Tiffany Exklusiv Band 48

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DER BESTE LOVER MEINES LEBENS von KENT, ALISON
Für ein Testessen braucht Restaurantkritikerin Milla einen Begleiter. Die Lösung: ein Topf mit alten Visitenkarten. Und welche zieht Milla heraus? Ausgerechnet die von George Bergen - dem heißesten Lover, den sie je hatte! Mit klopfendem Herzen greift Milla zum Telefon …

UM MITTERNACHT MIT DIR IM BETT von GABRIEL, KRISTIN
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DU BIST EINFACH UNWIDERSTEHLICH von DEVINE, CAROL
Jahre nach ihrer Affäre stellt Milliardär Jack die hübsche Meg vor die Wahl: Entweder sie heiratet ihn, oder sie verliert das Sorgerecht für ihre gemeinsame Tochter! Verzweifelt willigt Meg ein. Ihr Herz gehört Jack zwar noch immer - doch er scheint zur Liebe nicht fähig …


  • Erscheinungstag 11.10.2016
  • Bandnummer 0048
  • ISBN / Artikelnummer 9783733752545
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Alison Kent, Kristin Gabriel, Carol Devine

TIFFANY EXKLUSIV BAND 48

1. KAPITEL

„Milla, Schätzchen, nimm’s mir nicht übel, aber du bist heute nicht du selbst. Ich meine, wenn man bedenkt, wie toll du sonst immer aussiehst.“

Neidisch blickte Milla Page auf das Spiegelbild ihrer Kollegin. Sie und Natalie Tate waren mit dem Aufzug vom zehnten Stock, in dem sie beide arbeiteten, zum zweiten hinabgefahren. Dort befand sich eine Damentoilette mit einem geräumigen altmodischen Aufenthaltsraum, während ihre eigene im zehnten Stock gerade wegen Renovierung geschlossen war.

Der karamellfarbene Teint ihrer Kollegin und ihre vor Lebenslust strahlenden grünen Augen waren ein wohltuender Kontrast zu dem, was sie die letzten fünf Minuten angestarrt hatte, nämlich ihr eigenes blasses Gesicht.

„Das ist noch viel zu positiv ausgedrückt“, erwiderte Milla seufzend. „Ich finde, ich sehe aus wie ein Zombie.“

„Tja, du siehst wirklich ungesund blass aus“, rief Natalie über die Schulter, bevor sie in eine Kabine ging.

Das hatte man davon, wenn man nachts zu lange ausging, zu viel trank und zu wenig schlief – und das alles auch noch in der Gesellschaft von Männern, die überzeugte Singles waren.

Was hatte sie sich nur dabei gedacht, als sie diesen Job bei der Partnervermittlungsagentur „MatchMeUpOnline.com“ angenommen hatte? Professionelles Dating, das war jetzt ihr Job. Sie musste irgendwie masochistisch veranlagt sein. Dating an sich war ja schon schlimm genug. Die Enthaarung mit Wachs, das Haarestylen … und wozu das alles?

Milla nahm ihr Kosmetiktäschchen aus der Handtasche und überlegte, welchen Lippenstift sie auftragen sollte. Lieber ein sanftes Rosa oder ein intensives Rot? Sie lebte jetzt seit sechs Jahren in San Francisco. In dieser Zeit hatte sie alles gelernt, was es über die Vor- und Nachteile des Singledaseins in dieser Stadt zu wissen gab. Gleichzeitig hatte sie es geschafft, zur Testerin von Restaurants und Klubs für ihre Kunden aufzusteigen. Die Ergebnisse fanden sich auf der Website der Firma.

Das Dumme war nur, um zu beurteilen, wie gut eine Bar oder ein Klubs sich für ein erstes Date eignete, musste sie natürlich ein Date mit jemandem haben. Doch seit dem College hatte sie keine ernsthafte Beziehung mehr gehabt. Einen Mann für ein Date zu finden, das war echte Schwerstarbeit.

Immerhin halfen ihr ihre beiden Kolleginnen – Amy Childs mit ihrem Ehemann Chris und Natalie mit ihrem Verlobten Jamal – so gut sie konnten. Es gelang ihnen auch immer wieder, Milla mit interessanten, attraktiven Männern zusammenzubringen. Niemals jedoch war mehr als gute Freundschaft daraus entstanden. Nichtsdestotrotz hielt Milla sich einige von diesen Männern warm, um im Bedarfsfall immer einen Begleiter zu haben.

Warum sollten die Männer auch jemals Nein sagen, wenn sie doch wussten, dass Milla ihnen einen netten Abend spendieren würde, Abendessen inklusive? Und für Milla war es eindeutig der einfachere Weg, als sich jedes Mal auf die Unwägbarkeiten eines echten Dates mit einem neuen Mann einzulassen.

Leider wirkte sich das negativ auf ihren Job aus, denn es war schon ein Unterschied, ob man einen Klub mit einem guten Freund oder mit einem Fremden testete.

Andererseits, wenn solch ein Abenteuer – wie zum Beispiel das von der Nacht zuvor – bedeutete, dass sie sich am nächsten Tag wie ein Zombie fühlte, dann sollte sie das Ganze wohl besser vergessen. Ausgerechnet jetzt hatte man ihr auch noch eine neue Aufgabe übertragen – „die größte Herausforderung“, wie ihre Chefin Joan Redmond es formuliert hatte. Milla stöhnte, wenn sie nur daran dachte. Ihr erschien dieser Job wie die reinste Folter.

Für die nächsten drei Freitage, also bis Thanksgiving, würden sie und ihre Online-Kolleginnen in Seattle, Denver, Austin, Miami und Atlanta jeweils drei neue Lokale der Stadt unter die Lupe nehmen. Das Besondere daran war, dass diese Klubs und Restaurants alle den Anspruch erhoben, verliebten Paaren eine besonders intime, romantische Atmosphäre zu bieten, in der alles möglich wäre.

Man hatte Milla nicht direkt gesagt, dass ihr Job auf dem Spiel stünde, aber sie wusste Bescheid. Es hatte sich herumgesprochen, dass die Anzeigenkunden der Website nicht sehr zufrieden mit Joans bisherigen Berichten waren. Sie wollten mehr Biss, mehr Action, mehr Sex.

Milla war also entsprechend gefordert. Im Moment wäre sie jedoch am liebsten einfach nur nach Hause gegangen, um zu schlafen.

Die Vorstellung, die nächsten drei Wochenenden mit der Beurteilung besonders heißer „Dating-Spots“ zu verbringen, erschien ihr nicht im Geringsten verlockend. Am liebsten hätte sie gekündigt.

Natalie betätigte die Toilettenspülung und kehrte zum Spiegel zurück. Sie wusch sich die Hände, trocknete sie und beobachtete Milla dabei besorgt im Spiegel. „Lass mal sehen, was du dabeihast“, sagte sie und nahm Milla die Lippenstifte aus der Hand.

Milla war gerade in der Stimmung, ihrer Freundin nicht nur ihre Lippenstifte, sondern ihre ganze Zukunft anzuvertrauen. Im Übrigen musste es einen Grund geben, weshalb Natalie für den Modeteil der Website zuständig war. Heute sah sie wieder einmal aus, als sei sie einem Bild von Salvador Dalí entstiegen – und der surrealistische Look stand ihr fantastisch.

„Also, jetzt erzähl mir von letzter Nacht“, sagte sie, während sie in Millas Tasche nach Lidschatten suchte.

Gehorsam schloss Milla auf einen Wink Natalies die Augen. „Ich war in diesem neuen italienischen Restaurant. Vom Ambiente her ist es sehr romantisch. Leise Musik, über jedem Tisch eine kleine Lampe und wunderschöne Aquarelle an den Wänden.“

„Aber?“ Natalie verwischte den Lidschatten, den sie bei Milla aufgetragen hatte, mit dem Daumen.

„Die Tische stehen viel zu dicht beieinander. Gutes Essen und leise Gespräche, ja, aber irgendwelche unanständigen Spielchen unterhalb der Tischplatte, das kannst du vergessen.“

„Mir ist das Essen und das Ambiente egal“, erklärte Natalie. „Das ist dein Job, nicht meiner. Was mich interessiert, ist dein Date. War es einer aus unserem Recyclingprogramm?“

Milla musste lächeln, wie immer, wenn Natalie diesen Ausdruck benutzte. Sie meinte damit den Vorrat von Adressen attraktiver, männlicher Singles, den eine Gruppe alleinstehender Frauen, die alle in diesem Gebäude arbeiteten, gesammelt hatte. Die Visitenkarten dieser Männer befanden sich in einem gläsernen Stiefel in der „Ladies Lounge“, die zu dieser Toilette gehörte. Jeden Montag trafen sich die „Stiefelschwestern“ in der Mittagspause, um in besagten Stiefel zu greifen oder neue Karten hineinzulegen.

Pamela Hoff, die hochgewachsene blonde Finanzberaterin aus dem fünfzehnten Stock, hatte die Sache ins Rollen gebracht. Ein besonders hartnäckiger Verehrer hatte sie Tag und Nacht verfolgt und ihr schließlich Blumen in einer stiefelförmigen Vase geschenkt, wohl um anzudeuten, dass er sich fühlte, als ob sie ihm einen Tritt mit dem Stiefel gegeben hätte. Um ihm zu zeigen, wie ernst ihr Nein gemeint war, hatte sie ihm die Blumen zurückgegeben.

Aber dabei war ihr die Idee gekommen, dass ein Mann, der für sie nicht der Richtige war, durchaus für eine andere Frau gut sein könnte. Seitdem stand der gläserne Stiefel auf einer kleinen Kommode in dem für Frauen reservierten Aufenthaltsraum im zweiten Stock. Jede Frau, die sich an der Aktion beteiligen wollte, warf die Visitenkarte des Mannes, mit dem sie zuletzt ausgegangen war, in den Stiefel. Natürlich nur falls dieser Mann in ihren Augen ein gewisses Potenzial hatte, auch wenn es zwischen ihr und ihm nicht gefunkt hatte.

Wann immer eine der Stiefelschwestern sich ein Date wünschte, nutzte sie das Montagstreffen, um in den Stiefel zu greifen. Auf diese Weise bekamen es die Frauen nur mit Männern zu tun, die zumindest schon einmal auf Herz und Nieren geprüft worden waren. Eine praktische Methode, um die Spreu vom Weizen zu trennen.

Aber es war natürlich keine Garantie für die ganz große Liebe mit Happy End, wie Milla letzte Nacht hatte feststellen müssen.

„Du kannst jetzt die Augen öffnen“, sagte Natalie.

Milla sah, wie ihre Freundin Rouge und Abdeckcreme aus ihrer Tasche fischte. „Ich habe die Karte weggeworfen. Ein weiteres Recycling halte ich nicht für angebracht.“

„Wenn es so eine Niete war, wieso kam seine Karte überhaupt in den Stiefel?“, wunderte sich Natalie und tupfte vorsichtig Abdeckcreme auf die dunklen Ringe unter Millas Augen.

„Eins der Mädchen aus dem Reisebüro, ich glaube es war Jo Ann, hat sie hineingeworfen“, erwiderte Milla und richtete den Blick an die Decke, damit Natalie besser arbeiten konnte. „Sie sagte, sie habe ihn auf einer Bootsfahrt kennengelernt und er sei der Mittelpunkt der Party gewesen.“

Natalie war inzwischen fertig mit ihren „Renovierungsarbeiten“. „Was meinst du?“, fragte sie.

Milla blickte in den Spiegel und strich sich über ihr stufig geschnittenes blondes Haar. Immerhin sah sie nicht mehr aus wie ein Zombie, sondern nur noch ein wenig übermüdet. „Natalie, du bist die Beste.“ Sie umarmte ihre Freundin. „Jetzt brauche ich nur noch den Tag zu überstehen und danach eine ganze Nacht lang zu schlafen, dann schaffe ich es vielleicht am Freitag, mit Chad einen schönen Abend zu verbringen.“

Natalie begann, Millas Schminkutensilien in deren Tasche zu verstauen. „Also was Freitagabend betrifft …“

„Nein! Bitte nicht.“

„Es tut mir so leid, Schätzchen. Jamal und Chad sind beide für die Chirurgie eingeteilt“, sagte Natalie. „Jamal hat mir vorhin eine SMS geschickt.“

„Das war’s dann wohl. Ich blase die Sache ab und verbringe das Wochenende mit Schlafen, Essen und Fernsehen.“ Milla seufzte sehnsüchtig, aber Natalie holte sie sofort wieder in die Wirklichkeit zurück.

„Jetzt hör aber auf! Was wirst du Joan sagen?“

„Joan wird verstehen, dass mir in letzter Minute etwas dazwischengekommen ist.“

„Mag sein.“ Natalie deutete mit dem Finger auf Millas Spiegelbild. „Aber in diesem Fall würde das bedeuten, dass die gesamte Koordination mit deinen Kolleginnen in den anderen Städten über den Haufen geworden würde. Dann hätten unsere Anzeigenkunden erst recht Grund, sich zu beschweren.“

Natalie hatte natürlich recht. Dieses Projekt betraf nicht nur ihr Büro in San Francisco, es war Teil der Strategie von „MatchMeUpOnline.com“, um als Online-Agentur auf nationaler Ebene führend zu werden. Milla würde finanziell davon profitieren, aber bei dem Gedanken, dass sie dafür ein miserables Date nach dem anderen absolvieren müsste, ließ ihre Begeisterung um einiges nach.

Sie war so entsetzlich müde. Ein richtiges Date – eines, das einfach Spaß machte und nichts mit der Arbeit zu tun hatte – hatte sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gehabt. Sie hatte kein Privatleben mehr, und das wurde langsam zum Problem. „Okay, Frau Oberschlau, wie soll ich so kurzfristig noch einen Mann zum Ausgehen finden?“

Natalie lehnte sich mit der Hüfte gegen das Waschbecken. „Sag mal, kann es sein, dass wir vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen? Nebenan haben wir doch Adressen und Telefonnummern in Hülle und Fülle.“

„Ja, schon, aber nach dieser Nacht?“ Milla schauderte es, wenn sie nur daran dachte. „Außerdem lautet die Regel, dass wir nur in den Stiefel greifen, wenn wir uns montags in der Mittagspause treffen.“

„Klar, aber du stehst unter extremem Zeitdruck“, erwiderte Natalie. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Anbetracht deiner Lage irgendjemand von den anderen etwas dagegen hätte, wenn du ausnahmsweise mal an einem Donnerstag nach einem Kandidaten fischst.“

„Offenbar habe ich überhaupt kein Glück mit Männern.“ Milla schmunzelte. „Jedenfalls nicht außerhalb von Restaurants und Klubs.“

„Ach ja, du Arme.“ Natalie nahm Milla fest beim Arm und ging mit ihr in den Aufenthaltsraum, wo der gläserne Stiefel stand. „Jetzt zieh eine Karte heraus, und drück die Daumen, dass der Mann morgen Abend Zeit hat, damit ich endlich zurück an meine Arbeit gehen kann.“

Milla streckte ihr die Zunge heraus, gehorchte aber.

„Was steht drauf?“, frage Natalie neugierig.

Milla las den handschriftlichen Vermerk auf der Rückseite vor. „Schöne Augen? Ja, die hat er. Ein tolles Lächeln? Ebenfalls. Ein Körper, der ein Mädchen schwachmacht? Ebenfalls. Wird er mal das ganz große Geld haben? Nein. Aber er ist fantastisch im Bett, und das ist es schließlich, was zählt, oder?“

„Siehst du?“, rief Natalie. „Wer wäre besser für deine Zwecke geeignet?“

Dem konnte Milla nicht widersprechen, doch als sie die Karte umdrehte und den aufgedruckten Namen las, ließ sie die Karte fallen.

Natalie hob sie auf. „Bergen Motors“, las sie vor. „Seit vierzig Jahren in San Francisco. George Bergen, Verkaufsmanager.“ Sie klopfte mit dem Zeigefinger auf die Karte. Plötzlich hielt sie inne. „Meinst du …“

„Nein, ich meine nicht – ich weiß.“ George Bergen war der Zimmergenosse ihres Freundes Derek gewesen, damals in seinem ersten Collegejahr. Er war außerdem ihr heimlicher Geliebter gewesen.

„Sagtest du nicht, er sei nach der Abschlussprüfung verschwunden?“

So vieles war damals passiert. „Ja, George hat die Stadt verlassen. Er sagte, er würde nicht zurückkehren, bevor er seine erste Million gemacht hätte.“

„Sieht nicht so aus, als ob er sein Ziel erreicht hätte, es sei denn, er verkauft Lamborghinis.“ Natalie hielt die Karte über die Stiefelöffnung, um sie wieder hineinfallen zu lassen.

Milla riss sie ihr schnell aus der Hand. Ihre Freundin hatte keine Ahnung, was wirklich zwischen ihr und George gewesen war. Niemand wusste das. Milla hatte es sich nie verziehen. Sie fühlte sich noch immer schuldig.

Nicht dass sie ständig daran dachte oder gar davon redete. Aber diese Gefühle waren da, und sie waren stärker als jedes andere Gefühl, das sie für einen Freund aus der Vergangenheit hatte. Sie hatte George sehr wehgetan, und sie hatte nie die Gelegenheit gehabt, es wiedergutzumachen.

Nun, jetzt bot sich ihr diese Chance. Wenn sie sie nicht nutzte, dann würde ihr die Vergangenheit niemals Ruhe lassen. Niemals würde sie sich verzeihen können. Hoffentlich würde George ihr nach all der Zeit vergeben können.

„Sag bloß, du willst ihn anrufen“, sagte Natalie, als Milla aufstand.

Milla nahm Autoschlüssel und Sonnenbrille aus der Tasche. „Nein. Ich werde mich mit ihm treffen. Sag Joan, ich komme später wieder ins Büro.“ Milla ging hinaus zum Aufzug. Hoffentlich war sie jetzt nicht im Begriff, den zweitgrößten Fehler ihres Lebens zu machen.

„Hey, George, Jin ist am Telefon! Er meint, das Chassis sei verrostet und hätte an einer Stelle sogar ein Loch. Soll er versuchen, den Preis zu drücken?“

Verdammt, verdammt! George Bergen sah Hector mit dem Telefon in der Hand durch die riesige Halle auf ihn zu rennen. Wenn er nicht bald ein brauchbares Chassis fand und … Ach, verdammt, was machte er sich eigentlich vor?

Das Chassis war nicht das eigentliche Problem. Die Idee war insgesamt ziemlich unrealistisch. Aber nach sechs Bier und wenn man verzweifelt nach einem neuen Objekt für die Show suchte …

Er riss Hector das Telefon aus der Hand und schrie Jin an: „Sag dem Captain, wenn er mir weiterhin solchen Mist unterzujubeln versucht, dann kann er es vergessen, mit uns Geschäfte zu machen. Ist mir egal, wie lange er meinen Vater kennt.“ Er beendete das Gespräch, bevor Jin überhaupt etwas antworten konnte, warf Hector das Telefon zu und ging zu dem stählernen Waschbecken, das an der Wand neben dem Büro angebracht war.

Von außen sah diese Werkstatt aus wie jede andere, aber das war sie nicht.

Sie beherbergte die Produktionsfirma der Fernsehshow, die als „Der helle Wahnsinn auf Rädern“ bekannt war. Die Show hatte George Bergen zum Star gemacht. Nur wenige schafften, was er und seine Crew fertigbrachten: alte Omnibusse und Lastwagen in fahrende Wunder zu verwandeln, wie etwa tiefer gelegte Schulbusse oder rollende Technoklubs.

Das Beste an diesem Konzept war, dass George nicht etwa zu berühmt war, um unerkannt auf die Straße gehen zu können. Das passierte höchstens manchmal in Vierteln wie seinem, wo ein Auto mehr über die Persönlichkeit seines Besitzers aussagte als über sein Einkommen.

Genau unter solchen Leuten war George aufgewachsen. Gute Leute, die mehr oder weniger von der Hand in den Mund lebten und hofften, was sie ihren Kindern zu geben hatten, würde ausreichen. Für ihn hatte es ausgereicht: die langen Sommerferien, das regelmäßige Abendessen um sieben, das ausgeglichene Verhältnis von Schule, Sport und Arbeit und dann die Weihnachtsfeiern, bei denen die gesamte Familie und die Belegschaft zusammengekommen waren.

Er hatte wie auf einer Insel gelebt, in einem engen Geflecht von Beziehungen. Das Leben hier hatte ihn gelehrt, Männer zu schätzen, die bereit waren, sich die Hände schmutzig zu machen, um sich am Leben zu erhalten. Erst am College hatte er eine andere Welt kennengelernt.

Seine Eltern hatten einen Teil der Kosten bezahlt, den Rest hatte er selbst finanziert, indem er nebenbei gearbeitet hatte.

Sein Zimmergenosse im ersten Jahr, Derek Randall, war allerdings einer von den privilegierten Söhnen reicher Eltern gewesen, einer, der sich niemals selbst die Hände schmutzig machte. Und Dereks Freundin, Milla Page …

George spülte die Seife von den Händen und zog so viele Papiertücher aus dem Spender, als müsse er seine Arme bis über die Ellenbogen abtrocknen. Derek war eigentlich gar nicht so übel gewesen, nur einfach aus einer anderen Welt. Wahrscheinlich waren sie deshalb so oft aneinandergeraten. Irgendwann hatte er eingesehen, wie vergeblich seine Versuche waren, in Dereks Welt einzutauchen.

George hatte es am Ende geschafft, hatte den ganz großen Erfolg gehabt und war nach Hause zurückgekehrt. Hier fühlte er sich wohl, hier fand er Mitarbeiter, die in der gleichen Gegend aufgewachsen waren und die gleiche Einstellung wie er hatten. Allerdings musste er zugeben, dass der Job noch viel mehr Spaß machte, wenn man selber der Boss war und das Geschäft gut lief.

„Na, na“, brummte Hector. „Heute ist wohl nicht dein Tag, George. Angie hat gerade aus dem Ausstellungsraum angerufen. Da ist eine Blondine, die will dich sprechen.“

George warf die Papiertücher in den Abfalleimer und blickte den Mann an, der seit vielen Jahren sein Angestellter und seine rechte Hand war. „Hat diese Blondine einen Namen? Oder, noch besser, hat sie ein rostfreies Chassis dabei?“

„Sie sieht aus, als könnte sie selbst so etwas wie ein Chassis gebrauchen, sagt Angie.“ Hector unterbrach sich und presste das Telefon ans Ohr. „Sie sieht aus wie ein Strichmännchen mit heller Haut, blondem Haar und Augen so groß wie Untertassen. Ihr Name ist …“

„Milla“, sagte George. Sein Magen krampfte sich zusammen. Innerhalb einer Sekunde war er emotional so aufgewühlt wie seit Jahren nicht mehr. „Ihr Name ist Milla Page.“

2. KAPITEL

Milla sah genauso aus, wie George sie in Erinnerung hatte. Seine Freunde hatten oft gelästert, sie müsse aufpassen, nicht vom Wind verweht zu werden. Er müsse beim Sex achtgeben, weil sie so zerbrechlich sei.

Sie hatte ihn immer wieder eines Besseren belehrt – und meistens waren es genau diese Momente, die ihm in den Sinn kamen, wenn er an sie dachte. Er sollte sich besser in Erinnerung rufen, dass alles nur eine einzige große Lüge gewesen war.

Sie sagte kein Wort, stand nur einfach vor ihm. Ihre Füße steckten in Schuhen, die wahrscheinlich so viel gekostet hatten, wie Hector oder Angie oder Jin als Monatsmiete für ihre Apartments zahlten. Kein Grund, ihr das zu verübeln. Milla Page war nun mal Milla Page.

Nervös umklammerte sie ihre lila Handtasche. Offenbar starrte er sie schon viel zu lange an.

George nahm zu ihren Gunsten an, dass ihre Nervosität weniger mit der Gegend zu tun hatte, in der die Werkstatt lag, als mit ihrem Wiedersehen.

Dass Angie hinter dem Empfangstresen saß, auf ihre Tastatur hämmerte, Anrufe entgegennahm und dabei immer wieder zu ihnen hinüberstarrte, war nicht gerade hilfreich. Schweigend sahen sie einander an.

George zwang sich zu einem Lächeln und bedeutete Milla, ihm in den Nebenraum zu folgen, der normalerweise für Kundengespräche reserviert war. Er nahm einen Styroporbecher aus dem Spender und goss sich einen Kaffee ein. Milla schüttelte den Kopf, als er ihr einen anbot.

„Im Moment könnte ich nichts herunterbekommen“, sagte sie.

George dachte, dass ihre Stimme noch genauso wie früher klang.

Er verschluckte sich fast. Wie zum Teufel sollte er sich verhalten? Was wollte Milla von ihm?

Warum hatte sie sechs Jahre lang gebraucht, um zu ihm zu kommen?

Warum wirkte sie so nervös?

Und warum stellte er sich diese Fragen, nachdem er sich doch geschworen hatte, keinen weiteren Gedanken an Milla zu verschwenden?

Schließlich gewann seine Neugier die Oberhand. George deutete auf die Sesselreihe. „Setz dich doch.“ Es klang eher wie ein Befehl als wie eine höfliche Bitte.

Und sie gehorchte und setzte sich auf die Kante des Sessels, der ihr am nächsten stand.

Ihre Fingerknöchel waren ganz weiß, ihre Haut wirkte fast durchsichtig, ihr Lächeln ziemlich gezwungen. Sie sah so verletzlich aus.

Aber George wusste, so zierlich und zerbrechlich sie auch wirkte, Milla Page war alles andere als das. Im Gegenteil. Sie war nicht so leicht zu erschüttern, sie konnte sehr unnachgiebig sein, sie war sozusagen unzerbrechlich. Und wenn sie jetzt einen anderen Eindruck machte, sollte er sich nicht dafür verantwortlich fühlen.

Er setzte sich ebenfalls, ließ dabei absichtlich nur einen Sessel zwischen ihnen frei und beugte sich ein Stück zu ihr hinüber. Es reizte ihn, auszuprobieren, ob er sie nach all der Zeit immer noch aus der Fassung bringen konnte.

„Ich schätze, jetzt ist ein bisschen Small Talk angebracht. Es sei denn, du möchtest gleich zur Sache kommen und mir den Grund deines Besuchs verraten.“

„Ich war zufällig …“

Er brachte sie mit einer unwirschen Kopfbewegung zum Schweigen und lachte spöttisch. „Ganz sicher nicht. Ich kaufe dir nicht ab, dass du zufällig in der Gegend warst.“

Es kostete sie einiges, ihm keine entsprechende Erwiderung entgegenzuschleudern. Ihre Augen verrieten sie, wie immer. „Was ich sagen wollte, ist, dass ich zufällig deine Visitenkarte in die Hand bekam.“

„Dann möchtest du also einen Wagen kaufen?“ Wahrscheinlicher war, dass sie gekommen war, um sich zu überzeugen, dass er es nicht geschafft hatte, sein Ziel zu erreichen.

„Nein, ich bin hier, weil ich dich sehen wollte“, erwiderte sie zu seiner Überraschung.

Er lehnte sich zurück. Kannte sie etwa seine Show? Glaubte sie, sie könnte ein Stück vom Kuchen abhaben? Erschien er ihr jetzt, da er Geld hatte, attraktiver als damals auf dem College?

„Es war überraschend, deinen Namen zu lesen. Ich hatte jahrelang nicht mehr an dich gedacht …“ Sie unterbrach sich und schüttelte den Kopf. „Nein, das stimmt nicht.“

„Was stimmt nicht?“, fragte er. „Dass es dich überrascht hat, meinen Namen zu lesen?“

Sie legte ihre Handtasche auf dem Sessel zwischen ihnen ab, stand auf und ging durchs Zimmer. Vor der Kaffeemaschine blieb sie stehen und drehte sich um. „Ich denke jeden Tag an dich, George. Seit sechs Jahren.“

Er glaubte ihr nicht. Unerschütterlich war sie. Und unfähig, die Wahrheit zu sagen, solange sich die Möglichkeit bot zu lügen. Das Schlimmste war, dass er das wusste und sich trotzdem wünschte, es wäre anders.

Und dass er sich wünschte, sie hätte so oft an ihn gedacht wie er an sie.

George ballte die Faust. Der Styroporbecher drohte zu zerbrechen. „Du denkst jeden Tag an mich, kommst aber erst auf die Idee, mich zu besuchen, nachdem dir meine Visitenkarte in die Hand gefallen ist?“

Milla hob die Schultern. „Ich wusste nicht, dass du wieder in der Stadt bist.“

Es stimmte, er hatte ihr gesagt, dass er sich aufgemacht habe, die Welt zu entdecken. Dass er vor seiner ersten Million nicht zurückkehren würde. Aber dann war er nach einer Million Meilen auf der Straße und einer Million schlafloser Nächte zurückgekommen, um sein Vermögen hier zu machen, wo er zu Hause war.

„Du konntest nicht vorbeikommen und nach mir fragen?“ George warf den fast leeren Becher in den Abfalleimer, der in der Ecke stand.

„Du hast recht.“ Milla kehrte zurück und setzte sich in den Sessel neben ihm. „Das hätte ich tun können. Ich bin mir nicht sicher, warum ich es nicht getan habe.“

Er schon. Er wollte sie an ihre letzte gemeinsame Nacht erinnern, die Party und den Streit, der so eskaliert war, dass sie beide nicht mehr weiterwussten. Aber der schmerzliche Ausdruck in ihrem Gesicht hielt ihn davon ab.

Er streckte beide Arme auf den Rückenlehnen der benachbarten Sessel aus und schlug die Beine übereinander. „Ich habe auch nicht nach dir gesucht, als ich zurückkam. Ich schätze, wir sind quitt.“

„Wie lange bist du schon wieder hier?“, fragte sie leise und starrte auf seine Beine, anstatt seinen Blick zu erwidern.

Seine dunkelblaue Arbeitshose und seine ehemals braunen Arbeitsstiefel waren übersät mit Öl- und anderen Flecken, doch sie schien nichts von alldem wahrzunehmen. „Mindestens fünf Jahre. Ich war nicht lange fort.“

Sie hob den Kopf und sah ihn neugierig an. „Ich dachte, du wolltest etwas von der Welt sehen und ein Vermögen machen.“

Er zuckte mit den Achseln. „Ich habe ein bisschen Sightseeing gemacht und dabei gejobbt, um mich über Wasser zu halten. Hat nicht lange gedauert, bis ich merkte, dass man nur an einem Ort mit dem Herzen zu Hause ist.“ Er rechnete damit, dass sie infrage stellen würde, dass er überhaupt ein Herz besaß.

Aber sie erwiderte nur trocken: „Gut zu wissen, dass es nicht gebrochen war. Dein Herz meine ich.“

Erwartete sie etwa, dass er zugeben würde, wie verletzt er war? Dass er damals Monate in Australien und Neuseeland verbracht hatte, um über sie hinwegzukommen? Sie hatten niemals eine richtige Beziehung gehabt. Nur Sex, wenn auch von der Art, die man niemals vergaß. Aber mit dem Herzen hatte das nichts zu tun.

„Ich schätze, deshalb haben wir im Bett so gut harmoniert. Uns beiden bricht so schnell nichts das Herz“, entgegnete er.

Ihr Blick sagte ihm, dass er sie getroffen hatte. Okay. Sie waren beide nicht fair miteinander umgegangen. Aber sie waren jetzt erwachsen, und die Vergangenheit war Vergangenheit – auch wenn es ihm plötzlich schwerfiel, das zu akzeptieren.

Er beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Knie und verflocht die Hände miteinander. Milla und er waren sich jetzt so nah, dass er ihren Duft wahrnahm, denselben würzig-blumigen Duft wie damals. Wie oft hatte er geglaubt, diesen Duft zu riechen, hatte sich umgedreht und gehofft, sie zu sehen?

Er hasste sich für diese Schwäche. „Ich muss zurück an die Arbeit, Milla. Ich habe viel zu tun. Können wir zur Sache kommen?“

Sie strich mit den Händen über ihren Rock. Er war schwarz und ließ ihre Beine noch blasser aussehen. „Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.“

Was? „Einen Gefallen?“

Sie lächelte zögernd. „Irgendwie hielt ich es für eine gute Idee, als mir deine Karte in die Hände fiel.“

„Aber jetzt, wo du mich gesehen hast, nicht mehr?“

Sie zupfte am Saum ihres Rocks. „Nein, das ist es nicht.“

„Was dann?“ Zum Teufel mit ihm, er wollte es tatsächlich wissen. Er berührte ihre Hand. Ihre Finger waren ganz kalt. Sie fühlten sich so klein und zerbrechlich an. Plötzlich fiel ihm das Sprechen schwer. „Was ist los, Milla?“

Sie hob den Kopf, erwiderte seinen Blick. „Dich wiederzusehen weckt so viele Erinnerungen. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe hierherzukommen.“

„Was für einen Gefallen soll ich dir tun?“

„Ich brauche eine Verabredung für morgen Abend.“

„Ein Date?“ Sie hatten sich sechs Jahre nicht gesehen, und jetzt wollte sie ein Date mit ihm?

„Ja, und zwar für morgen und die nächsten beiden Freitagabende“, beeilte Milla sich zu erklären. „Es hat mit meinem Job zu tun. Ich teste Klubs und Restaurants für eine Webagentur.“

„Für eine Webagentur“, wiederholte er.

„Ich weiß, ich weiß.“ Sie entzog ihm ihre Hand, nahm ihre Handtasche und stand auf. „Ich hätte nicht herkommen sollen. Ich weiß nicht, warum ich es getan habe.“

Das wusste er auch nicht, aber er war sich ganz sicher, dass es nichts mit ihrem Job zu tun hatte. „Wann soll ich dich abholen?“

Milla war schon auf dem Weg zum Ausgang und hielt überrascht inne. Sie drehte sich um. Ihre Blicke trafen sich. „Du musst das nicht tun, George. Ich werde schon noch jemand anderen finden.“

„Du bist aus einem ganz bestimmten Grund hierhergekommen, Milla.“ Als sie etwas erwidern wollte, hob er die Hand. „Ich habe keine Ahnung, was dieser Grund sein könnte, aber wir werden das noch herausfinden. Sag mir nur, wo und wann ich dich treffen soll.“

Ihre Finger zitterten, als sie ihre Karte aus der Handtasche holte, auf der Rückseite ihre Privatanschrift notierte und sie ihm reichte. „Kannst du mich um sechs anrufen?“

George nickte. „Und wohin werden wir gehen?“ Er nahm ihr die Karte aus der Hand. „Nur damit ich weiß, was ich anziehen soll.“

„Oh, in einen Klub, er heißt ‚Test Flight‘. Man zieht sich eher lässig an, aber modisch.“

„Mal sehen, was ich in meinem Schrank habe“, bemerkte er, da sie zögernd vor ihm stand, als ob sie noch etwas sagen wollte. „Keine Sorge, Milla. Ich weiß schon, was sich gehört.“

„Das ist es nicht, weswegen ich mir Sorgen mache.“ Sie schob sich ein paar Strähnen hinters Ohr. „Ich habe gar nicht daran gedacht, dass du vielleicht schon etwas anderes vorhast …“

„Wenn ich das hätte, hätte ich es dir gesagt“, antwortete er knapp. „Ich rufe dich um sechs an.“

Sie nickte, drehte sich um und verschwand. Genauso wie sie damals aus seinem Leben verschwunden war.

George wartete darauf, dass der Schmerz zurückkehren möge und danach das taube Gefühl. Stattdessen fühlte er nur, wie das Adrenalin in seinen Adern kochte, so als ob er im Begriff wäre, eine seiner Spezialanfertigungen für die nächste Show zu testen.

Da wusste er, dass er ein Problem hatte. Wie ernst, das würde er wohl erst morgen Abend erfahren. Verdammt! Er ging zurück in die Werkstatt und vergrub sich in seine Arbeit.

Hector Prieto stand im Büroeingang und beobachtete George, der sich erneut auf das Rollbrett warf und sich unter den Lieferwagen gleiten ließ.

Was immer sich zwischen dem Boss und der dünnen Blonden abgespielt haben mochte, er schien es nicht besonders gut verdaut zu haben. Die Atmosphäre war plötzlich aufgeladen wie vor einem Gewitter.

Dabei hatten sie so viel zu tun.

Das Team war ziemlich gut in Form. Sie arbeiteten an Georges Studebaker für eine Show, die erst im Herbst laufen sollte. Aber das bedeutete nicht, dass irgendjemand es sich leisten konnte, Zeit zu vergeuden.

„Na, Angie?“

Angie Soon saß im Büro und wühlte sich gerade durch einen Stapel Akten. „Ich hab zu tun, Hector. Ich kann dir nicht auf Abruf zur Verfügung stehen.“

Frauen. Er war immerhin dreißig, aber würde er sie jemals verstehen? „Ich würde nur gerne wissen, was da zwischen George und dieser Frau gelaufen ist. Hatten sie irgendwie Streit oder so etwas?“

„Sprech ich chinesisch, Hector? Ich bin hier bei der Arbeit.“ Angie wedelte mit den Händen. „Dieses Telefon hört nicht auf zu klingeln, nur weil George irgendwas mit einer Frau hat, die urplötzlich hier auftaucht.“

„Hm.“ Hector machte einen Schritt zurück ins Büro. „Sie haben also etwas miteinander? Was ist passiert?“

Angie beugte sich vor und durchsuchte den Stapel erneut. Dabei gewährte sie Hector unbewusst Einblick in ihre Bluse.

Hector dachte nicht im Traum daran wegzuschauen. Sie trug einen pinkfarbenen BH, ihre Brüste waren klein und fest. Hector ballte die Hände zu Fäusten. Sein Mund war ganz trocken. Er hatte Angie noch nie auf diese Art wahrgenommen …

„Ich weiß nicht genau“, sagte sie und zog endlich einen Schnellhefter aus dem Aktenstapel. „Sie sind nicht laut geworden, aber keiner von ihnen konnte still sitzen.“

Hector ging zum Wasserspender, nahm sich einen Pappbecher und füllte ihn mit Wasser. „Wo waren sie eigentlich?“

„Im Aufenthaltsraum für Kunden. Ich konnte sie nur durch die Glasscheibe beobachten. George hatte diesen Ausdruck im Gesicht, den er immer hat, wenn ihn etwas beschäftigt.“

„Richtig. Und er verliert kein Wort darüber, bis für ihn alles klar ist.“ Hector trank den Becher leer, knüllte ihn zusammen und warf ihn in den Abfallbehälter. „Glaubst du, sie ist eine Ex?“

Angie zuckte mit den Achseln, schob einen Schnellhefter in den Stapel zurück und zog einen anderen heraus. „Könnte sein. Aber genauso gut könnte sie die Angestellte einer Inkassofirma sein. Wie auch immer, falls sie über alte Zeiten geredet haben, haben sie sich nicht besonders dabei amüsiert.“

Hector ertappte sich dabei, dass er lächelte. Nicht wegen George und der Vorstellung, er könne wegen einer Frau ein Problem haben, sondern wegen Angie. „Tja, George ist wieder bei der Arbeit. Also sollten wir uns wohl nicht weiter den Kopf zerbrechen.“

Angie schob die Schublade des Aktenschranks mit einer schwungvollen Bewegung ihrer Hüfte zu. „Ich zerbreche mir nur über eine Sache den Kopf: Ich muss der Buchhaltung so schnell wie möglich diese Quittungen bringen. Falls du dir noch weiter wegen George Sorgen machst, hast du wohl einfach zu viel Zeit.“

Hector lehnte sich gegen den Türrahmen, verschränkte die Arme vor der Brust und hob eine Braue. „Kann schon sein. Vielleicht könntest du mir ja helfen, sie auszufüllen?“

Angie blickte ihn mehrere Sekunden lang stumm an. Sie hatte blauen und lila Lidschatten aufgelegt, das passte toll zu ihrer Bluse. Ihre Lippen, die sie gerade fest aufeinanderpresste, waren ungeschminkt. „Was sagst du da, Hector? Und bitte keine Zweideutigkeiten. Nicht dass wir uns womöglich missverstehen.“

Oh, verdammt! Aber jetzt hatte er sich schon zu weit vorgewagt, um noch einen Rückzieher zu machen. „Morgen Abend. Auf einen Burger?“

„Einen Burger?“

„Oder wie wär’s mit Shrimps? Oder Steaks? Was dir lieber ist.“

„Ich mag Lasagne.“

„Italienisch klingt gut. Hast du ein Lieblingsrestaurant?“

Angie nickte. „Ja, habe ich. Danke für die Einladung.“

„Also dann“, sagte Hector und stieß sich vom Türrahmen ab. „Ich hole dich um halb acht ab.“

Sie ging an ihm vorbei in die Werkstatt. „Sei pünktlich. Und nicht hupen. Komm an die Tür, sonst wirst du meiner Mutter erklären müssen, wieso du so ein respektloser Lümmel bist.“

„Du wohnst noch bei deiner Mama?“

Angie blieb stehen, drehte sich um und stemmte eine Hand in die Hüfte. „Ich kümmere mich um sie. Sie braucht Hilfe. Hast du damit ein Problem?“

Hector wusste nur zu gut, was es bedeutete, seine Familie zu unterstützen und Opfer zu bringen. Er hatte nur in Verbindung mit Angie nie an so etwas gedacht. Angie war für ihn einfach immer nur das Mädchen gewesen, das bei Bergen Motors das Telefon bediente. „War nur eine Frage, weiter nichts.“

Sie hob das Kinn. „Okay, also dann morgen Abend um halb acht.“

„Ganz genau.“ Das hatte man davon, wenn man hübschen Frauen in den Ausschnitt starrte.

Uns beiden bricht so schnell nichts das Herz.

Milla konnte nicht glauben, dass George das gesagt hatte nach allem, was sie gemeinsam erlebt hatten. Kannte er sie denn wirklich so wenig?

Milla stand am Fenster ihres Büros und blickte hinunter auf den Nachmittagsverkehr. Nachdem sie mit George gesprochen hatte, war sie ungefähr eine Stunde ziellos herumgefahren. Sie hatte an nichts anderes denken können als an George, obwohl es doch genügend Dinge gab, die ihr Sorgen bereiteten.

Ihr Job zum Beispiel. Oder die neuen Schuhe, die an den Zehen drückten. Oder die Tatsache, dass sie umfallen würde, wenn sie nicht bald etwas in den Magen bekam.

„Wie ist es gelaufen?“, fragte Natalie.

Milla drehte sich um. Hoffentlich sah man ihr nicht mehr an, dass sie geweint hatte. „Ich habe ein Date, falls es das ist, was du wissen willst.“

„Das ist gut. Joan wird sich freuen. Aber das ist es nicht, was ich wissen wollte.“ Natalie schloss die Tür hinter sich. „Wie ist es gelaufen zwischen dir und Mr. Bergen?“

Milla schlang die Arme um den Oberkörper und wich Natalies Blick aus. „Eigentlich ist gar nichts gelaufen. Wir haben keine zehn Minuten miteinander geredet.“

Natalie stützte sich mit beiden Händen auf die Rückenlehne des alten Besuchersessels mit dem Paisleymuster. „Geredet? Worüber?“

„Ach, über nichts.“ Milla ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen, zog eine Gurkenscheibe aus ihrem Sandwich und schob sie sich in den Mund.

„Aha, und weiter? Habt ihr übers Wetter geredet? Die Lage der Nation? Die alten Zeiten?“

„Er hat gesagt: ‚Was machst du denn hier?‘ Ich sagte ‚Ich weiß nicht.‘ Er sagte ‚Wieso hast du so lange gebraucht?‘ Ich sagte ‚Ich weiß nicht, aber hättest du morgen Abend Zeit, mit mir auszugehen?‘ Er sagte ‚Klar, wir sehen uns.‘ Das war alles. Wie ich schon sagte, es hat keine zehn Minuten gedauert.“

Natalie zog die Brauen zusammen. „Aber er hat gesagt, dass er mit dir ausgeht.“

Milla nickte.

„Und dann werdet ihr mehr reden?“

Milla hätte keine Worte gehabt, um auszudrücken, wie sehr sie sich davor fürchtete. „Wenn nicht, wird es ein sehr langweiliges Date“, sagte sie.

„Dann ist es also ein Date?“, meinte Natalie.

Woher sollte ich das wissen? dachte Milla. „Eigentlich eher ein Arbeitsessen.“

„Hm.“

„Was soll das heißen?“, fragte Milla.

Natalie ging um den Sessel herum und setzte sich. „Nichts. Ich denke nur nach.“

„Worüber?“ Milla knabberte an einer Käsescheibe.

„Darüber, wie zwei Menschen mit einer gemeinsamen Vergangenheit wie du und George sich innerhalb von zehn Minuten überhaupt etwas mitteilen können, noch dazu, wenn sie nichts sagen.“

Noch ein Stückchen Käse, noch ein Stückchen Gurke. Milla nahm den Geschmack überhaupt nicht wahr. „Wer sagt, dass wir uns etwas mitzuteilen haben?“

„Ich, aber das ist eigentlich gar nicht nötig. Wenn überall Risse in den Wänden sind, braucht man nicht zu erklären, dass es ein Erdbeben gegeben hat.“

Milla musste lachen, aber es klang fast hysterisch. „Erdbeben? Willst du damit sagen, ich habe ein Problem?“

„Du bist jedenfalls nicht mehr du selbst, seit du George das letzte Mal gesehen hast.“

„Das ist doch lächerlich.“

„Ach ja?“ Natalie hob die Brauen. „Ich habe dich zwar damals noch nicht gekannt, aber ich kenne dich jetzt. Und ich warte schon lange darauf, dass du von dort, wo er dich verlassen hat, wieder zu dir selbst zurückfindest.“

„Er hat mich nirgendwo verlassen“, brummte Milla.

„Unterbrich mich nicht. Du hast dir nie eingestanden, was für eine Rolle George Bergen in deinem Leben tatsächlich gespielt hat. Ich dachte mir, du musst wahrscheinlich erst an deine Grenze kommen, um das zu tun. Offenbar ist es jetzt so weit.“

Milla aß schweigend weiter. Das war einfacher, als ihr Leben zu analysieren. „George hält mich für gefühllos. Er meint, ich sei sozusagen unzerbrechlich.“

„Was?“, rief Natalie, die eigentlich immer sehr beherrscht war, empört.

„Unzerbrechlich.“ Milla schüttelte ratlos den Kopf. „Er sagte, uns beiden bräche so leicht nichts das Herz.“

„Und das glaubst du?“

Sie wusste nicht, was sie glauben sollte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie nie damit gerechnet, George Bergen jemals wiederzusehen, auch wenn sie oft an ihn gedacht hatte.

Sie kamen aus verschiedenen Welten. Nichts an ihrer Beziehung damals war normal gewesen. Selbst ihre erste Begegnung und was sie damals getan hatten war falsch gewesen. So wie alles andere auch …

3. KAPITEL

Vor neun Jahren

Milla saß am Fußende von Dereks Bett, blätterte in einem Buch und hörte sich eine CD von „Nirwana“ an, während sie auf Dereks Rückkehr wartete.

Vor einer Stunde hatten sie die letzte Flasche aus dem Sechserpack seines Zimmergenossen geleert, und Derek hatte beschlossen, dass sie unbedingt noch heute Abend für Ersatz sorgen müssten. George würde um zehn von der Arbeit kommen und sich entspannen wollen. Wenn er den Kühlschrank leer vorfand, würde er verärgert sein.

Aber jetzt war es zehn. Derek war immer noch nicht zurück, und Milla fragte sich, ob sie noch länger warten und damit eine Begegnung mit seinem schlecht gelaunten Zimmergenossen riskieren oder lieber nach Hause fahren sollte. Nicht dass sie Angst vor George gehabt hätte. Was könnte er schon tun?

Aber es war Derek so wichtig gewesen, alles richtig zu machen für George, dass ihr deswegen irgendwie mulmig war. Zumal wenn sie daran dachte, was er ihr sonst noch alles über George erzählt hatte. Woher er stammte und dass sein Leben das genaue Gegenteil von Dereks und ihrem war.

Dass er immer so unergründlich und still war. Dass er sich meistens von den anderen fernhielt, wenn diese ausgingen, um zu feiern oder sich ein Spiel anzuschauen. Dass er einen merkwürdigen Humor hatte, fast zynisch, als ob er die Welt und die Menschen hasste.

Wenn sie all das bedachte und dazu die Tatsache, dass Derek es nie nötig gehabt hatte, zu arbeiten, um über die Runden zu kommen … Milla schluckte schwer. Wenn er doch endlich zurückkäme!

Genau in dem Augenblick hörte sie, wie sich der Schlüssel im Türschloss drehte. Sie klappte das Buch zu und wollte aufspringen. Aber es war nicht Derek, der die Tür öffnete und eintrat, sondern George Bergen.

Ihr Herz pochte wie verrückt. Sie konnte kaum noch atmen. Oh, warum war sie nicht längst gegangen? Wieso war sie überhaupt hierhergekommen? Wie sollte sie jetzt gehen, ohne dass es so aussah, als würde sie fortlaufen?

Er war einige Zentimeter größer als Derek, seine Schultern waren breiter, und er wirkte reifer. Sie wusste, er hatte gerade Geburtstag gehabt und war zwanzig geworden. Derek hatte ihm eine kleine Party organisiert, aber sie hatte nicht kommen können.

Jetzt wünschte sie, sie wäre da gewesen, dann wäre dies jetzt nicht ihre erste Begegnung. Nichtsdestotrotz erwiderte sie Georges überraschten Blick und lächelte.

„Hi.“ Sie winkte leicht mit einer Hand. „Ich bin Milla.“

George nickte und blickte sich um. „Wo ist Derek?“

Seine Stimme klang rau. Sie spürte, dass sie rot wurde, als sich ihre Blicke erneut trafen. „Er ist zum Supermarkt gefahren. Er müsste jeden Augenblick wieder hier sein.“

Als ob er ihre Antwort nicht gehört hätte, ließ George seine Tasche aufs Bett fallen und ging mit energischen Schritten zum Kühlschrank. Seine Muskeln zeichneten sich unter der Jeans und dem T-Shirt ab. Es war unmöglich, nicht hinzuschauen. Er war sehr viel besser gebaut als Derek.

Erst nachdem er den Kühlschrank geöffnet und eine Ewigkeit schweigend hineingestarrt hatte, fand Milla ihre Stimme wieder. „Derek ist unterwegs, um Bier zu holen. Wir haben alles getrunken.“

Leise schloss er den Kühlschrank. Milla hatte damit gerechnet, dass er sie zuwerfen würde. Er richtete sich auf und sah sie an. Seine finstere Miene mit den zusammengezogen Brauen und der steilen Falte auf seiner Stirn machte ihr fast Angst.

Oder lag es eher an seinem Aussehen? Und an der Art, wie er sie anschaute?

Seine Augen waren dunkel, und er hatte einen Bartschatten auf Kinn und Wangen, als ob er sich ein paar Tage nicht rasiert hätte. Am liebsten hätte sie sein Gesicht berührt. Sie fand seine Bartstoppeln sexy. Derek musste sich fast gar nicht rasieren.

Georges Lippen waren voll, und um seine Mundwinkel herum bildeten sich feine Linien. Er sah aus wie jemand, der sich zu viel sorgte und nicht oft genug lächelte. Aus irgendeinem Grund zog sie das magisch an.

Sie konnte sich nicht erinnern, dass ein Mann sie jemals nur mit einem Blick so sehr entflammt hatte.

Natürlich war es erregend, wenn Derek sie umarmte, und es war okay, Sex mit ihm zu haben. Aber noch nie hatte sie den Wunsch gehabt, sich die Kleider vom Leib zu reißen, nur weil er sie ansah. George löste in ihr diesen Wunsch aus.

Sie stieß einen Seufzer aus.

„Was ist?“, fragte George. Seine Stimme klang so rau, wie er wirkte.

War es vielleicht das? Er war das genaue Gegenteil von Derek, und vielleicht sogar ein bisschen gefährlich, denn man wusste kaum etwas über ihn. Und er war älter. Milla hob die Schultern. „Ich wundere mich nur, wieso Derek so lange weg bleibt.“

George lehnte sich gegen die Kante von Dereks Schreibtisch, der gegenüber von dem Bett stand, auf dem Milla saß. „Die Einfahrt ist gerade blockiert. Es hat einen Unfall gegeben.“

Ihr Herz schlug schneller. „Ist Derek etwas passiert?“

„Nein. Es sind beide importierte Wagen. Außerdem haben sie eine andere Farbe als Georges Wagen.“

Derek fuhr eine knallrote Corvette. Milla atmete auf. „Aber wie bist du dann hierhergekommen?“

George wies mit dem Kopf in Richtung Tür. „Ein Kumpel hat mich eine Meile von hier abgesetzt. Den Rest bin ich zu Fuß gegangen.“

Richtig. Er hatte sein Auto vor einem Monat verkauft und war zurzeit als Fußgänger unterwegs. Aber die Familie Bergen verkaufte doch Autos. „Kannst du dir nicht von deinem Dad einen Wagen leihen, bis du etwas gefunden hast, was dir gefällt?“

„Ich habe etwas gefunden, das mir gefällt“, erwiderte er, kreuzte die Knöchel und lenkte damit erneut Millas Aufmerksamkeit auf seine langen, muskulösen Beine und die schmalen Hüften. „Außerdem erarbeite ich mir das, was ich will, lieber selbst.“

Redeten sie immer noch über Autos? Oder verurteilte er Derek gerade dafür, dass ihm alles in den Schoß fiel? Und wieso war sie sich plötzlich der Tatsache so deutlich bewusst, dass er viel größer war als sie?

„Ja, klar“, sagte sie und drehte verlegen den silbernen Ring an ihrem Finger hin und her. Derek hatte ihn ihr geschenkt. Er konnte ihn sich leisten von dem Geld, das seine Eltern ihm jeden Monat überwiesen. „Aber warum lässt du dir in der Zwischenzeit nicht helfen? Du könntest Zeit sparen, die du fürs Lernen verwenden könntest.“

Sein Ausdruck verhärtete sich. „Es macht mir nichts aus, zu Fuß zu gehen.“

Jetzt machte er sie wütend. „Mir auch nicht. Aber ich lehne nicht aus Prinzip Hilfe ab, wenn ich sie bekommen kann.“

George stieß sich von der Schreibtischkante ab. „Du meinst, ich gehe aus Prinzip zu Fuß?“

Sie wusste nicht, was sie denken sollte, aber anscheinend hatte sie ihn getroffen. „Ich habe keine Ahnung.“

„Hör zu“, sagte er unwirsch. „Meine Versicherung zahlt nicht für einen Mietwagen. Ich konnte mir keine leisten, die das tut.“

Aha. Jetzt hatte sie Schuldgefühle. „Also, dann lass dir doch einen Wagen von deinem Vater geben.“

„Mein Dad hat mich gelehrt, mir das, was ich will, selbst zu erarbeiten.“ George stemmte die Hände in die Taschen.

Sein Vater gab ihm also gar nichts. Wie dumm von ihr, darauf herumzureiten. „Tja, dann bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als zu arbeiten, was?“

Er schien sich zu entspannen, nahm die Hände aus den Hosentaschen und fuhr sich damit übers Haar.

Sogar die Linien um seine Mundwinkel wurden schwächer, auch wenn sie nicht ganz verschwanden. „Ja, vorerst schon.“

Milla überlegte. „Falls du irgendwie Hilfe brauchst …“ Sie brach ab. Was könnte sie ihm schon anbieten? „Oder wenn du mal ein Auto brauchst, dann kannst du meins haben. Ich benutze es oft tagelang nicht.“

Schon wieder zog er die Brauen zusammen. „Hat dein Wagen eine gute Batterie?“

Fast hätte sie die Augen verdreht. „Würde ich dir den Wagen sonst anbieten?“

„Nein, ich meine …“ Er wedelte mit der Hand. „Wenn du nicht oft fährst, dann kann die Batterie sich entladen.“

„Oh. Danke, aber ich benutze den Wagen mindestens einmal die Woche.“

George nickte. „Dann ist es gut. Aber Derek hat dir das wahrscheinlich auch schon gesagt.“

Er hatte nichts dergleichen getan. „Derek kümmert sich nur um ein Auto, und das ist sein eigenes.“

George sah sie forschend an. Als ob das, was sie gerade gesagt hatte, keinen Sinn ergäbe. „Danke für das Angebot“, sagte er dann. „Falls ich dein Auto benutze, nehme ich es mit in die Werkstatt und checke es durch.“

Oh, das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. „Warum solltest du das tun?“

„Weil mir mein Dad auch das beigebracht hat.“

„Sich um Autos zu kümmern?“

„Na ja, das auch. Aber ich meinte eher, sich um Leute zu kümmern.“

„Da hattest du aber Glück.“ Sie starrte auf ihre Hände und wünschte, Derek würde endlich kommen. Ihr Puls raste. „Viele Eltern bringen ihren Kindern nur bei, dass man für Geld alles bekommen kann.“

George schnaubte. „Und du findest nicht, dass das so ist?“

Milla lächelte und zog wieder an ihrem Ring. „Es ist vielleicht so, aber etwas, für das man gearbeitet hat, bedeutet einem mehr, oder?“

Diesmal lachte er herzlich. „Entschuldige. Ich bin manchmal ein ziemlicher Rüpel.“

„Das würde ich nicht sagen“, erwiderte Milla. „Absolut nicht.“

Die folgenden Sekunden vergingen in totaler Stille. Wenn sie doch die Worte zurücknehmen könnte, die sie so leichtfertig ausgesprochen hatte. Sie spielte hier mit einem Feuer, an dem sie sich allzu leicht verbrennen könnte. Warum tat sie das?

Sie war doch eigentlich glücklich mit Derek. Sie brauchte keinen Mann wie George, der ihr Leben nur unnötig kompliziert machen würde. Aber sie konnte es nicht lassen, mit diesem Feuer zu spielen, das sich in der ersten Sekunde ihrer Begegnung entzündet hatte.

Lag es an ihr, oder lag es an George? Dieses Gefühl, als ob gleich etwas passieren würde … Sollte sie das nicht eigentlich eher bei Derek empfinden als bei George?

Endlich räusperte George sich und ging auf das Bett zu, auf dem Milla saß. „Wenn ich kein Rüpel bin, was dann?“

Du bist unergründlich, wollte sie sagen. Stattdessen stand sie auf und ging zur Tür. „Ich muss los. Bestell Derek, dass ich gewartet habe, solange ich konnte. Aber ich muss unbedingt noch an meinem Referat arbeiten.“

„Warte!“, rief er, als ihre Hand schon auf der Türklinke lag. „Milla, warte.“

Sie senkte den Kopf, lehnte die Stirn an die Tür. Sie sagte kein Wort, sondern schloss nur die Augen und wartete, dass endlich das passierte, was sie sich mit jeder Faser ihres Körpers ersehnte, seit George das Zimmer betreten hatte.

Er trat auf sie zu. Sie spürte seine Wärme. Und sie fühlte sich so klein, so zerbrechlich … und so verdorben.

Sie und Derek führten keine offene Beziehung, sie waren einander treu. Das bedeutete, dass man der Versuchung nicht nachgab, wenn sie sich bot. Aber das war schwer, wenn doch ihr Herz schlug, als ob es zum ersten Mal einen Grund gefunden hätte zu schlagen.

„Dreh dich um“, sagte George leise, und sie tat es, ohne zu zögern. Sie hob die Hände, um ihn wegzustoßen, aber er hielt ihre Handgelenke fest und drückte sie neben ihrem Kopf an die Tür.

„Wir können das nicht tun“, protestierte sie, den Blick auf Georges Gesicht gerichtet, wo sie seinen Puls schlagen sah. „Es wäre unfair Derek gegenüber.“

„Das hier hat nichts mit Derek zu tun“, sagte George heiser. „Nur mit dir und mir.“

„Es gibt kein du und ich.“ Milla schluckte schwer. Sie hasste sich dafür, dass sie sich nicht von ihm losriss und zu schwach war, um einfach hinauszugehen.

Ihre Brüste hoben und senkten sich heftig unter ihren Atemzügen. Ihre Knospen waren hart geworden und lenkten Georges Aufmerksamkeit auf ihr rotes T-Shirt.

„Außer uns ist niemand hier“, sagte er.

„Bitte, George“, hörte sie sich flehen, aber sie hätte nicht sagen können, ob sie wollte, dass er aufhörte oder dass er weitermachte.

Sie hielt die Augen geschlossen und sah deshalb nicht, dass er sich vorbeugte. Sie sah nicht, wie er die Lippen öffnete oder wie seine Nasenflügel sich blähten. Oder dass er die Lider senkte.

Aber sie stellte sich all das vor. Und dann spürte sie seine Lippen auf ihren, seinen Körper an ihrem und seine Zunge, die nach ihrer tastete.

Sie öffnete den Mund, sie musste es einfach tun. Und sie tat nicht einmal so, als würde sie sich wehren. Es war ein wunderbarer Kuss. Fast hätte sie geweint. George war so zärtlich, seine Lippen waren fest, aber herrlich glatt. Ihr wurde heiß, als seine Zunge mit ihrer zu spielen begann.

Milla erschauerte und erwiderte seinen Kuss. Sie gab alles, was sie bisher immer zurückgehalten hatte, ohne zu verstehen, was sie tat oder warum sie es tat. Alles, was sie wusste, war, dass nur George Bergen die Sehnsucht stillen würde, die sie jetzt spürte.

Es war zu viel. Milla wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Sie war nicht bereit dafür. Aber sie würde auch nicht mehr so weiterleben können wie zuvor.

Irgendwann löste sie sich von ihm. „Ich muss gehen.“

Er ließ sie los. Er trat zurück und ließ sie aus der Tür gehen. Er hielt sie nicht zurück. Aber er lachte.

Es war ein trockenes, bitteres Lachen, als ob sie ihm gerade bewiesen hätte, dass sie nicht das Zeug dazu hatte, sich zu erarbeiten, was sie wollte.

Mädchen wie sie wählten immer den Weg des geringsten Widerstands.

Was zum Teufel hatte ein Mädchen wie Milla Page mit einem Typen wie Derek Randall zu schaffen? George konnte Derek ganz gut leiden, auch wenn dieser nie einen Hehl daraus gemacht hatte, dass die Collegezeit für ihn vor allem eines war: Partytime. Aber Milla war überhaupt kein Partygirl. Das hatte George bist jetzt gar nicht gewusst.

Wenn man sie nur nach ihrem Aussehen beurteilte und danach, dass sie reiche Eltern hatte – nun ja, dann konnte man sich durchaus vorstellen, dass sie zwar das College besuchte, aber auch verdammt viel Spaß dabei hatte. Sie hatte das Gesicht und die Figur dazu – perfekte Brüste, einen perfekten Po – aber das war nur kleiner Teil vom Ganzen.

Er wünschte, er hätte nicht herausgefunden, dass sie nett war, fürsorglich, witzig und einfach in Ordnung. George hatte nichts gegen Partys, aber er war nun mal hier, um einen Abschluss zu machen. Und ab jetzt würde es ihm verdammt schwerfallen, sich aufs Lernen zu konzentrieren, weil er immer daran denken müsste, dass Milla und Derek …

Er hatte die beiden bis jetzt immer nur aus einer gewissen Entfernung zusammen gesehen. Bis heute Abend. Sie war ganz anders, als er erwartet hätte. Ein Mädchen, das mit Derek, diesem Partylöwen, zusammen war, müsste eigentlich genauso oberflächlich und egoistisch sein wie er. Aber Milla war das überhaupt nicht. Also täte er gut daran, Abstand zu halten.

Stattdessen hatte er etwas getan, was der helle Wahnsinn war.

Er schüttelte den Kopf über sich selbst, zog sich das T-Shirt über den Kopf und ging duschen, um Derek nicht in die Augen sehen zu müssen, wenn er hier auftauchte. Außerdem würde er unter der Dusche Zeit zum Nachdenken haben.

Was er brauchte, war eine Strategie, wie er Milla Page ganz für sich gewinnen könnte.

George verscheuchte die Gedanken an die Vergangenheit und griff nach seinem Handy. Warum hatte er sich gerade so intensiv an seine erste Begegnung mit Milla und ihren ersten Kuss erinnert?

Warum verschwendete er Zeit mit so etwas? Er hatte einen ganzen Abend mit Milla vor sich, um herauszufinden, was sie wirklich wollte.

Er hatte ihre Nummer schon gestern eingespeichert und brauchte jetzt, während er in die Stadt fuhr, nur auf den Kurzwahlknopf zu drücken.

„Milla“, meldete sie sich nach zweimaligem Klingeln.

„George“, erwiderte er ebenso knapp. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie wenige Worte sie immer gebraucht hatten, um sich zu verstehen. Wie viel mehr sie sich immer auf Berührungen konzentriert hatten als aufs Reden.

„Hi – oh, es ist ja schon sechs. Meine Güte, es war wirklich ein verrückter Tag!“

„Das klingt, als wolltest du unser Date absagen.“

„Oh nein, nein.“ Sie lachte, aber es klang ziemlich nervös. „Ich muss heute Abend ausgehen, das gehört zu meinem Job. Ich kann nicht absagen.“

Natürlich. Er hatte tatsächlich vergessen, dass dieses Date nur wegen ihres Jobs stattfand, und nichts mit ihm, George, zu tun hatte. Warum zum Teufel gab er sich dann solche Mühe, ihr behilflich zu sein? „Wo bist du?“, fragte er.

„Ich bin immer noch im Büro, aber ich wollte gerade gehen.“ Er hörte das Klacken ihrer Computertastatur. „Ich muss nach Hause, duschen und mich umziehen, aber das wird nicht lange dauern. Wenn es dir nichts ausmacht zu warten, könnten wir uns jetzt dort treffen, okay? Oder falls du noch etwas zu tun hast, komm einfach um halb acht.“

George lächelte, wurde aber gleich wieder ernst. „Ich habe nichts zu tun, wir sehen uns also in zwanzig Minuten.“

„Sehr gut.“ Sie erinnerte ihn noch an ihre Adresse, bevor sie auflegte.

Nicht schlecht, dachte er, als er durch das Viertel fuhr, in dem sie wohnte. Wer hätte gedacht, dass man bei einem Job in einer Partnerschaftsagentur so viel verdienen konnte. Es sei denn, sie lebte über ihre Verhältnisse oder von einem ererbten Vermögen. Vielleicht war sie ja immer noch der Meinung, dass man, wenn man Geld hatte, mehr respektiert wurde.

Aber, was sie beide zueinander hingezogen hatte, hatte nichts mit materiellen Dingen zu tun gehabt, sondern mit etwas, das von ganz tief innen kam und viel stärker war als irgendwelche Konventionen. Sie waren wie voneinander besessen gewesen. Es war nicht zu erklären.

Und jetzt, so viele Jahre später – er hätte nicht sagen können, warum – hoffte er, dieses Rätsel zu lösen. Dieses Date war ein Geschenk des Himmels. Es war die perfekte Gelegenheit, sich endlich ein für alle Mal von Milla Page zu befreien.

4. KAPITEL

„Fühl dich wie zu Hause“, sagte Milla, warf Handtasche und Schlüssel auf den Sekretär, der im Flur stand, und schob ihr Handy in das Ladegerät. „In der Küche ist eine kleine Bar, und im Kühlschrank gibt es Eis. Das Kaffeepulver steht neben der Kaffeemaschine. Das Wohnzimmer ist direkt neben der Küche. Gib mir dreißig Minuten, okay?“

„Lass dir Zeit“, antwortete George, aber Milla rannte schon durch den Flur.

George hatte kurz nach ihr vor dem Haus geparkt und war ihr die Stufen hinauf gefolgt bis in den dritten Stock, wo sich ihr Apartment befand.

Sie hatte gelächelt, als sie ihn gesehen hatte. Aber danach war sie seinem Blick ausgewichen und hatte nur übers Wetter geredet.

Er könnte genauso gut irgendein Fremder sein. Es war, ob sie nie etwas miteinander zu tun gehabt hätten.

Erst als sie vor der Wohnungstür den Schlüssel fallen ließ, wurde ihm klar, dass er sie wieder einmal falsch einschätzte. Er war immer noch derselbe Idiot wie damals. Aber er war älter. Er sollte klüger sein. Immerhin nahm er wahr, dass Milla nervös war.

Erst das mit dem Schlüssel, dann die hektisch erteilten Anweisungen, dann die Flucht in ihr Schlafzimmer. Merkwürdig. Schwache Nerven waren nicht gerade das, was er mit Milla Page assoziierte. Immerhin waren sie vier Jahre zusammen gewesen.

Ihr Verhalten machte ihn neugierig.

Außerdem überraschte es ihn, dass sie ihn einfach allein ließ. Das bewies ein Maß an Vertrauen, von dem er nicht sicher war, dass er es verdiente. Nicht dass es ihm jemals in den Sinn kommen würde, etwas zu stehlen, aber sie hatte ihm praktisch ihr Apartment zur freien Verfügung gestellt.

Und wenn er ihr Angebot einfach wörtlich nehmen würde, dann hätte er vielleicht die Chance, einen Hinweis darauf zu erhalten, weshalb sie wirklich zu ihm gekommen war.

George ging in die Küche. Ein kleiner Drink könnte nicht schaden, so angespannt wie er war. Er fand ein Glas, nahm sich Eis aus dem Gefrierfach und gönnte sich einen Scotch. Warum nur wirkte alles hier so farblos und steril?

Die Küche war ganz in Weiß gehalten, genau wie alles andere, was er bis jetzt von ihrer Wohnung gesehen hatte. Selbst der Boden war hell gefliest. Auch alle elektrischen Geräte und sogar die Kaffeebecher, die unter einem Regal hingen, waren weiß. George runzelte die Stirn, nippte an seinem Scotch und ging ins Wohnzimmer.

Er hatte eigentlich keine Lust fernzusehen, aber wenn er das Gerät einschaltete, wäre es wenigstens nicht mehr ganz so still. Dass es in Millas Apartment kaum Farben gab, schockierte ihn. Alles wirkte so tot und seelenlos. Das war gar nicht typisch für sie.

Er nahm die Fernbedienung und zappte sich durch die Kanäle, ohne wirklich hinzuschauen.

Milla war immer so lebendig gewesen, so voller Lebensfreude. Sie hatte bei ihrer Kleidung immer kräftige Farben wie Rot, Lila, Orange bevorzugt. Nie hatte er sie in so etwas wie der blassgelben Bluse und dem schwarzen Rock gesehen, die sie gestern getragen hatte, oder wie der langweiligen Kombination aus Rosa und Dunkelblau, die sie heute anhatte.

Er hatte zunächst angenommen, dass sei die Art von Outfit, war, die ihr Job verlangte. Aber nachdem er ihre Wohnung gesehen hatte, fragte er sich, ob nicht mehr dahintersteckte.

Er hörte auf zu zappen, als er merkte, dass er einen Kanal erwischte hatte, auf dem eine Folge von „Der helle Wahnsinn auf Rädern“ wiederholt wurde. Es war die, in der sein Team einen Krankenwagen verwandelt hatte.

Und jetzt war er gestresst wegen des Lieferwagens, den er zu einem Amphibienfahrzeug umbauen wollte. Aber eigentlich war er vor jeder Show wochenlang gestresst, bis es endlich geschafft war.

Dabei mussten sie es nicht einmal unbedingt schaffen. Das Publikum liebte seine Shows auch dann, wenn ein Projekt nicht glückte. Es machte den Leuten einfach Spaß, den Prozess zu verfolgen, wie aus einem Kleinbus oder Lieferwagen etwas ganz anderes wurde.

Und George arbeitete einfach gern mit den Händen. Es gab ihm ein gutes Gefühl, etwas zu tun, womit er nicht nur für sich, sondern gleichzeitig auch für andere Menschen etwas tat, für seine Fans, seine Angestellten, seine Freunde und seine Familie.

Damals am College war das Millas Rolle gewesen. Sie hatte sich um alles gekümmert, hatte Freundschaften gepflegt. Er dagegen hatte das eintönige Leben eines Workaholics geführt. Und jetzt? Fast schien es, als hätten sie die Rollen getauscht.

Als Milla so unerwartet aufgetaucht war und ihn um ein Date gebeten hatte, hatte er die Chance ergriffen, um endlich ein für alle Mal mit der Vergangenheit aufzuräumen. Nicht dass die Vergangenheit ihn in irgendeiner Weise blockierte oder dass er all die Jahre deswegen gelitten hätte. Er hatte sein Leben weitergelebt.

Aber die Vergangenheit war immer noch lebendig, und das musste nicht sein. Allerdings war George sich jetzt keineswegs mehr sicher, dass er Milla mit reinem Gewissen verlassen könnte, solange er nicht mehr über sie wusste. Eines hatte er nämlich in den letzten vierundzwanzig Stunden begriffen: Irgendwann war etwas passiert, woran Milla zerbrochen war. Und nichts überraschte ihn so sehr wie diese Erkenntnis.

„Tut mir leid, dass es so lang gedauert hat.“ Sie stand in der Tür.

George verschluckte sich fast an seinem Drink und machte schnell den Fernseher aus. Hoffentlich hatte sie nicht etwa sein Gesicht gesehen oder die Werkstatt erkannt. Er leerte sein Glas und drehte sich zu Milla um.

Sie nestelte an dem Fersenriemchen ihres Schuhs. Zum Glück trug sie jetzt Kirschrot. Das war immer eine ihrer Lieblingsfarben gewesen. Ob sie beim Anziehen an ihn gedacht hatte? Würde er diesen Abend wohl überstehen, ohne sie anzufassen?

Als sie sich aufrichtete, fiel ihr das Haar locker ums Gesicht, die kürzeren Strähnen reichten ihr bis zum Kinn, die längeren bis knapp auf die Schultern. Damals hatte sie ihr Haar so getragen, dass es immer ein bisschen unfrisiert ausgesehen hatte. Jetzt war es glatt, nur die Spitzen bogen sich der Mode entsprechend teils nach innen, teils nach außen.

Sie sah toll aus. Mehr als toll. Und das Strahlen in ihren Augen war auch wieder da, genau wie früher. Ihm wurde ganz heiß, und er musste sich beherrschen, sie nicht zu berühren.

Er legte die Fernbedienung zurück auf den Fernseher und brachte sein Glas zurück in die Küche. Milla war ihm gefolgt. Jetzt saß sie am Tisch und packte den Inhalt ihrer Handtasche in eine kleinere.

Er setzte sich zur ihr. „Ist es dir hier nicht zu kalt?“, fragte er.

Sie blickte kurz auf. „Eigentlich nicht, wieso? Frierst du? Ich kann die Heizung höher drehen.“

„Ich meine nicht die Temperatur. Ich meine diesen Iglu-Stil.“ Er machte eine weit ausholende Geste.

Wieder blickte sie auf. Sie schien verwirrt und sah sich ein paar Sekunden lang um, bevor sie sich wieder auf ihre Handtasche konzentrierte. „Das Apartment war gerade frisch gestrichen, als ich es kaufte. Die Küche war frisch gefliest, und die Küchenschränke wurden gerade eingebaut.“

„War es auch möbliert?“

Milla schüttelte den Kopf. „Okay, es ist ein bisschen eintönig. Ich bin einfach nicht oft genug hier, um das überhaupt wahrzunehmen. Es ist mir nicht so wichtig. Ich habe zu viel um die Ohren, um mich darum zu kümmern, dass hier ein paar Farbtupfer reinkommen.“

George antwortete nicht. Was hätte er dazu sagen sollen? Es war ihr Zuhause, ihr Nest. Man sollte annehmen, dass es ihr wichtig war. „Wie lange wohnst du schon hier?“

Sie zog den Verschluss ihrer Handtasche zu, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Stoff ihres Kleides spannte ein wenig über ihren Brüsten. „Seit letzten September.“

Vierzehn Monate ohne Bilder, ohne einen Hauch Farbe. Was hatte sie denn alles um die Ohren, dass sie ihr eigenes Zuhause kaum wahrnahm? Ach, wieso wollte er eigentlich mehr über sie wissen? Wusste er nicht längst genug?

„Nicht schlecht, dieses Apartment“, bemerkte er. „Nur ein bisschen kühl und nichtssagend.“

„Manche würden die Einrichtung als extrem schlicht bezeichnen oder als minimalistisch.“

„Ich würde sagen langweilig.“

„Nicht kühl und nichtssagend?“ Sie hob eine Braue.

George schüttelte den Kopf. „Ich hab’s mir gerade anders überlegt.“

„Und direkt ausgesprochen, was du denkst“, erwiderte sie und schlug die Beine übereinander.

„Das tue ich schon immer.“

„Ich weiß.“

„Meinst du, wir haben deswegen so oft gestritten?“ George beobachtete sie und sah genau das Funkeln in ihren Augen. „Weil ich oft zu direkt bin?“

Seine Frage machte sie nachdenklich. „Ich glaube, wir haben so oft gestritten, weil wir zu viele Probleme hatten.“

„Du meinst, weil du deinen Freund mit seinem Zimmergenossen betrogen hast und ich es hinter seinem Rücken mit seinem Mädchen getrieben habe?“

„Ja.“ Milla sah ihm in die Augen. „Das meine ich. Und so wie du es gerade beschreibst …“

„Wie sonst sollte ich es beschreiben, Milla?“, fiel er ihr ins Wort. „Genauso war es doch, oder?“

Sie senkte den Blick auf ihr Kleid, dann schaute sie wieder in seine Augen. „Wie ich sagte, ich denke, es war einfach zu viel. Wir sind beide nicht damit zurechtgekommen. Ich fange an, mich zu fragen, ob wir jemals damit klarkommen werden.“

George saß einen Moment lang schweigend da. So hatte er sich den Abend eigentlich überhaupt nicht vorgestellt. Es war natürlich zu erwarten gewesen, dass sie früher oder später auf die Vergangenheit zu sprechen kommen würden. Aber dass es gleich am Anfang auf so drastische Weise geschehen würde …

Das Schlimmste war, dass ihm bewusst wurde, wie viel er immer noch für Milla empfand. Dass er den Schmerz über den Verrat vergessen oder zumindest verdrängt hatte, um Platz zu machen für die guten Erinnerungen.

„Möchtest du, dass ich gehe? Möchtest du die ganze Sache abblasen?“

„Nein.“ Milla sah ihn herausfordernd an. „Ich würde nur gern wissen, warum wir sogar nach sechs Jahren gleich wieder anfangen zu streiten.“

„Das ist einfach“, entgegnete er brummig. „Wir fragen uns beide, wer wohl den ersten Schritt tut.“

Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, Milla auch nur zu berühren, aber wie sollte er an etwas anderes denken? Damals hatten sie fast immer, wenn sie zusammen waren, Sex gehabt.

Sie musterte ihn. Er erwiderte ihren Blick. Er wartete darauf, dass sie ihn angreifen würde, aber sie saß nur da und schwieg.

Er hatte keine Ahnung, was in ihr vorgehen mochte. War es jetzt zu Ende, bevor es wieder angefangen hatte? Wieso machte er sich eigentlich solche Hoffnungen?

Was sie schließlich verriet und ihm heiß werden ließ, war ihr eng anliegendes Kleid, und sie war sich dessen bewusst. Sie wurde rot, als ihre Brustspitzen sich unter dem dünnen Stoff abzeichneten und Georges Blick auf sich zogen. Er war ein Mann. Seine Erinnerungen waren sehr lebendig. Sein Blut fing an zu kochen.

Aber Milla saß noch immer mit verschränkten Armen da, die Handtasche auf dem Schoß, und musterte ihn schweigend, als ob sie eine wichtige Entscheidung treffen müsste: War er es wert, dass sie auch nur eine Minute länger mit ihm verbrachte, oder könnten sie wegen ihrer gemeinsamen Vergangenheit niemals Freunde, geschweige denn ein Liebespaar sein?

George wollte aufstehen, den Arm um ihre schmale Taille legen und Milla hinausführen. Sie hatte etwas zu erledigen, etwas, das so wichtig war, dass sie deswegen sogar ihn aufgesucht hatte. Schweigen und sich anstarren würde sie nirgendwohin bringen.

Aber sie hielt ihn davon ab, die Initiative zu ergreifen, indem sie sich vorbeugte, ihre Handtasche auf den Tisch legte und aufstand. Was sie dann sagte, haute ihn fast um: „Ich habe schon den ersten Schritt gemacht, ich bin zu dir gekommen.“

Er unterdrückte ein Stöhnen. Er war so erregt, dass es schmerzte. „Du willst bestimmt nicht, dass ich den zweiten Schritt tue, glaub mir.“

„Warum nicht?“ Sie stand jetzt vor ihm und sah auf ihn herab. „Ich sehe genau, was du willst, George. Ich sehe es an deinem Blick. Du hast wohl vergessen, wie gut ich dich kenne.“

Das war endlich die Milla, die er kannte. „Ich habe überhaupt nichts vergessen.“ Das Sprechen fiel ihm schwer.

„Dann tu’s doch“, sagte sie, stützte sich auf seinen Schenkeln ab und beugte sich vor, um ihm ins Ohr zu flüstern. „Mach den nächsten Schritt.“

Der Duft ihrer Haut weckte so viele Erinnerungen. Plötzlich konnte George Gegenwart und Vergangenheit nicht mehr auseinanderhalten.

Er erinnerte sich an jedes einzelne Mal: im Freien, im Haus, an Orten, die überhaupt nicht dafür gedacht waren. Sie hatten sich nicht darum geschert, ob man sie entdecken könnte.

George legte seine Hände auf Millas und sah ihr in die Augen. „Ich hoffe, du bist dir ganz sicher, was du da sagst. Ich bin nämlich nicht hier, um zu spielen. Und ich bin ganz sicher auch nicht hier, um es mir von dir heimzahlen zu lassen.“

„Heimzahlen?“

„Für die Party, für Derek. Für die anderen Mädchen. Was immer du als Grund betrachten könntest.“

Ihr Ausdruck veränderte sich nur ganz leicht, aber es war, als ob sich ein Fenster schlösse. Auch gut. Dieser Abend war nur eine Fortsetzung der Vergangenheit, den würde er genauso schnell wieder vergessen wie alles andere – auch wenn das vielleicht feige war und sich dadurch natürlich nichts ändern würde.

„Das war vor langer Zeit, George“, sagte sie. „Und das hier ist kein Spiel.“

Das war alles, was er wissen musste. Er packte den Saum ihres Kleides, schob ihr Kleid hoch bis über die Hüften und zog Milla auf seinen Schoß. Sie spreizte die Beine und schlang die Arme um seinen Nacken.

Millas Gewicht war kaum zu spüren, offenbar hatte sie kein Gramm zugelegt. Aber darum, dass er ihr im physischen Sinn wehtun könnte, brauchte er sich keine Sorgen zu machen, das wusste er. Auf emotionaler Ebene, nun da war er sich nicht so sicher …

Einen kurzen Augenblick lang dachte er daran, aufzustehen und zu gehen. Er umfasste sogar ihre Taille, um Milla von sich wegzuschieben. Aber sie ließ ihm keine Zeit, sondern schmiegte sich an ihn und strich mit den Lippen über seine.

„Warum tust du mir das an?“, flüsterte sie und streichelte seine Lippen mit der Zunge. „Es ist nicht fair, dass ich mich so genau an alles erinnere und anscheinend nie genug bekomme.“

Genug Sex oder genug von ihm? George wollte wissen, wonach sie wirklich suchte, aber nicht jetzt.

Er begehrte sie genauso verzweifelt wie sie ihn. Es machte ihn keineswegs stolz. Er dürfte sie nicht mehr so begehren. Er müsste längst darüber hinweg sein.

„Es ist noch nicht zu spät. Wir können immer noch aufhören. Wir müssen das nicht tun“, sagte er schwach. Immerhin er sagte es.

Milla schüttelte den Kopf. „Ich will nicht aufhören. Ich will nicht denken. Ich will nur fühlen. Oh, George, ich will fühlen.“

Alarmglocken schrillten in seinem Inneren. Erst diese Farblosigkeit, dieses Zerbrochensein, dann diese verzweifelte Begierde. Etwas stimmte nicht. Er musste endlich wissen, was mit ihr los war. Er sollte sie zum Reden bringen, verdammt noch mal!

Aber dann nahm er ihren Duft wahr, eine Mischung aus ihrem Parfüm und dem süßen Duft ihres Körpers, der ihm verriet, wie erregt sie war. Er wusste, wenn er sie jetzt berührte, dann würde sie heiß und feucht sein. Und er wusste, wie es sich anfühlen würde, wenn er in sie eindrang.

Er stöhnte. Milla verlagerte ihr Gewicht, und er stöhnte erneut. Sie mussten es hinter sich bringen, mussten dieses Verlangen stillen, diesen wahnsinnigen Hunger. Sie mussten dort weitermachen, wo sie aufgehört hatten, sonst würde dieser Abend ein Reinfall werden.

Also berührte er Milla. Er ließ die Hände über ihre Schenkel gleiten. Sie erschauerte, lehnte die Stirn an seine und begann stoßweise zu atmen, als George nach der kleinen Knospe zwischen ihren Schenkeln tastete. Er berührte sie zärtlich und spürte, wie Milla sich ihm entgegenbog.

„Gefällt dir das?“ Das Atmen fiel ihm schwer.

Sie nickte und schmiegte ihr Gesicht an seins. „Noch besser würde es mir gefallen, wenn du etwas mit meinem Slip machen würdest.“

Er packte das winzige Dessous und zerriss es. „Ist es so besser?“

Jetzt trennte sie nichts mehr. Er schob ihr Kleid noch höher und nahm begierig den intimen Anblick in sich auf, der sich ihm bot.

Autor

Alison Kent

Leidenschaftlich gern gelesen hat Alison Kent schon immer, ihre Lust am Schreiben entdeckte sie erst als Dreißigjährige. Mittlerweile hat sie bereits zahlreiche Romane verfasst, denen die Romantic Times „Leidenschaft, Sinnlichkeit und dunkle Faszination“ bescheinigt. Mit ihren prickelnden Liebesgeschichten und den spannenden Thrillern schrieb sich Alison Kent auf Anhieb in die...

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