pendle?“, fragte er mit einer für ihn so ungewohnten Unschuldsmiene, dass Jessica ihn misstrauisch betrachtete. „Nun, Sie können nicht behaupten, ich würde mir keine Mühe geben“, fügte er mit einem Schulterzucken hinzu und einem Lächeln, auf das Jessica sofort hereinfiel. Sie stand schon auf, bevor ihr einfiel, dass er dieses Lächeln für jeden aufsetzte, von dem er sich einen Nutzen versprach.

„Und womit, wenn ich fragen darf?“ Sie ließ sich wieder auf die bequemen Kissen des Familienlandauers sinken.

„In meinem unsichtbaren Zweispänner?“, erwiderte er mit hochgezogenen Augenbrauen und einem jungenhaften Grinsen, das Jessica dieses Mal wirklich unwiderstehlich fand.

„Gute Idee“, sagte sie amüsiert.

„Wirklich, Prinzessin?“, fragte er, und es klang beinahe wehmütig.

„Ich dachte, wir wären uns einig wegen des Spitznamens“, zwang sie sich, ihn zu schelten.

„Tut mir leid, Miss Pendle, das ist mir nur so herausgerutscht. Ganz offensichtlich brauche ich mehr Übung, um es mir abzugewöhnen. Auf einer Kutschfahrt mit Ihnen könnte ich damit beginnen. Kommen Sie also mit mir? Ich kann auch mit einem fahrbaren Untersatz dienen, wie Sie dort drüben sehen können. Noch leide ich nicht an Wahnvorstellungen.“ Er wies auf eine prächtige Kutsche, die unter einer Gruppe von Bäumen nicht weit entfernt geparkt war.

Das Gefährt erregte bei den meisten Männern, die daran vorbeikamen, kaum verhohlenen Neid. Jessica fragte sich flüchtig, wer Jacks Aufmerksamkeit so erfolgreich auf sich gezogen hatte, dass er sich überhaupt erst von diesem wunderbaren Zweispänner herunterbemüht hatte. Doch hastig zwang sie sich, nicht an die schöne dunkeläugige Sirene zu denken, die Gerüchten zufolge Jacks heimliche Geliebte und gleichzeitig eine vornehme Dame des ton war. Seine amourösen Abenteuer gingen sie selbstverständlich nichts an … Aber sein lächerlicher Plan, Richard herzulocken, kam Jessica so falsch vor, dass sie wünschte, sie würde Jack wichtig genug sein, um ihn überreden zu können, davon abzulassen.

Jack schnipste energisch mit den Fingern, und der Zweispänner erschien trotz des Menschengewühls erstaunlich schnell neben ihm. Gleich darauf ließ sie sich schon von Jacks Stallmeister auf den Kutschbock helfen. Erst als sie oben saß, fiel ihr auf, dass sie dem Ausflug gar nicht zugestimmt hatte.

„Vielen Dank, Brandt“, sagte sie schließlich, nachdem sie sich so weit an Jacks aufregende Nähe gewöhnt hatte, dass ihr der Name seines Stallmeisters wieder einfiel.

„Es ist mir immer eine Freude, einer ehrenwerten Dame zu Diensten zu sein, Miss Pendle.“ Brandt war ein ernster Mann mittleren Alters, der wohl schon lange genug bei seinem Herrn diente, um kein Blatt mehr vor den Mund nehmen zu müssen. Offenbar hielt er nicht viel von den Damen, die den Duke normalerweise begleiteten. Jess verkniff sich ein Kichern. Man sah nicht oft, wie ein Duke von seinem Diener gescholten wurde.

„In der Tat“, erwiderte Jack gelassen und teilte Brandt dann mit, er könne als Strafe für seine Unverschämtheit zu Fuß nach Hause zurückkehren.

„Sehr wohl, Euer Gnaden“, sagte der Mann fröhlich und machte sich mit raschen Schritten auf den Weg, während Jack den Zweispänner in Bewegung setzte.

Nicht weit entfernt von seinem Haus am Grosvenor Square traf er seinen Knecht. Der Bursche warf seinem Herrn einen wissenden Blick zu, bevor er davonschlenderte. Sie musste schmunzeln.

„Wo in aller Welt haben Sie den aufgegabelt?“, fragte Jessica amüsiert.

„In einer der finstersten Gegenden Londons! Aber er wird der beste Jockey werden, den ich je hatte … wenn er endlich lernt, jenen zuzuhören, die mehr von der Kunst verstehen als er.“

„Also haben Sie einen Gossenjungen zu Ihrem Stallburschen ernannt?“, neckte sie ihn, fand sein Verhalten aber insgeheim liebenswert, ganz besonders im Vergleich zu der Art, wie die meisten Herrschaften mit ihren Dienern umgingen.

„Meine Dienerschaft ist sorgsam ausgewählt, Miss Pendle. Ein Stirnrunzeln genügt, und schon überschlagen sie sich in ihrem Eifer, meine Wünsche zu erfüllen.“

„Wie sehr die Dinge auf Ashburton sich doch verändert haben müssen“, meinte sie mit einem gespielten Seufzer. „Ich kann es kaum erwarten, das zu sehen.“

„Dann werden Sie herbe enttäuscht werden. Eigentlich habe ich dort nicht mehr viel zu sagen. Meine Angestellten sind davon überzeugt, dass sie den Haushalt sehr viel besser leiten als ich.“

„Und haben wahrscheinlich sogar recht“, lachte Jessica und sah ihm dabei zu, wie er geschickt seine Pferde durch den Verkehr lenkte.

„Wo fahren wir eigentlich hin?“ Sie hielt unwillkürlich ihren Hut fest und band die Bänder etwas straffer, als Jack seine Pferde mit einem lauten Schnalzen antrieb.

„Irgendwohin, wo die Pferde ihren Auslauf bekommen können und wir ein wenig frische Luft“, erwiderte er geistesabwesend, während er ein Fuhrwerk überholte, und bändigte seine nervösen Pferde, die beim Anblick eines Damensonnenschirms in einem zugegeben sehr giftigen Grünton zu scheuen drohten.

„Beschwören wir damit keinen Klatsch herauf?“, protestierte Jessica halbherzig.

„Gibt es nicht immer Klatsch?“, fragte er zynisch.

„Über Sie, ja“, stimmte sie zu. Aber ganz gewiss nicht oft über die hinkende, respektable Miss Pendle, fügte sie in Gedanken hinzu. Eine aufrührerische innere Stimme flüsterte ihr zu, dass es höchste Zeit wurde, den Klatschbasen ein wenig Futter für ihre lächerlichen Geschichten zu liefern – und einfach mal den Augenblick zu genießen.

„Außerdem werden doch wohl nicht einmal die Klatschmäuler glauben, dass Lord und Lady Pendle mir erlaubt haben, ihr Lämmchen vor ihren Augen zu entführen. Also beruhigen Sie sich, Prinzessin. Ich verspreche, Sie gesund und munter und mit verhältnismäßig unbeflecktem Ruf wieder zu Hause abzuliefern.“

„Da es mein letzter Auftritt in der guten Gesellschaft ist, macht es wohl auch nichts mehr aus, was die Leute über mich sagen werden“, antwortete Jessica achselzuckend.

„Was meinen Sie damit?“

„Das ist doch wohl offensichtlich.“

„Nicht für mich.“

„Ich bin eine alte Jungfer, und ich habe nicht die Absicht, weiter an Bällen teilzunehmen. Es kam mir schon immer unsinnig vor, dass alle nach London ziehen, obwohl es auf dem Land doch viel schöner ist. Und das nur, um die kostbare Sommerzeit bei viel zu großer Hitze auf langweiligen Gesellschaften zu verbringen. Noch dazu in einer Stadt, die im Frühling und Sommer wirklich unangenehm riecht.“

„Vielleicht stimmt das“, sagte er, „aber Sie sind viel zu jung, um schon jede Hoffnung aufzugeben. Nicht, dass Sie sich je auch nur die kleinste Mühe gegeben hätten, Aufmerksamkeit zu erregen, nicht einmal als Debütantin … Warum eigentlich?“

„Ist das nicht ebenfalls offensichtlich?“, fragte sie ungeduldig.

„Ich muss mich wiederholen: für mich nicht. Was entweder bedeutet, dass ich besonders dumm bin oder dass Sie sich irren. Wie verhält man sich am besten in einer Situation, in der eine Dame behauptet, Schwarz sei Weiß, wenn man ganz genau weiß, dass sie unrecht hat?“, überlegte er laut. Wie unerträglich selbstsicher er doch sein konnte!

„Sie könnten es ja mal mit Schweigen versuchen.“

„Ist das Ihre Methode, Jessica? Schüchtern Sie mit Ihrer stillen, skeptischen Art alle Ihre Verehrer ein, die Ihren hohen Erwartungen nicht entsprechen?“

Jetzt hält er mich also auch noch für eine hochnäsige Wichtigtuerin, der kein Mann gut genug ist.

„Welch hohe Meinung Sie doch von mir haben“, flüsterte sie bitter.

„Sie kann unmöglich geringer sein als Ihre eigene Meinung über sich“, gab er zurück und ließ seinen Pferden freien Lauf, sobald der Verkehr endlich dünner wurde.

Jessica versuchte, sich zu verteidigen.„Ich sehe die Dinge einfach, wie sie sind.“

„Wenn das der Fall wäre, wären Sie inzwischen Lady Sowieso oder die Countess von Irgendwo“, tadelte er, als kümmerte es ihn wirklich, dass sie unverheiratet war.

„Und Lord Sowieso oder der Earl von Irgendwo hätten wohl einfach die Tatsache übersehen, dass sie sich eine hinkende Frau aufgehalst haben, nehme ich an?“, warf sie bissig ein.

„Genau. Die Einzige, die sich weigert, das zu tun, sind Sie! Und ich begreife nicht, warum Sie ihr Leben damit vergeuden, allen Übrigen das Gefühl zu geben, glücklicher dran zu sein als Sie. Es ist fast eine Beleidigung für all diejenigen von uns, die Sie für das schätzen, was Sie wirklich sind.“

„Ich bin lahm, das ist die Wirklichkeit.“ Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Sie hinken ein wenig, mehr nicht“, widersprach er ihr. „Es hätte so viel schlimmer kommen können, wenn man bedenkt, dass Sie einen Tag und eine Nacht verletzt im strömenden Regen gelegen haben. Sie hätten sterben oder für den Rest Ihres Lebens gelähmt sein können.“

„Ich habe nie geleugnet, dass es meine eigene Schuld gewesen ist“, sagte sie kleinlauter, als ihr selbst lieb war.

„Allerdings. Schließlich haben Sie nicht nur ein Pferd genommen, das zu wild für Sie war, sondern sind auch in einem Wetter losgeprescht, welches das arme Tier in Angst und Schrecken versetzen musste. Sie hatten damals ein hitziges Temperament und waren sehr eigensinnig – aber keiner von uns glaubte, Sie könnten absichtlich versuchen, sich und das unglückliche Tier zu verletzen. Wir kannten Sie gut genug. Und wir kannten auch Ihren Leichtsinn und Ihre Dickköpfigkeit. Zweifellos glaubten Sie, eine solch wagemutige Tat würde der Welt beweisen, dass Sie jedem Ihrer Brüder das Wasser reichen konnten. Wir waren ganz einfach nur erleichtert, dass Sie es überlebt haben! Warum können Sie sich nicht darüber freuen?“

„Sie wussten damals von meinem Verschwinden?“, fragte sie verblüfft.

„Ich achte immer auf Sie, Prinzessin!“ Er klang so ungeduldig, als müsse er sich zusammenreißen, sie nicht zu packen und zu schütteln, bis sie seinen Worten Glauben schenkte. „Damals zitterte ich immer bei der Vorstellung, welchen Unfug Sie angerichtet hatten, wenn Sie wieder einmal verschwunden waren. Und bei dem Unfall suchten wir die ganze Nacht und den halben Tag nach Ihnen. Ich werde nie vergessen, wie schrecklich es war, vergeblich durch die Dunkelheit zu irren. Rich und ich durchkämmten die Hügel um Winberry Hall auf so penible Weise, dass ich mich wahrscheinlich noch heute dort zurechtfinden kann, ohne lange überlegen zu müssen.“

Jess sah ihn entsetzt an.„Davon wusste ich nichts. Als ich mich von dem Fieber erholte, das ich mir nach der kalten, nassen Nacht zugezogen hatte, waren Sie und Ihr Cousin bereits fort … ich dachte, Sie müssten Winberry Hall verlassen haben, bevor ich vermisst wurde.“

„Ganz und gar nicht. Glücklicherweise, denn Ihr Vater und auch ihre Brüder waren sehr verzweifelt, als man Sie in jener Nacht nicht fand, und konnten keinen klaren Gedanken fassen. Am Ende blieb es meinem Onkel Henry überlassen, eine gründliche Suche in der Gegend zu organisieren, und so fanden wir Sie, bevor es zu spät war.“

„Aber warum hat man mir das denn nicht gesagt?“, fragte sie kleinlaut.

„Der Arzt schärfte uns ein, Sie nicht an Ihre Tortur zu erinnern. Sie würden sehr viel Ruhe benötigen, sagte er, um sich zu erholen, sobald das Fieber sich gelegt und Sie außer Gefahr waren. Also zogen wir uns lieber zurück, überzeugt, dass Sie schon bald wieder so unverwüstlich sein würden wie immer. Aber Sie haben eigentlich nie Ihren alten Schwung wiedererlangt, nicht wahr, Prinzessin?“

Dieses Mal beschwerte sie sich nicht über den Spitznamen, zu tief war sie in Gedanken versunken. „Nein“, gab sie schließlich zu.

„Warum nicht?“, fragte er, als wäre er wirklich an ihrer Antwort interessiert. „Sie waren das tapferste Mädchen, dem Rich und ich je begegnet waren, doch plötzlich spielten Sie die Märtyrerin.“

Wie sollte sie ihm erklären, dass ihr auf einmal bewusst geworden war, wie hoffnungslos die Zukunft für sie aussah – jetzt da sie so unvollkommen war und er in jeder Hinsicht perfekt? Unmöglich, sagte sie sich, sonst wird er gar denken, dass ich noch immer in ihn verliebt bin. Verzweifelt suchte sie nach einer Ausrede, warum sie jedes Interesse an den Dingen verloren hatte, die sie einst so sehr liebte: stundenlang über das Land in Northamptonshire zu reiten, wie der Wind zu laufen, jeden Baum auf dem Gut ihres Vaters zu erklimmen …

„Wahrscheinlich, um meine Würde zu wahren“, meinte sie schließlich mit der Schulter zuckend.

„Es war eine Flucht. Nein, schlimmer als das, eine Weigerung, sich dem Kampf überhaupt erst zu stellen“, tadelte er sie streng.

„Wie können Sie mir Feigheit vorwerfen, wenn Sie doch gar nicht wissen, wovon Sie reden?“, beschuldigte sie ihn. „Sie haben nie auch nur einen Moment daran gezweifelt, Ihre Glieder könnten Ihnen den Dienst versagen und Sie vielleicht nicht länger tragen. Wie könnten Sie denn verstehen, wie es ist, durch einen ganzen Ballsaal voller Menschen humpeln müssen, um die Stühle für die Anstandsdamen zu erreichen? Und alle wissen, dass Sie den ganzen Abend dort verbringen werden, weil Sie nicht tanzen können. Sie mussten nie das Getuschel und Gekicher der Schönheiten der Saison über sich ergehen lassen, die über Sie sprechen, als wären Sie gar nicht da – oder taub oder zu dumm, um sie zu verstehen. Einige Gentlemen fragten sogar meine Mutter, ob ich Tee oder Limonade haben möchte! Als könne ich nicht allein entscheiden.“

„Mir scheint eher, dass sie sehr begehrt sind. Rich und ich konnten oft nicht zu Ihnen durchkommen, als Sie Ihr Debüt machten, weil Sie ständig von diversen jungen Damen und aufgeregten Jünglingen umgeben waren“.

„Dann kann ich ja nicht ganz so selbstmitleidig sein oder die Märtyrerin spielen, wie Sie glauben, oder?“

„Ich habe nie behauptet, Sie hätten nicht jede Menge Freunde. Aber Sie achten sorgfältig darauf, sich keinen Liebhaber zuzulegen.“

„Wofür jeder, der es wirklich gut mit mir meint, eigentlich dankbar sein sollte“, zischte Jessica.

„Sie wissen genau, was ich damit sagen will. Kein einziger dieser sehr jungen Gentlemen hatte das Zeug zu einem Geliebten oder Gatten. Kein einziger erwachsener Mann war unter ihren Verehrern, keiner mit Verstand oder auch nur einem Funken Leidenschaft. Sie wissen schon, was ich meine – reife, weltgewandte Männer, die vielleicht mehr von Ihnen verlangen könnten als Freundschaft, wenn Sie sie nur ließen. Aber diese Männer haben Sie sich vorsorglich vom Leib gehalten“

„Keine vernünftige Frau ermutigt einen Wüstling“, erwiderte sie verächtlich, obwohl sie wusste, dass er recht hatte.

„Wenn sie sich bewusst wäre, wie schön und geistreich sie ist, und bereit wäre, den Stier bei den Hörnern zu packen, würde sie es schon tun, Prinzessin. Eine verwöhnte junge Frau allerdings, die zu hochmütig ist, ein Risiko einzugehen, falls man ihr nicht garantiert, dass sie gewinnen wird, würde es wahrscheinlich nicht wagen.“

„Wie originell Ihre Auslegung meines Lebens doch ist, Euer Gnaden“, sagte sie in eisigem Ton.

„Und wie gern Sie mir doch eine Ohrfeige verpassen würden“, fügte er mit einem herausfordernden Lächeln hinzu – als wünschte er, sie würde sich in die wilde Jess von früher verwandeln und genau das tun.

„Sehr verlockend, aber selbst Sie können mich nicht so in Zorn versetzen, dass ich riskieren würde, Sie die Kontrolle über die Kutsche verlieren zu lassen. Wenn wir einen Unfall haben, muss ich womöglich bis in alle Ewigkeit auf beiden Beinen hinken“, meinte sie scherzend. Besser, sie zog alles ins Lächerliche, als einen Wutanfall zu bekommen und am Ende gar in Tränen auszubrechen. Denn es wollten ihr einfach keine Worte einfallen, die auszudrücken vermochten, wie zornig sie über Jacks Frechheit war. Er hatte sie also auf seine gewohnt hochmütige Art einer Prüfung unterzogen und für zu leicht befunden!

„Ach, Prinzessin, was sollen wir nur mit Ihnen tun?“ Er schüttelte müde den Kopf.

„Bringen Sie mich nach Hause, und hören Sie auf, mich so zu nennen“, erwiderte sie nur kalt.

Eine ganze Weile schien es, als wäre ihr Gespräch beendet. Jack hatte mit dem Zweispänner einen weiten Bogen um einen kleinen Park gemacht, um in Richtung London zurückfahren zu können.

Natürlich wusste Jessica bereits, dass er regelrecht alles, was er sich in den Kopf setzte, auch erfolgreich in die Tat umzusetzen verstand. Und so hoffte sie, dass er in ihr nicht eine Art neue Aufgabe sah – ein Ziel, das eine Herausforderung darstellte und das ihn von der ernüchternden Aufgabe, eine Gattin zu suchen, ablenken sollte.

„Wie gehorsam ich doch bin“, bemerkte er nach einigen Meilen, die sie in tiefster Stille zurückgelegt hatten.

„Nein, Sie sind vielmehr hinterhältig, betrügerisch und gefährlich, und ich lasse mich keinen Moment von Ihnen täuschen! Also probieren Sie Ihre Tricks nicht an mir aus“, fuhr sie ihn verstimmt an.

„Wenigstens stelle ich mich dem Leben offen und lege meine Gefühle nicht auf Eis“, entgegnete er herablassend.

„Diesen Sommer sind Sie allerdings entschlossen, ganz offen den größten Fehler Ihres Lebens zu machen“, murmelte sie leise vor sich hin. Welche Anmaßung von diesem Mann! Da beschuldigte er sie doch tatsächlich, keine Gefühle zu haben, und gleichzeitig spielte er mit dem Gedanken, sich nur deswegen eine Frau zu nehmen, weil er seinen Cousin beruhigen wollte. Nur damit Richard keine Angst haben musste, er könnte vielleicht doch irgendwann den Titel erben!

„Wie schön für Sie“, fügte sie lauter und voller Unaufrichtigkeit hinzu. Aber der seltsame Blick, den er ihr zuwarf, schien anzudeuten, dass er auch ihre erste Bemerkung gehört hatte.

„Versprechen Sie mir wenigstens, dass Sie es versuchen werden, Prinzessin.“ Er seufzte.

„Was versuchen?“

„Sich zur Abwechslung mal unter uns sündige, fehlgeleitete Menschen zu mischen. Nur diesen Sommer. Sie wären überrascht, was Sie alles entdecken werden, wenn Sie das Leben umarmen, statt immer davonzulaufen.“

„Wenn Sie so weitermachen, fangen Sie sich doch noch eine Ohrfeige ein“, fauchte sie ihn böse an. Wie konnte er es wagen, ihr Ratschläge zu geben?

„Ist das ein Versprechen?“

Sie machte den Fehler, seinem Blick zu begegnen und echte Besorgnis in seinen grünen Augen zu entdecken, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder der Straße widmete.

„Nur, wenn Sie endlich damit aufhören, mich Prinzessin zu nennen“, gab sie widerwillig nach.

„Es würde Ihnen aber fehlen, glauben Sie mir“, wandte er ein und lächelte belustigt, als wäre ihm gerade bewusst geworden, wie albern es war, dass sie sich die ganze Fahrt über wie ein altes Ehepaar zankten.

„Genauso sehr wie mir die Windpocken fehlen würden“, spottete sie.

„Ich nehme alles zurück, Jess, ändern Sie sich niemals“, sagte er lachend, und sie schimpfte sich insgeheim eine Närrin, weil sie sich plötzlich glücklicher und lebendiger fühlte, wenn er sie tadelte, als wenn irgendein anderer Mann sie mit Komplimenten überschüttete.

„Keine Sorge, das werde ich auch nicht. Soweit ich sehen kann, ist auch nicht zu hoffen, dass Sie sich jemals ändern werden.“

„Und warum sollte ich?“

„Weil die Ehe jeden ändert“, antwortete sie, bevor sie sich bremsen konnte.

„Ich erinnere mich nicht, die Ehe erwähnt zu haben“, sagte er so kühl, dass Jessica erschauerte.

„Nicht mir gegenüber. Machen Sie sich keine Sorgen, es ist bestimmt nicht meine Absicht, irgendwelche Ansprüche anzumelden“, verteidigte sie sich bissig.

„Das habe ich auch nie angenommen, meine Liebe.“ Er klang so abweisend, als wären sie Fremde, die sich nicht einmal besonders leiden mochten.

„Umso besser. Es wäre Ihnen gewiss unangenehm gewesen, hätte ich Interesse gezeigt, ihre Duchess zu werden.“ Diesen Kommentar hatte sie sich nicht verkneifen können.

„Wer weiß das schon?“ Er schien in Gedanken meilenweit entfernt.

„Ich weiß es!“, beharrte sie verstimmt.

„Sie haben recht“, gab er nach einer angespannten Pause zu, während der Jessica sich auf die Zunge beißen musste, um ihm nicht noch einmal zu versichern, wie wenig ihr daran lag, ihn auf irgendeine Weise zu ködern. „In einem schwachen Augenblick gab ich der Aufforderung meiner Großmutter nach und fasste eine Heirat ernsthaft ins Auge. Ein großer Fehler, denn jetzt sehe ich mich gezwungen, den Gastgeber für eine Schar vornehmer junger Damen des ton und deren Familien abzugeben.“

„Deswegen auch die Einladung an die Pendles, um nicht allzu offensichtlich werden zu lassen, welchen Zweck die Anwesenheit der jungen Damen hat.“ Jessica versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es sie verletzte, dass sie als eine Art Ablenkungsmanöver benutzt werden sollte.

„Nein, deswegen meine Einladung an eine Familie, die mir nahesteht, und zu einem Ort, den ich mehr liebe als jeden anderen auf dieser Welt. Sie sind genauso schön wie die Damen, die meine Tante eingeladen hat, und sollten es inzwischen wirklich wissen, ohne dass ich es Ihnen immer wieder bestätigen muss.“

„Ich bin nicht schön“, widersprach sie empört, als hätte er sie beschuldigt, hässlich wie die Nacht zu sein.

„Ob es Ihnen nun gefällt oder nicht, meine Liebe, Sie sind schön! Und jetzt setzen Sie nicht diese gequälte Miene auf und benehmen Sie sich wie die sittsame junge Dame, als die Sie überall bekannt sind.“

„Und Sie irren sich trotzdem“, meinte sie spitz.

Sobald die staubigen Straßen vertrauter wurden, verwandelte Jack sich erneut in den zynischen Duke of Dettingham. „Es stimmt, wissen Sie“, sagte er, während er Jessica Retikül und Fächer reichte.

Der Butler der Pendles hatte ihr gerade vom recht hohen Zweispänner heruntergeholfen, und sie sah verwundert zu ihm auf. „Was stimmt?“

„Dass Sie schön sind, selbstverständlich.“ Der Blick, mit dem er sie bedachte, war so leidenschaftlich, dass Jessica ihm fast geglaubt hätte, bis sie sich daran erinnerte, was für ein vollendeter Verführer er doch war. Es gehörte schließlich zu seinen größten Talenten, jeder Frau einzureden, dass sie etwas Besonderes für ihn war.

„Ha! Versuchen Sie das mal Ihren anderen weiblichen Gästen weiszumachen, wenn wir uns wiedersehen. Die werden Sie wahrscheinlich für verrückt halten und verlangen, dass ich in den Burggraben geworfen werde.“

„Es gibt keinen Burggraben“, protestierte er.

„Die lieben Damen würden mir zuliebe einen bauen“, scherzte sie.

„Soll das also eine Herausforderung sein?“ Bei seinem neckischen Lächeln wurden Jessica die Knie weich.

„Nein!“, antwortete sie ein wenig zu hastig und wich zurück, als könnte seine Nähe allein schon ihre Entschlossenheit untergraben.

„Schade. Ich liebe Herausforderungen, und keine andere Frau macht mir so oft die Freude wie Sie, mir eine zu liefern.“

„Ich bin genau wie jede andere Frau.“ So anmutig sie nur konnte, wandte sie sich von ihm ab, da er sich weigerte, den Gentleman herauszukehren und sie in Frieden zu lassen.

„Sie könnten für mich niemals nur eine von vielen sein, Prinzessin“, versicherte er ihr zum Abschluss noch, bevor er endlich weiterfuhr. Ein letzter lässiger Wink mit der Peitsche, und Jack verschwand in einer Staubwolke.

„Unmöglicher, überheblicher Dummkopf“, stieß Jessica zwischen den Zähnen hervor, während sie ihm nachblickte, bis er ganz außer Sicht war.

„Wie bitte, Miss Jessica?“, fragte der Butler ausdruckslos, obwohl man ihm ansah, dass er jedes Wort verstanden haben musste. Wie jeder Bedienstete, der etwas auf sich hielt, wahrte er jedoch die Würde.

„Ich hätte gern Tee, Wellow“, antwortete Jessica freundlich. „Ich kann ihn gut gebrauchen, glauben Sie mir.“

„Welche Dame nicht“, erlaubte Wellow sich zu sagen und folgte ihr in die Eingangshalle.

Zwei Wochen später überlegte Jessica, dass selbst eine Tasse Tee ihre jetzige Situation nicht retten würde. Ihre Eltern hatten im allerletzten Moment abgesagt, und sie war allein auf dem Weg nach Ashburton. Der Kutscher verlangsamte das Tempo, als er die Zufahrt zu Jacks Herrenhaus erreichte, und Jessica kämpfte gegen den feigen Impuls an, ihm zu befehlen, umzukehren und sie nach Winberry Hall zurückzubringen.

Trotz ihrer seltsam aufregenden Begegnungen in London würde Jack sie mit seiner gewohnten geistesabwesenden Liebenswürdigkeit behandeln und sie dann schnell vergessen, versuchte Jessica, sich zu beruhigen. Sie musste nur die nächsten zwei Wochen auf seinem prächtigen, imposanten Gut herumhinken und heiter und gelassen aussehen, während er sich unter den Schönsten der Schönen des ton die Frau aussuchte, die seine Gattin werden würde. Danach konnte sie nach Hause fahren und ihr eigenes Leben weiterführen wie bisher. Schicksalsergeben lehnte Jessica sich vor, um den ersten Blick auf Ashburtons berühmten Wildpark zu werfen. Die Kutsche fuhr schließlich durch das eindrucksvolle Tor, und es war endgültig zu spät für eine Flucht.

„Ihre Ladyschaft trug mir auf, Sie daran zu erinnern, höflich zum Duke zu sein“, teilte ihr die alte, noch immer Respekt einflößende Zofe ihrer Mutter streng mit, als die Kutsche langsamer wurde.

„Ich bin nicht so dumm, seine Gnaden vor all seinen Gästen bloßzustellen, Martha.“

„Ihre Mutter möchte verhindern, dass Sie verletzt werden, Miss Jessica“, sagte Martha ernst.

Warum hatte sie dann darauf bestanden, sie ganz allein und ohne ihre Unterstützung herzuschicken? Sie musste doch wissen, wie gern die schönen Gäste die Krallen zeigen würden in dem Gerangel, der zweifellos um Jacks Gunst stattfinden würde.

„Du kannst dich darauf verlassen, dass alles ist, wie es sein muss, mein Liebes, trotz der Panik, in die Rowenas Mann schon wieder geraten ist“, hatte Jessicas Mutter ihr versichert, als ihnen eine Nachricht gebracht worden war – ausgerechnet in dem Moment, da sie beide alles gepackt hatten und zur Abfahrt bereit waren. „Rowena ist gesund wie ein Fisch im Wasser, aber schon als Kind konnte sie nicht richtig rechnen und hat sehr wahrscheinlich das Datum ihrer letzten Monatsblutung falsch in Erinnerung. Ich habe ihr gesagt, dass sie einen viel zu großen Bauch hat, um noch im siebten Monat zu sein, das letzte Mal, als wir sie besuchten. Erinnerst du dich? Linstock und dein Papa werden völlig unbrauchbar sein, bis wir uns vergewissert haben, dass deine Schwester nicht mehr in Gefahr ist, also muss ich mitgehen und dem armen Mädchen in seinem Wochenbett helfen, damit es sich nicht außerdem noch um ihren Mann und Vater sorgen muss.“

Seufzend schüttelte Lady Pendle den Kopf. „Du musst Martha mitnehmen, und auf Ashburton wird Lady Henry dann als deine Anstandsdame fungieren. Deine Patentante wird deiner Hilfe sehr bedürfen mit all diesen aufgeregten jungen Damen im Haus, weißt du.“

Ihre Mutter schien geglaubt zu haben, dass Lady Henry eine sehr undankbare Aufgabe bevorstand. Sie würde wohl alle Hände damit zu tun haben, die jungen Damen davon abzuhalten, sich gegenseitig an die Kehle zu gehen. Wie hätte Jessica sich also weigern können, herzukommen. Ihre liebe Patentante war immer für Jessica da gewesen, wann immer sie sie gebraucht hatte.

„Seine Gnaden und ich sind heutzutage kaum mehr als flüchtige Bekannte, Martha. Ich bin nur gekommen, um meiner Patentante zu helfen“, sagte Jessica jetzt. „Ich werde damit beschäftigt sein, auf diversen Sofas zu sitzen und langweilige Gespräche zu führen, also brauchst du mich nicht herauszuputzen, als wäre ich noch ein junges Mädchen. Am besten betrachtest du den Besuch hier als eine Art Urlaub und genießt einfach die Annehmlichkeiten, die Ashburton zu bieten hat.“

„Ganz gewiss nicht, Miss Jessica. Lady Henry und Ihre Mama würden niemals zulassen, dass Sie weniger elegant gekleidet sind als die übrigen Gäste. Und auch ich werde Ihnen nicht erlauben, sich zum Narren zu machen!“, stellte Martha unmissverständlich klar.

„Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und somit eine alte Jungfer und kein hoffnungsvoller Backfisch mehr“, konterte Jessica leichthin, aber mit Entschiedenheit, wie sie sehr hoffte.

Sie erinnerte sich noch, wie es war, so jung und naiv zu sein, und erschauerte bei dem Gedanken daran. Mit siebzehn hatte sie noch die romantischen Vorstellungen eines jungen Mädchens gehabt, auch wenn sie sich in Bezug auf Jack keine Hoffnungen mehr erlaubt hatte. Davon war sie schnell kuriert worden, nachdem sie Lieutenant Swaybon belauscht hatte. Noch am Abend zuvor hatte er ihr geschworen, dass sie das Licht seines Lebens sei. Doch dann wurde sie Zeugin, wie er seinem Bruder, dem Dorfpfarrer, anvertraute, das kleine Vermögen, das sie von ihrer Großtante erwarten konnte, würde ihm eine Einstellung und ein Offizierspatent einbringen. Noch jetzt konnte Jessica jedes einzelne seiner grausamen Worte hören …

„Wäre sie nicht so reich, würde ich so ein lahmes hässliches Entlein wie sie nie eines Blickes würdigen, das versichere ich dir, Bruder. Wenn ich sie nicht so viel dringender bräuchte, würde sie auch für dich eine anständige Frau abgeben. Außerdem wird Miss Hinkefuß niemals von Verehrern gejagt werden. Die würden sie ja sonst auch schnell einholen! Ha!“ Julius Swaybon war in wieherndes Gelächter ausgebrochen.

Reverend Swaybon war ein sehr viel netterer Gentleman gewesen als sein Bruder und hatte Julius wegen seiner respektlosen Haltung gegenüber seiner zukünftigen Braut getadelt.

„Sei nicht dumm“, hatte sein weltmännischer Bruder höhnisch erwidert. „Sie würde mich auch keines Blickes würdigen, wenn sie Aussichten auf eine bessere Partie hätte. Das Mädchen muss wissen, dass es keine große Wahl hat. Sie wird mich nehmen und mir außerdem noch dankbar sein, sonst muss sie nämlich ihrer Familie zur Last fallen, solange sie lebt.“

„Sagtest du nicht, sie verfügt über eigenes Geld?“, verteidigte der Reverend Jessica tapfer, und wenn es ihr möglich gewesen wäre, sich aus Dankbarkeit zu verlieben, hätte sie sehr wohl gewusst, welchen Bruder sie gewählt hätte.

Aber auch Julius Swaybon hatte sie nicht geliebt. Seine übermäßige Bewunderung hatte ihr einfach nur geschmeichelt. Und dann musste sie sich anhören, wie er von ihr sprach, und erkannte, was für ein gefühlloser Mann er wirklich war. Es hatte lediglich bestätigt, wie klug ihre Zurückhaltung Jack gegenüber gewesen war. Eine innere Stimme hatte sie damals davor gewarnt, sich in einen Mann wie ihn zu verlieben. Und jetzt, sieben Jahre später, war er zynischer, erfahrener und gefährlicher denn je – und noch viel faszinierender. Aber das ignorierte sie lieber.

Der Anblick des eindrucksvollen Herrenhauses lenkte Jessica ab. Selbst die Seabornes, die jeden Stein auf ihrem Gut liebten, gaben zu, dass Ashburton ein wunderschönes Haus war, jedoch ein wahres Labyrinth. Die Türme und Kuppeln des gewaltigen Daches wiesen reich verzierte Zinnen auf, die man in der Tudorzeit so geliebt hatte. Das Hauptgebäude wurde von einer großen Anzahl von Erkerfenstern erhellt, die auch heutzutage sehr modern anmuteten. Im Lauf der Jahre waren Anbauten mit den gleichen Ziegeln und dem gleichen Kalksandstein hinzugefügt worden, sodass Ashburton jetzt ein zwar eindrucksvoller, aber dennoch einladend wirkender Herrensitz war.

3. KAPITEL

Unwillkürlich musste Jessica daran denken, wie schnell die Herzen der jungen Damen schlagen mussten, die mit der Absicht herkamen, Herrin von allem hier zu werden, und konnte auch nicht länger vergessen, warum diese gesellige Zusammenkunft überhaupt stattfand. Sollte es ein Mädchen von Verstand und Charakter unter den versammelten Schönheiten geben, würde man froh sein müssen, aber die meisten jungen Damen des ton würden wahrscheinlich ihre Seele für eine so gute Partie wie Jack verkaufen. Ihr wurde ganz schwindelig bei dem bloßen Gedanken, was ihr in den nächsten Wochen bevorstand, und sie wünschte zum tausendsten Mal, sie wäre wieder zurück bei ihren Eltern.

„Dieser verflixte Earl!“, fluchte sie finster vor sich hin.

„Wie bitte?“, brachte Martha schroff hervor, wie immer wenn sie nicht ganz mitbekam, was gesagt wurde. Sich selbst und allen anderen machte sie hartnäckig vor, dass sie nicht allmählich immer schwerhöriger wurde.

„Nichts, was dich etwas anginge, Martha“, antwortete Jessica keck und machte sich mit sehr viel geringerer Erleichterung daran, die Stufen der Kutsche herunterzusteigen, als man nach einer langen Fahrt in trauter Zweisamkeit mit einer so finster dreinschauenden Frau hätte erwarten können.

„Mit schlechten Manieren werden Sie im Leben nicht weit kommen, mein Mädchen“, tadelte Martha, wie es nur eine alte, geachtete Dienerin tun durfte, und der Lakai, der vorsichtig in ihre Richtung blickte, wich unwillkürlich vor Martha zurück. Gerade rechtzeitig erinnerte er sich noch an seine Pflichten und hielt Jessica die Hand hin, um sie zu stützen.

„Du musst es ja wissen“, entgegnete sie ungerührt und berührte zum ersten Mal mit leicht zitternden Beinen den Boden der Seabornes.

„Ich weiß nicht, was Sie damit meinen, Miss Pendle“, sagte Martha würdevoll.

„Nein, natürlich nicht.“ Mit einem halbherzigen Lächeln schüttelte Jessica ihre zerdrückten Röcke aus. Dann machte sie ein paar Übungen, die der Stallmeister ihres Vaters sich für sie ausgedacht hatte, damit sie den Schmerz in den Muskeln ihres verletzten Fußes lindern konnte.

Selbst wenn sie hier stehen müsste, bis sie von allen vergessen worden war, würde sie auf keinen Fall die wenigen Stufen hinaufstolpern und so ihre hart erkämpfte Würde aufs Spiel setzen. Allein bei dem Gedanken, was Jack Seaborne sagen würde, sollte sie wie eine Betrunkene auf seine Haustür zutaumeln, spannten sich ihre ohnehin schon völlig verhärteten Muskeln noch mehr an. Also zwang Jessica sich, ihn zu vergessen, und ihre Unruhe ließ nach.

„Oh, da bist du ja endlich, meine Liebe“, rief Lady Henry Seaborne erfreut und eilte die Stufen zu ihr herab. „Ich bin so glücklich, dass du kommen konntest, Jessica, selbst wenn wir uns mit der Abwesenheit deiner lieben Mama abfinden müssen. Allerdings können wir deinem kleinen Neffen nicht übel nehmen, dass er die Aufmerksamkeit seiner Großmama für sich in Anspruch nehmen wollte, nicht wahr? Oh, wusstest du es gar nicht? Deine Schwester wurde glücklich von einem gesunden Jungen entbunden!“

„Nein, Mama musste nach Dassington Manor abreisen, gerade als wir zum Aufbruch bereit waren. Papa bestand darauf, mir die Kutsche zu geben. Wie froh Rowena und Sir Linstock sein müssen. Dem Himmel sei Dank, dass meine Schwester und ihr Kind gesund sind!“, rief Jessica unendlich erleichtert.

„Deine Eltern waren so darauf bedacht, dich die guten Neuigkeiten wissen zu lassen, dass Sir Linstocks Diener in seiner Eile eine Abkürzung genommen und dich auf dem Weg verpasst haben muss. Mein Liebes, ich hatte solche Angst, keine von euch beiden würde kommen, dass ich bei jedem Brief, der uns erreichte, fürchtete, es könnte sich um eine Absage handeln.“

„Ich konnte dich doch unmöglich im Stich lassen. Rowena wäre die Erste gewesen, die darauf bestanden hätte, dass ich komme. Außerdem ist sie ja nicht allein. Bis auf mich ist wahrscheinlich die gesamte Familie bei ihr aufgetaucht, um sie zu verwöhnen.“

„Nun, ich glaube schon, sie würde dich allen anderen vorziehen, denn ihr beide steht euch sehr nahe“ Lady Henry lächelte.

„Das stimmt, aber Sir Linstock wird schon dafür sorgen, dass sie von den vielen Gratulanten nicht überwältigt wird.“

„Ich weiß, wie schwer es dir gefallen sein muss, deine Reise fortzusetzen, also komm her und lass dich umarmen, und zum Kuckuck mit unserer Würde.“ Lady Henry umarmte Jessica herzlich.

„Natürlich wäre ich gekommen. Du bist meine liebste Verwandte, und ich sehe dich viel zu selten.“

„Dafür muss ich dich noch einmal umarmen, Prinzessin Jessica.“

„Oh, wie sehr wünschte ich, Jack hätte sich nicht auf diesen Spitznamen versteift, nachdem du mich damals nach dem Unfall im Queen-Zimmer untergebracht hast! Und bewusst wurde mir erst sehr viel später, dass du das getan hattest.“

„Es wundert mich, dass meine liebe Tochter es dir nicht sofort sagte. Immerhin war sie ziemlich neidisch, weil man dir erlaubte, in einem Zimmer zu schlafen, das sie nicht einmal betreten durfte.“

„Du musst ja ein fürchterlicher Drachen sein, wenn sie sich nicht getraut hat, sich dir zu widersetzen“, neckte Jessica sie.

„Wahrscheinlicher ist, dass sie sich zu sehr auf das Pony freute, das Jack ihr zum Geburtstag versprochen hatte, falls sie brav wäre und keinen Ärger machte wegen des Zimmers. Sie wusste, er würde ihr nicht einmal ein Hufeisen geben, sollte sie nicht den Mund halten.“

Jessica war davon überzeugt gewesen, dass Jack sie damals nicht besonders gemocht hatte, und mehr als verblüfft über diese Information. Ungeduldig ermahnte sie sich, endlich damit aufzuhören, ständig an ihn zu denken, und wollte Lady Henry gerade nach ihren Kindern fragen, da überfiel sie eine seltsame Unruhe wie immer in Jacks Gegenwart in letzter Zeit. Er war offenbar gekommen, um sie zu begrüßen.

Auf der obersten Stufe der Treppe entdeckte sie ihn. Schlank, muskulös und umwerfend gut aussehend in der eher bequemen als modischen Kleidung, die er beharrlich auf dem Land trug. Er machte einen so viel mächtigeren, beängstigenden Eindruck auf sie als bei ihrer letzten Begegnung vor zwei Wochen, dass Jessica am liebsten wieder in die Kutsche gestiegen und ihrem Kutscher befohlen hätte, sie auf schnellstem Wege zurück nach Hause zu bringen.

Allerdings ist es nicht wichtig, was du willst, erinnerte sie sich resigniert. Jack gab diese Party, um unter seinen Gästen die passendste Frau für sich zu wählen, und die meisten Damen schienen etwas zu langes dunkelbraunes Haar und locker sitzende Jacken zu mögen – zumindest an ihm. Immerhin musste man ihm lassen, dass er der von Beau Brummel kreierten Mode folgte, zu jeder Zeit gepflegt zu sein. Einen Seufzer unterdrückend sah sie zu ihm auf und erschauerte ahnungsvoll, als sie bemerkte, wie eindringlich er sie musterte.

Eine seltsame Hitze erfüllte Jessica. Sie musste an den Tag denken, an dem sie mit ihm ausgefahren war, und die leidenschaftlichsten Gefühle ergriffen von ihr Besitz. Zum Kuckuck mit diesem Mann! Wie schaffte er es, eine solch mächtige Wirkung auf sie auszuüben, noch dazu ohne sich besondere Mühe geben zu müssen?

„Oh, da bist du ja, mein Lieber.“ Ihre Patentante schien bemerkt zu haben, dass Jessica zusammengezuckt war, und drehte sich um, um den Grund auszumachen. „Hughes sagte, du wärst mit Givage unterwegs, um die Koppeln zu überprüfen“, begrüßte sie ihren Neffen mit einem warmen Lächeln.

„Wir sahen eine Reisekutsche durch die Pforte kommen. Wie hätte ich bei Miss Pendles Ankunft abwesend sein können? Sie ist immerhin unser Ehrengast. Gewiss hast du mich doch besser erzogen“, neckte er sie. „Ich nehme an, Lord und Lady Pendle sind zu ihrem jüngsten Enkelsohn gereist und haben es Ihnen überlassen, den Familienverpflichtungen nachzukommen, Miss Pendle?“

„In der Tat, und offenbar wusste jeder lange vor mir, wie es meiner Schwester und ihrem Baby geht, Euer Gnaden.“ Jessica unterdrückte ihre Gereiztheit nur mühsam und wünschte, sie könnte sich ihm gegenüber genauso natürlich benehmen wie jedem anderen Gentleman gegenüber.

„Der Bote kam schon heute Morgen“, sagte er sanft. „Wir hofften, Ihre Mama könnte Ihnen folgen, aber sie fürchtet, sie muss auf Dassington bleiben, damit die arme Rowena nicht von ihrem vernarrten Gatten zur Verzweiflung gebracht wird.“ Er kam die Treppe mit müheloser Geschmeidigkeit herunter.

„Guten Tag … Martha, nicht wahr?“, begrüßte er die Dienerin mit einem respektvollen Nicken, und sie errötete voller Freude und sah plötzlich viel jünger aus. „Wenn wir gewusst hätten, dass Sie sich um Miss Pendles Wohlergehen kümmern, hätte meine Tante sich sehr viel weniger Sorgen gemacht.“

„Vielen Dank, Euer Gnaden, Sie sind zu gütig. Wir wussten alle, dass Miss Jessica so sicher wie in Abrahams Schoß sein würde, sobald wir erst einmal unter Ihrem Dach wären“, entgegnete Martha und knickste tief wie vor einem König.

„Und hier haben wir Miss Jessica also. Willkommen, Cousine.“

„Wir sind nicht miteinander verwandt, Euer Gnaden“, protestierte sie und erntete einen strengen Blick von Martha, aber nicht die geringste Reaktion von Jack selbst.

„Wie unverzeihlich dreist von mir, Miss Pendle“, entschuldigte er sich.

„Und wie schmeichelhaft es für mich wäre, Euer Gnaden“, sagte sie und spürte zu ihrem Entsetzen, wie sie errötete.

„Aber nein, ich bin es, der sich geschmeichelt fühlen würde“, wandte er mit einer so natürlichen Liebenswürdigkeit ein, dass jeder, der ihn nicht durchschaute wie Jessica, ihn für sehr charmant halten musste.

„Zweifellos.“ Sein eindringlicher Blick nahm ihr den Atem.

„Wie unverzeihlich von mir, mein Kind“, rief ihre Patentante plötzlich. „Wir lassen dich im frischen Wind stehen, dabei sieht es so aus, als würde der Himmel jeden Moment seine Schleusen öffnen. Kommen Sie, Hughes“, wandte sie sich an den Butler, der bei der Treppe auf seine Befehle wartete. „Lassen Sie bitte Miss Jessicas Gepäck hereinbringen, und dann führen Sie ihre Zofe in das Queen-Zimmer, wo sie das Auspacken beaufsichtigen kann. Wir werden den Tee im Blauen Salon zu uns nehmen, sobald Miss Pendle Reisemantel und Hut abgelegt hat.“

„Meine Tante hat gewiss recht“, sagte Jack, als spräche er über etwas sehr viel Wichtigeres als das Wetter.

Jessica wusste nicht, wie ihr geschah, als er sie plötzlich hochhob und die Treppe hinauftrug, als würde Jessica kaum mehr wiegen als eine Feder. Einen Moment lang war sie ganz atemlos in ihrem Erschrecken und einer ganz ungewohnten Erregung, die sie bis unter die Haarwurzeln erröten ließ. Fast gab er ihr das Gefühl, er wäre ernsthaft an ihr interessiert – dabei konnte natürlich nichts unwahrscheinlicher sein.

„Setzen Sie mich wieder ab“, verlangte sie von ihm.

„Sie werden fallen, wenn ich das tue.“

„Dann tue ich es eben“, beharrte sie trotzig.

„Nicht auf meiner Treppe.“

„Ich gebe zu, dass Ihnen das sehr lästig sein würde. Aber jetzt haben wir den Treppenabsatz erreicht, lassen Sie mich also gefälligst herunter!“

„Können Sie nicht wenigstens versuchen, höflich zu sein, kleines Igelchen?“, beschwerte er sich und erinnerte sie damit an einen weiteren verhassten Spitznamen von früher.

„Und mit diesem anmaßenden Verhalten glauben Sie, mich dazu überreden zu können?“ Sie konnte nicht verbergen, wie gekränkt sie war.

„Nein“, gab er zu, ließ sie aber noch immer nicht herunter, als würde seine Pflicht als Gastgeber verlangen, dass er zu Ende brachte, was er begonnen hatte.

Jessica hatte allerdings das Gefühl, dass sie das flüchtige Vergnügen, in seinen Armen zu liegen, viel zu teuer bezahlen würde. „Wollen Sie mich jetzt bitte herunterlassen?“, flehte sie ihn fast an, als sie schließlich den Blauen Salon erreichten, den die Familie meistens benutzte, und Jack sah sich wahrscheinlich nach der besten Stelle um, wo er seinen Gast absetzen konnte.

„Ihr Wunsch ist mir Befehl, Miss Pendle“. Sanft setzte er sie auf das Sofa. Dann vollführte er eine übertrieben theatralische Verbeugung vor ihr, offensichtlich in der Absicht, die angespannte Atmosphäre zu entschärfen.

„Ha! Sehr unwahrscheinlich“, meinte Jessica und sah, wie er erleichtert aufatmete.

„Stimmt. Obwohl, was immer Sie sich jetzt wünschen könnten, solange es im Rahmen meiner Möglichkeiten ist, wird es mich schon nicht aus der Fassung bringen“, sagte er mit einem vergnügten Lächeln, dem Jessica kaum widerstehen konnte.

In diesem Moment betrat seine Tante den Salon. „Verzeih mir, dass ich dich zurückließ, meine Liebe“, wandte er sich an sie, „aber ich dachte, du würdest dich besser fühlen, wenn deine Patentochter bequem im Salon untergebracht ist, wo sie sich in aller Ruhe von ihrer Reise erholen kann.“

„Ich bin gern bereit zu warten, bis sie Mantel und Hut abgelegt hat, bevor ich das tue“, tadelte seine Tante ihn sanft und beeilte sich, Jessica aus der Pelisse zu helfen. Hastig zog Jessica dann noch ihr eng anliegendes Jäckchen aus – denn wenn sie nicht schnell ein wenig Unabhängigkeit zeigte, würde Jack womöglich darauf bestehen, ihr auch dabei zu helfen. Und was sie im Augenblick brauchte, um sich wieder ein wenig zu fassen, war ein gewisser Abstand zwischen ihm und sich.

„Jack, sei so freundlich, dies Jessicas Zofe zu geben“, trug Lady Henry ihm entschlossen auf. Jessica musste ein Lachen unterdrücken. Seine Gnaden der Duke of Dettingham wurde angewiesen, die Dienste eines Kammermädchens für sie zu verrichten!

Doch bei dem Gedanken, er könnte ihr nicht nur dabei helfen, ihren Mantel abzulegen, sondern auch alles andere darunter, seufzte sie sehnsuchtsvoll auf.

Jack hielt in der großen Halle im Haus seiner Ahnen inne und fragte sich, ob er jetzt endgültig Gefahr lief, den Verstand zu verlieren. Zum Henker, er musste wirklich bald seiner Mätresse einen Besuch abstatten, wenn das bloße Gefühl der widerborstigen, empfindlichen kleinen Jessica Pendle in seinen Armen genügte, um ihn in Flammen der Leidenschaft aufgehen zu lassen. Er ertappte sich dabei, wie er gierig den flüchtigen Duft auf ihrer Jacke einsog, der ihn so sehr an sie erinnerte. War es der Hauch von Rosenwasser oder etwas anderes, sehr viel Komplizierteres, das ihn immer ihre Anwesenheit spüren ließ? Was immer es war, er würde es als Warnung nutzen müssen, um ihr in Zukunft aus dem Weg zu gehen. Denn er konnte sich keinen schwierigeren Gast vorstellen, und im Moment durfte er sich durch nichts und niemanden von seinem Plan ablenken lassen. Warum er so froh gewesen war, sie zu sehen, stellte ein weiteres Rätsel dar, mit dem er sich jetzt besser nicht beschäftigte.

Sorgfältig legte er ihre schlichte Pelisse und den strengen, schmucklosen Hut auf einen kunstvoll geschnitzten Stuhl und bemühte sich, seine Sinne zu beruhigen, bevor er in den Blauen Salon zurückkehrte und den freundlichen Gastgeber spielte. Als wäre die Lage nicht schon verwickelt genug, ohne dass er plötzlich begann, Jessica auf eine Weise zu begehren, wie es kein Gentleman tun dürfte. Zu seinem Glück wandte er sich gerade noch rechtzeitig zum Gehen, sodass ihn der Butler und die Hälfte der Lakaien – beladen mit genügend Tee und Gebäck für eine ganze Armee – nicht dabei beobachten konnten, wie er sich wie ein verliebter Jüngling über Jessicas Kleidung beugte.

„Ah, da seid ihr ja alle“, begrüßte er seine jüngeren Cousins und Cousinen ohne besondere Überraschung und mit einiger Erleichterung, als sie gleich darauf die Treppe heruntergepoltert kamen.

„Wenn wir doch wirklich alle da wären!“, rief Persephone Seabourne, die älteste unter ihnen, dramatisch, worauf er sie mit einem strengen Blick bedachte.

„Du wirst Richards Abwesenheit mit keinem Wort erwähnen oder deine Mutter auf sonst irgendeine Weise betrüben, solange diese Gesellschaft dauert, nicht wahr, Percy?“ Er sah ihr offen und eindringlich in die grünen Augen.

„Selbstverständlich nicht“, entgegnete sie empört, als wäre er ein Ungeheuer, wenn er auch nur glaubte, sie könnte dazu fähig sein.

„Versprichst du mir das?“, hakte er nach, da er die Leidensmiene eines missverstandenen Engels, die sie nach Belieben auf- und absetzte, nur allzu gut kannte.

Persephone seufzte tief auf und nickte dann.

„Ich will dein Versprechen hören“, beharrte er, weil er sie zu gut kannte, um ihr auch nur den kleinsten Spielraum zu geben, sich aus der Situation herauszulavieren.

„Ich verspreche, auf keinen Fall die edle Aufgabe zu gefährden, die darin besteht, dich endlich loszuwerden und einem armen, verblendeten Frauenzimmer aufzuhalsen, die vielleicht dazu überredet werden kann, dich zu nehmen – trotz deiner zahlreichen und mannigfaltigen Fehler“, fügte sie frech hinzu.

„Mit dir und Miss Pendle in meiner Nähe ist es wohl kaum möglich, dass ich zu selbstbewusst werden könnte, wie sehr all die ehrgeizigen Mamas und deren Töchter mir auch schmeicheln mögen“, sagte er trocken und stöhnte innerlich auf, als er Persephone nachdenklich die Stirn runzeln sah.

Wenn die kleine Hexe auch nur ahnen sollte, welche leidenschaftlichen Gefühle er gerade eben für Jessica empfunden hatte, würde er während der vermaledeiten Feierlichkeiten keinen Moment vor ihren Kuppelversuchen sicher sein. Und was Jessica Pendle anging, konnte er sich keine unpassendere, unbequemere Frau für sich vorstellen als sie. Immerhin hatten sie nicht aufgehört, sich zu streiten, seit sie sich wieder begegnet waren. Er müsste ja ein völliger Esel sein!

„Vergiss bitte nicht, wie viel davon abhängt, dass ich eine Gattin finde, Percy“, sagte er ernst.

„Glaubst du denn aber, es wird funktionieren?“, fragte sie ängstlich.

Ihr gegenüber brauchte er wenigstens nicht vorzugeben, dass dieser Plan sehr viel mehr war als der verzweifelte Versuch, Rich wieder nach Hause zu locken. Obwohl Jack allmählich an der Weisheit seines verrückten Vorhabens zu zweifeln begann. Immerhin heiratete er eigentlich nur, um alle anderen glücklich zu machen – mit Ausnahme von sich selbst. Er nahm an, seine Großmutter würde wegen der Sicherung des Titels froh sein, ihn verheiratet zu wissen, aber Jack hatte die Liste der in Frage kommenden Damen gesehen und verlor schnell auch noch den letzten Rest Begeisterung für die ganze Sache.

„Rich kommt bestimmt zurück, wenn er weiß, dass er nicht mehr Gefahr läuft, den Titel oder die Verpflichtungen, die damit einhergehen, zu erben“, sagte er düster und verwünschte insgeheim seinen Cousin, der sie alle in so großen Kummer gestürzt hatte. Fast drei Jahre waren vergangen, seit er verschwunden war.

„Was ist aber, wenn er nicht freiwillig fortbleibt, Jack?“

„Dann werden wir es früher oder später herausbekommen“, antwortete er grimmig.

„Und du wirst inzwischen den Hals in die Schlinge gesteckt haben für meinen rücksichtslosen Bruder. Und das für nichts und wieder nichts. Diese dummen Gerüchte sind so gemein, Jack. Du darfst wirklich nicht auf sie hören. Manchmal wünschte ich, ich könnte einige von diesen Giftspritzen zum Duell fordern. Nur weil sie Frauen sind, glauben sie, sie können grausame Geschichten über dich und Rich in Umlauf bringen, ohne für die Folgen zu büßen. Würdest du um die Hand einer ihrer abscheulichen Töchter anhalten, würden sie ihre Seele verkaufen, um dich einzufangen, selbst wenn sie dich wirklich für einen Mörder hielten.“

„So ist nun mal der Lauf der Welt, und irgendwann muss ich ja schließlich heiraten, Kleines. Ich bin siebenundzwanzig und werde sonst noch endgültig sitzen bleiben, falls ich nicht aufpasse“, scherzte er und unterdrückte einen Seufzer. Tatsächlich wusste er, dass ein unverheirateter Duke immer als großartige Partie auf dem Heiratsmarkt gehandelt werden würde, selbst wenn er uralt, blind, senil und wirklich ein Mörder wäre.

„Wahrscheinlicher ist, dass der Mond sich blau verfärbt“, bemerkte Persephone trocken.

Zu seiner Erleichterung hörte sie auf, ihn weiter zu drängen, als sie den Salon betraten. Denn nun mussten sie vorgeben, sich keine Gedanken darüber zu machen, wo Richard Seaborne die letzten drei Jahre verbracht hatte.

„Ich hoffe, ihr armseligen Bälger habt uns ein wenig Kuchen übrig gelassen“, fuhr Persephone ihre jüngeren Geschwister an, kaum dass sie hereinkam.

Es war nicht leicht, die warmherzige Art, mit der Jessica seine Cousine umarmte, nicht mit der eisigen Begrüßung zu vergleichen, die ihm beschieden worden war. Sie lächelte herzlich und recht bezaubernd, musste er sich eingestehen, und Persephone drückte ihre alte Freundin an sich, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen und nicht nur wenige Wochen. Die köstlichen Kekse der Köchin sorgten für eine willkommene Ablenkung, aber schon bald war nichts mehr davon übrig und die Kinder wurden von ihrer schwer geprüften Gouvernante ins Schulzimmer zurückgeschleift.

„Und wann kommen die übrigen Gäste, Euer Gnaden?“, fragte Jessica gut gelaunt.

„Morgen“, antwortete Jack finster.

„Nun, zumindest scheint das Wetter doch gut zu bleiben, trotz der Befürchtungen meiner Patentante, also dürften eigentlich alle pünktlich ankommen“, meinte sie, als wäre das etwas Gutes.

Verdammter Rich! Sobald der Schuft endlich wieder zu Hause war und seine Tante diesen gequälten Blick verlor, als fürchtete sie, ihr schlimmster Albtraum könnte wahr werden, würde er ihn höchstpersönlich grün und blau schlagen – nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass der Nichtsnutz gesund und munter war wie eh und je.

„Ausgezeichnet“, sagte er tonlos. „Es wird viel leichter sein, sie alle zu unterhalten, ohne dass wir von Wind und Regen gestört werden“, fügte er hinzu, als ginge es darum, lästige Leute bei Laune zu halten, und nicht, eine Frau unter ihnen zu wählen.

„Und wie genau haben Sie vor, Ihre Gäste zu unterhalten?“, fragte Jessica.

Seine Tante zählte eine ganze Liste von Unternehmungen auf, die die jungen Damen für den Rest des Sommers beschäftigen würden.

Jack überließ es ihnen, letzte Arrangements für die Behaglichkeit der Gäste zu treffen, und entfloh seinen Pflichten ein letztes Mal, bevor die Horde vornehmer Schönheiten und deren Anstandsdamen über sie hereinbrechen würden. Eine halbe Stunde galoppierte er auf seinem liebsten Hengst über die Hügel von Ashburton und versuchte, sich einzureden, dass alles in Ordnung war und Jessicas ihm nicht mehr bedeutete als all die anderen Damen, die sich ihm morgen aufdrängen würden.

„Das sieht Jack wieder ähnlich! Er entzieht sich seinen Verpflichtungen, sobald er nur kann“, meinte Persephone empört. Ihre Mutter war ihm und seinen Fehlern gegenüber viel zu duldsam, wie ihre Tochter fand.

„Er braucht bei mir doch nicht förmlich zu sein, und das weiß er“, wandte Jessica ein, als würde sie auf der Seite ihrer Patentante stehen.

„Du verteidigst ihn, dabei habt ihr euch doch sicher wieder gestritten, kaum dass ihr euch begegnet seid, oder etwa nicht?“, fragte Persephone.

„Wir holen immer das Schlimmste aus dem anderen heraus“, gab Jessica zu. „Da Seine Gnaden sich in den nächsten zwei Wochen von seiner besten Seite zeigen muss, wenn er eine fügsame Frau finden will, hätte ich vielleicht nicht kommen sollen.“

„Es wäre viel besser für ihn, wenn er eine finden würde, die nicht zu allem Ja und Amen sagt. Meiner Meinung nach gehört er auch nicht zu den Männern, die sich mit einer Vernunftehe begnügen können.“ Persephone warf Jessica einen Blick zu, der sie beunruhigte.

Ihr schauderte bei dem Gedanken, ihre liebe Freundin könnte mit allen Tricks versuchen, sie und Jack zusammenzubringen. Denn sie hatte das ungute Gefühl, Jack würde sich in dem Fall gezwungen sehen, ehrlicher zu ihr zu sein, als ihr lieb sein könnte. Jack Seaborne war ein gerechter, ehrenhafter Mann trotz seiner arroganten, nur allzu selbstherrlichen Art. Einer Dame, die er schon so lange kannte, erklären zu müssen, wie wenig er gedachte, ihr einen Antrag zu machen, würde ihn fast ebenso sehr schmerzen wie sie.

„Man sollte glauben, die Ehe seiner Eltern hätte dem Dummkopf gezeigt, dass man eine Frau nicht so einfach verheiratet, wie man eine Stute zum Hengst bringt“, fuhr ihre Freundin leise fort. Sie achtete darauf, dass Lady Henry, die gerade mit Hughes besprach, wann das Dinner serviert werden sollte, sie nicht hören konnte.

„Schon damals, als ich euch besuchte, erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, dass der Duke und seine Gattin sich wie Hund und Katze benehmen würden. Vielleicht hat Jack ja vor, eine etwas friedlichere Frau zu finden.“ Jessica hoffte, ihre aufgesetzte Freundlichkeit würde Persephone davon überzeugen, dass ihr Jacks Heiratsabsichten herzlich egal wären.

„Was ja nur bestätigt, was ich sage, findest du nicht?“

„Vielleicht, wenn ich wüsste, was du genau meinst.“

„Dass Jack der letzte Mensch ist, der sich mit einer Vernunftehe abfinden könnte. Er hat eine so leidenschaftliche Natur hinter der Maske der hochmütigen Gleichgültigkeit, die er der Welt zeigt! Mit einer dummen kleinen Debütantin würde er sich schon langweilen, bevor das Hochzeitsmahl vorüber wäre.“

„Seine Gnaden ist aber auch eine besonders gute Partie. Es wird schwer, eine Frau mit ehrlichen Absichten zu finden – eine, die mehr in ihm sieht als den reichen Duke, der ihr ein Luxusleben bieten kann. Wären sie beide noch am Leben, hätten seine Eltern gewiss schon längst eine Gattin für ihn ausgewählt, die ihm ebenbürtig wäre.“

„Bestimmt nicht.“ Persephone schüttelte entschieden den Kopf. „Jeder von ihnen hätte eine andere Braut ausgesucht und Jacks Leben zur Hölle gemacht, bis er mit der hübschen Tochter eines Bauern durchgebrannt wäre.“

Jessica zuckte mit den Achseln. „Da er also seinen eigenen Weg gehen kann, wird er genau das tun – wie immer.“ Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie sie sich fühlen würde, wenn der Duke eine Frau fand, die nicht nur über Schönheit, sondern auch Charakter verfügte. Ich wäre wirklich froh, redete sie sich ein und tat ihr Bestes, gelassen und zufrieden auszusehen.

„Nicht, wenn ich ihn davon abhalten kann“, warf Persephone ein.

Jessica schauderte bei dem Gedanken, was ihre Freundin sich einfallen lassen könnte, um Jack vor einer Vernunftehe zu bewahren, und wünschte sich weit fort.

„Eines Tages wirst du einem Menschen begegnen, den du nicht mit List oder Charme dazu bringen kannst zu tun, was du willst, Persephone Seaborne“, warnte sie.

„Aber das ist doch schon geschehen, liebe Jessica. Du und Jack seid zwei der dickköpfigsten und eigensinnigsten Menschen, die ich kenne. Fast kommt es mir vor, als hätte Gott euch nur geschaffen, um uns übrige arme Seelen zu quälen.“

„Wie seltsam. Genau das dachten wir immer über dich“, konterte Jessica mit einem selbstgefälligen Lächeln, das sich in herzhaftes Gelächter verwandelte, als Persephone eine sanfte Unschuldsmiene aufzusetzen versuchte und kläglich dabei versagte.

Jessica gab vor, sehr müde zu sein von ihrer Reise, um sich an diesem Abend früher zurückzuziehen. Allerdings ließ Persephone sich davon nicht abhalten und erschien, sobald Martha gegangen war, in Jessicas Zimmer. Etwa eine Stunde verbrachten sie gemütlich auf dem luxuriösen Prunkbett, in dem bereits so viele Königinnen von England die Nacht verbracht hatten, dass niemand mehr genau sagen konnte, nach welcher Königin das Zimmer benannt worden war.

„Welche von den hoffnungsvollen Damen auf Mamas Liste wird also deiner Meinung nach Jacks Gunst gewinnen, Jessica?“, unterbrach Persephone ihre Gedanken.

„Was für eine Liste?“

„Natürlich die mit den in Frage kommenden Bräuten. Welche Dame sollte die Jagd auf den Duke gewinnen?“

„Keine“, antwortete Jessica entschieden. „Mir tut jede leid, die er wählen sollte. Man wird sowieso über sie flüstern und tratschen, ohne dass ich meinen Teil noch dazugeben muss. Es ist wirklich genug, dass selbst die entschlossenste Kandidatin jeden Mut verliert und auf schnellstem Wege wieder nach Hause zurückfährt, wenn du mich fragst.“

„Ich bin sicher, du unterschätzt sie, Jess.“

„Vielleicht, aber ich werde keine Vermutungen darüber anstellen, für welche er sich entscheiden wird.“

„Ich frage mich …“, begann Persephone nachdenklich und bedachte Jessica mit einem seltsamen Blick.

„Genug von Jack!“, lenkte Jessica sie hastig von dem gefährlichen Thema ab. „Bist du in dieser Saison keinem Mann begegnet, den du heiraten würdest, Percy? Eine Weile warst du doch sehr zufrieden mit Mr Harmsburys Gesellschaft.“

„Wirklich? Nun, diesen Eindruck werde ich unbedingt korrigieren, sollte ich wieder in die Lage kommen, seine Gesellschaft ertragen zu müssen.“

„Ach, du meine Güte. Was hat er denn getan?“

„Er brachte mich mit einer List dazu, mit ihm im Park spazieren zu gehen. Ich dachte, wir würden dort zu einer Gruppe von Freunden stoßen. Und der abscheuliche Mann hatte geglaubt, er könnte mich kompromittieren, damit ich ihn heiraten muss, als er mich mit einigen rauen Küssen und einem hastig vorgebrachten Antrag nicht für sich gewinnen konnte. Nun, ich habe dafür gesorgt, dass er diesen Fehler kein zweites Mal begeht.“

„Und wie hast du das geschafft?“

„Du hast doch Brüder. Ich nehme an, sie haben dir ebenso erklärt wie meine es mir erklärten, wie man einen Mann außer Gefecht setzen kann, wenn man ihm entfliehen will. Es funktioniert tatsächlich, Jessica, solltest du jemals die Notwendigkeit verspüren, es auszuprobieren.“

„Unwahrscheinlich, aber ich würde sehr viel länger brauchen, um davonzulaufen, nicht wahr?“, fügte sie bitter hinzu.

„Deine Verletzung hat dich immer sehr viel mehr gestört als irgendjemanden sonst, weißt du“, teilte Persephone ihr so sachlich mit, dass Jessica sich fragte, ob sie ihrem leichten Hinken wirklich zu viel Bedeutung beimaß.

„Wie unhöflich von mir“, meinte sie mit einem kläglichen Lächeln.

„Nein, aber für die Menschen, die dich sehr schätzen, ist es sehr ärgerlich.“

„Also bin ich mehr als nur unhöflich. Alle werden froh sein, wenn ich mich endlich mit einem Dasein in glücklicher Ehelosigkeit zufriedengebe und vom gesellschaftlichen Leben zurückziehe.“

„Ich habe noch nie etwas so Albernes gehört wie deine Idee, dir ein kleines Häuschen auf dem Land zu kaufen und Bienenstöcke und ein oder zwei Schweine zu halten. Wahrscheinlich wirst du auch noch darauf bestehen, im Eselskarren durch die Gegend zu fahren und Spenden an die Armen zu verteilen, ob sie es nun wünschen oder nicht. Man könnte meinen, du seist mindestens fünfundfünfzig und nicht über dreißig Jahre jünger.“

„Soll ich meine Eltern mit einer alten Jungfer von Tochter belasten, mich als Gesellschafterin einer schlecht gelaunten alten Dame verdingen oder gar Gouvernante werden, Persephone?“

„Nichts davon. Du sollst einen liebenden Ehemann finden, der dich davon überzeugen kann, dass du eine überaus begehrenswerte Frau bist! Und das trotz deines verletzten Knöchels, der unmöglich wichtiger sein kann als der Rest deines Körpers, deines Herzens und deines Verstandes.“

Jessica blieb stumm, nicht bereit zuzugeben, dass sie sich in viel zu jungen Jahren entschieden hatte, sich niemals zu verlieben.

„Ich werde mich auf gar keinen Fall mit weniger begnügen als einer Liebesheirat. Das solltest du auch nicht! Aber es kann doch nicht so schwierig sein, einen guten Mann zu finden.“ Persephone schien sich selbst ebenso davon überzeugen zu wollen wie Jessica.

„Ich bin nicht bereit, mich mit irgendetwas zu begnügen“, sagte Jessica ruhig.

„Nein, es ist nicht richtig, aufzugeben und nicht einmal zu versuchen, einen Gentleman zu finden, den man lieben könnte.“

„Und wenn man ihn gefunden hat, es aber unmöglich ist, ihn zu bekommen?“

„Dann ist er also verheiratet? Jessica, wie schockierend“, erwiderte Persephone halb im Scherz, halb erschrocken bei der bloßen Vorstellung.

„Nein, denn er existiert nicht“, beharrte Jessica und ignorierte die innere Stimme, die ihr vorhielt, dass es ihn sehr wohl gab und dass der Zweck dieser fürchterlichen Gesellschaft ihr insgeheim das Herz brach. Doch Jessica stellte sich dieser inneren Stimme gegenüber taub, selbst wenn es sie viel kostete, das zu tun.

Persephone sah sie an, als hätte die heftige Antwort gerade ihre schlimmsten Befürchtungen und gleichzeitig ihre größten Hoffnungen bestätigt. „Du bist ver…“

Sie konnte nicht zu Ende sprechen, weil Jessica ihr schnell die Hand auf den Mund legte, um sie zu unterbrechen. Warnend schüttelte sie den Kopf.

„Nein, Persephone, stelle keine Vermutungen an und stürze dich nicht wieder in eine deiner Intrigen. Ich bin nicht verliebt, und ich kann dir versichern, dass niemand in mich verliebt ist.“

Persephone nickte, und so nahm Jessica die Hand fort, sah ihre Freundin aber noch immer warnend an.

„Ich hätte dich nie für einen solchen Feigling gehalten, Jessica Pendle.“

„Und glaube ja nicht, du könntest mich in Wut versetzen, Persephone. Bei den Seabornes mag es ja funktionieren, aber nicht bei einer Pendle. Wir behalten unsere Meinung für uns und bewahren stets Ruhe.“

„Unsinn, ich habe erlebt, wie Jack dich zur Weißglut bringen kann, und das so oft, dass ich es nicht aufzählen kann. Und sag mir jetzt nicht, das sei in deiner Jugend gewesen, weil er auch jetzt nur eine schnippische Bemerkung zu machen braucht, damit du schäumst vor Wut.“

„Sicher, aber er ist ja auch ausgesprochen eigensinnig, wie du mir selbst immer wieder sagst.“ Jessica zuckte scheinbar gleichgültig die Schultern.

„Genau wie mein Bruder Rich, aber den hast du doch immer für einen guten Freund gehalten, oder nicht?“

Jessica bewegte sich auf sehr dünnem Eis – und ihre schlaue Freundin wusste das, dem spöttischen Glitzern in ihren Augen nach zu schließen.

„Vielleicht liegt das daran, dass Rich kein arroganter, selbstzufriedener Duke ist“, entgegnete Jessica gelassen.

„Oder kein umwerfend attraktiver Herzensbrecher, dessen Blick die meisten jungen Damen des ton liebend gern auf sich ziehen würden?“

„Du unterschätzt deinen Bruder. Er ist sogar ausgesprochen attraktiv, und die älteren Schwestern eben dieser jungen Damen geraten bei seinem Anblick nicht weniger in Aufregung. Allerdings kann man kaum von dir erwarten, das zu bemerken, denn immerhin seid ihr verwandt, und als er London das letzte Mal besuchte, warst du kaum aus der Schule heraus.“

„Ich bin kaum zwei Jahre jünger als du! Du sagst das nur, weil du dich aus einer unangenehmen Situation retten willst …“, protestierte Persephone.

„Ich bin mir keiner unangenehmen Situation bewusst, sondern tausche lediglich albernen Klatsch mit meiner besten Freundin aus. Jedenfalls hielt ich dich für meine beste Freundin, bevor du dich heute in eine jüngere Version deiner Großmutter, der Dowager Duchess, verwandelt hast.“

„Das ist jetzt wirklich grausam und ungerecht, Jessica, wenn nicht sogar böse und gemein. Ich werde nie so sein wie meine Großmutter, und sollte ich hundert Jahre alt werden!“

„Dann betrachte es als eine gut gemeinte Warnung.“

„Du weißt gewiss, was du mit deiner ach so gut gemeinten Warnung tun kannst, oder?“, erwiderte Persephone, packte eins der reich verzierten Kissen, die auf dem königlichen Bett lagen, und fing an, ihre beste Freundin damit so lange zu bearbeiten, bis Jess sich zu wehren begann und beide in Gelächter ausbrachen.

„Du wirst mich also nicht Tag und Nacht nach dem Namen des Mannes löchern, den ich einst glaubte, lieben zu können, Persephone?“, fragte Jessica fast flehend.

„Nur, wenn du deine fürchterliche Anschuldigung zurücknimmst, ich sei wie Großmutter“, betonte Persephone so ernst, dass Jessica sich insgeheim fragte, ob sie da einen wunden Punkt getroffen hatte.

„Dann verkünde ich hiermit, dass ich mir niemanden vorstellen kann, der der Dowager Duchess weniger ähnelt als du, Persephone Seaborne. Und es ist vollkommen unwahrscheinlich, dass du jemals so werden könntest wie sie – denn du besitzt ein liebevolles Herz, und ich glaube nicht, dass sie überhaupt eins hat.“

„Wo andere Leute ihr Herz haben, findet man bei ihr sicherlich nur Stolz und einen Abakus“, stimmte ihre Freundin ein wenig zu fröhlich zu. Jessica betrachtete sie misstrauisch, aber Persephone gähnte theatralisch und erklärte, viel zu erschöpft zu sein, um noch länger die Nacht zum Tage zu machen.

Sie umarmte Jessica herzlich, wünschte ihr eine gute Nacht und versprach, morgen mit ihr ins Dorf zu verschwinden und so dem Aufruhr zu entgehen, wenn Jacks Gäste ankamen.

Erst als sie aus dem Queen-Zimmer gehuscht war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, löste Persephone grinsend die gekreuzten Finger ihrer linken Hand …

4. KAPITEL

Jack Seaborne stand wie angewurzelt auf den Steinfliesen der Terrasse vor dem üblicherweise stillen, leeren Gästezimmer. Er kam oft zum Nachdenken hierher, wann immer es ihm besonders schwerfiel, der Duke of Dettingham zu sein. Wahrscheinlich hätte er einen zufälligen Beobachter an eine griechische Statue erinnert – wenn man davon absah, dass er im Gegensatz zu einer solchen vollständig bekleidet war. Doch Jack kümmerte es nicht, wie er aussah, zu sehr grübelte er darüber nach, was Jessica seiner Cousine gerade fast gebeichtet hatte. Wer war dieser Mann, den sie vielleicht hätte lieben können? Und warum in aller Welt schien es ihm plötzlich so wichtig zu sein, dass sie diesen Kerl vergaß?

Jack zerbrach sich den Kopf darüber, wer dieser Mensch sein könnte, fand aber keine Antwort. Es war ihm gut gelungen, Jessica all die Jahre aus dem Weg zu gehen, und so hatte er nur aus zweiter Hand von ihr erfahren. Natürlich konnte es also sein, dass es irgendeinen geheimnisvollen Burschen in ihrem Leben gegeben hatte, von dem Jack nichts wusste.

Er musste zugeben, dass er Jessicas Heiratsaussichten nie besonders unterstützt hatte, und so war es ihm auch nie in den Sinn gekommen, ihr den einen oder anderen Gentleman seiner Bekanntschaft vorzustellen. Also konnte er auch nicht wissen, ob sie sich in einen von ihnen verliebt hatte.

Etwas in ihm protestierte gegen Persephones Vorschlag, Jessica solle einen guten Mann heiraten, den ihr lahmes Bein nicht kümmern würde und der ihr großes Herz und ihren klugen Verstand zu schätzen wüsste. Der Gedanke, die wilde, geistreiche Jess, an die er sich so gut erinnerte, könnte heiraten, ließ ihn unwillkürlich die Hände zu Fäusten ballen … und weckte den tiefen Wunsch in ihm, ihrem Verehrer einen Schlag auf die Nase zu verpassen.

Plötzlich kam ihm die fürchterliche Idee, Cousin Rich könnte dieser geheimnisvolle Mann sein, und ihm war, als würde er den Boden unter den Füßen verlieren und alles würde sich um ihn drehen. Er liebte beide, jeden für sich genommen, war es da nicht eine Schande, dass allein der Gedanke, sie könnten heiraten, ihm Übelkeit verursachte?

Er wagte es kaum, sich zu bewegen, weil er fürchtete, Jessica könnte ihn hören. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie zu Bett gegangen war, bevor er es riskieren konnte, sich davonzuschleichen.

Morgen würde er sich einer Schar hoffnungsvoller junger Damen stellen müssen, die ihn nicht im Geringsten interessierten, und dennoch wurde von ihm verlangt, eine unter ihnen auszuwählen, mit der er den Rest seines Lebens verbringen würde. Darum sollten seine Gedanken eigentlich kreisen, und dennoch wanderten sie immer wieder zurück zu Jessica und ihrer Sehnsucht nach ihrem mysteriösen Verehrer. Er selbst sehnte sich nicht nach Liebe, und ganz gewiss wollte er keine für seine Frau empfinden. Warum also die Vorstellung, Jessica könnte eine leidenschaftliche Verbindung eingehen, ob nun in der Ehe oder nicht, ihn so beunruhigte, konnte er sich gar nicht erklären. Niemals würde er sich in eine Frau wie sie verlieben, die ihm entweder Gleichgültigkeit entgegenbrachte oder wie ein wütender Stier auf ihn losging!

Also wollte er sie zwar nicht selbst heiraten, aber ein anderer Mann durfte es auch nicht? Was bedeutete das im Grunde? Dass du ein Neidhammel bist, sagte er sich voller Abscheu. Allerdings darf sie es nicht persönlich nehmen, entschuldigte er sich insgeheim bei der hoffentlich tief und fest schlafenden Jessica. Ich will ja auch keine andere Frau heiraten!

Es blieb ihm nur keine andere Wahl, da er an die Erbfolge denken musste. Und an eine der zur Gesellschaft geladenen Damen würde er wenigstens nicht sein Herz verlieren.

Sich mit Leib und Seele auf einen einzigen Menschen einzulassen war töricht – das hatte die Ehe seiner Eltern ihm gezeigt. Jack erinnerte sich, wie zornig er als sechzehnjährige Waise auf seinen Vater gewesen war, der ohne seine Frau nicht mehr weiterleben wollte. Man hatte allgemein behauptet, es sei ein Reitunfall gewesen. Seine Gnaden, vom Kummer betäubt, sei zu dicht am Rande des alten Steinbruchs abgestiegen und ausgerutscht, sodass er den Hang hinuntergestürzt war. Jack wusste allerdings, dass die Wahrheit ganz anders aussah.

Sein Vater hatte getrunken, mit sich gerungen und mit seinem Schicksal gehadert, nachdem seine Frau in einem verspäteten verhängnisvollen Versuch, ihm einen zweiten Sohn zu schenken, ums Leben gekommen war. Die Ärzte hatten vor dem Risiko einer zweiten Schwangerschaft gewarnt. Auch jetzt traten Jack Tränen in die Augen, wenn er daran dachte, wie seine sich mit Hingabe liebenden Eltern ihre Leidenschaft gezügelt hatten, um eine Geburt für so viele Jahre zu verhindern. Wie sehr sie sich geliebt haben mussten!

Nicht, dass ihre leidenschaftliche Beziehung ihn die Folgen ihrer Liebe in einem attraktiveren Licht sehen ließ. Er mochte ja das Kind zweier Menschen sein, die aus Liebe geheiratet hatten und nicht aus Vernunftgründen, aber eben diese Liebe hatte seinen Eltern nicht viel Freude gebracht. Ebenso wenig wie ihrem Sohn, da sie viel zu sehr damit beschäftigt gewesen waren, sich zu streiten, sich zu vertragen und sich dann wieder ewige Treue zu schwören – und so die meiste Zeit überhaupt nicht bemerkten, dass sie auch ein Kind hatten. Mit der Erfahrung eines Erwachsenen sah Jack jedoch ein, wie groß die Belastung für beide gewesen sein musste.

In jedem Fall war eine solche Beziehung nichts für Jack. Er beabsichtigte, für seine Kinder da zu sein und sie zu lieben, selbst wenn er ihrer Mutter nicht ebenfalls Gefühle entgegenbringen konnte.

Das alles erklärte allerdings nicht, warum der Gedanke an Jessicas geheimnisvollen Geliebten ihm so naheging. Sie war doch eigentlich nur eine besonders anstrengende Cousine, oder? Ein Ärgernis, eine Herausforderung, eine ebenbürtige Kontrahentin – zumindest damals, als er noch jung und wütend auf das Leben gewesen war. Jetzt war sie anders, überhaupt nicht mehr so wie die wilde Jess von damals, sodass er sich fast schon eingeredet hatte, sie sei wirklich die unbedeutende Person, die sie selbst vorgab zu sein.

Wieder musste er sich zusammennehmen, um nicht unruhig auf und ab zu gehen, denn der Gedanke an eine Jessica, die sich irgendwo zwischen den beiden Extremen befand, war fast zu gut, um wahr sein zu können.

Wenn sie sich nicht darauf versteift hätte, das Leben einer exzentrischen alten Jungfer zu führen, weil sie diesen unerreichbaren Liebhaber nicht haben konnte, wäre sie die perfekte Frau für ihn gewesen. Ihre Gefühle würden dem anderen Mann gehören, also würde sie von ihm selbst keine Liebe erwarten. Jack kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie ihn nie betrügen würde, selbst wenn dieser Geliebte plötzlich doch noch zur Verfügung stehen sollte. Jack mochte sie eigentlich, trotz ihrer kratzbürstigen Art ihm gegenüber, und sie war so schön, wie er ihr an jenem Tag in London gesagt hatte – allerdings, ohne sie davon überzeugen zu können.

Als seine Gattin wäre sie anmutig, würdevoll und schön, und er würde sich darauf verlassen können, dass sie sich um seine Familie und seine Pächter kümmerte, falls er abwesend sein musste. Ihre Kinder würden genauso charaktervoll sein wie sie, und es würde ihm gewiss Freude bereiten, sie zu zeugen. Schon der Gedanke, Jessica zu verführen, ließ seinen Körper voller Verlangen auf ungewohnt heftige Weise reagieren.

Wenn er sie nur überreden könnte, einer Vernunftheirat zuzustimmen, könnte er mit seinem Leben zufrieden sein. Ja, wenn er also die folgenden zwei Wochen nutzen konnte, Jess zu beweisen, wie gut sie zueinander passten, dann würde er sich sogar auf eine Ehe mit ihr freuen, statt sie als Bürde zu betrachten.

Hier im Schatten des Herrenhauses und während der Mond sich endlich dazu herabließ, sein Antlitz zu zeigen, klang die Idee vernünftig – aber er wusste auch, dass es eine Herausforderung sein würde …

Jack verzog den Mund zu einem selbstbewussten Lächeln. Es wurde Zeit, dass Jess die außergewöhnlichen Freuden kennenlernte, die sie sich mit ihrer dummen Absicht versagte, die sprichwörtliche alte Jungfer zu werden. Er nahm sich vor, sie so unerbittlich zu jagen wie das geschickteste Raubtier. Plötzlich war die Zukunft voller köstlicher Möglichkeiten. Verführerische Bilder erschienen vor seinem inneren Auge: Von sinnlichen Sommernächten mit Jess, leidenschaftlichen Küssen im Mondenschein …

Doch sofort schlug seine Stimmung um, als er sich vorstellte, sie könnte so in den Armen eines anderen Mannes liegen. Er beruhigte sich nur, da ihm einfiel, wie düster sie geklungen hatte, wie hoffnungslos, ihr mädchenhafter Traum könnte je in Erfüllung gehen. Trotzig weigerte Jack sich, Gewissensbisse wegen eines Fremden zu haben. Der Kerl hatte seine Chance gehabt und sie nicht genutzt oder war nicht klug genug gewesen, um sie überhaupt zu bemerken. Solche Dummköpfe verdienten es nicht, dass ihre Geliebten sich ihretwegen das Leben ruinierten. Jessica verdiente Besseres als ein Leben ohne Leidenschaft, und wer wusste schon, was er selbst verdiente. Jack hoffte jedenfalls, er verdiente eine Frau, bei der er nicht vor Langeweile irrsinnig wurde.

Er hoffte, er verdiente Jessica!

Doch wie töricht er gewesen war, bis zu diesem Moment nicht zu erkennen, dass nur Jessica seine Duchess werden konnte!

Alle übrigen Frauen erschienen ihm plötzlich unwichtig.

Schon der Gedanke, die kühle, gefasste Jessica Pendle könnte in seinen Armen zu einer wilden, hingebungsvollen Geliebten werden, erregte ihn derart, dass er sich fragte, wie lange er sich schon etwas vorgemacht hatte. Er erinnerte sich noch genau, wie sie in jenem Londoner Ballsaal ausgesehen hatte, und verstand einfach nicht, wie ihm eine solche Schönheit so lange entgangen sein konnte. War er selbst so blind gewesen, oder hatte Jessica ihr gutes Aussehen viel zu wenig betont? Wie hatte er nur bis heute ihr seidiges kastanienbraunes Haar nicht bemerken können, das im Licht der Kronleuchter so wundervoll glänzte? Wie hatte er sich nicht danach sehnen können, es zu berühren?

Weil Jessica schon die Vorstellung lächerlich fand, ihr Haar könnte anziehend sein! Ebenso wenig wie ihre atemberaubende Figur, die feinen Züge ihres Gesichts, die lebhaften Augen mit dem ungewöhnlichsten Meergrün, das er je gesehen hatte – und dann war da noch dieser verlockende Mund… Nun, am besten verweilte er nicht zu lange bei ihrem Mund, sonst würde er sofort durch das Fenster steigen und das arme Mädchen zu Tode erschrecken, indem er einen Kuss von ihr forderte.

Inzwischen hatte sie gewiss genügend Zeit gehabt, sich zu Bett zu begeben. Und so wehrte Jack jeden weiteren Gedanken ab, der damit zu tun hatte, Jessica doch noch in seine Arme zu reißen und die ganze Nacht zu lieben, und schlich stattdessen leise wie ein Dieb davon.

Wenigstens waren noch keine Gäste da, die den Duke of Dettingham bei seinem seltsamen Verhalten beobachten könnten …

Jessica und Persephone kehrten am folgenden Nachmittag so spät nach Ashburton zurück, dass sie fast ein schlechtes Gewissen bekamen. Lady Henry schien schon auf sie gewartet zu haben, denn sie ließ ihnen kaum Zeit, ihre Hüte abzulegen, bevor sie die beiden in den selten genutzten vornehmsten Salon drängte.

„Hier ist meine älteste Tochter Persephone und meine liebe Patentochter Miss Pendle“, rief sie dramatisch aus. „Ich nehme an, ihr habt Lady Freya Buckle und Miss Corbridge während der Saison kennengelernt, meine Lieben?“, fragte sie, ganz offensichtlich verzweifelt darauf bedacht, wenigstens zwei ihrer Gäste auf jemand anders abzuwälzen. „Diese jungen Damen haben nicht den Wunsch, sich für den Nachmittag auf ihr Zimmer zurückzuziehen und von der Reise zu erholen. Sie möchten gern den Lustgarten sehen. Da meine Tochter und Miss Pendle genau im richtigen Moment erschienen sind, um die Feinheiten gärtnerischer Natur zu erklären, hoffe ich, dass Sie sich mit Ihnen unterhalten können, bis die anderen jungen Leute so weit sind, sich wieder zu uns zu gesellen, meine Lieben.“

„Ja, in der Tat, wie ich höre, sollen die Gärten von Ashburton recht ungewöhnlich sein“, entgegnete Lady Freya, als wüsste sie nicht genau, ob sie das Ungewöhnliche billigen sollte.

„Soweit ich sehen kann, weigern die Seabornes sich stolz, der althergebrachten Tradition zu folgen, und gestalten sie vielmehr nach ihrem eigenen Geschmack um“, sagte Jessica, so gelassen sie konnte. Aber der Gedanke, diese arrogante kleine Dame könnte die Gärten und ihre Besitzer übernehmen und nach ihrem Geschmack umformen wollen, erfüllte sie mit Widerwillen.

„Wir gehen gern unseren eigenen Weg“, bestätigte Persephone mit einem kühlen Blick, der einen Moment länger auf Lady Freyas dünnen Slippern verweilte. „Viele der Gartenwege bestehen aus grobem Kies“, verkündete sie, als könnte man nur in dicken Stiefeln bequem durch den Garten kommen, „aber wenn wir uns an die Gartenterrasse und den Eibengang halten, werden Sie nicht zu Schaden kommen, Lady Freya.“

„Auch ich gehe meist meinen eigenen Weg, wissen Sie“, erwiderte Lady Freya ebenso kühl.

„Das glaube ich gern.“ Persephone hob majestätisch das Kinn, und gemeinsam machten sie sich auf eine recht steife und kurze Tour des Gartens, während der Miss Corbridge und Jessica ihr Bestes taten, die angespannte Stille mit liebenswürdigem Geplauder auszufüllen.

„Ich ziehe ja eher den romantischen Stil vor.“ Lady Freya ließ den Blick missbilligend über den nach Süden ausgerichteten Garten von Ashburton schweifen. „Dies ist alles sehr künstlich.“

„So wie die Illusion eines mythischen Arkadiens, das Mr Brown und in jüngerer Zeit Mr Repton so in Mode brachten“, dozierte Persephone. Sollte Lady Freya nicht erkannt haben, dass ihr der Krieg erklärt worden war, dann war sie optimistischer als Jessica. „Mir ist bekannt, dass mein Cousin, der Duke, diese Neigung zu einer Art falschem Paradies in Miniaturform für Heuchelei hält.“

Jessica fragte sich amüsiert, ob Jack sich je die Mühe gemacht hatte, auch nur einen Moment in seinem Leben über die Vorteile einer „natürlichen“ Landschaft nachzudenken.

Autor

Elizabeth Beacon
Das ganze Leben lang war Elizabeth Beacon auf der Suche nach einer Tätigkeit, in der sie ihre Leidenschaft für Geschichte und Romane vereinbaren konnte. Letztendlich wurde sie fündig. Doch zunächst entwickelte sie eine verbotenen Liebe zu Georgette Heyer`s wundervollen Regency Liebesromanen, welche sie während der naturwissenschaftlichen Schulstunden heimlich las. Dies...
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