Tiffany Exklusiv Band 83

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EIN MANN FÜR JEDE SPIELART von ISABEL SHARPE

Mal süße Unschuld, mal Glamour-Girl: Candy Graham hat viele Gesichter. Zu viele! findet der Enthüllungsjournalist Justin Case. Er vermutet eine Sensationsstory um Internet-Betrug hinter ihrer Maskerade - und verfällt Candys Sex-Appeal restlos …

BLANKE VERSUCHUNG von ERIN MCCARTHY

Die junge Journalistin Emma Gideon tut alles für den Job - auch wenn das Gruppenaktfoto mit den Kollegen Überwindung kostet. Zumal ihr größter Rivale und heißer Office-Flirt Kyle Hadley ebenfalls die Kleider fallen lässt! Aber bei einer guten Story zählen nur die nackten Fakten …

LIEBE - PRICKELND WIE CHAMPAGNER von KATE HOFFMANN

Im Jet nach New York lernt die junge Autorin Lily den Regisseur Aidan Pierce kennen; in erotischen Nächten genießt sie mit ihrem Traummann die Liebe, prickelnd wie Champagner! Aber die Zeit ist knapp. Hat ihre filmreife Romanze ein Happy End?


  • Erscheinungstag 01.09.2020
  • Bandnummer 83
  • ISBN / Artikelnummer 9783733726980
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Isabel Sharpe, Erin McCarthy, Kate Hoffmann

TIFFANY EXKLUSIV BAND 83

1. KAPITEL

Als Candy ihren Wagen vor dem Büro ihrer Freundin Marie parkte, war es genau eine Minute vor zehn. Die vergangene Stunde hatte sie mit einer übernervösen Sekretärin verbracht, die eine Afterwork-Überraschungsparty für ihren Chef veranstalten wollte. Diese Frau war der Typ, bei dem Candy um Geduld beten musste: ängstlich, überbesorgt, pessimistisch.

„Sind Sie sicher, dass sein Name auf dem Kuchen richtig geschrieben ist?“

Nein, Candy war sich sicher, dass dem nicht so war, und, ja, es machte ihr unglaublichen Spaß, so einen schrecklichen Job zu erledigen, genau deshalb war sie ja so gefragt.

Sie nahm die Mappe mit den Formularen vom Beifahrersitz, die sie am Abend zuvor für „Milwaukeedates.com“ ausgefüllt hatte. Ein vollständiges Bild ihrer Persönlichkeit für ein Online-Profil war gefordert, und das auf einer halben Seite, außerdem eine Zusammenfassung dessen, was sie sich von einem Mann wünschte. Das Ganze am besten noch witzig formuliert. Sexy sollte es klingen, inspirierend, gleichzeitig authentisch und nicht oberflächlich.

Ihre Persönlichkeit war so vielfältig und bunt wie die Partys, die sie als Eventmanagerin organisierte. Wie sollte sie das kurz und prägnant formulieren, ohne dass es klang, als hätte sie eine Persönlichkeitsstörung?

Erschöpft und entmutigt hatte sie beschlossen, dieses Problem Marie zu überlassen, schließlich würde sie sie ja genau dafür bezahlen. Candy stieg aus, und ihr Atemdunst gefror innerhalb von Sekunden, wurde jedoch sofort von der trockenen Januarluft aufgenommen. Sie war nervös, fast wie vor einer Prüfung.

Sie wurde einfach das Gefühl nicht los, dass sie Chuck betrog. Das war lächerlich, denn er hatte sie verlassen, und zwar wegen einer anderen Frau, die – wie er behauptete – besser zu ihm passte. Das hatte sie am allerwenigsten verstanden. Sie kannte kein anderes Paar, das so perfekt harmonierte. Sie und Chuck waren sich so ähnlich, sie hatten zu den meisten Dingen dieselbe Einstellung. Nicht, dass sie niemals gestritten hätten oder nie unterschiedlicher Meinung gewesen wären, aber bei allem, was wichtig war, hatten sie so sehr miteinander übereingestimmt, wie Candy es sich kaum erträumt hatte.

Wie sollte sie hoffen, das jemals wieder bei einem Mann zu finden? Wie sollte sie Chuck je loslassen?

Die meisten Leute sagten, man brauche ein Jahr, um über eine große Liebe hinwegzukommen. Es war die Hölle gewesen, aber jetzt war es fast herum, dieses Jahr. „Ich finde, du solltest mal wieder ausgehen, Candy. Du bist reif für einen Neuanfang“, hatte Marie beim letzten „Frühstück der Powerfrauen“, einer Veranstaltung des Unternehmerinnenverbands von Milwaukee, gesagt und Beifall heischend in die Runde geblickt. Ihre gemeinsamen Freundinnen Kim und Darcy hatten zustimmend genickt. Vielleicht war es richtig, diesen ersten Schritt zu machen, um über die Angst hinwegzukommen, dass sie es vielleicht nie schaffen würde, Chuck aus ihrem Herzen zu verbannen. Wenn man jemanden so sehr liebte …

Tja, aber Chuck war jetzt mit Kate zusammen. Sie lebten in ihrem Haus in Racine. So sehr das auch schmerzte, Candy würde ihr Leben nicht aufgeben und sich die Augen nach etwas ausweinen, das eben nicht sein konnte.

Außerdem hatte Marie recht, was den Valentinstag betraf. Diesen Tag wollte sie wirklich nicht alleine verbringen und an den schrecklichen Tag vor einem Jahr denken. Teil einer langweiligen Versammlung alleinstehender Frauen zu sein, war auch nicht gerade verlockend. Candy wollte ein Date. Sie wollte sich amüsieren.

Dankbar betrat sie das gut beheizte Gebäude, trampelte den Schnee von den Stiefeln und ging den Flur hinab zu Maries Büro. Die ersten drei Jahre hatte Marie ihre Dating-Website Milwaukeedates.com von zu Hause aus gemanagt. Als das Geschäft besser gelaufen war, hatte sie sich ein kleines Büro in der Water Street im Stadtzentrum gemietet. Und das hatte sich ausgezahlt.

Candy zog Schal und Fausthandschuhe aus – eigentlich war sie zu alt für Fäustlinge, aber wie sollte sie ihre Finger sonst warm halten? – und lächelte der Empfangsdame zu. „Hi, Jane.“

„Hallo.“ Jane lächelte ebenfalls herzlich. „Marie ist in ihrem Büro, geh ruhig rein. Kaffee und Tee stehen bereit, wenn du möchtest.“

„Danke.“

Candy hatte ein flaues Gefühl im Magen. Zögernd trat sie an die offene Tür von Maries Büro, klopfte an und ging hinein. Der Raum wirkte mit seinen Bücherregalen, Topfpflanzen und Polstersesseln gleichermaßen professionell und gemütlich. Genau wie Marie selbst. Sie stand hinter ihrem Schreibtisch, telefonierte und lächelte entschuldigend. Das Kostüm, das sie trug, war elegant geschnitten und kaschierte ihre überschüssigen Pfunde perfekt. Sie hatte vor Kurzem begonnen, ihr Haar rotblond zu färben, das bekam ihrem herrlichen, immer noch glatten Teint sehr gut. Marie war ein wundervoller Mensch, eine starke Persönlichkeit und sehr warmherzig.

Candy ließ sich in einen der bequemen Sessel sinken. Das Büro war gemütlich, es roch nach Lavendel und Orangen, ein wohltuender Kontrast zum eisigen Grau draußen. Sie versuchte, sich zu entspannen. Seit dem Ende ihrer Beziehung mit Chuck hatte sie ihren Kummer in Arbeit „ertränkt“. Außerdem hatte sie so viel wie möglich unternommen, hatte eine Kreuzfahrt mit ihrer besten Freundin Abigail gemacht und war ein paar Mal nach Chicago gefahren. Manchmal hatte sie es auch geschafft, es ein bisschen langsamer angehen zu lassen, wenn auch nicht ganz so wie damals, als sie noch mit Chuck zusammen gewesen war. Damals war sie gern zu Hause geblieben, besonders an den Wochenenden.

Candy setzte eine heitere Miene auf. Was vergangen war, war nun mal vergangen. Sie war in diesem Büro, weil sie – in Sachen Liebe – auf eine neue Zukunft hoffte.

Marie beendete das Telefonat und stöhnte genervt. „Diese Frau ist praktisch mit jedem unserer Kandidaten ausgegangen und hat an allen etwas auszusetzen. Beim Vorstellungsgespräch hatte ich zwar schon den Eindruck, dass sie ein bisschen überspannt ist, aber damit habe ich nicht gerechnet. Sie braucht erst einmal eine Therapie, keine Beziehung.“

„Oh, oh. Das tut mir leid“, sagte Candy. Eine Therapie, wer weiß, vielleicht brauchte sie die ja auch.

„Egal, hier geht es nicht um sie, sondern um dich.“ Marie kam um den Tisch herum, lehnte sich mit der Hüfte dagegen und strahlte Candy an. „Wir werden einen absolut umwerfenden Mann für dich finden. Wie hat es mit dem Ausfüllen der Formulare geklappt?“

„Nicht gut.“

„Hm.“ Marie streckte die Hand aus. „Lass mich mal sehen.“

Candy zog die Papiere aus der Mappe. „Ich konnte mich nicht entscheiden, wie ich antworten sollte. Ich glaube, bei mir treffen immer beide Möglichkeiten zu. Geh ich gern aus oder bin ich abends lieber zu Hause? Ja. Mag ich alte Filme oder bevorzuge ich zeitgenössische? Ja. Gehe ich lieber in ein Restaurant, eine Bar, einen Club, ins Kino oder ins Museum, oder höre ich lieber einen Vortrag? Ja. Was ist mir wichtiger, Karriere oder Familie? Beides. Und so weiter. Ich bin ein hoffnungsloser Fall.“

„Hoffnungslos?“ Marie nahm ihr die Papiere aus der Hand. „Ich würde eher sagen, extrem vielseitig. Offen für alles Neue, abenteuerlustig, kosmopolitisch.“

„Na schön, das klingt besser als hoffnungslos, aber als es um die persönlichen Angaben ging, da hatte ich das Gefühl, ich könnte vier verschiedene Profile von mir aufstellen.“

Marie blickte von den Papieren auf. „Wie würdest du diese Profile bezeichnen? Ich meine, wenn du sie klassifizieren müsstest. Was genau wären diese vier Aspekte deiner Persönlichkeit?“

Candy blinzelte überrascht. Sie hatte erwartet, Marie würde sie auslachen. „Nun ja. Ein Teil von mir ist verspielt wie ein Kind. Deshalb verkleide ich mich auf Kinderpartys gern als Sally, die törichte Fee. Diesen Teil von mir würde ich als die Verspielte bezeichnen.“

Marie griff nach Block und Stift und machte sich Notizen. „Sprich weiter.“

„Hm.“ Candy überlegte. „Ein anderer Teil beschäftigt sich gern mit Büchern, Kreuzworträtseln, schwierigen Puzzles, verbringt gern einen Abend lesend am Kaminfeuer oder besucht Kurse zu interessanten neuen Themen. Das ist die nachdenkliche Candy.“

„Nachdenklich.“ Marie schrieb es auf. „Das gefällt mir. Und weiter?“

„Tja … da ist auch noch die ehrgeizige Seite, der Teil von mir, der so gern organisiert und plant. Ich finde es wundervoll, morgens aufzuwachen und genau zu wissen, was ich an dem Tag alles schaffen will und schaffen werde. Herausforderungen annehmen, mit Problemen fertig werden, dafür sorgen, dass alles glatt läuft.“ Sie dachte angestrengt nach. „Das wäre dann … die Streitaxt?“

Marie verzog missbilligend die Lippen. „Powerfrau.“

„Powerfrau!“ Candy lachte. „Natürlich.“

„Ist das alles?“

„Also … nein.“ Candy spürte, dass sie rot wurde. „Da ist noch etwas.“

Marie hob die Brauen. „Ja?“

„Das ist der kleinste Teil. Ich bin nicht einmal sicher, ob es wirklich real ist oder nur eine Fantasie.“

„Ich höre.“

„Ein Teil von mir würde sich gern total aufstylen, in sündhaft teuren Restaurants essen gehen, nach Paris fliegen oder nach Monaco, in den Alpen Ski fahren … aufreizende Dessous tragen, und zwar jeden Tag. Dieser Teil möchte sich selbstsicher genug fühlen, um einen Fremden in einer Bar nur durch Blicke zu verführen.“

„Hm.“ Marie betrachtete Candy nachdenklich. „Ich kann diese Candy in dir erkennen, aber ich glaube, du hast ihr bis jetzt noch nie erlaubt, wirklich zu existieren. Chuck hat es ganz sicher nicht zugelassen.“

„Hat es nicht zugelassen? Was meinst du damit? Chuck hat mich immer in allem unterstützt.“

Einen Moment lang sah Marie sie einfach nur an. Es war unerträglich. Candy wurde wütend, aber gleichzeitig auch nervös.

„Ja, natürlich. Tut mir leid, ich bin da wohl etwas zu weit gegangen.“

Candy stieß den angehaltenen Atem aus. Sie vergaß immer wieder, dass ihre Freundinnen in ihrem Urteil über Chuck nicht ganz fair waren, wahrscheinlich aus Solidarität mit ihr. Sie selbst fand auch kaum ein gutes Wort für Maries Exmann Grant, der sie wegen eines blutjungen Dings verlassen hatte. „Schon gut. Ich schätze, Chuck ist nach wie vor ein schwieriges Thema. Ich bin immer noch nicht sicher, ob ich überhaupt hier sein sollte. Wie kann ich mich in einen anderen Mann verlieben, wenn ich doch immer noch so viel für ihn empfinde?“

„Oh, Schätzchen, ich weiß, wie schwer das ist.“ Marie lächelte verständnisvoll. „Natürlich möchte ich dich nicht zu etwas drängen, wozu du nicht wirklich bereit bist, aber ich glaube, es ist der richtige Zeitpunkt und auch der richtige Weg. Ich schätze, du musst mir einfach vertrauen.“

„Das tue ich.“ Candy musste sich beherrschen, um nicht loszuplärren. „Ich vertraue dir, ich bin nur irgendwie …“

„Hin- und hergerissen?“ Wieder lächelte Marie verständnisvoll. „Ich habe genau das Gleiche durchgemacht, als ich nach der Trennung wieder ans Ausgehen gedacht habe. Ich musste mich am Anfang wirklich zwingen. Mit der Zeit wurde es leichter.“

„Aber du hast bis jetzt niemanden gefunden.“

„Nein, aber allein schon das Suchen hat mir gutgetan. Ich habe jedenfalls festgestellt, dass, nur weil Grant mich nicht mehr will, dies noch lange nicht bedeutet, dass mich keiner mehr will. Und außerdem …“, sie lächelte vielsagend, „… hatte ich damals nicht ‚Milwaukeedates‘ zur Verfügung. Du jetzt aber schon.“

Candy lachte. „Ja, natürlich.“

„Also.“ Marie zückte erneut ihren Stift. „Nennen wir den vierten Aspekt deiner Persönlichkeit das sexy Glamourgirl.“

„Einverstanden.“ Candy leerte ihre Tasse. Sie fühlte sich schon besser. Marie war gut in ihrem Job. „Das alles zusammen bin also ich. Wie soll ich das in wenigen Sätzen erklären?“

Marie setzte sich und überlegte. „Ich habe eine Idee. Ein bisschen verrückt, aber …“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Warum erstellst du nicht einfach vier Profile?“

Candy prustete los. „Vier?“

„Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich denke da an eine Art Experiment, um zu sehen, auf welches Profil die meisten Männer reagieren, auf welche Art du am besten überzeugst. Das wäre wirklich interessant, psychologisch betrachtet.“

„Ich … ich … ich bin …“ Candy holte tief Luft. „Ich stottere.“

„Lass dir Zeit.“

„Wäre das denn fair gegenüber den Männern? Ich meine, wenn ich eigentlich nicht ich selbst bin?“

„Aber du sollst ja ganz du selbst sein.“ Marie stieß sich vom Schreibtisch ab, ging um ihn herum und öffnete eine Schublade. „Du sollst ja nichts an dir ändern, nur einen Aspekt jeweils ein bisschen mehr betonen. Ein Mann, der halbwegs bei Verstand ist, wird nicht annehmen, dass er alles über dich wissen kann nur aufgrund dessen, wie du dich auf der Website präsentierst.“

„Ich weiß nicht, Marie.“ Candy begann sich für die Idee zu erwärmen, obwohl sie ein vages ungutes Gefühl dabei hatte.

„Du wirst dadurch gewisse Aspekte deiner Persönlichkeit entdecken, die bisher vielleicht …“, Marie wedelte mit dem Stift und suchte nach Worten, „… nicht genug geschätzt wurden.“

Candy legte die Hände an ihre Schläfen. Das war der zweite ungerechtfertigte Seitenhieb gegen Chuck. „Ich muss darüber nachdenken.“

„Natürlich.“ Marie zog mehrere Blätter aus einem Ordner. „Hier sind vier Profilformulare, für jede Candy eines. Diesmal geht das Ausfüllen bestimmt ganz schnell.“

Candy überlegte fieberhaft. Ihr Bauchgefühl sagte Ja, aber ihr Verstand war noch nicht so weit. Vier verschiedene Frauen?

„Wenn du die ausfüllst, hast du noch nicht zugesagt.“ Marie schob die Blätter über den Tisch. „Das wird dir bestimmt Spaß machen, so gern, wie du schauspielerst.“

„Ich war schon ewig nicht mehr auf der Bühne.“ So etwas Impulsives, Albernes hätte sie während ihrer Zeit mit Chuck niemals auch nur in Erwägung gezogen. Er hätte ihr gesagt, dass sie schon wieder unüberlegt handelte. Sie solle besser erst einmal das Für und Wider sorgfältig abwägen, ganz in Ruhe.

Aber Chuck war nicht mehr da.

„Vielleicht nicht auf der Bühne, doch wenn du ein Event managst, dann ist das in gewisser Weise auch wie Theaterspielen.“ Marie ließ nicht locker, bis Candy ihr widerwillig die Formulare aus der Hand nahm. „Außerdem bin ich wirklich neugierig, was dabei herauskommen würde. Wer weiß, das wäre vielleicht eine gute Methode, auch für andere. Ach ja, du brauchst natürlich nur die normale Gebühr zu zahlen. Die drei Extra-Profile gehen aufs Haus.“

Candy schob die Papiere in ihre Mappe. „Was, wenn einer der Männer mich auf einem der anderen Profile erkennt?“

Marie lächelte. „Nichts für ungut, aber meiner Erfahrung nach achten Männer zwar sehr auf das Äußere, wenn es um Frauen geht, aber immer nur auf den Gesamteindruck, nie auf Details. Ich muss ihnen ständig sagen, dass sie keine Ganzkörperaufnahmen mit Sonnenbrille einsenden sollen.“

„Warum nicht?“

„Weil Frauen die Augen sehen wollen und den Gesichtsausdruck. Männern reicht eine Aufnahme von der ganzen Person.“ Marie schaute Candy kritisch an. „Wir können dir für jedes Foto eine andere Frisur machen, vielleicht ein Foto mit Brille, die anderen mit Kontaktlinsen. Die meisten Kunden schauen sowieso nur in die Profile, die ich ihnen empfehle, es dürfte also kein Problem sein. Und falls doch, dann erklären wir die Sache. Wir verstoßen damit ja nicht gegen das Gesetz.“

„Stimmt …“ Candy verschloss ihre Mappe. Sie fand die Idee von Minute zu Minute aufregender. Es kam ihr vor wie ein Spiel, nicht besonders riskant. Vor allem hatte sie dabei nicht das Gefühl, Chuck und die Hoffnung, dass er doch noch zu ihr zurückkehren würde, endgültig aufzugeben.

„Na? Du strahlst ja wie ein Honigkuchenpferd. Das ist ein gutes Zeichen.“

„Ich mache es.“ Candy stand auf. Sie fühlte sich leicht und beschwingt wie schon lange nicht mehr. „Ja, ich glaube, ich tue es.“

Marie lächelte triumphierend. „Candy, Schätzchen, mach dich auf eine Menge Spaß gefasst.“

2. KAPITEL

Justin zog seine Thermojacke an, dann die dicken schwarzen Handschuhe und schließlich die Stiefel, die angeblich jeder Kälte trotzten. Der Winter war in Wisconsin so anders als die letzten dreißig Winter, die er in San Diego verbracht hatte. Als er verkündet hatte, er werde nach Milwaukee ziehen, hatten ihn seine Freunde ungläubig angestarrt und ihm vorausgesagt, dass er höchstens bis Ende Januar durchhalten werde.

Bis jetzt hatte er sich gut gemacht, aber an Tagen wie diesem …

Er spähte durch die Glasscheibe der Hintertür auf das Außenthermometer, das kaum zu erkennen war. Es war erst halb sechs und schon fast dunkel. Er wappnete sich innerlich und öffnete die Tür. Eiskalter Wind wehte ihm entgegen. Für einen Moment schloss er die Augen und dachte an Palmen und Sonnenschein, an Sandstrände und hohe Wellen, die zum Surfen einluden.

Wozu sich selbst quälen? Er machte sich auf den Weg zur Garage, um einen Sack mit Streusalz zu holen. Immerhin gehörte ihm jetzt ein großes, zweistöckiges Haus mit Keller, im Gegensatz zu dem winzigen Häuschen, das er in Solana Beach sein Eigen genannt hatte. Ein Punkt, der eindeutig für Wisconsin sprach. Hier wurden Häuser geradezu verschenkt. In seins hatte er sich auf Anhieb verliebt. Es war ein für diese Gegend typisches Backsteinhaus in einer ruhigen Seitenstraße in Shorewood, nördlich des Stadtzentrums von Milwaukee. Der Verkaufserlös seines alten Hauses hatte gereicht, um sein neues bar zu bezahlen. Es war sogar noch etwas übrig geblieben, sodass er sich die Zeit nehmen konnte, um gemeinsam mit Troy, seinem besten Freund vom College, das erste Buch einer Serie zu verfassen, die möglicherweise zu einem sehr profitablen Projekt werden könnte.

Justin hatte eigentlich nicht vorgehabt umzuziehen, aber der Co-Autorenvertrag mit Troy hatte vorausgesetzt, dass sie zusammenarbeiteten. Dazu kamen das ziemlich schreckliche Ende einer Beziehung und ein überraschendes Kaufangebot für sein altes Haus. Am Ende hatte er das Gefühl gehabt, das Schicksal habe ihm den Weg nach Milwaukee gewiesen.

Das Schicksal schien sich an Kälte nicht im Geringsten zu stören.

Mit Streusalz und ein wenig Glück würde er es schaffen, seinen Wagen auf die Straße zu bekommen. Autofahren im Schnee, das war einfach nicht sein Ding.

Er war mit der Einfahrt fertig und begann den Gehweg zu streuen, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf der anderen Straßenseite wahrnahm. Seine Nachbarin ging zu ihrem Wagen, einem knallroten Minivan, der unter einer Straßenlaterne parkte. Er hatte sie schon ein paar Mal durchs Fenster beobachtet, aber es war schwierig mit Nachbarn ins Gespräch zu kommen, wenn kein Mensch sich im Freien aufhielt, außer um einen lärmenden Schneepflug über den Gehweg zu schieben.

Die Frau gefiel ihm. Nicht nur weil sie jung und attraktiv und allem Anschein nach Single war, sondern weil sie jedes Mal, wenn er sie sah, eine völlig andere zu sein schien. Es sei denn, es handelte sich um Zwillings- oder gar Drillingsschwestern. Nicht nur, dass sie immer wieder ein völlig anderes Outfit trug, auch ihre Frisur, ihr Stil, ja sogar ihre Bewegungen schienen sich zu ändern. Als ihm das zum ersten Mal aufgefallen war, hatte sie einen Hosenanzug getragen, der einem Mann alle Ehre gemacht hätte. Ihr Haar war straff zurückgekämmt und im Nacken zusammengefasst, die Augen waren hinter einem eckigen dunklen Brillengestell verborgen. Mit energischem Schritt war sie zu ihrem Wagen gegangen. Beim zweiten Mal, ziemlich spät abends, da hatte sie ihren Müll hinausgebracht, als er gerade die Pflanzen in seinem Wohnzimmer wässerte, Pflanzen, die er gekauft hatte, um sich zu vergewissern, dass nicht alles Lebendige im Oktober abgestorben war. Die geheimnisvolle Nachbarin hatte eine randlose Brille auf der Nase gehabt und an den Ohren große, baumelnde Goldringe, das Haar war locker zu einem Zopf geflochten. Ein riesiger hüftlanger Pullover und eine lässig geschnittene Hose hatten ihre zierliche Statur betont. Sie hatte ein Buch unter dem Arm gehabt und sich langsam bewegt, geradezu verträumt.

Und an diesem Abend? Wow!

Ihr dunkles Haar fiel ihr über die Schultern, ein enger schwarzer Minirock und schwarze Strümpfe brachten ein Paar fantastische Beine hervorragend zur Geltung. Zufällig liebte er diesen Look. Er ließ den Blick über ihre Beine gleiten. Sie trug hochhackige Stiefeletten. Unter der geöffneten schwarzen Wolljacke – sie musste aus Sibirien stammen, oder warum trug sie keinen Mantel? – schimmerte ein enges lila Top, so tief ausgeschnitten, dass er für einen Moment die Kälte vergaß. Cool, die silbernen Ohrringe, das silberne Armband, die Ringe an ihren Fingern – ob sie auch Ringe an den Zehen hatte?

Er wurde sich bewusst, dass er sie anstarrte, und bemühte sich, freundlich zu winken. Freundliches Zuwinken war alles, was sie bisher ausgetauscht hatten. Sie antwortete mit einem Lächeln, und dieses Lächeln haute ihn um.

Wow.

Er überquerte die Straße und zog den rechten Handschuh aus. „Hi, ich bin Justin.“

Sie streifte einen schwarzen Lederhandschuh ab. Ihre Finger waren warm, im Gegensatz zu seinen.

„Ich bin Candy.“

Candy, das hieß Zucker. Justin verkniff sich ein billiges Kompliment. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Candy …“

„Graham.“

„Candy-gram? Wie der bekannte Lieferservice für Süßigkeiten?“

Sie hob die Schultern und lächelte schief. „Mein Dad hatte einen schrägen Sinn für Humor. Eigentlich heiße ich ja Catherine. Ich habe versucht, auf meinem vollen Namen zu bestehen, aber …“

„Alle nannten Sie immer Candy und den Namen abzulehnen, wäre Ihnen vorgekommen, als würden Sie sich selbst ablehnen.“

Jetzt war es an ihr, ihn anzustarren, aber leider nicht, weil er der heißeste Typ war, den sie in dem ganzen langen Winter zu Gesicht bekommen hatte.

„Woher wissen Sie das?“

„Mein Nachname ist Case.“

„Case?“

„Sie wissen schon, Justin Case, die bekannte Marke für Taschen und Koffer.“ Candy blickte ihn mitfühlend an. „Oh, tut mir leid.“

„Danke.“ Sie hatte volle Lippen und trug einen dunklen Lippenstift. Jetzt öffnete sie diese Lippen, und ihr Atem bildete eine kleine weiße Wolke. Er wurde fast überwältigt von dem Wunsch, sie zu küssen, und als sich eine Sekunde später ihre Blicke trafen, da hätte er es fast getan. „Tja, mein Dad war auch ein Spaßvogel, auf seine Art.“

„Anscheinend.“ Sie brach den Blickkontakt ab und blickte über die Straße zu seinem Haus. „Also dann, willkommen in unserem Viertel, Justin Case. Wie lange wohnen Sie schon hier?“

„Seit November.“ Er zog den Handschuh wieder an und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hatte unglaubliche Augen und dichte Wimpern. Ein feiner Lidstrich und graubrauner Lidschatten ließen sie riesig wirken. Allerdings hatte er den Eindruck, dass sie eine natürliche Schönheit war, auch ohne Styling und Make-up. Nichts machte ihn so an wie die Mischung aus Unschuld und Verführung. Am liebsten hätte er sie gefragt, ob es einen Mann in ihrem Leben gab und was sie davon hielte, den Rest dieser grässlichen Jahreszeit bei ihm im Haus zu verbringen. „Verdammt kalt heute, was?“

„Heute?“ Sie sah ihn erstaunt an.

„Mein Thermometer zeigt minus acht. Brutal!“ Justin schüttelte den Kopf, aber sie schaute ihn nur verständnislos an. „Ich meine, für diese Jahreszeit.“

„Sie sind wohl nicht aus Wisconsin?“

„Eher aus Südkalifornien.“

Sie sah ihn belustig an. „Das erklärt alles. Minus acht ist ziemlich normal hier im Winter. Dieses Jahr ist es sogar relativ mild. Normalerweise ist der Januar wesentlich kälter.“

Justin schauderte. Vielleicht sollte er besser einen Flug in wärmere Gefilde buchen.

„So schlimm ist es gar nicht.“

Sie gestikulierte, ohne die Hände aus den Taschen ihrer Strickjacke zu nehmen. Dabei erhaschte er einen Blick auf ihren Ausschnitt. Sie war nicht groß – er selbst war über eins achtzig und sie reichte ihm trotz hoher Absätze gerade bis zum Kinn –, aber perfekt proportioniert. Wenn ihn etwas wärmen könnte, dann …

„Was hat sie hierher verschlagen, Justin?“

„Ein Autorenvertrag.“ Seine Zähne klapperten. Würde sie es missverstehen, wenn er sie einlud, das Gespräch in seinem Haus weiterzuführen?

„Tatsächlich? Worüber schreiben Sie denn?“

„Ein interaktives Computer-Handbuch. Es gibt eine CD zu dem Buch und eine E-Book-Version. Im E-Book gibt es Links zu weiterführenden Themen, kurzen Animationen und so weiter. Wir versuchen, so etwas wie ein interaktives Klassenzimmer zu produzieren. Ein Freund von mir ist der Computerfachmann, ich der Texter.“ Merkte sie nicht, dass er nur noch kurze Sätze formulierte? Er musste alle Kraft aufbieten, um nicht am ganzen Leib zu zittern. Wie ein Macho wirkte er wohl nicht gerade. „Wenn es gut läuft, soll eine Serie daraus werden.“

„Wirklich? Das ist ja toll. Haben Sie in Kalifornien auch schon als Autor gearbeitet? Von wo genau sind Sie? Ich habe Freunde in L. A.“

Plötzliche plapperte sie los, wie befreit.

„Ich komme aus Solana Beach in der Nähe von San Diego. Da habe ich technische Handbücher für eine Ingenieurfirma geschrieben.“

„Oh, das klingt ja …“ Sie brach ab.

„Unglaublich aufregend?“

„Ja, genau.“

Sie neigte den Kopf und lächelte. Ihr Haar hing wie ein glänzender Vorhang über ihrer rechten Schulter. Wäre er nicht gerade im Begriff, sich in Väterchen Frost zu verwandeln, dann würde er es genießen, dass sie ihm so ein wundervolles Lächeln schenkte, und sich fragen, was sie sonst noch an ihm aufregend fand.

Tatsache war, dass er gleich erfrieren würde.

„Wissen Sie, für Sie als Einheimische mag das ja ein milder Frühlingstag sein, aber mir frieren gleich Arme und Beine ab. Hätten Sie Lust mit zu mir rüberzukommen? Ich habe gerade Kaffee gemacht.“

Candy lachte. „Sehr gern, aber ich bin … verabredet.“

„Ja. Natürlich.“ Justin war überrascht, wie sehr ihn das enttäuschte, aber eine Frau wie sie hatte natürlich einen festen Freund oder jede Menge Verehrer. Männer, die an so einem Tag in Shorts und ohne Hemd herumlaufen konnten, ohne dass gewisse Körperteile zu Eis erstarrten. „Hätte ich mir denken können, so wie Sie aufgestylt sind.“

„Ich ziehe mich nicht immer so an.“

Fast hätte er gesagt, ich weiß, aber sie sollte nicht wissen, dass er sie schon des Öfteren beobachtet hatte. „Schade.“

„Danke.“

Wieder lächelte sie, doch er hatte das Gefühl, dass sie trotz der sexy Fassade eher schüchtern war.

„Sie sind also öfter … verabredet?“

„In letzter Zeit ja.“

Justin machte einen Schritt rückwärts. Sie gefiel ihm, ihre Fröhlichkeit, ihr Lächeln, ihre sinnliche Aura, aber er war nicht der Typ, der für eine Frau Schlange stand. Angie, seine Exfreundin, war genauso. Sie zog Männer an wie das Licht die Motten, und es machte ihr Spaß. Das war einer der Gründe gewesen, weshalb er weggezogen war.

„Ich habe mich auf einer Online-Datingsite registriert.“

„Tatsächlich?“ Justin blieb stehen. Das erklärte, wieso sie so oft Dates hatte, aber nicht, warum sie jedes Mal ihren Stil völlig änderte. „Und wie läuft es?“

„Nicht schlecht, aber auch nicht gerade toll.“ Sie lachte. „Manchmal bin ich nicht sicher, ob es eine so gute Idee war.“

Er nickte, als ob er sie genau verstehen würde. Dafür, dass sie zweifelte, gab sie sich verdammt viel Mühe mit ihren diversen Outfits.

„Die Website gehört einer Freundin. Milwaukeedates.com. Es … ich tue ihr damit quasi einen Gefallen.“

„Aha.“ Jetzt wurde es interessant. Sie verabredete sich mit Männern, um einer Freundin behilflich zu sein? Nicht, um einen Mann für sich selbst zu finden? Was war mit den Frauen, die sich ernsthaft darum bemühten, einen Mann zu finden? Oder mit den armen Kerlen, die glaubten, sie meine es ernst, wenn sie sich mit ihnen verabredete? „Läuft denn das Geschäft nicht gut? Braucht sie mehr weibliche Kandidaten?“

„Oh.“ Candy senkte den Kopf, sie schien ernsthaft verlegen zu sein. „Nein, sie … nein, es läuft sehr gut. Marie wurde sogar vom Unternehmerinnenverband für die beste Erfolgsstory des Jahres ausgezeichnet. Ich bin da übrigens auch Mitglied.“

„Freut mich für Ihre Freundin.“ Der Journalist in ihm wurde neugierig. Aus irgendeinem Grund war die hübsche Candy nervös geworden. Er hatte an der University of Southern California Journalistik studiert, verdiente sein Geld jedoch hauptsächlich als Autor technischer Handbücher. Hin und wieder arbeitete er jedoch auch noch als Reporter, einfach weil es Spaß machte. „Und was ist Ihr Metier?“

„Eventmanagement. Wir machen Kindergeburtstage, Firmenpartys, alles Mögliche.“

„Toller Job.“

„Es macht mir wirklich Spaß.“

Justin überlegte. Bob Rondell, ein langjähriger Freund und früherer Zimmergenosse von ihm, hatte im Zusammenhang mit einer Datingsite, bei der er sich registriert hatte, eine Verschwörungstheorie entwickelt. Er war überzeugt, dass die Firma besonders attraktive Frauen dafür bezahlte, dass sie sich mit neuen Kandidaten ein oder zwei Mal trafen, um die Männer bei der Stange zu halten. Sie sollten die hohen Monatsgebühren weiterzahlen, in der Hoffnung, das nächste Date werde besser sein. Damals hatte er die Sache damit abgetan, dass Bob Trost für sein verletztes Ego brauchte.

Allerdings hatte er noch mehr solche Gerüchte über betrügerische Praktiken beim Online-Dating gehört. Sein Instinkt sagte ihm, dass es sich lohnen könnte, weiter nachzuforschen. Nur nicht gerade jetzt und hier, wo ihm die Nase lief und die Zehen taub wurden.

„Also dann, einen schönen Abend.“

Sie blickte ihn wehmütig an. „In Ihrer Küche einen Kaffee zu trinken, klingt irgendwie verlockender.“

„Das Angebot steht. Ein andermal.“ Justin ging rückwärts, dann drehte er sich um und tat, als würde er gemütlich zu seinem Haus schlendern, obwohl er doch am liebsten so schnell wie möglich ins Warme gerannt wäre.

Als er endlich drinnen war und sich aufwärmte, zählte er im Geist die Fakten auf. Eigentlich hatte er nichts in der Hand, aber ein Artikel, der betrügerische Praktiken enthüllte, ließ sich immer gut verkaufen. Es könnte nicht schaden, wenn er ein bisschen ermittelte.

Justin nahm das Telefon und wählte Bobs Nummer in Kalifornien. Seine Finger waren immer noch klamm. Würde er sich jemals an dieses raue Klima gewöhnen? Das Surfen vermisste er am meisten.

„Bob, ich bin es, Justin. Wie geht’s? Was machst du gerade?“

„Ich sitze in der Badehose auf dem Balkon, mit einem Bier und einem Buch. Und du?“

Justin schnaubte verächtlich. „Ich sitze bis zum Hals im Schnee.“

„Ha! Ich hab’s dir doch gesagt, Mann. Der Winter dort ist kein Picknick. Komm nach Hause. Hier ist das Leben schön.“

„Nein, mir gefällt es hier. Bis auf die Kälte.“

„Ja, und die herrscht ja nur acht Monate im Jahr. Ich habe in Boston gelebt und bin fast gestorben. Wisconsin ist schlimmer.“

„Schon gut.“

„Tja, wie gesagt … Wie läuft es mit dem Buchprojekt mit Troy?“

„Bis jetzt vielversprechend.“

„Ja? Ich kann mir kaum vorstellen, dass ihr beiden etwas anderes tut als Bier trinken und Blödsinn machen.“

„Wir arbeiten. Wir müssen Fristen einhalten.“ Justin schob eine Hand in die Achselhöhle des anderen Arms, um sie zu wärmen. „Hör zu, bist du immer noch bei dieser Datingsite?“

„Du meinst ‚CalDates‘? Nein, nein.“ Bob lachte. „Das ist Geldverschwendung. Ich habe dir ja erzählt, was ich davon halte.“

„Genau deshalb rufe ich an.“ Er beschrieb, was er gerade mit Candy erlebt hatte.

„Eine Frage. Ist sie attraktiv?“

„Kann man wohl sagen.“

Bob schnaubte. „Dann wette ich, dass sie für ihre Freundin arbeitet, der die Website gehört. Wahrscheinlich trifft sie sich mit jedem neuen Mitglied und macht sich entsprechend zurecht. Er denkt: Wow, was für eine Frau, diese Website ist genau richtig für mich. Nach ein paar Dates verliert sie plötzlich das Interesse. ‚Nein, nein, es liegt nicht an dir, es liegt an mir. Ich wünsche dir alles Gute.‘

Danach hat er nicht mehr viel Glück, aber die Erinnerung an diese erste Frau bringt ihn immer wieder dazu, weiterzuzahlen. Ich sage dir, Männer sind einfach gestrickt. Einsame Männer noch einfacher. Solange einer glaubt, es besteht Hoffnung, zahlt er.“

Justin brummte irgendetwas und wechselte Hand und Achselhöhle. Er war nicht sicher, ob ihm diese Klassifizierung des männlichen Geschlechts gefiel, auch wenn er zugeben musste, dass er draußen auch recht eindimensional auf Candy reagiert hatte: Gefällt mir, möchte ich haben.

„Hast du davon gehört? Es gibt eine Studie mit Hühnern, die konnten mit dem Schnabel einen Hebel drücken. Eine Gruppe Hühner bekam daraufhin immer Futter. Eine Gruppe bekam niemals Futter, die hat ziemlich schnell aufgegeben. Die dritte Gruppe bekam manchmal Futter, manchmal nicht. Die haben nie aufgehört, die Hebel zu drücken. Verstehst du, was ich damit sagen will?“

„Also …“

„Mensch, bei Männern ist es ganz genauso. Gib uns ein bisschen Hoffnung, ein paar Dates mit einer echt heißen Maus, dann werden wir es wieder und wieder versuchen. Das Konzept ist eigentlich genial.“

„Genial.“ Jetzt fühlte Justin sich wirklich unbehaglich. Diese Hühnergeschichte klang verdammt realistisch und erinnerte ihn viel zu sehr an sich selbst und an Angie. Auf jede Woche, in der sie ihn wie einen Putzlappen behandelt hatte, war eine gefolgte, in der er wieder Hoffnung schöpfte. Oh ja, er hatte viel zu lange immer wieder auf den Hebel gedrückt. „Danke, Mann. Ich lass wieder von mir hören.“

„Ja, tu das. Und komm mal zu Besuch. Wetten, dass du spätestens im März durchdrehst?“

„Abwarten.“ Justin legte auf und schüttelte den Kopf. Bob, der alte Macho.

Er war immer noch skeptisch, was die Theorie seines Freundes betraf, nahm sich aber vor, ein paar Nachforschungen über „Milwaukeedates.com“ anzustellen. Er sehnte sich ohnehin nach diesem Adrenalinschub, der sich immer einstellte, wenn er beim Ermitteln auf eine echte Story stieß. Sobald er genügend Fakten gesammelt hatte, würde er versuchen, einen Auftrag zu bekommen.

Es gab bei der Sache nur ein Problem.

Solange er herauszufinden versuchte, welche Rolle Miss Graham in der Sache spielte, konnte er kein Date mit ihr haben, sondern nur Kaffee mit ihr trinken, um sie unauffällig auszuhorchen. Dabei hatte er Lust auf mehr. Auf viel mehr.

3. KAPITEL

Candy stieg in ihren Wagen und versuchte, nicht in Justins Richtung zu schauen. So eine Wirkung hatte kein Mann mehr auf sie gehabt, seit – seit sie Chuck in ihrem letzten Jahr an der Uni begegnet war. Er hatte in der Vorlesung über englische Literatur hinter ihr gesessen und so lange an ihren Sitz getreten, bis sie sich genervt umdrehte – und das wundervollste Lächeln aller Zeiten erblickte, zusammen mit einem Zettel, auf dem stand: Habe mich gerade in deinen Hinterkopf verliebt. Gehst du nachher mit mir Kaffee trinken?

Dem waren fünf wundervolle Jahre gefolgt, in denen sie kaum einen anderen Mann eines Blickes gewürdigt hatte.

Außer in ihrem letzten Jahr. Da hatte sie jemanden auf einem Polterabend kennengelernt, den sie organisiert hatte. Und dann war da noch der Vater des kleinen Mädchens, das die Barbie-Geburtstagsparty gewonnen hatte, das war davor gewesen. Und dann noch der süße Kerl, der sie so unglaublich zuvorkommend bedient hatte, als sie einen neuen Fernseher zu Chucks Geburtstag kaufte.

Diese Männer waren aber in festen Händen gewesen, und sie ebenfalls. Jetzt dagegen – jetzt war sie frei! Und wenn Justin erst kürzlich hergezogen war, dann gab es in seinem Leben wohl keine Frau, es sei denn, er hatte sie am Strand von Kalifornien zurückgelassen.

Candy ließ den Motor an. Ein Schauer überlief sie, doch der hatte nichts mit der Kälte zu tun. Womöglich wollte dieser Justin ja nur als guter Nachbar Kontakt aufnehmen, doch ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, dass mehr dahintersteckte. Die Luft zwischen ihnen hatte förmlich geknistert. Plötzlich schien alles möglich zu sein. Indem sie ihre Verabredung als Gefallen für ihre Freundin Marie abtat, wollte sie den Eindruck erwecken, sie sei nicht verzweifelt auf der Suche nach einem Mann. Gleichzeitig hatte sie ihm signalisieren wollen, dass sie keineswegs schon vergeben war.

Ja, ja.

Am liebsten hätte sie ihre Verabredung mit Ralph abgesagt und an Justins Tür geklopft. Auch wenn das mit ihm sicherlich nicht mehr als eine kurze Affäre werden würde. Wahrscheinlich würden sie am Ende doch nur gute Freunde sein.

Andererseits war die Vorstellung, was bis dahin alles passieren könnte, allzu verlockend. Vielleicht wäre Justin der Richtige, um, wie Marie es ausgedrückt hatte, die bösen Geister des letzten Valentinstags zu vertreiben.

Jetzt aber genug, ermahnte sie sich. Sie steigerte sich da in etwas hinein. Justin hatte sie nur gebeten, zu ihm zu kommen, weil ihm draußen so kalt war. Vielleicht hatte es wirklich nicht mehr zu bedeuten.

Außerdem konnte eine Romanze mit einem Nachbarn das Leben sehr kompliziert machen. Candy hatte das Haus in Shorewood vor vier Jahren von ihrer Großmutter geerbt, das bedeutete, dass sie niemals umziehen würde. Einen Exfreund im Haus gegenüber zu haben könnte also ziemlich unangenehm sein.

Außerdem hatte sie ihm schon ein paar Mal freundlich zugewinkt, aber erst heute, da sie sich wie jemand aufgestylt hatte, der sie gar nicht war, hatte er sie angesprochen. Wenn das alles war, was ihn zu ihr hinzog, dann hatten sie keine Chance als Paar. Normalerweise trug sie Sweatshirts, Plüschhausschuhe, Brille und kein Make-up – das würde ihn wohl in die Flucht schlagen.

Na also. Auf die raue Wirklichkeit konnte man sich verlassen, wie Chuck immer sagte. Wenigstens einen Grund zum Feiern hatte sie jedoch: Ihr sexuelles Verlangen existierte noch. Die Begegnung mit Justin hatte es innerhalb von Sekunden aus dem Winterschlaf geholt.

Es war ein kleiner Schritt, aber immerhin ein Schritt nach vorn.

Sie bog in die Prospect Street ein und fuhr zu „Harry’s Bar & Grill“ in der Oakland Street. Sie wollte sich mit Ralph Stodges treffen, der Wert darauf legte, dass eine Frau sich verführerisch kleidete. Marie hatte ihm jedenfalls das Profil von sexy Glamourgirl vorgeschlagen. Trotz Candys anfänglicher Skepsis musste sie zugeben, es machte Spaß, sich immer wieder als ein anderer Typ Frau mit neuen Männern zu verabreden. Inzwischen fiel es ihr auch leichter, an die Möglichkeit einer neuen Liebe zu denken.

Ihr erstes Date als „Powerfrau“ war interessant gewesen. Sie hatte sich auf einen Kaffee in Alterra am See mit einem gewissen Frank getroffen. Frank sah gut aus und war intelligent, wirkte jedoch unsicher und schien ständig beweisen zu wollen, dass er zu praktisch jedem Thema mehr wusste als sie. Das war ermüdend, aber Candy hatte das Gefühl von heimlicher Überlegenheit genossen, trotz des grässlichen Hosenanzugs, den sie dabei tragen musste.

Ihr nächstes Date – zum Mittagessen im „Knick“ als die Nachdenkliche – hatte sehr viel mehr Spaß gemacht, wahrscheinlich, weil ihr diese Rolle am meisten zusagte. Ganz bestimmt mehr als die, die sie an diesem Abend spielen sollte. Sam war rücksichtsvoll, interessant und witzig gewesen, doch die Luft hatte nicht gerade zwischen ihnen gebrannt.

Kein Problem. Ihr ging es nur darum, sich zu amüsieren und langsam, aber sicher zu akzeptieren, dass sie und Chuck eben kein Paar für die Ewigkeit waren. Zugegeben, es gab Zeiten, nachts im Bett, da hoffte sie immer noch, dass er zurückkommen würde. Oder sie quälte sich mit dem Gedanken, es habe keinen Sinn, nach dem Zweitbesten zu suchen, da sie die große Liebe ihres Lebens bereits hinter sich hatte.

Vielleicht wäre der Zweitbeste aber immer noch besser als gar keiner.

Candy war spät dran und brauchte auch noch zehn Minuten, um einen Parkplatz zu finden. Danach konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, ihre beste Freundin Abigail Glucklich anzurufen, denn nichts in ihrem Leben geschah, ohne dass sie es einander sofort erzählten.

„Es ist Viertel nach sechs. Du bist doch verabredet, was ist los? Wieso rufst du mich an. Ist Ralph widerlich?“

„Ich bin ihm noch nicht begegnet.“ Candy stieg aus, verschloss die Tür und ging auf den Eingang der Bar zu.

„Verlierst du die Nerven? Du warst schon mit den Nerven am Ende, als es darum ging, das richtige Outfit zu finden.“

Candy lächelte. Abigail hatte ihr mit Kleidung, Schuhen, Make-up und vielen guten Ratschlägen ausgeholfen, um das sexy Glamourgirl Wirklichkeit werden zu lassen. Die Sachen in ihrem eignen Kleiderschrank waren dafür untauglich. Es stimmte, was ihre Freundin sagte, sie fühlte sich schrecklich unbehaglich, ganz gleich, wie ihr Spiegelbild ausfiel. Immer wieder hörte sie Chucks Stimme, der ihr zuredete, sie sei hübsch und sexy, ohne irgendwie nachhelfen zu müssen. „Nein, die Nerven sind nicht das Problem.“

„Was dann?“

„Ich habe gerade jemanden kennengelernt.“ Wieso hörte sie sich plötzlich an wie ein Schulmädchen?

„Was?“ Abigails Stimme klang eine Oktave höher als sonst. „Wo? Wie? Wann?“

„Gerade eben. Es ist mein neuer Nachbar von gegenüber.“

„Das alte Haus der Bakers?“

„Genau.“

„Was ist passiert? Du bist hinübergegangen und mit ihm ins Bett gehüpft?“

„Ich sagte, ich habe ihn gerade kennengelernt. Du weißt schon, man sagt: Hallo, ich bin Candy …“

„Ach so.“

Es klang enttäuscht. Das war typisch Abigail. Sie an ihrer Stelle hätte Justins Einladung zum Kaffee angenommen und dafür gesorgt, dass sie diesen Kaffee in seinem Schlafzimmer tranken, mochte der arme Ralph auch allein an der Bar sitzen und frustriert auf die Uhr schauen.

„Was ist so wichtig daran, dass du deinen Nachbarn kennengelernt hast? Na ja, ich kann es mir natürlich denken.“

„Er ist ein Supertyp.“

„Aha.“

„Und, wenn ich es richtig sehe, zu haben.“

„Aha, aha.“

„Was soll ich denn jetzt machen?“

„Bring ihm Plätzchen.“

Candy blieb stehen und lachte los. „Was?“

„Plätzchen. Eine Schale mit selbst gemachten Plätzchen bedeutet: Hallo und willkommen. Ich bin Candy und ich kann backen. Und im Bett, da kann ich noch mehr. Lass uns heiraten.“

Candy schnaubte und ging weiter. „Das nennt man einen Wink mit dem Zaunpfahl.“

„So habe ich Ron gekriegt. All die anderen Frauen, die ihn wollten, haben sich aufgebrezelt und sich benommen, als ob sie nichts weiter zu bieten hätten als Sex und die Erlaubnis, dass er sein ganzes Geld für sie ausgab. Ich habe zu unserer ersten Verabredung eine Tüte selbst gemachte Haferplätzchen mitgebracht. Er hat nie gemerkt, dass ich ihn genau damit herumgekriegt habe.“

„Stimmt.“

Abigail war mit vier Geschwistern aufgewachsen, in einem Heim, in dem es weder genug Liebe noch genügend Geld gab, und war zu dem Schluss gekommen, dass Letzteres am wichtigsten war. Also hatte sie sich mit dem ersten Multimillionär verlobt, den sie finden konnte. Er bekam kalte Füße – die Hochzeit am Valentinstag fand nicht statt –, aber sie fand einen anderen und heiratete ihn. Ron Glucklich. Sie lebten in einer Villa am Lake Michigan. Bevor sie schwanger wurde, war Abigail ständig auf Reisen gewesen. Sie war nie lange genug zu Hause, um dort wirklich heimisch zu werden. Und jetzt, da die Phase der morgendlichen Übelkeit vorbei war, würden sie und Ron bald wieder verreisen, nach Jamaika. Candy beneidete sie überhaupt nicht.

Okay, einen Monat lang wäre es vielleicht ganz nett. Oder zwei Monate. Abigail musste sich nicht aufbrezeln und sexy Glamourgirl spielen. Sie war ein sexy Glamourgirl.

„Wo bist du?“, fragte ihre Freundin.

„Auf dem Weg zu meinem Date. Ralph.“ Sie blieb vor dem Eingang stehen. „Ich stehe schon vor der Tür. Wahrscheinlich rechnet er inzwischen gar nicht mehr mit mir.“

„Meine Güte, bei dir ist ja was los.“ Abigail klang wehmütig. „Das waren noch Zeiten.“

„Als ob du gerne tauschen würdest. Ich erzähle dir später alles. Was machst du heute Abend?“

„Ron ist auf Geschäftsreise. Ich werde fernsehen und versuchen, nicht zu viel Erdnussbutter-Eiscreme zu essen.“ Sie stöhnte theatralisch. „Die Herstellung eines Babys ist ganz schön verantwortungsvoll.“

„Aber sie sind es wert, oder?“

„Oh ja.“ Abigail seufzte. „Das Kleine hat mich längst in der Tasche. Ich bin verloren.“

„Das wusste ich.“ Candy lächelte breit und verdrängte, dass sie neidisch war.

„Also dann … nur zu. Viel Spaß. Ich stopfe mich mit Kalorien voll und du hast wilden Sex.“

„Wir werden sehen.“

„Ach, und das mit den Plätzchen habe ich ernst gemeint, Candy. Mach die Schokoplätzchen, mit denen ich schon zehn Pfund zugelegt habe. Dann verfällt er dir hoffnungslos.“

„Alles klar.“

„Und ruf mich an, sobald du dieses Date mit Ralph hinter dir hast. Wenn er bei deinem Anblick keinen – du weißt schon – bekommt, dann ist er schwul.“

Candy musste lachen. „Danke, Abby. Ich verspreche, ich rufe dich gleich an.“

Sie schob das Handy in ihre Handtasche. Plötzlich war sie entsetzlich nervös. Sie würde diese Bar betreten müssen und tausend Leute würden sie angaffen und aus ihrem Äußeren Schlüsse auf ihren Wert als Mensch ziehen. So war es auch bei ihren andere Dates gewesen, aber diesmal schien ihre Rolle besonders wenig mit ihr selbst zu tun zu haben.

Candy straffte die Schultern und ging hinein. Sie versuchte, sich so selbstbewusst und sexy zu bewegen, wie sie aussah. Jetzt bloß keinen Rückzieher.

Sie presste die Lippen zusammen und blickte sich um. Ralph hatte auf dem Foto gut ausgesehen, allerdings hatte Marie gesagt, er habe inzwischen ein paar Pfund zugelegt.

Ein Hüne von einem Mann trat auf sie zu. Er war viel größer, als sie erwartet hatte, ein richtiger Bulle. Und er hatte, oh ja, einige Pfund zugelegt, seinen Kopf rasiert, einen Ohrring angelegt und sich einen von diesen Kinnbärten wachsen lassen, die sie nicht ausstehen konnte.

„Candy?“

„Ja. Ralph. Hi.“ Sie streckte eine Hand aus und setzte ein strahlendes Lächeln auf. Oh nein, korrigierte sie sich, das war falsch. Hier war der verführerische Blick von unten herauf angesagt. Sie versuchte es, aber wahrscheinlich sah sie nur so aus, als hätte sie etwas im Auge.

Das Ganze war ein Fehler. Bei Abigail, ja sogar bei Justin hatte sie sich noch ganz wohl in diesem Outfit gefühlt, aber gegenüber diesem Riesen kam sie sich plötzlich lächerlich vor. Dieser Mann hatte keine Ahnung von ihr und sie signalisierte ihm, dass sie jemand war, der sie gar nicht sein wollte.

„Aha.“ Langsam ließ er den Blick über ihren Körper gleiten. „Du bist ja ein verdammt heißer Feger. Da habe ich wohl ganz besonderes Glück, oder was?“

Oder was. Candy lächelte krampfhaft weiter und versuchte, eine verführerische Pose einzunehmen. Sie fühlte sich nackt. Sie wollte einfach nur nach Hause, ihre Jogginghose anziehen, diese Plätzchen backen und den Abend mit Justin bei Kaffee und Konversation verbringen. Was für eine Sexgöttin war sie nur?

Gar keine. Das würde Ralph sicher bald herausfinden. Und wer weiß, was Justin zu den Plätzchen sagen würde, wenn die von einer Frau in schlabberiger Jogginghose überbracht wurden.

Sie hätte auf Chuck hören sollen, der sie besser kannte als sie sich selbst. Sexy Glamourgirl war nur in ihrer Fantasie ein Teil ihrer Persönlichkeit.

4. KAPITEL

„Hallo, Justin. Freut mich, Sie kennenzulernen. Kommen Sie herein.“

Justin war beeindruckt von ihrem festen Händedruck. Marie war völlig anders, als er erwartet hatte. Ihrer Stimme nach hatte er sie sich als breitschultrige Amazone vorgestellt, nicht so zierlich und elegant. Sie trug ein rotbraunes Kostüm und einen Seidenschal in den Farben Beige, Orange und Gelb.

„Ganz meinerseits.“ Er blieb stehen, schob die Hände in die Taschen und blickte sich um, ganz der typische, ein wenig nervöse Neukunde. Hoffentlich war er überzeugend. „Schönes Büro. Sehr gemütlich.“

„Freut mich, dass es Ihnen gefällt.“

Sie beugte sich über den Schreibtisch und notierte sich etwas, vielleicht, dass er Wert auf stilvolle Einrichtung legte? Dann deutete sie auf einen der beiden Sessel vor ihrem Schreibtisch.

„Nehmen Sie Platz.“

„Danke.“ Er ließ sich auf den bequemen Sitz sinken und strich sich über die Oberschenkel, schließlich war er nervös und unbeholfen und total im Stress. „Und wie läuft das jetzt so?“

Es machte ihm Spaß. Nicht dass er sich wünschte, dass diese niedliche Marie und die noch niedlichere Candy in eine krumme Sache verwickelt waren, aber es war aufregend, endlich wieder einmal auf eigene Faust zu ermitteln. Dieses Computerbuch, an dem er mit Troy schrieb, war ein guter Schritt nach vorn in seiner Karriere, aber die Arbeit daran war nicht gerade prickelnd.

„Das Wichtigste ist, dass Sie sich dabei wohlfühlen, Justin. Wir können uns unterhalten, es sei denn, Sie möchten gleich die Formulare ausfüllen. Wir können sie auch gern zusammen ausfüllen. Was meinen Sie?“

„Tja …“ Er zuckte unbeholfen mit den Schultern. „Vielleicht erst einmal reden.“

„Gut.“ Sie strahlte ihn an, kam um den Tisch herum und setzte sich in den Sessel neben ihm. „So lerne ich unsere neuen Kunden am liebsten kennen.“

„Erzähle ich Ihnen jetzt meine Lebensgeschichte?“

„Etwas davon habe ich ja schon.“

Sie öffnete seine Akte. Justin sah ein Stück von dem Formular, das er online mit seinen persönlichen Daten ausgefüllt hatte – Name, Adresse, Personenstand, kurzer Abriss über sein bisheriges Liebesleben.

„Heterosexuell, Collegeabschluss, Nichtraucher, nie verheiratet, aber eine Beziehung in Kalifornien, die gerade beendet wurde. Möchten Sie mit mir darüber reden?“

Hoppla. Das hatte er nicht vor. „Nein, eigentlich nicht.“

„Wie ernst war es?“

„Für mich mehr als für sie.“ Es gelang ihm nicht zu verhindern, dass seine Stimme bitter klang. „Als ich die Chance bekam, in Milwaukee zu arbeiten, wusste ich, dass es an der Zeit war, alle Brücken abzubrechen und zu verschwinden.“

„Sie sind Autor …“

„Ich habe Journalistik studiert und in Kalifornien als technischer Autor und als Journalist gearbeitet. Jetzt arbeite ich mit einem Freund zusammen an einem Fachbuch und hoffe, hier Fuß zu fassen.“

„Interessante Karriere.“

Wieder machte sie sich Notizen. Ob sie ihn gerade auf der Gewinner-Verlierer-Skala einordnete?

„Seit wann sind Sie Single, Justin?“

„Oh …“ Er rieb sich die Hände. Jetzt musste er nicht mehr so tun, als wäre er nervös. „Ungefähr fünf Monate.“

„Fünf Monate.“

Marie beobachtete ihn. Wahrscheinlich nahm sie mehr Signale wahr, als er bewusst aussendete. Erst jetzt bemerkte er, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Eine merkwürdige Situation war das. Offenbar suchte sie genau wie er nach einer Story hinter der Story.

„Und jetzt fühlen Sie sich bereit für einen Neuanfang?“

„Ich bin bereit für einen Neufang.“ Wieder machte sie eine Notiz.

„Macht es Ihnen etwas aus, darüber zu reden, weshalb die Beziehung nicht funktioniert hat?“

„Wollen Sie mich provozieren?“

„Nein, will ich nicht.“ Sie beugte sich vor, ihr Blick war ernst. „Das ist es, was ‚Milwaukeedates.com‘ von anderen Dating-Agenturen unterscheidet. Ich möchte, dass meine Kunden Partner finden, die ihnen geben können, was sie brauchen. Solange Sie nicht wissen, was Sie brauchen, oder immer wieder dieselben Verhaltensmuster wiederholen, wird es wahrscheinlich kein Happy End geben. Die beste Methode, um bei der Partnersuche erfolgreich zu sein, ist, sich intensiv mit den vergangenen Beziehungen auseinanderzusetzen. Deshalb stelle ich diese Frage jedem neuen Kunden, auch wenn die Antwort darauf oft schwierig ist. Wenn Sie das nicht möchten, ist das auch in Ordnung.“

Justin nickte, als ob er darüber nachdenken würde, doch in Wirklichkeit wäre er am liebsten davongerannt. Er hatte geglaubt, er könnte einfach so in Maries Büro spazieren, ein paar oberflächliche Fragen beantworten, ein paar Hinweise sammeln, weshalb sie Candy auf jeden neuen Kunden ansetzte, und wieder verschwinden. Dass er sich selbst entblößen müsste, damit hatte er nicht gerechnet.

„Die Beziehung hat nicht funktioniert, weil …“ Weil Angie eine fleischfressende Pflanze war und ich ein leckeres Stück Frischfleisch. Nein so einfach war es nicht. Er brauchte eine neutrale Formulierung, etwas, das nicht so bitter klang. „Ich war bereit zu einer ernsthaften Beziehung und sie nicht.“

„Sie hat sich mit anderen Männern getroffen.“

„Geradezu zwanghaft.“ Justin lehnte sich im Sessel zurück. Er fing an zu schwitzen. Eigentlich wollte er doch die Fragen stellen.

„Glauben Sie, dass sie sich nicht unter Kontrolle hatte?“

„Nein. Es war einfach ihre Art, mit inneren Konflikten umzugehen und sich vor Entscheidungen zu drücken. Ihr Bedürfnis nach Selbstbestätigung als Frau war unendlich groß.“

Marie schaute ihn mitfühlend an, fast mitleidig. „Das klingt, als ob Sie schon sehr gut verstanden hätten, um was es ging. Wie lange waren sie zusammen?“

Justin knirschte mit den Zähnen. „Fast ein Jahr.“

„Und während der ganzen Zeit hat sie sich auch mit anderen Männern getroffen?“

Marie stellte diese Frage, wie sie auch gefragt hätte, was es zum Mittagessen gibt. Er allerdings brauchte alle Kraft, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sie ihm damit zusetzten.

„Am Anfang war da noch ein anderer. Und am Schluss auch. Ich nehme stark an, dass es dazwischen auch andere gegeben hat. Ganz bestimmt Flirts.“

Marie presste die Lippen zusammen und wartete einen Moment ab. Sollte er sich jetzt entspannen oder noch nervöser werden?

„Haben Sie geglaubt, Sie könnten sie retten, indem Sie bei ihr blieben, Justin?“

Da war er, der entscheidende Schlag. Justin hasste diese psychologischen Spielchen. „Ich habe gehofft, dass das, was zwischen uns war, stark genug wäre, ja.“

Marie ließ wieder einen Moment verstreichen. Wahrscheinlich sollte er sich jetzt auf den nächsten Hieb einstellen. Er entspannte sein Zwerchfell und achtete darauf, die Hände nicht zu Fäusten zu ballen.

„Glauben Sie, es gibt etwas, was Sie hätten anders machen können? Wäre die Beziehung dann anders gelaufen?“

Peng. Marie beherrschte ihr Metier. Justin hätte sich am liebsten in der hintersten Ecke seines Sessels verkrochen, wie ein Schuljunge, der sich vor versammelter Klasse keine Blöße geben will, aber er konnte jetzt keinen Rückzieher machen.

Er zwang sich, ernsthaft über Maries Frage nachzudenken. „Nein.“ Er verschränkte die Finger. „Nein, ich denke nicht, dass ich irgendetwas hätte tun können, damit wir besser zusammenpassten.“

„Sie war offenbar nicht bereit, sich mit ihrem Verhalten kritisch auseinanderzusetzen?“

„Sie konnte einfach nicht anders.“ Justin versuchte zu lächeln, doch sein Mund schien nur noch halb zu funktionieren. Monatelang hatte er sich über diese Beziehung den Kopf zerbrochen, und Marie war innerhalb weniger Minuten auf den Kern des Problems gestoßen und hatte ihm aufgezeigt, weshalb es richtig war, Angie hinter sich zu lassen.

„Und jetzt suchen Sie also eine Frau, die sich selbst kennt und versteht“, sagte Marie sanft.

„Ja.“

„Eine Frau, die sich eine ernsthafte Beziehung wünscht?“

„Nicht unbedingt.“ Er rieb sich die Stirn. Noch nie war er bei Undercoverermittlungen so aus dem Gleichgewicht gebracht worden. Er hatte mit stellvertretenden Bankdirektoren über Darlehen verhandelt und dabei Sicherheiten angegeben, die es gar nicht gab. Er hatte Kliniken und Bestattungsunternehmen aufgesucht und so getan, als sei er ein trauernder Angehöriger. Er hatte Menschen beschattet, Gespräche belauscht, private Aktenschränke durchsucht – all das mit viel mehr Gelassenheit und Ruhe als jetzt. „Ich meine, ich möchte nicht unbedingt heiraten …“

„Warum nicht?“, fragte Marie ruhig.

„Nun ja, jedenfalls nicht bald.“

„Auch nicht, wenn Sie der richtigen Frau begegnen?“

„Also … ja, dann schon, glaube ich.“ Er wusste nicht, ob er lachen oder frustriert aufstöhnen sollte. Er wusste nicht mehr, ob seine Antworten spontan waren oder ein Teil der Rolle, die er spielte. „Ich bin nicht grundsätzlich gegen das Heiraten, ich bin nur noch nicht so weit.“

Marie machte wieder eine Notiz. „Dann wünschen Sie sich also eine Beziehung, spätere Heirat nicht ganz ausgeschlossen.“

„Ja. Klar. Wenn alles passt.“ Heirat? Er war hergekommen, um ein bisschen zu naschen, und jetzt sollte er eine ganze Torte verspeisen?

„Wie wäre diese Frau, die perfekt zu Ihnen passt?“

Endlich. Jetzt spürte er wieder festen Boden unter den Füßen. „Sie müsste ehrlich sein. Keine Spielchen, keine Manipulationen.“

„Ist das Aussehen wichtig?“

„Ein bisschen schon, aber was zählt, sind die inneren Werte, nicht wahr?“ Was war er doch für ein Schleimer.

„Jeder von uns fühlt sich von gewissen Äußerlichkeiten angezogen, von manchen aber auch abgestoßen.“

„Nun ja, ich meine, ich bin ein Mann.“ Er hob die Schultern, als wäre damit alles gesagt. „Ich wünsche mir natürlich eine Partnerin, die auf ihr Äußeres achtet.“

Marie nickte. „Ich verstehe. Und hinter diesem Äußeren wünschen Sie sich da eher eine abenteuerlustige Person oder jemand Häusliches?“

„Von beidem etwas. Lebensfreude ist wichtig, Dankbarkeit, auch ein gewisser Ehrgeiz und eine gesunde Einstellung zu Sex.“

„Gesund bedeutet in diesem Fall …“

„Nicht verklemmt. Normales Verlangen.“ Justin zwinkerte, um seine Verlegenheit zu überspielen. Die beste Art, sich nicht beim Lügen ertappen zu lassen, war, so viel Wahres wie möglich zu sagen. Während er über seine wahren Wünsche redete, musste er ständig an Candy denken, und zwar nicht als Objekt seiner Ermittlungen.

Das war idiotisch. Er wusste absolut nichts über sie. Vielleicht war sie total berechnend und benutzte Männer, um ihr und Maries Bankkonto zu füllen. Er war einfach ein bisschen aus dem Gleichgewicht geraten, das war alles. Er hatte seine Heimat verlassen und noch keine neue gefunden. Natürlich würde er sich eine Partnerin suchen, die zu ihm passte, schließlich brauchte jeder Mensch jemanden, der zu ihm gehörte. Angie hatte nie wirklich zu ihm gehört.

Eine halbe Stunde später – endlich – klappte Marie ihre Akte zu. Sie hatte keine weiteren Fragen mehr. Justin fühlte sich ausgelaugt. „Was meinen Sie, Marie? Gibt es Hoffnung?“

„Absolut. Schauen sie.“

Eifrig nahm sie ihren Laptop vom Tisch und klappte ihn auf. Ihre Augen funkelten. Justin stellte sich neben sie, überrascht, wie aufgeregt er war, als sie „Milwaukeedates.com“ anklickte.

„Sie bekommen Ihr eigenes Profil, einschließlich Username und Passwort. Damit können sie alle Profile anschauen, aber am Anfang mache ich neuen Kunden immer ein paar Vorschläge. In unserem Gespräch ist mir gleich jemand für Sie eingefallen.“

„Einverstanden.“ Jetzt kam der Augenblick der Wahrheit. War ihr wirklich jemand „eingefallen“, oder drückte sie Candy jedem Neukunden aufs Auge?

„Sie ist fröhlich, witzig, voller Energie, aber auch solide. Genau wie sie hatte sie eine Beziehung, die in die Brüche ging. Langfristig ist sie zwar auch an einer Ehe interessiert, aber im Moment möchte sie sich erst einmal wieder daran gewöhnen, überhaupt auszugehen. Es geht nicht darum, auf Anhieb den Richtigen zu finden, aber ich garantiere, falls es zwischen Ihnen funkt, werden Sie sehen, dass sie absolut treu ist.“ Maries Finger flogen über die Tastatur. „Ich rufe mal ihr Profil auf.“

Justin hielt den Atem an. Fünf … vier … drei … zwei … eins …

Candy!

So gekleidet wie neulich, glamourös und verführerisch. Ein weiterer Hinweis darauf, dass nicht alles koscher war bei „Milwaukeedates.com“. Hätte er nicht den Wunsch nach einer Frau mit gesundem Verlangen nach Sex geäußert, hätte Marie ihm wohl die Candy mit Zopf und flachen Schuhen präsentiert, und die Frau im Hosenanzug, wenn er nach einer starken Frau verlangt hätte.

Justin verspürte kein Triumphgefühl, nur eine gewisse Genugtuung und gleichzeitig Enttäuschung. Offenbar hatte er sich bis jetzt nicht eingestanden, wie sehr er sich wünschte, dass sein Verdacht gegen Candy und Marie und dieses Unternehmen sich als unbegründet erweisen würde. Warum eigentlich?

„Was denken Sie?“ Marie blickte über die Schulter zu ihm.

„Sie sieht toll aus.“ Er deutete auf den Monitor. „Sie werden es nicht glauben, aber sie wohnt mir gegenüber.“

„Oh, das tut mir leid. Normalerweise prüfe ich immer die Adressen, ich habe einfach …“

„Schon gut.“ Jetzt, da er Marie endlich da hatte, wo er sie haben wollte, würde er sie nicht mehr vom Haken lassen. Er beugte sich vor und drückte auf die Taste, die das Bild vergrößerte. Candys sexy Lächeln füllte den ganzen Bildschirm. Süße Unschuld oder verruchte Diva, die die Sehnsüchte einsamer Menschen ausnutzte, um sich zu bereichern? Er war wild entschlossen, das herauszufinden. „Das ist überhaupt kein Problem. Ich wollte Candy ohnehin näher kennenlernen.“

5. KAPITEL

Candy saß in der Küche und starrte auf die Uhr. In drei Minuten würde Justin sie zu ihrem Date abholen. Sie hatte nicht einmal Plätzchen backen müssen, er hatte von sich aus angerufen.

Schon merkwürdig, dass er sich bei „Milwaukeedates.com“ registriert hatte, um ein Date mit ihr zu bekommen. Er hätte sich doch einfach so mit ihr verabreden können. Vielleicht wollte er sich mit weiteren Frauen treffen. Vielleicht war er gar nicht auf die Idee gekommen, sich mit ihr zu verabreden, bis Marie ihn mit der Nase auf ihr Profil gestoßen hatte. Vielleicht hatte Marie ihm sogar gedroht, um ihn zu motivieren. Wer weiß?

Candy war es im Moment egal.

Vor ihren Dates mit dem resoluten Frank, dem netten Sam und dem wilden Ralph war sie immer aufgekratzt gewesen und hatte sich begeistert aufgestylt. Diesmal war es anders. Auf dem Weg zu dem Schrank mit den geliehenen Outfits hatte sie sich am Nachttisch gestoßen, und dabei war das gerahmte Foto von ihr und Chuck umgefallen. Sie hatte es wieder aufgestellt und dabei den Fehler gemacht, es anzuschauen. Chuck hatte sich nicht gern fotografieren lassen, es war also einer der wenigen Schnappschüsse, die es von ihm gab.

Sie vermisste ihn. Wenn sie an Chuck dachte, erschien ihr dieses Verkleidungsspiel total idiotisch. Sie sollte mit jemandem ausgehen, der sie wegen ihrer Persönlichkeit schätzte, nicht wegen ihres Äußeren.

Marie hatte gesagt, sie habe Justin ihr Profil als sexy Glamourgirl gezeigt, also müsse sie ihm auch das bieten. Falls es mehr Dates mit ihm gäbe, könne sie sich ja von Mal zu Mal weniger glamourös stylen.

Haha.

Schließlich hatte sie sich von dem Foto losgerissen und war freudlos in einen engen roten Minirock geschlüpft. Dazu hatte sie ein rückenfreies Stretchtop gewählt und rote High Heels.

Jetzt saß sexy Glamourgirl zusammengesunken am Küchentisch und kam sich albern vor, künstlich zurechtgemacht als jemand, der sie nicht war. Wie hatte sie sich nur auf diese Idee einlassen können?

Es klingelte an der Tür.

Justin.

Candy stand auf. Dabei stolperte sie mit ihren High Heels und wäre um ein Haar gestürzt. Ihr kamen fast die Tränen vor Selbstmitleid, aber sie würde das Beste aus diesem Abend machen müssen.

„Bin gleich da.“ Mit klackenden Absätzen eilte sie zur Tür, zog im Laufen die schwarze Wolljacke über und wünschte, sie trüge eine bequeme Hose und Turnschuhe. Schnell noch einmal tief Luft holen. Sie öffnete und setzte ein strahlendes Lächeln auf. „Hi, Justin.“

Mehr brachte sie nicht heraus. In ihrer Erinnerung hatte sie wohl unbewusst einen normalen Mann aus ihm gemacht.

Candy hielt unwillkürlich die Luft an. Sein Blick war so intensiv, dass er direkt in ihre Seele zu blicken schien. Er sah verdammt gut aus. Wie der nette Junge von nebenan, aber gleichzeitig sehr männlich. Er war der Typ, der sie mit einem Augenzwinkern dazu bringen könnte … alles für ihn zu tun.

Wie hatte sie das nur vergessen können?

„Sie sehen sehr hübsch aus, Candy Graham.“

Candy riss sich zusammen. Ein sexy Glamourgirl war schließlich nicht durch einen einzigen Blick aus der Fassung zu bringen. „Sie auch, Justin Case. Und Sie sind sehr pünktlich.“

„Nein, ich bin zu früh.“

„Wirklich?“ Candy drehte sich um und schloss die Tür ab. „Auf meiner Uhr war es gerade Punkt sieben.“

„Mom hat immer gesagt, jede Frau braucht ein paar Minuten extra vor dem Spiegel. Sie hat mich davor gewarnt, zu pünktlich zu einem Date zu erscheinen.“

„Aha.“ Candy schob den Schlüssel in die Tasche. Sie hätte wohl besser so tun sollen, als wäre sie noch nicht fertig. Glamouröse Frauen hatten wahrscheinlich ihren Spaß dabei, Männer warten zu lassen. „Warum haben Sie dann nicht noch ein paar Minuten gezögert?“

„Ehrlich gesagt …“ Er blickte auf ihre extrem hochhackigen Schuhe, dann wieder auf ihr Gesicht. Dazwischen verweilte er allerdings längere Zeit auf ihren gepushten Brüsten. „Ich konnte nicht.“

Er lächelte so sexy, dass Candy sich am liebsten versteckt hätte, damit er nicht merkte, wie hingerissen sie war und wie verwirrt. Sie versuchte so etwas wie ein laszives Lächeln. Plötzlich freute sie sich auf den Abend. „Ich war ja schon fertig.“

„Offensichtlich.“ Er deutete auf den roten Wagen vor dem Haus. Der Motor lief. „Sollen wir?“

„Natürlich.“ Sie ging voraus. Eine heftige Windböe blies ihnen Eiskristalle ins Gesicht, und Justin beeilte sich, sie mit seinem Körper zu schützen. Wie galant, zumal es sich für ihn viel schlimmer anfühlen musste als für sie. Chuck war nicht so galant gewesen. Er fand, Frauen konnten auf sich selbst aufpassen. Sie war der gleichen Meinung, aber ein bisschen Galanterie war wundervoll.

„Danke, Justin. Der Wind hier kann ganz schön heftig sein.“

„Das ist mir auch schon aufgefallen.“

Er öffnete die Beifahrertür und half ihr beim Einsteigen. Tatsächlich war es mit Minirock und hohen Absätzen gar nicht so einfach, in ein Auto zu steigen, zumal wenn es ein typisch männlicher Sportwagen war. Er hatte die Heizung aufgedreht. „Sie freuen sich bestimmt auf den Sommer in Wisconsin.“

„Ich habe gehört, es wird ziemlich feucht.“

„Mehr als in San Diego, weniger als in Florida. Es ist alles relativ.“

„Stimmt.“ Er fuhr los und bog Richtung Süden auf den Capitol Drive. „Aber ich freue mich wirklich auf den Frühling.“

„Das wird Ihnen gefallen. Es ist unbeschreiblich.“

„Erzählen Sie.“

Er schaltete das Radio ein. Jemand spielte ein Saxofonsolo.

„Erst kommen die Krokusse“, begann Candy, „und dann ist plötzlich überall Vogelgezwitscher, obwohl es immer noch kalt ist. Woher wissen die Vögel nur, dass es wieder so weit ist? Als Nächstes kommen die Narzissen und dann die Tulpen. Wenn das erste Grün aus der Erde sprießt, möchte man fast weinen vor Glück. Und es riecht so gut …“ Sie lehnte sich zurück und streckte sehnsüchtig die Arme aus. Als der Wagen sich plötzlich ruckartig von links nach rechts und wieder zurück bewegte, erschrak sie.

„Tut mir leid.“ Justin bog auf den North Lake Drive ein, der am Ufer des Michigansees entlang zum Stadtzentrum führte. „Was sagten Sie gerade?“

„Oh.“ Candy ließ das Handschuhfach los, an dem sie sich festgeklammert hatte. „Die Gerüche im Frühling – nach Erde, Gras und Wind. Die ganze Welt taut auf. Die Luft fühlt sich weich an, nicht mehr wie Rasierklingen, eher wie ein Streicheln. Es ist wunderbar.“

„Wow.“ Er blicke sie von der Seite an. „Ich kann es kaum erwarten.“

„Sie werden sehen.“ Candy war nicht sicher, ob ihre Art, den Frühling zu beschreiben, zu einem sexy Glamourgirl passte, aber sie konnte einfach nicht anders. Justin war eindeutig nicht so oberflächlich wie der wilde Ralph, der es nicht zu ertragen schien, wenn ein Satz fiel, der keine Zweideutigkeiten enthielt, über die er grinsen konnte.

Nach einer Weile hielt sie es nicht mehr aus und streifte die Wolljacke ab, womit sie Justin freie Aussicht auf ihr formidables Dekolleté gewährte. „Sie mögen es wirklich heiß, was?“

Wieder geriet der Wagen leicht ins Schleudern. Justin fluchte leise.

„Tut mir leid.“

„Ist die Straße vereist?“ Candy spähte durchs Fenster, doch die Fahrbahn wirkte trocken.

„Nein, nein.“ Er schüttelte den Kopf und schmunzelte. „Es liegt nicht am Eis. Eher an geistiger Umnachtung.“

„Aha.“ Sie sah ihn besorgt an. Hatte er getrunken? „Alles in Ordnung?“

„Alles klar. Wirklich.“ Er begegnete ihrem Blick. „Vorhin, als sie sich zurücklehnten und die Augen schlossen, da habe ich … nun ja, ich habe Sie angeschaut anstatt die Straße. Und als Sie gerade die Jacke ausgezogen und mich gefragt haben, ob ich es heiß mag …“

Wären Candys Wangen nicht ohnehin schon erhitzt gewesen, dann wären sie es jetzt. Sie versuchte eine aufreizende Pose, aber Justin grinste schelmisch. Da musste sie lachen und war froh, als er mit einfiel. „Wo werden wir essen?“

„Im ‚Cempazuchi‘. Kennen Sie das?“

„Nein, aber ich habe davon gehört. Ich liebe mexikanisches Essen.“

„Genau gesagt, stammen die Rezepte aus Oaxaca, das ist fast schon Guatemala. Ich schätze, das kommt hier dem, was man in Südkalifornien isst, am nächsten.“

„Oder was man in Mexiko isst.“

„Oder das.“

Wieder lachte er. Es klang so cool und entspannt, so kalifornisch. Und es steckte an.

„Troy schwört darauf.“

„Troy ist der, mit dem Sie zusammenarbeiten?“

„Er war auch mein Zimmergenosse am College. Und, ja, jetzt schreiben wir zusammen ein Buch.“

Candy versuchte, sich Justin als Student vorzustellen. War er der Typ, der auf jede Party ging, oder eher der, der das Studium ernst nahm? Wahrscheinlich etwas von beidem. „War sicher gut, gleich am Anfang jemanden zu haben, den man kennt.“

„Das stimmt. Troy ist hier aufgewachsen, er hat viele Freunde und kennt die Stadt wie seine Westentasche. Es war ein guter Start für mich.“

„Wollen Sie sich hier für längere Zeit niederlassen?“ Aus irgendeinem Grund erfüllte sie das mit Hoffnung.

„Ich bleibe natürlich so lange, wie wir zusammenarbeiten. Dann muss ich abwarten, wie das Projekt sich entwickelt und ob der Verlag eine Serie daraus machen will. Troy glaubt, wir werden Folgeaufträge bekommen. Optimist, der ich bin, hab ich gleich ein Haus gekauft.“

„Wie gefällt Ihnen Milwaukee bis jetzt? Abgesehen davon, dass Ihnen Arme und Beine abfrieren?“

„Nicht schlecht.“ Er bog in die North Farewell Avenue ein. „Bis auf die Collegezeit in L. A. habe ich immer in San Diego gelebt. Ich weiß nicht, ob ich mich jemals irgendwo wirklich zu Hause fühlen kann.“

„Das kann ich verstehen. Ich habe mein Leben lang in Milwaukee gelebt, bis auf die fünf Jahre in Stevens Point, wo ich studiert habe.“

„Bachelor oder Master?“

„Weder noch. Ich habe nebenbei als Sekretärin gejobbt und versucht herauszufinden, was ich mit meinem Leben anfangen will. Mein damaliger Freund war ein Jahr jünger. Ich bin geblieben, bis er seinen Abschluss hatte.“ Sie räusperte sich in der Hoffnung, er würde nicht bemerken, dass ihre Stimme plötzlich brüchig klang. „Dann starb meine Großmutter und hinterließ mir dieses Haus. Da sind wir hierhergezogen.“

„Und haben gemeinsam herausgefunden, was Sie tun wollen?“

„Ich habe es für mich selbst herausgefunden.“

„Ja zur Karriere, nein zum Freund?“

Candy seufzte. Sexy Glamourgirl sollte eigentlich reihenweise Herzen brechen, nicht umgekehrt, aber sie brachte es nicht fertig, zu lügen. „Es war umgekehrt.“

„Das tut mir leid. Ich weiß, wie sich das anfühlt.“

„Sie haben auch so etwas erlebt?“

„Allerdings. Es ist kein gutes Gefühl.“

Autor

Kate Hoffmann
Seit Kate Hoffmann im Jahr 1979 ihre erste historische Romance von Kathleen Woodiwiss las – und zwar in einer langen Nacht von der ersten bis zur letzten Seite – ist sie diesem Genre verfallen.
Am nächsten Morgen ging sie zu ihrer Buchhandlung, kaufte ein Dutzend Liebesromane von verschiedenen Autorinnen und schmökerte...
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Isabel Sharpe
Im Gegensatz zu ihren Autorenkollegen wurde Isabel Sharpe nicht mit einem Stift in der Hand geboren. Lange Zeit vor ihrer Karriere als Schriftstellerin erwarb sie ihren Abschluss in Musik auf der Yale Universität und einen Master in Gesangsdarbietung auf der Universität von Boston. Im Jahre 1994 rettet sie die Mutterschaft...
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Erin McCarthy
New York Times-Bestsellerautorin Erin McCarthy verkaufte ihr erstes Buch im Jahr 2002. Mittlerweile hat sie mehr als 35 Romane veröffentlicht und unterhält Leser auf der ganzen Welt mit ihren aufregenden Liebesromanen.
Foto: © Savidge Photography
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