Tiffany Exklusiv Band 91

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TRAU DICH – NIMM DOCH MICH von JILL SHALVIS
Kenna sieht wie die klassische Blondine aus, und genau das ist Wes' Problem. Denn er glaubt, dass sie außer Sex nicht viel zu bieten hat. Oh, wie er sich täuscht! Denn Kenna ist dazu blitzgescheit und weiß genau, was sie will: Wes, den Widerspenstigen …

VERFÜHRT! von WENDY ETHERINGTON
Als Skyler versucht, ein Kätzchen zu retten, und auf einen Baum klettert, stürzt sie und fällt direkt in die starken Arme des Feuerwehrmannes Jackson Tesson. Es ist Liebe auf den ersten Blick, und Jackson hat nur noch eins im Sinn: diesen hinreißenden blonden Engel, der vom Himmel gefallen ist, zu verführen!

DUNKLE VERGANGENHEIT von RAEANNE THAYNE
Die zierliche Sarah ist ganz anders als die rassigen Gespielinnen, die der smarte Cop Jesse Harte sonst bevorzugt. Und doch ist er der grünäugigen Blondine vom ersten Moment an verfallen, obwohl – oder gerade weil? – er sofort spürt, dass ein Geheimnis sie umgibt ...


  • Erscheinungstag 27.07.2021
  • Bandnummer 91
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500159
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jill Shalvis, Wendy Etherington, RaeAnne Thayne

TIFFANY EXKLUSIV BAND 91

1. KAPITEL

Kenna Mallory fand, dass sie sich eigentlich recht gut entwickelt hatte, doch das war vermutlich Ansichtssache. Während sie die Pazifikküste vor Santa Barbara entlangfuhr, die Sonne im Rücken, das Radio voll aufgedreht, war sie zufrieden mit sich und der Welt.

Aber ihre Eltern hätten sicher Bücher mit Veränderungsvorschlägen füllen können.

Unglücklicherweise hatten Kenna eine wichtige Eigenschaft von ihnen geerbt: die Eigensinnigkeit. Daher die Familienstreitigkeiten. Sie ordnete sich nicht ein, sie befolgte nicht die Regeln, sie ließ sich nicht in ein Schema pressen. Was die leicht gereizte Stimme ihres Vaters erklärte, die sie jetzt dank des in einem Preisausschreiben gewonnenen Handys hörte.

„Also wirklich, Kenna. Ich verstehe dich nicht“, meinte er in einem Ton, der Ungeduld, Überlegenheit, aber zugleich auch Zuneigung verriet. Eine machtvolle Kombination, die dazu diente, Schuldgefühle in ihr zu wecken. „Ich habe die ideale Aufgabe für dich, und ich kriege nicht mal eine Antwort.“

Oder zumindest keine, die er hören wollte.

Da er seit dem Moment ihrer Geburt sein Möglichstes getan hatte, um ihr Leben in eine bestimmte Bahn zu lenken, und sie ihr Möglichstes getan hatte, um ihn daran zu hindern, war es in den vergangenen siebenundzwanzig Jahren zu etlichen interessanten Auseinandersetzungen zwischen ihnen gekommen. „Danke, Dad. Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber ich habe bereits einen Job.“

„Pudeln den Schmutz aus dem Schwanz zu bürsten ist keine Arbeit, Kenna.“

Sie schaute zu den Wellen, die an die Küste rollten, weil sie ein beruhigender Anblick waren und weil sie jetzt etwas Beruhigendes benötigte. „Ich tue das nicht mehr, und das weißt du.“ Sie vermied es, ihm in Erinnerung zu rufen, womit genau sie sich ihren Lebensunterhalt verdiente. Musste sie ihm wirklich sagen, dass sie nicht mehr seiner Welt angehörte, weil er sie selbst aus ihr hinausgeworfen hatte?

Klar, seit damals hatte sie einige originelle Jobs gehabt, um sich ihr Collegestudium zu verdienen. Aber seit kurzem arbeitete sie in der Buchhaltung von „Nordstrom’s“. Etwas, was sie von Kenneth Mallory dem Dritten gelernt hatte, war ihre Freude an Zahlen und Finanzen. Und sie war gut darin. So gut, dass sie sich an ihren besseren Tagen sogar als genial bezeichnete.

„Die Stelle, die ich für dich habe, ist wichtig“, sagte er. „Ganz im Gegensatz zum Bierzapfen in dieser Bar, in der die Frauen hautenge weiße Tanktops tragen.“

„Ach, du weißt, dass ich das nur ein paar Wochen lang gemacht habe.“ Kenna hatte immerhin genug damit verdient, um die Studiengebühren eines ganzen Semesters zu begleichen.

„Kenna, hör mir ausnahmsweise einmal zu.“

„Na schön.“ Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sein Ton ihr einen Stich versetzte. War es so schlecht, seinen eigenen Weg gehen zu wollen? Erfolgreich sein und ihn gleichzeitig zufrieden stellen zu wollen, ohne sich selbst und ihre Überzeugungen zu verraten?

„Du bist eine Mallory …“

Oh ja, die Masche kannte sie. „Als eine Mallory schuldest du es der Familie … Als eine Mallory musst du dich so und so geben … Als eine Mallory …“

Es tat dabei nichts zur Sache, dass sie sich schon seit langer Zeit nicht mehr als eine Mallory betrachtete. Es war nicht der Name, der sie störte, sondern der damit verbundene Ballast, auf den sie gut verzichten konnte. Sie wollte einfach nur etwas Eigenes haben.

Und so lebte sie glücklich in einem zwölf Quadratmeter großen Einzimmerapartment in Santa Barbara. Sicher, sie besaß weder einen vernünftigen Badezimmerspiegel noch eine Badewanne, ganz zu schweigen von einem Schrank für mehr als ein Paar Schuhe, aber sie hatte sich ihren Stolz und ihre Freiheit bewahrt, und beides war von großer Wichtigkeit für sie. „Ich will es einfach nur aus eigener Kraft schaffen.“

Wollen hat wenig mit Familienpflicht zu tun. Denk an deinen Ururgroßvater Philippe …“

„… der mit nichts als dem, was er am Leibe trug, mit einem Schiff aus Frankreich kam“, rezitierte sie mit ihm. „Und täglich durch den Schnee zu Fuß zur Arbeit ging, jeder Weg zehn Meilen und bergauf …“ Sie brach ab, als sie das widerstrebende Lachen ihres Vaters hörte.

„Na schön, dann hab ich ihn eben schon einmal erwähnt.“

„Nur etwa tausend Mal.“ Sie lächelte über sein Eingeständnis. „Ich hab es schon verstanden, Dad. Die Mallorys arbeiten hart. Aber auch ich arbeite hart, bloß eben nicht für dich.“

„Das macht doch keinen Sinn. Ich kann dich nicht verstehen, Kind.“

Als sie Santa Barbara erreichte, eine große fröhliche Küstenstadt, deren Einwohner gern feierten, verschwand die Sonne wie ein roter Feuerball im Ozean und bescherte diesem Tag ein spektakuläres Ende. Kenna schob ihre Sonnenbrille auf den Kopf, um besser sehen zu können. „Nun, erstens lebst du mit Mom in San Diego.“

„Das ist keine ausreichende Entschuldigung.“

„Es sind vier Stunden Fahrt, Dad.“

„Als wärst du noch nie umgezogen.“

„Nun, und wie steht es mit der Tatsache, dass wir aneinander geraten, sobald wir mehr als fünf Minuten im selben Zimmer sind?“

„Das ist kein Grund, es nicht weiter zu versuchen.“

Schwierigkeiten. Damit meinte er natürlich ihre wilden und verrückten Jahre. Die Jahre, in denen Kenna gegen ihre Unzulänglichkeiten und Minderwertigkeitsgefühle ihren brillanten Eltern gegenüber gekämpft hatte, waren nicht sehr schön gewesen. Und sie hatte einen hohen Preis dafür bezahlt, als ihr mit achtzehn Jahren jegliche finanzielle Unterstützung seitens ihrer Familie entzogen worden war.

Es war ihre Politik des harten Durchgreifens gewesen, und es war hart gewesen. Sehr sogar. Aber Kenna war nicht umsonst als Mallory geboren worden. Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit waren ihr anerzogen worden, und so war sie losmarschiert aufs College, um allen zu beweisen, dass sie auch sehr gut allein zurechtkommen konnte. Sie war eine von Prinzipien geleitete, idealistische Rebellin gewesen, eine Aktivistin auf dem Campus und begeisterte Organisatorin von Sitins vor dem Verwaltungsgebäude, wann immer sie das Gefühl gehabt hatte, es sei eine Ungerechtigkeit begangen worden.

Sie hatte ihre Eltern allwöchentlich entsetzt, doch da diese ihr ja bereits den Geldhahn zugedreht hatten, waren sie machtlos, irgendetwas gegen Kennas Eskapaden zu unternehmen. Mit einer solchen Freiheit vor Augen hatte sie nie zurückgeblickt, bis zu dem Tag, an dem sie ihren Abschluss hatte.

Zugegeben, sie hatte ihn nur mit knapper Not geschafft, auf einem sehr viel weniger angesehenen College, als ihre Eltern geplant hatten, aber sie hatte ihr Studium abgeschlossen. Und sie hatte es allein geschafft, indem sie Pudel badete, Bier zapfte, bei K-Mart den Boden wischte, und, und, und. Sie hatte es geschafft, weil sie es gewollt hatte. Wahrscheinlich hatten ihre Eltern gedacht, sie käme höchstens eine Woche – oder maximal zwei – ohne ihre finanzielle Unterstützung aus. Und wenn sie dann gekommen wäre, um sie um Geld zu bitten, hätten sie das Buch mit den Familienregeln herausgeholt und sie gezwungen, im Austausch gegen ihre Unterstützung besagte Regeln zu befolgen. Aber ihre rebellische Tochter hatte sich wieder einmal nicht nach Plan verhalten.

Ihr Vater hatte versucht, sie dazu zu bringen, nach ihrem Studienabschluss bei „Mallory Enterprises“ anzufangen. „Such dir eins unserer Hotels aus“, hatte er gesagt. „Nimm dir Zeit, und arbeite dich ganz allmählich ein.“

Es war eine vernünftige Idee gewesen. Immerhin hatte sie auf dem College unter anderem das Fach Hotelbetriebswirtschaft belegt. Das Problem war, dass ihre Einstellungen kollidierten. Ihre Eltern waren konservativ, wohingegen Kenna nicht liberaler hätte sein können.

Ihnen ging es um das Geld, ihr ging es um die Menschen. Sie war der Meinung, Mindestlöhne sollten hoch genug sein, damit jeder ohne Hunger und Armut leben konnte. Ihre Eltern hingegen hätten Mindestlöhne am liebsten abgeschafft.

„Du bist jetzt so weit“, sagte ihr Vater. „Die Übernahme dieses neuesten Objekts ist nur der Beginn deiner Karriere in unserem Hotelimperium. Gib es zu, du bist eine ebenso begeisterte Geschäftsfrau, wie deine Mutter eine begeisterte Chirurgin ist. Du bist ein Naturtalent.“

„Ich habe nicht das entsprechende Image.“

„Du bist eine Mallory, nicht wahr?“

„Vielleicht meinte ich das physische Image.“ Jedenfalls hätte sie das gemeint haben können. Mit achtundfünfzig verkörperte ihr Vater Eleganz und Weltgewandtheit, ein Selfmademan, der aus einem kleinen Vermögen Millionen gemacht hatte. Ihre Mutter hätte als junge Audrey Hepburn durchgehen können, die rein zufällig auch noch eine hervorragende Chirurgin war.

Und dann Kenna. Eine leidenschaftliche Blondine. Gute fünfzehn Zentimeter größer als ihre Eltern und obendrein noch ungewöhnlich vollbusig. Ihr nordisches Aussehen hatte sie von ihrer Großmutter geerbt, die sie nie gekannt hatte.

„Du wirst bei uns viel lernen“, sagte ihr Vater. „Überleg es dir, Kenna. Wenn du für mich arbeitest, könntest du dir diesen Ferrari kaufen, von dem du immer schon geträumt hast. Vielleicht schenke ich ihn dir sogar.“

Oh, das war nicht fair, einen alten Traum gegen sie einzusetzen. Sie hatte nicht mehr davon geträumt, einen Ferrari zu besitzen, seit sie sechzehn Jahre alt gewesen war. Sie trommelte auf dem Lenkrad ihres uralten Kleinwagens herum.

„Was sagst du?“ fuhr ihr Vater fort. „Ich könnte dir eine Stelle als Vizepräsidentin anbieten. Du kannst die Geschäfte führen, wie du willst.“

Ihr Herz schlug schneller. Vizepräsidentin …

„Ich erwarte dich in einer Woche in unserem neuesten Hotel, dem ‚San Diego Mallory‘. Wir haben es vor achtzehn Monaten übernommen. Es ist gerade nach einer umfangreichen Renovierung wieder eröffnet worden, Du wirst mit einem Mr. Weston Roth zusammenarbeiten. Ihr beide werdet das Hotel gemeinsam leiten.“

Vizepräsidentin hörte sich entschieden besser an als ihr derzeitiger Posten als Buchhalterin.

„Du und Roth, ihr werdet großartige Partner sein, das kann ich dir versichern.“

„Ich dachte, dieses Hotel ist dein Ding“, sagte sie.

„Nein, nein. Es ist Westons Ding. Er ist Vizepräsident, nachdem Milton Stanton letztes Jahr in Rente gegangen ist. Und nun, wo du dein Examen in der Tasche hast und dein Bedürfnis, durch die Weltgeschichte zu ziehen, verwirklicht hat, bekommst auch du diesen Posten.“

Sie war sechs wunderbare Wochen für eine Reisegesellschaft aus Los Angeles „in der Weltgeschichte herumgezogen“, und hatte bis zum Umfallen geschuftet. Doch während sie Zahlen liebte, lagen Organisation und Reiseberichterstattung ihr leider überhaupt nicht. Sie hatte kläglich versagt. „Ich glaube nicht, Dad. Tut mir leid.“

„Ich versteh dich schon.“ Die Stimme ihres Vaters wurde leiser. Trauriger. „Es ist nur so, dass du unser einziges Kind bist. Das Geschäft ist gewaltig. Wir haben Hotels im gesamten Westen. Wenn mir oder deiner Mutter etwas zustieße …“

Kenna schaltete das Radio aus. Ihre Brust war plötzlich eng geworden. „Also sag schon, was ist los?“

„Es ist nichts.“

„Ist einer von euch krank?“

„Wenn ich so täte, als wäre ich es, würde das etwas ändern?“

Sie atmete erleichtert auf. „Ich weiß, dass ihr mich nicht nur bekommen habt, damit ich mal das Geschäft übernehme.“

„Du würdest unsern Hotelkonzern, der viele Millionen wert ist, deiner Cousine Serena überlassen, nur weil du dich nicht gern damit befasst?“

Serena war fest verwachsen mit dem Hotelkonzern. Sie arbeitete im Bereich Konferenzveranstaltung und war sehr glücklich dort. Was Kenna anging, so konnte ihre Cousine den Hotelkonzern und Mr. Weston Roth haben. Allein sein Name beschwor Bilder eines strengen alten Mannes in ihr herauf.

Sie hasste strenge alte Männer.

„Bitte, Kenna. Bitte, tu es.“

Er hatte das magische Wort hervorgeholt, das er, soweit sie sich erinnern konnte, noch nie zuvor benutzt hatte!

„Probier es einfach“, fuhr er fort. „Gib mir … sagen wir, sechs Monate.“

Sie sollte ihr Leben in Santa Barbara aufgeben, um sechs Monate in San Diego, zweihundertfünfzig Meilen weit entfernt, zu arbeiten? Als wäre das so einfach. Aber das Problem war nicht San Diego – sie liebte diese aufregende Stadt fast ebenso sehr wie Santa Barbara. Nein, was ihr widerstrebte, war der Gedanke, wieder unter der Fuchtel ihres Vaters zu stehen.

Und dennoch war hier etwas neu. Er bat sie, er befahl es nicht.

Da sie ihm insgeheim ihr Leben lang hatte gefallen wollen, ohne sich selbst zu verbiegen, zögerte sie. „Was geschieht, wenn die sechs Monate vorüber sind?“

„Wenn du für diese Aufgabe nicht geeignet bist, werde ich Manns genug sein, um es zuzugeben und dich gehen zu lassen.“

„Wirklich?“

„Das sagte ich doch gerade, oder nicht?“

Ja, erstaunlicherweise hatte er das getan, und Kenna hatte noch nie erlebt, dass er sein Wort gebrochen hatte. „Ich werde dich zum Wahnsinn treiben“, entgegnete sie und hielt den Atem an. Bestreite es, wünschte sie stumm. Bestreite es.

„Nur, wenn du ungeeignet bist.“

Sie widerstand der Versuchung, mit der Hand aufs Lenkrad zu schlagen. Ihr wurde ganz flau im Magen, weil sie sich immer schon gewünscht hatte, ihm zu zeigen, dass ihre Kreativität in etwas Gutes kanalisiert werden konnte, das ihren Eltern und zugleich auch ihr gefallen würde.

Sie war verrückt, aber … „Okay, ich tu’s.“ Sechs Monate waren schließlich nicht lebenslänglich. Und es würde schön sein, sich wieder einmal ein paar gute Kosmetikprodukte leisten zu können. „Wenn ich es auf meine Art tun kann.“

Kenneth Mallory der Dritte zögerte lange. „Wir sind uns aber einig, dass alles seine Ordnung haben muss, nicht wahr? Es muss alles vollkommen legal sein.“

Sie massierte ihre Schläfen. „Ja, Dad.“

„Also gut. Wunderbar.“

„Und nach sechs Monaten steht es mir frei, wieder auszusteigen?“

„Es sei denn, dir gefällt dein Posten.“

Es war der reinste Wahnsinn, aber Kenna konnte sich nicht die Chance entgehen lassen, ihm zu zeigen, dass sie stark sein konnte, dass sie wusste, was sie wollte, und dass sie noch immer in die Welt ihrer hineinpasste, falls sie es beschloss.

2. KAPITEL

Kenna verbrachte die Woche damit, ihr Leben von Santa Barbara nach San Diego zu verlegen. Es war erstaunlich leicht, denn wie sich herausstellte, gab es genügend Leute, die nur darauf warteten, ihren Posten bei Nordstrom und den damit verbundenen großzügigen Angestelltenrabatt zu übernehmen. Sie war entbehrlicher gewesen, als sie geglaubt hatte. Ein harter Schlag für ihr Ego, der sie aber höchstens noch entschlossener machte, woanders etwas zu erreichen.

Am darauf folgenden Montagmorgen war sie nervöser, als ihr lieb war, als sie durch die prunkvolle Eingangshalle des „San Diego Mallory“ ging. Wahrscheinlich hatte es etwas damit zu tun, dass sie nie wirklich in ihre Familie hineingepasst hatte. Und wenn schon. Sie brauchte nicht hineinzupassen. Sie brauchte nur ihre Arbeit zu tun und sie gut zu machen. Zur Stärkung ihres Selbstbewusstseins trug sie ihr liebstes Paar hochhackige Sandaletten zu ihrem Kostüm, beide in Fuchsia, ihrer Lieblingsfarbe. Nicht gerade eine Mallory-Konzernfarbe, aber sie war nun einmal nicht der Typ für Schwarz und andere gedämpfte Töne.

Sie ging durch das frisch gebohnerte Foyer, vorbei an all den edlen Antiquitäten aus aller Herren Länder, und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

Acht Uhr sieben.

Sie hasste es, sich zu verspäten. Ihre Absätze klickten, als sie schneller ging, ihre Umhängetasche schlug gegen ihre Hüfte. Die bemerkenswerte Architektur des Gebäudes war gleichbedeutend mit dem Charme und der Eleganz der Alten Welt, die die geschäftliche und gesellschaftliche Elite ansprach, die den Kundenkreis von „Mallory Enterprises“ bildete. Dieses Hotel würde wunderbar hineinpassen.

Umso besser.

Um nicht buchstäblich in ihre erste Sitzung hineinzuschlittern, ging Kenna langsamer. Sie zupfte an ihrem Rock, der ständig hochrutschte, da sie es versäumt hatte, einen Unterrock darunter anzuziehen.

Es war die Schuld ihrer Mutter, dass sie keinen trug. Kenna war am Abend zuvor aus Santa Barbara gekommen und hatte in ihrem alten Zimmer in ihrem Elternhaus geschlafen. Sie hatte dort seit dem Tag ihres Highschool-Abschlusses nicht mehr gelebt, und dafür hatte es einen guten Grund gegeben – abgesehen davon, dass man ihr den Geldhahn zugedreht hatte. Ihren Eltern war ihre Privatsphäre vollkommen gleichgültig. Erst heute Morgen, als Kenna in der Dusche gewesen war, hatte ihre Mutter ein schwarzes Kostüm mit dazu passenden Nylonstrümpfen aufs Bett gelegt. Nylons! Die Dinger waren bestimmt nicht von einer Frau erfunden worden.

Sie hatte ihrer Mutter das Kostüm und die Nylons zurückgegeben, und als sie ihren Gesichtsausdruck sah, hätte Kenna am liebsten Unterwäsche mit Löchern angezogen. Oder ein fuchsiafarbenes Kostüm.

Doch da war sie schon spät dran gewesen und hatte sich nicht mehr die Zeit genommen, in dem Durcheinander noch unausgepackter Koffer nach einem Unterrock zu suchen.

Und nun stand sie also vor dem angegebenen Konferenzsaal im ersten Stock des „San Diego Mallory“. Sie brauchte nur hineinzugehen und ihre Bereitschaft kundzutun, über Akquisitionen und Renovierungsbudgets, vierteljährliche Prognosen und langfristige Strategieplanung zu debattieren – sie hatte sich gut vorbereitet und eine ganze Woche lang so unterhaltsame, leichte Kost wie Tourismusstatistiken und die Jahresberichte des Konzerns gelesen.

Sie hegte keine Zweifel. Sie konnte es schaffen. Du liebe Güte, sie hatte einmal sogar Leguan-Käfige im Zoo gereinigt, mit den kleinen Burschen noch darin, also konnte sie eigentlich wirklich alles tun. Wenn sie hier anfing, würde sie die stockkonservative Arbeitsatmosphäre schon ein bisschen auflockern. Und sie würde sich ihren Sinn für Humor unter allen Umständen bewahren.

Getreu ihrem Vorsatz würde sie alles tun, um den alten Mr. Roth zu bezaubern und zu beeindrucken. Sie legte ihre Hand auf den Türknauf und zögerte. Ihr war plötzlich heiß.

Sie zog ihre Jacke aus, öffnete die Tür und rief: „Hallo, Schatz, ich bin zu Hause!“ Dann trat sie ein – und blieb wie angewurzelt stehen.

Zwölf Männer in konservativen dunklen Anzügen, die um einen riesigen Konferenztisch saßen, hörten auf zu reden und drehten sich zu ihr um. Einer dieser Männer war ihr Vater.

Na fabelhaft. So viel zu ihrem privaten Meeting mit Mr. Weston Roth.

Sie dachte schon über einen sicheren Rückzug nach, als einer dieser Anzugträger sich erhob.

„Ich übernehme das jetzt“, sagte er, was sie ihm furchtbar übel nahm. Niemand würde „das“ übernehmen, falls sie damit gemeint sein sollte.

Der Mann zeigte auf die Tür. „Gehen wir?“

„Sicher.“ Sie lächelte, obwohl sie keine Ahnung hatte, wer er war, aber Banalitäten konnte sie genauso gut austauschen wie alle anderen. Ihre Einstellung konnte sie ihm später, wenn sie allein waren, zeigen.

Er schloss die Tür hinter ihnen, während Kenna Interesse an den Bildern an den Wänden heuchelte und sich im Stillen fragte, wer bei für den Erwerb der Gemälde und Antiquitäten zuständig war. Gingen sie zu Versteigerungen? Oder Privatverkäufen? So oder so, sie wurden mit Sicherheit übers Ohr gehauen.

Der Mann, der mit ihr hinausgegangen war, beobachtete sie; sie konnte seinen Blick auf ihrem Rücken spüren. Deshalb wandte sie sich ihm zu, um auch ihn etwas genauer in Augenschein zu nehmen. So wie er dastand, die breiten Schultern an die Wand gelehnt, die langen Beine lässig übereinander geschlagen, sah er aus, als sei er geradewegs vom Titelblatt eines Herrenmodemagazins gestiegen. Stil, Eleganz und gesellschaftlichen Schliff strahlte er geradezu im Übermaß aus. Er schien sich sichtlich wohl zu fühlen in seiner Haut und lächelte, aber es war kein besonders nettes Lächeln.

Kennas Groll gegen ihn wuchs. Sie hätte wissen müssen, dass ihr Treffen nicht besonders gut verlaufen würde, als sie all die dunklen Farben im Raum gesehen hatte. Sie hatte die Theorie, dass die Farben, die die Menschen trugen, auf ihre Offenheit neuen Ideen gegenüber schließen ließen. Und was hatte sie im Konferenzraum gesehen? Fantasielose Farben. Sie war der einzige Farbtupfer in diesem Raum gewesen.

„So …“ Er legte den Kopf schräg. „Wo sollen wir beginnen?“

„Ich bin nicht sicher, ob wir irgendetwas zu beginnen haben.“ Wie kam es, dass sie sich überhaupt auf diesen Wahnsinn eingelassen hatte? Oh ja, sie hatte beschlossen, sie könne alles schaffen. Der ganze Ärger war ihre eigene Schuld.

Wie sie es hasste, sich das einzugestehen!

Aber es hatte auch etwas Gutes, so schnell erwachsen werden zu müssen und zu lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, denn hatte sie gelernt, mit praktisch jeder Situation fertig zu werden.

Mit einer schnellen Drehung seines Handgelenks blickte er auf seine goldene Uhr. „Wissen Sie, Sie haben eigentlich gar nicht so Unrecht, zeitlich gesehen. Ich muss zugeben, dass ich, was das betrifft, ein bisschen überrascht war.“ Mr. Cool trug eine dunkelgraue Hose mit perfekten Bügelfalten und ein perfekt dazu passendes Seidenhemd, das seinen großen, schlanken Körperbau akzentuierte. Selbst seine Schuhe signalisierten erstklassigen Geschmack und hatten wahrscheinlich mehr gekostet als Kennas gesamte Garderobe, deren größten Teil sie ihren Nordstrom-Rabatten oder ihrem liebsten Hobby, dem Einkaufen in Secondhandshops, verdankte. Sie konnte es nicht ändern, sie liebte alte Sachen, insbesondere den Glamour der fünfziger Jahre. Nicht dass dieser Mann etwas davon verstehen würde. Er trug eine der neuesten Drahtgestellbrillen, so topaktuell, dass sie sich fragte, ob sie auf Rezept erhältlich waren. Hinter den Gläsern funkelten zwei intelligent dunkelblaue Augen, die sie warnten, ihn nicht zu unterschätzen.

Eigentlich mochte Kenna intelligente Männer. Sie liebte es, zu reden und zu debattieren, aber Intelligenz konnte nicht mangelnden Humor oder ein grundlegendes Interesse an Dingen, die nichts mit dem Geschäft zu tun hatten, ersetzen. Beides war für sie unglaublich wichtig.

Dieser Mann, wer immer er auch sein mochte, war der Inbegriff von „Mallory Enterprises“, indem er einfach nur in seinen dunklen Farben dastand. Er bewirkte, dass sie sich fehl am Platz vorkam. Das Einzige, was man ihm ein bisschen zugute halten musste, war, dass er überhaupt bereit schien, sich mit ihr zu unterhalten.

Bis er sagte: „Mir soll’s recht sein, wenn Sie gleich wieder von hier verschwinden wollen. Ich habe sowieso keine Lust, mich mit der verwöhnten Tochter unseres Bosses zu befassen.“

Obwohl sie das rotsehen ließ – eine willkommene Farbe an diesem Ort –, schaffte sie es, ruhig zu bleiben. „Wer, zum Teufel, sind Sie?“

„Entschuldigung.“ Er löste sich von der Wand und reichte ihr die Hand. „Weston Roth.“

Okay, er war also nicht alt und nicht verkalkt, und sie war ziemlich sicher, dass sie ihn weder bezaubert noch beeindruckt hatte. Es sah ganz so aus, als würde ihre berufliche Beziehung einen interessanten Anfang nehmen. „Nun, Mr. Roth, was halten Sie davon, wenn wir unseren ersten Kompromiss schließen? Ich vergesse die Bemerkung über die verwöhnte Tochter und die Tatsache, dass Sie ein aufgeblasener Esel sind, so was zu sagen, wenn Sie mir verzeihen, dass ich ganze sieben Minuten zu spät gekommen bin.“ Sie schob ihre Hand in seine, ein bisschen überrascht, wie groß und warm sie war.

Er wollte etwas erwidern, aber aus dem Konferenzraum kam das unüberhörbare Geräusch von Männern, die sich von ihren Plätzen erhoben, gefolgt von gedämpften Stimmen und Schritten.

Die dunklen Anzüge näherten sich. Na wunderbar, dachte Kenna. Sie wollte sich jetzt nicht mit ihrem Vater beschäftigen. „Wie wär’s, wenn wir unser Gespräch in eins unserer Büros verlegen?“, fragte sie hastig.

„Klar.“ Weston Roth wies ihr mit dem Kopf die Richtung und ging neben ihr her. Sein selbstgefälliges Lächeln verriet ihr, dass er wusste, wem sie aus dem Weg ging und warum, und am liebsten hätte sie ihm dafür ein Bein gestellt.

Du wirst schon damit fertig, sagte sie sich. Damit und mit ihm.

Sie konnte mit allem fertig werden. Und wenn sie es sich oft genug sagte, würde es sich vielleicht sogar als wahr erweisen.

Kenna Mallory betrat vor Weston Roth sein Büro, mit blitzenden Augen und hoch erhobenem Kinn, als trüge sie nicht einen Rock, der besser dazu geeignet wäre, an einer Stange zu flattern, als in einem Konferenzsaal getragen zu werden, und ein ärmelloses seidenes Top, das Gedanken an den Strand weckte.

Er bedeutete ihr, auf einem der beiden Gästesessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Gewöhnlich setzte er sich neben seinen Besucher, weil er wusste, dass er damit eine zwanglosere Atmosphäre schaffte. Diesmal aber wollte er nicht zwanglos sein, und deshalb nahm er hinter seinem Schreibtisch Platz, um so viel Distanz wie möglich zwischen sich und diese Frau zu bringen.

Kenna setzte sich und schlug die Beine übereinander.

Da sie keine Strümpfe trug, lenkte ihn das Geräusch von Haut, die über Haut glitt, für einen Augenblick lang ab, aber nur für einen Moment, bis die Worte seines Chefs ihm wieder durch den Kopf gingen. „Kümmern Sie sich um mein kleines Mädchen. Finden Sie heraus, ob sie so gut ist, wie sie es meiner Ansicht nach sein kann.“

Das würde sicher lustig werden. „Ich will gleich zum Punkt kommen“, sagte Weston. „Seit fast einem Jahr bekleide ich die Position des Vizepräsidenten.“

„Lassen Sie mich raten. Und Sie dachten, der Job sei Ihnen auch in Zukunft sicher?“

Ja, das hatte er. Und es war ein Schlag ins Gesicht, herauszufinden, dass dem nicht so war. „Wollen Sie wirklich wissen, was ich denke?“

Sie lehnte sich zurück und machte es sich bequem, als hätte sie alle Zeit der Welt. „Oh ja. Ich habe so ein Gefühl, das ist sehr interessant.“

„Also gut.“ Er stützte seine Ellbogen auf den Tisch. „Ich kann es nicht gutheißen, dass Sie diesen Posten bekommen, nur weil Sie die Tochter meines Chefs sind, also ohne Leistung.“

„Ohne Leistung?“

„Es gibt Leute in diesem Hotel, die verärgert sind …“

„Sie meinen sich. Sie sind verärgert.“

„… Leute, die extrem hart gearbeitet haben, um dorthin zu kommen, wo sie sind …“

„Sie glauben, ich habe nicht gearbeitet, stimmt’s?“ Auch Kenna stützte die Ellbogen auf den Tisch und verschränkte ihre Finger. „Ich fürchte, mit Ihrem gestörten Verhältnis zu mir werden Sie irgendwie fertig werden müssen, Mr. Roth, denn jetzt bin ich hier.“

„Ja“, erwiderte er grimmig. „Ich werde damit fertig werden müssen. Aber Sie auch. Wir sind mitten in den …“

„Renovierungsarbeiten und den Personaleinstellungen.“

Also hatte sie ein bisschen Vorarbeit geleistet. Doch das beeindruckte ihn nicht allzu sehr. „Und mehr. Wir werden lernen müssen, uns zusammen darum zu kümmern.“

„Das wird sicher lustig.“

Ein dumpfer Schmerz begann in seinen Schläfen zu pochen. „Ihr Vater möchte, dass wir dieses Hotel gemeinsam leiten, damit Sie die Erfahrung sammeln können, die Sie brauchen, um bei ‚Mallory Enterprises‘ aufzusteigen.“

Sie blinzelte für einen Moment, sichtlich überrascht.

Er blieb ungerührt. „Das bringt uns in eine Zwickmühle. Auf der einen Seite müssen wir zusammenarbeiten, um dafür zu sorgen, dass dieses Hotel exzellent läuft und uns beide gut aussehen lässt. Auf der anderen Seite sind wir Konkurrenten um die nächste Stufe auf der Karriereleiter.“ Hörte sie überhaupt zu? Schwer zu sagen. Ihre Augen – moosgrün und voller Geheimnisse – blickten ihn an, aber sie wirkte gedankenverloren. „Kenna?“

„Ja?“ Als wäre sie noch verstimmt über seine Bemerkung über die verwöhnte Tochter, strich sie mit der Zunge über ihre Unterlippe und leckte etwas von ihrem Lipgloss ab.

„Hören Sie mir zu?“, erkundigte er sich höflich.

„Klar höre ich zu. Sie haben Angst, ich könnte Ihnen Ihren Job wegnehmen.“

„Nein, ich habe absolut keine Angst, Sie könnten mir meinen Job wegnehmen.“

„Was beunruhigt Sie denn dann?“

Ja, was, zum Teufel, beunruhigte ihn eigentlich? Er brauchte nur den Posten, den er immer gewollt hatte, mit der Tochter seines Chefs zu teilen, was ihn in die wenig beneidenswerte Position versetzte, sie entweder ihrem Vater zuliebe gut aussehen oder aber sie wie eine Versagerin dastehen zu lassen, um seine eigene Karriere zu voranzutreiben. Großartig!

„Ich habe Betriebswirtschaft studiert“, begann sie langsam.

„Ich kenne Ihre Qualifikationen.“

„Dann wissen Sie auch, dass ich aufgewachsen bin in dieser Welt …“

Im Gegensatz zu ihm, der aus der Gosse kam.

„Nicht, dass ich je daran hätte, hier zu arbeiten, da ich …“ Sie biss sich auf die Unterlippe und sah ihn mit einem Ausdruck an, den er nicht zu deuten vermochte.

Misstrauen?

Sie misstraute ihm?

Er verstand nicht, warum ihn das irritierte. „Da Sie was?“

„Nichts. Vergessen Sie’s.“

Das wäre sicherlich das Beste, aber seine Neugierde war stärker. Jeder andere in der Firma hätte sonst was dafür gegeben, diesen Posten zu bekommen. Es gab mehrere qualifizierte Leute, die wahrscheinlich in diesem Augenblick bittere Tränen weinten, weil Mr. Mallory ihn ihm gegeben hatte.

Und seiner Tochter.

Weston war nicht besorgt wegen der anderen. Er wusste, er war der beste Mann für diesen Posten. Er hatte sich jahrelang dafür abgeschuftet, und deshalb hatte er auch keine Schuldgefühle.

An Kennas Stelle hingegen hätte er sich in höchstem Maße schuldbewusst gefühlt. Sie hatte nichts anderes getan, als ein College zu besuchen – auf Daddys Kosten zweifellos – und dann eine Reihe von Gelegenheitsjobs angenommen, was in seinen Augen auf eine gewisse Labilität hinwies. Das machte sie völlig ungeeignet für ihren jetzigen Posten, und alle anderen in der Firma würden ebenso empfinden. Als Managerin würde sie es dadurch natürlich schwerer haben, und infolgedessen auch er selbst. Das müsste ihr Vater eigentlich wissen.

Würde sie damit umgehen können? Bis vor kurzem hatte er kaum etwas über sie gehört. Und dann waren plötzlich Gerüchte darüber laut geworden, wie sie ihren Vater durch einen Trick dazu gebracht habe, ihr den Posten zu geben und ihre Cousine, die seit Jahren bei Mallory Enterprises arbeitete, zu übergehen. Dass sie nur mit ihren hübschen langen Wimpern zu klimpern brauche und die Welt sich ihr zu Füßen werfe.

Weston gab nichts auf Klatsch. Er hatte gelernt, dass nur harte Arbeit ihn dahin bringen würde, wo er sein wollte, und das Gleiche erwartete er auch von seinen Mitarbeitern. Und deshalb würde er sich sein eigenes Urteil über Kenna bilden.

Und er würde aufhören, ihr Lipgloss zu bemerken. Dazu musste er jedoch aufhören, ihr ins Gesicht zu sehen, aber auch das war ein Problem. Sie stand noch immer, wodurch sie ihm einen ziemlich guten Ausblick bot, da sich seine Augen auf der Höhe ihres Bauchnabels befanden.

Ihr knappes Top und ihr kurzer betonten ihre Kurven. Und unter dem Top zeichneten sich die Konturen eines Ringes ab.

Weston fragte sich, an welchen anderen Stellen Kenna noch Piercings haben mochte. Oh Mann! Es war keine gute Idee, an so etwas zu denken, und er nahm seine Brille ab, sodass er sie nur noch verschwommen sah.

„Nun?“ In ihrem Ton lag eine arktische Kältefront. „Womit sollen wir beginnen?“

„Das Beste wäre, wenn Sie sich mit dem vertraut machen würden, was wir tun.“

Sie nickte zustimmend. „Ich würde gern mit den Renovierungen und den damit verbundenen Rechnungen beginnen, und den Abschlussbericht vorbereiten.“

„Gut.“ Prima. Sollte sie doch diese langweilige Arbeit weit, weit weg von ihm in Angriff nehmen.

„Wo finde ich diese Unterlagen?“

„Ein Stockwerk höher, im Aktenraum.“

„Wunderbar. Dann gehe ich jetzt, so nett es auch mit Ihnen war. Aber ich bin sicher, wir sehen uns bald wieder.“ Ihr Ton war kaum wärmer als vorhin.

Als sie fort war, atmete Weston langsam aus. Wir sehen uns bald wieder. Er ließ sich auf seinen Sessel sinken und fragte sich, warum es sich mehr wie eine Drohung als wie ein Versprechen angehört hatte.

3. KAPITEL

Kenna verbrachte Stunden im Aktenraum. Hinter geschlossenen Türen, allein mit Kostenaufstellungen und Abrechnungen, hatte sie das Gefühl, diese Arbeit könne ihr gefallen. Sehr sogar.

Als sie den Aktenraum schließlich verließ, stellte sie betroffen fest, dass fast der ganze Tag vergangen war. Ihr Magen knurrte protestierend, und sie ging zurück zur Büroetage, begierig jetzt, sogleich mit ihrer Arbeit zu beginnen.

Der Empfangsbereich war leer. Das gesamte Erdgeschoss war leer. Auf ein erneutes Knurren ihres Magens hin warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr – siebzehn Uhr neun. Gar nicht so spät …

Ein junger Mann ging vorbei. „Jimmy Owens“ stand auf seinem Namensschildchen.

„Jimmy?“ Sie winkte ihn näher. „Wo sind die anderen?“

„Oh, die sind schon alle heimgegangen. Vergangene Woche fanden jeden Abend Sitzungen statt, oft bis spät in die Nacht hinein. Darüber wurde viel gemault. Jedenfalls hat Mr. Roth heute Abend alle um fünf nach Hause geschickt, um es wieder gutzumachen. Er selbst ist ebenfalls gegangen. Ich wollte auch gerade verschwinden.“

Eine ausgezeichnete Idee, um die Arbeitsmoral zu stärken. Das Einzige, was Kenna überraschte, war, dass jemand wie Weston Roth überhaupt daran gedacht hatte.

Sie verließ das Gebäude und fuhr eine Weile in San Diego herum, um sich mit der Stadt, in der sie aufgewachsen war, wieder vertraut zu machen. Sie fuhr am Seaport Village vorbei, am Horton Plaza, Ocean Beach … Sea World. Ihre Stereoanlage plärrte, ihre Gedanken rasten. In ihrem alten Civic nachzudenken beruhigte sie, und die Aussicht tat es auch.

Irgendwann landete sie wieder am Strand und stieg aus, um sich die Beine zu vertreten. Was konnte es Schöneres geben, als den Sand zwischen ihren Zehen zu spüren und dem Rauschen der Wellen zu lauschen? Es gab ihr ein gutes Gefühl, einfach dazustehen und die salzige Sommerluft einzuatmen. Das College und die Reisen war Abenteuer gewesen, aber dies war ihr Zuhause.

Sie wollte hier sein. Wollte ihrer Familie zeigen, was sie konnte. Falscher Stolz? Zweifellos. Ebenso war klar, dass sie dafür bezahlen würde, aber sie würde es trotzdem tun.

Sicher, die Sache hatte einen holprigen Start gehabt, aber das machte ihr nichts aus, denn sie war die Königin der holprigen Starts. Und dass die Leute im „San Diego Mallory“ – oder genauer gesagt Weston – ihre Fähigkeiten anzweifelten, beängstigte sie ebenso wenig. Sie war ihr ganzes Leben unterschätzt worden, doch sie verstand es, immer wieder auf die Beine zu kommen.

Sie wollte ihr Bestes geben auf diesem Posten.

Sie bückte sich nach zwei Steinen, hob den einen auf und schleuderte ihn übers Wasser. Er hüpfte fünf, sechs … sieben Mal. Ein persönlicher Rekord.

Ein persönlicher Rekord … so wie es dieser Job sein würde.

Keine Familie hatte solch quälende Familiendinner wie die Mallorys montags abends, wenn das Privatleben einzelner Familienmitglieder seziert, berufliche Erfolge verkündet und allen unter die Nase gerieben wurden.

Kenna hatte seit Jahren nicht mehr an solchen Familientreffen teilgenommen, und sie hätte nichts dagegen gehabt, auch dieses zu verpassen, aber jetzt, wo sie wieder in der Stadt war, wurde sie erwartet. Und da sie wusste, dass sie dem Lieblingsangestellten ihres Vaters das Leben zur Hölle machen würde, fühlte sie sich großmütig genug, um hinzugehen.

Nicht dass sie nicht vorhätte, sich hundertprozentig einzubringen auf diesem Posten, denn das wollte sie. Sie würde es ihnen allen zeigen mit ihren Plänen und Ideen.

Noch immer erfrischt von ihrem Strandspaziergang, betrat sie das Familienmausoleum in Encinitas, das für die kommenden sechs Monate ihr Zuhause sein würde.

Sie waren alle im Esszimmer, ein Raum, der eines Königs würdig war mit all seinem Pomp und Prunk, und während sie darauf zuging, verlangsamte sie automatisch ihre Schritte und erinnerte sich an ihre Kindheit.

„Lauf nicht, Kenna.“

„Sei nicht so wild, Kenna.“

„Langsamer, Kenna.“

„Du liebe Güte, musst du immer so überschwenglich sein, Kenna?“

Der lange, traditionell gedeckte Esstisch war voller Familienerbstücke. Über kostbarem Porzellan und Kristall schickte ihre Cousine Serena Blicke, die wie Dolchstiche waren, in Kennas Richtung. Früher einmal hatten sie zusammen mit Puppen gespielt. Sich auf der Highschool um Footballstars gestritten. Über das Kleid der anderen für die Abschlussfeier gegrinst.

Serena war eine perfekte Mallory, während Kenna die Rolle des schwarzen Schafs zufiel. Erstaunlicherweise hatte es in den letzten Jahren überhaupt keine Unstimmigkeiten mehr zwischen ihnen gegeben. Schließlich hatte Serena, was sie wollte –, eine Stelle im familieneigenen Hotelimperium, und Kenna, die Aussteigerin, hatte keine Bedrohung für sie dargestellt.

Doch nun war das schwarze Schaf nach Hause zurückgekehrt und hatte Serena auf der Karriereleiter überholt, was Kenna sogar ein bisschen leid tat, obwohl sie wusste, dass Serena, wenn sie gut genug gewesen wäre, inzwischen ihren, Kennas, Posten hätte und ihr Vater sich gar nicht erst bemüht hätte, sie anzurufen.

Sie betrat nun ganz den Raum und lächelte und winkte.

Ihre Tante Regina und Onkel Stephan saßen Serena gegenüber, und Kennas Eltern hatten sich an den Enden des Tischs platziert wie Buchstützen. Alle sahen sie an, als wäre sie etwas, was die Katze hereingeschleppt hatte.

Außer ihrer Mutter natürlich, die das ewige besorgte Stirnrunzeln zur Schau trug. Sie hatte Jahre damit verbracht, Kenna exakt mit diesem Blick zu mustern.

„Hey, Leute“, sagte Kenna fröhlich, um den Empfang zu testen.

Sie erhielt ein paar gedämpfte Hallos als Reaktion.

In diesem Augenblick kam ihr der Gedanke, dass sie, um nicht durchzudrehen, eine eigene Wohnung benötigen würde, und zwar so schnell wie möglich. Ihr Apartment in Santa Barbara kam nicht infrage, sie konnte nicht zwei Mal täglich die vierstündige Fahrt dorthin machen. Aber bis sie ihren ersten Scheck erhielt, würde sie leider ziemlich knapp bei Kasse sein.

Was sie aber nicht beunruhigte, da sie eine Expertin darin war, mit einem winzigen Budget zurechtzukommen. Sie würde sich schon irgendetwas überlegen. „So …“ Kenna setzte sich an den Tisch und nahm sich eine Gabel. „Wie geht es euch allen?“

Ihr Vater wollte etwas sagen – wahrscheinlich wollte er sie für den frechen Spruch zurechtweisen, mit dem sie in den Konferenzsaal geplatzt war –, aber ihre Mutter bedachte ihn mit ihrem bezwingenden ruhigen Blick. Kennas Mutter war immer ruhig, was sicher eine gute Eigenschaft für eine Chirurgin war.

„Tut mir leid, dass ich dich heute verpasst habe, Dad. Ich hatte viel zu tun.“

„Wirklich? Was denn?“

„Nun, unter anderem habe ich mich über die Renovierungen informiert.“

„So, so. Wir sind jetzt gerade in letzten Phase.“

„Ich weiß. Und ich muss sagen, ich bin nicht sehr beeindruckt von der Etatplanung.“

Ihr Vater blinzelte. „Du hast unsere Etatplanung gelesen?“

„Und sie tatsächlich verstanden?“, hakte Serena sofort nach.

Kenna warf ihr einen Blick zu, dann wandte sie sich wieder zu ihrem Vater. „Wusstest du, dass du mehr Geld für Muster und Modelle ausgibst als für die Sozialleistungen für deine Angestellten?“

„Äußerlichkeiten sind extrem wichtig, vor allem, wenn man sich mit Dienstleistungen befasst. Wir möchten, dass dieses Hotel eine ganz bestimmte Klientel anspricht und …“

„Ich weiß, aber …“

„Kenna, du glaubst doch wohl nicht, du könntest einfach so hereinspazieren und alles ändern“, warf Serena ein.

Ihr Vater lachte, und alle anderen stimmten ein.

Außer Kenna. Sie saß nur da und atmete tief ein. Nicht zu fassen, diese Schleimerei ihrer Cousine!

„So. Und womit hast du dich heute sonst noch befasst?“ Dem Stil der Mallorys entsprechend, fuhr ihr Vater fort, sie über ihren ersten Arbeitstag auszuhorchen.

Kenna nahm sich eine große Portion Kartoffeln. Eine Ladung Kohlehydrate für den vor ihr liegenden Abend. „Finanzberichte.“

„Sie war so beschäftigt mit dem Etat, dass sie keine Menschenseele kennen gelernt hat“, sagte Serena und aß ihre grünen Bohnen.

„Ich musste mich informieren“, sagte Kenna. Sie liebte ihre Familie und war ziemlich sicher, dass sie sie liebten, aber manchmal konnte sie nicht glauben, dass sie tatsächlich die gleichen Gene hatten. „Ich mache nicht gern den Mund auf, ohne die Fakten zu kennen.“

Serena sandte noch ein paar tödliche Blicke in Kennas Richtung.

„Was hältst du von Roth?“, fragte ihr Vater Kenna.

„Nun …“ Sie trank einen Schluck Wasser und versuchte, eine möglichst neutrale Formulierung zu finden. „Er ist genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.“ Sie probierte einen Bissen von ihrem halb durchgebratenen Steak.

Serena gab einen erstickten Laut von sich, und als Kenna ihr einen Blick zuwarf, hob sie ihr Kinn. „Ich habe Schwierigkeiten, mir euch beide als Team vorzustellen.“

„Wirklich?“ Kenna musterte ihre Cousine, die perfekte Mallory mit ihrer Schönheit, die an Katherine Hepburn erinnerte, und dem elegantem Stil, der von Jahren des Reichseins kam. „Wieso das denn?“

„Weston und ich waren zusammen im ‚Los Angeles Mallory‘, bevor wir hierher versetzt wurden, daher habe ich das Gefühl, so eine Art Experte für ihn zu sein. Er hat eine unglaubliche Arbeitsmoral.“

„Und ich nicht?“

„Hey, du bist schließlich diejenige, die sechs denkwürdige Wochen alten Männern in einem Altersheim den Sabber abgewischt hat.“

„Das war ein anständiger Job, Serena.“

„Klar. Du hattest jede Menge anständige Jobs … etwa alle sechs Monate einen neuen. Hör mal, ich sage nur, dass Wes solide, intelligent und allgemein bewundert ist. Das stimmt doch, Onkel Kenneth?“

Kennas Vater nickte stolz.

„Arbeit bedeutet für ihn alles“, sagte Serena. „Während du hingegen …“ Sie unterbrach sich, um durch ein gekünsteltes kleines Lachen zu demonstrieren, das allen im Raum bestätigte, dass sie Kenna nicht heruntermachte, sondern nur neckte. „Nun, wie wir gerade festgestellt haben, ist dein Lebenslauf etwas ungewöhnlich. Ich meine, Pudel baden …?“

Kenna lächelte, obwohl sie ihrer Cousine am liebsten ein Glas Eiswasser über den Schoß gegossen hätte. „Es ist schon komisch, was man alles tut, wenn man kein dickes Bankkonto hat.“

Serena besaß immerhin den Anstand, mit ihren Sticheleien aufzuhören.

Kenna wusste, irgendwo tief in Serenas Innerstem verbarg sich ein netter Mensch, aber der Himmel mochte wissen, wie tief er vergraben war. Seufzend schob sie ihren Teller beiseite und stand auf. „Ich bin satt. Ich werde mich jetzt hinlegen, damit ich fit bin für einen weiteren langen Tag.“ Sie küsste ihre Mutter auf die Wange. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, sagte ihr Vater. „Ich wecke dich um sechs zum Joggen.“

Ach, du liebe Güte. Sie war seit einer Ewigkeit nicht mehr um sechs Uhr morgens aufgestanden. Nachdem sie so viele Jahre eigener Herr gewesen war, widerstrebte es ihr, unter ständiger Beobachtung zu stehen.

Klar, die Vorschläge würden freundlich genug gemacht werden, aber es würde von ihr erwartet werden, dass sie sie befolgte. Man würde eine Art Ausgangssperre über sie verhängen und unter dem Vorwand von Gutenachtküssen kontrollieren, ob sie Alkohol getrunken hatte.

Das konnte sie nicht ertragen, selbst wenn sie heute Abend gar nichts anderes hatte trinken wollen als heißen Tee. „Mir ist gerade etwas klar geworden“, sagte sie höflich. „Ich sollte im Hotel wohnen, damit ich ein Gefühl dafür bekomme.“

Serenas Mund klappte auf, so bestürzt war sie, dass sie nicht zuerst darauf gekommen war.

Eins zu null für mich, stellte Kenna zufrieden fest.

4. KAPITEL

„Ich wohne im Hotel“, sagte Kenna in ihr Handy, während sie fuhr.

„In dem Hotel? Kann ich dich besuchen?“

Ray war einer ihrer engsten Freunde. Er war Kellner und Schauspieler, aber überwiegend Kellner. Und einer der wenigen Menschen, die Kenna vorbehaltlos akzeptierten. „Ich glaube, du hast mich nicht richtig verstanden“, sagte sie. „Ich werde im Hotel meines Vaters wohnen.“

„Nun ja, dann dürfte die Atmosphäre wohl ein bisschen steif sein, aber das Hotel ist einfach sensationell. Hast du die Einrichtung gesehen?“

„Ja. Es ist alles vom Feinsten.“

„Du hörst dich etwas gestresst an.“

„Nur ein bisschen“, gab sie zu.

„Weil du nicht richtig atmest. Vergiss nicht …“

Kenna sagte die Worte mit ihm und verdrehte dabei die Augen: „Kein anderer kann mich überfordern als ich selbst. Ich weiß.“

„Richtig, Schätzchen. Vergiss das nicht. Hör mal, du brauchst es doch eigentlich nur deinem Vater recht zu machen, nicht? Er wird dir sicher die Kontrolle über deinen Treuhandfonds zurückgeben.“

„Ich will keinen Treuhandfonds.“

„Du wurdest dazu geboren, einen Treuhandfonds zu haben.“

Kenna lachte. „Ich habe mich verändert.“

„Genau das ist der Punkt. Du wirst diesen Job annehmen und ihn in deinem eigenen Stil erledigen. Zeig es ihnen, Mädchen!“

„Ja.“ Sie lächelte. „Du weißt, dass ich nicht mal ein Paar Nylonstrümpfe besitze.“

Ray lachte. „Bei deinen Beinen brauchst du keine Strümpfe. Du wirst es schon irgendwie schaffen. Das tust du schließlich immer.“

Ja, sie würde es schaffen. Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, verblasste ihr Lächeln, denn sie fühlte sich immer noch unsicher.

Ganz zu schweigen davon, dass sie sich gründlich verfahren hatte. Verdammt, wie hatte das passieren können? Sie hätte besser aufpassen sollen, aber sie war mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen. Nun schien sie weit entfernt von den hellen, freundlichen Straßen, die sie kannte. Die Häuser hier waren klein und wirkten wie übereinander gestapelt. Abblätternde Farbe, vergitterte Fenster, verdorrtes Gras – das alles vermittelte den Eindruck von Vernachlässigung. Und um das Ganze noch schlimmer zu machen, begann auch noch der Motor ihres Wagens zu stottern.

„Hey!“, sagte sie und starrte auf die Tankanzeige.

Der Tank war leer.

Aufstöhnend ließ sie den Wagen zur Straßenseite rollen und griff wieder nach ihrem Handy.

Doch statt eines Ruftons erhielt sie eine auf Band gesprochene Nachricht. „Wenn Sie Ihre kostenlosen Telefonstunden verbraucht haben, rufen Sie bitte die Nummer 18100 an, um herauszufinden, welcher Tarif für Sie am günstigsten ist. Bleiben Sie nicht länger als nötig ohne Verbindung. Rufen Sie jetzt an.“

„Na, ist das nicht toll.“ Sie warf das nutzlose Gerät auf den Rücksitz zu all den anderen Dingen, die dort gelandet waren, als sie so überstürzt ihr Elternhaus verlassen hatte, und spähte in die Sommernacht hinaus. Die Straße war verlassen und ausgesprochen finster, bis auf ein Haus, bei dem die Außenbeleuchtung eingeschaltet war.

„Teen Zone“ stand auf dem Schild, das auf der Veranda angebracht war.

Seufzend stieg Kenna aus und ging zum Haus.

Das junge Mädchen, das die Tür öffnete, warf einen Blick auf sie und lachte nur. „Keine Chance, Lady. Dies ist ein Haus für Kids, die nirgendwo anders hingehen können. Sie sind viel zu alt.“

„Nein, du verstehst nicht. Ich wollte nur …“

„Nichts für ungut, aber Sarah wird Sie ja doch nur zur Unterkunft für obdachlose Frauen schicken. Sie befindet sich etwas weiter unten an der Straße. Verschwinden Sie.“

„Tess!“ Eine Frau erschien in der Tür hinter dem jungen Mädchen. „Liebes, das ist nicht unsere Art, Hilfesuchenden die Tür zu öffnen.“

Das Mädchen ließ die Schultern hängen. „Tut mir leid.“

Die große Frau mit der wahrscheinlich beruhigendsten Stimme, die Kenna je gehört hatte, warf Tess einen vorwurfsvollen Blick zu und meinte dann sanft: „Wir sind hier, um zu helfen, erinnerst du dich? Nicht, um zu verurteilen.“ Sie streckte Kenna die Hand entgegen. „Ich bin Sarah.“

Die beiden Frauen schüttelten sich die Hände.

Dann sagte Kenna: „Mir ist nur das Benzin ausgegangen. Ich dachte, vielleicht könnte ich Ihr Telefon benutzen?“

Sarah lächelte. „Selbstverständlich. Aber ich habe einen Zehnliterkanister in der Garage, falls Ihnen das lieber ist. Ich kann Ihnen genug geben, um zur nächsten Tankstelle zu gelangen. Kommen Sie herein. Seien Sie unbesorgt.“

Kenna bemerkte ihren mitfühlenden Blick, und daraufhin sah sie an sich herab und erkannte plötzlich, wie sie Sarah und Tess erscheinen musste mit ihrem Haar, das vermutlich so aussah, als hätte sie die Finger in eine Steckdose gesteckt. Das tat es immer nach einem langen Tag. Da sie noch immer nicht die Jacke überzogen hatte, wirkte sie ziemlich sexy, um milde auszudrücken, und die Schuhe, die zweifelsfrei ein bisschen nuttig aussahen, verstärkten diesen Eindruck noch. Sie hatte eben etwas Schlampiges an sich, sie konnte es nicht ändern. „Hören Sie“, sagte sie. „Ich kann Ihnen das Benzin bezahlen …“

„Nein, nein, das ist schon in Ordnung.“ Sarah zog sie ins Haus, wo ihr ein köstliches Aroma entgegenschlug.

Brownies? Kenna lief das Wasser im Mund zusammen.

„Wie Tess schon sagte, dies ist ein Zentrum für Kinder und Jugendliche, die von zu Hause fortgelaufen sind, aber ich habe noch nie jemanden abgewiesen.“ Sarah lächelte. „Schon gar nicht eine Frau bei Nacht allein in dieser Gegend.“

Kenna war versucht zu lachen, aber es hätte sicher etwas hysterisch geklungen, und so unterdrückte sie es. „Glauben Sie mir, ich kann Ihnen das Benzin bezahlen.“

„Okay.“ Freundschaftlich führte Sarah sie durch ein Wohnzimmer, das klein und nur dürftig eingerichtet, aber sehr gemütlich war. Die Wände waren in einem blassen Gelb gestrichen, oder vielleicht waren sie auch einfach nur vergilbt vom Alter. Die Couch, deren roter Bezug ziemlich verblichen war, hatte ihre Blütezeit auf jeden Fall bereits hinter sich, sah aber dennoch recht bequem aus. Ansonsten gab es noch ein paar Klappstühle und einen Stapel Zeitschriften sowie einen Fernseher mit einer Fernbedienung. Alles hier in diesem Raum schien aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu stammen.

Die Kids, die sich im Wohnzimmer aufhielten, warfen Kenna gleichgültige Blicke zu.

Sarah nahm Kenna in die Küche mit, die nicht moderner eingerichtet war als das Wohnzimmer. Grüne Wände, offene Regale – eine weitere Erinnerung an die liebenswerten Siebziger. Aber die Brownies auf dem Teller, der auf dem zerkratzten Resopaltisch stand, sahen lecker aus.

Sarah zeigte darauf. „Möchten Sie gern einen?“

Kenna hätte liebend gern zugelangt, aber sie wollte nicht noch tiefer in Sarahs Schuld stehen. „Nein“, erwiderte sie bedauernd. „Ich muss jetzt wirklich weiter.“

Sarah nickte. „Das brauchen Sie nicht, Kenna. Niemand muss es. Wie Tess schon sagte, könnte ich Ihnen die Adresse einer Unterkunft für Frauen geben.“

„Danke. Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich glaube, Sie missverstehen …“

„Vergessen Sie nur nicht, dass wir hier sind.“ Sarah führte sie durch die Hintertür zur Garage, um das Benzin zu holen, und begleitete sie dann zu ihrem Wagen. „Und ich bin immer da, falls Sie jemanden zum Zuhören brauchen oder Hilfe bei etwas, womit Sie allein nicht fertig werden.“

„Hören Sie, ich bin wirklich keine Prostituierte. Ich bin nicht einmal allein, nicht wirklich jedenfalls. Ich …“ Sie brach ab, als sie Sarahs Gesichtsausdruck sah, und folgte dem Blick der Frau zu ihrem Wagen.

Der hintere Teil ihres alten silberfarbenen Civic war voll gestopft mit einem bunten Sammelsurium von Sachen, da sie ganz plötzlich die Idee gehabt hatte, ins Hotel zu ziehen. Wie fast immer, wenn eine Idee sie packte, hatte sie spontan gehandelt. Sie hatte ihre Sachen einfach wahllos auf den Rücksitz geworfen – Kleider, Schuhe, den Kosmetikkoffer, ihren Föhn, ihre Unterwäsche, einen Teddybären aus ihrer Kindheit und, und, und. Wer sie nicht kannte, musste denken, sie lebte in ihrem Wagen. „Es ist nicht so, wie es aussieht. Ich bin nur …“

„Ach, Kenna, Sie brauchen uns hier nichts vorzumachen.“ Sarah legte eine Hand um ihre Taille und umarmte sie. „Wir alle hatten irgendwann mal schlechte Zeiten, also vergessen Sie das Geld für das Benzin, okay?“

„Nein, wirklich. Ich kann es bezahlen.“ Froh darüber, zumindest das zu können, griff Kenna in ihre Handtasche, in der leider ebenfalls ein grauenhaftes Durcheinander herrschte, aber als sie ihre Geldbörse öffnete, fiel ihr ein, dass sie nicht an der Bank vorbeigefahren war. Nicht, dass sie viel auf ihrem Konto hatte im Moment, aber …

Sarah legte ihre Hand auf Kennas. „Ich lade Sie ein.“

Kenna blickte die Frau an, die sie mitleidig ansah, und hatte plötzlich einen Kloß im Hals. „Ich komme zurück“, sagte sie rasch. „Mit Geld, ich verspreche es.“

„Sie brauchen hier kein Geld.“

„Ich möchte es Ihnen zurückzahlen.“

Sarah lächelte so warmherzig, dass Kenna sich im Stillen fragte, wann sie das letzte Mal jemanden so angelächelt hatte. Nun, da war dieser gut aussehende Typ gewesen vergangene Woche, aber abgesehen davon … sie erinnerte sich nicht.

„Sie könnten einmal wiederkommen und ein paar Stunden helfen“, sagte Sarah. „Wir brauchen immer freiwillige Helfer.“

„Okay, natürlich …“ In einem Altersheim zu arbeiten war eine Sache. Aber sich mit mürrischen Teenagern zu befassen, das war etwas ganz anderes. Eher hätte Kenna sich einer Zahnwurzelbehandlung unterzogen. Sie stieg in ihren Wagen, winkte Sarah zu und fuhr los.

Aber sie konnte weder das Jugendzentrum noch Sarah aus ihrer Erinnerung verdrängen. Diese Frau war erstaunlich freigiebig gegenüber Fremden, ohne irgendetwas dafür zu verlangen. Sie unterschied sich so sehr von den Menschen in der Welt, zu der Kenna gerade fuhr, dass die Freude, die sie früher an diesem Tag bei der Arbeit empfunden hatte, mit einem Mal verblasste.

Sarahs Welt erschien ihr plötzlich der richtige Ort für sie, Kenna. Ein Ort, an dem sie etwas bewirken, etwas verändern, ihre Ideen in die Tat umsetzen könnte.

Aber sechs Monate waren sechs Monate, und sie hatte es ihrem Vater versprochen.

Sie wünschte wirklich nur, sie hätte wenigstens einen Brownie angenommen.

5. KAPITEL

Weston spielte jeden Montagabend mit zwei Freunden Basketball. Sie spielten hart und gewannen oft, und als das heutige Spiel vorüber war, war sein Team nur zwei Siege davon entfernt, Ligameister ihres Freizeitclubs zu werden.

Und jeder von den drei Freunden brauchte mindestens zwei Aspirin, um seine Schmerzen zu lindern. Weston ging mit seinen Mannschaftskameraden zum Parkplatz, und alle drei versuchten, nicht zu stöhnen über ihre unterschiedlichen Wehwehchen. Sieger jammerten nicht. Männer, die Erfolg hatten, klagten nicht.

„Gehen wir noch auf einen Sprung in die Kneipe, Wes?“, fragte sein Freund Nick.

In der Kneipe endeten sie nach beinahe jedem Spiel. Dort feierten sie entweder oder bedauerten sich, je nachdem, wie das Spiel ausgegangen war.

Heute Abend würde viel gefeiert werden. Aber die Pflicht rief, und so sagte er: „Ich muss noch einmal ins Büro zurück.“

Er fuhr zum Hotel und parkte an dem für ihn reservierten Platz, wobei er das frisch gemalte Schild neben ihm bemerkte, auf dem „Kenna Mallory“ stand. Wenigstens war der Platz noch unbesetzt.

Auch die Büroetagen waren verlassen. Er hatte allen den Abend freigegeben, einschließlich sich selbst, doch nun, wo das anstrengende Spiel vorüber war und er einige seiner Aggressionen losgeworden war, wollte er noch ein bisschen Arbeit vom Tisch kriegen. Vor allem, da er den größten Teil des Tags damit verbracht hatte, die Wogen im Büro zu glätten. Die Leute waren verärgert über Kenna Mallorys Inanspruchnahme eines derart hohen Postens.

Serena war die Aufgebrachteste gewesen, eine Situation, die gemischte Gefühle in ihm weckte. Sie war eine einfache Konferenzmanagerin, die ihm direkt unterstellt war, und obschon sie annehmbare Arbeit leistete in ihrem Job, hatte er immer das Gefühl gehabt, als besäße sie mehr Ehrgeiz als tatsächliche Befähigung. Und so, wie sie heute geredet hatte, schien sie zu vergessen, dass auch sie ihren Posten einst nur ihres Nachnamens wegen erhalten hatte. Kein Mitglied der Familie Mallorys fing wirklich ganz unten in der Firma an.

Aber wie dem auch sei, er hoffte, dass sie sich ihren Ärger von der Seele geredet hatte, denn wenn Serena wütend war, musste jeder in ihrem Umfeld darunter leiden.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und machte sich an die Arbeit. Er liebte seine Arbeit, aber er liebte auch seine Freizeit und wollte sichergehen, an diesem Wochenende welche zu bekommen, da er eine Verabredung hatte und sich auf ein paar Stunden Spaß freute. Eigentlich freute er sich auf alles, was er tat, denn obwohl es Jahre her war, seit er um seinen Aufstieg gekämpft hatte, hatte er seine bescheidenen Anfänge doch nie vergessen.

Mit seinem derzeitigen Gehalt konnte er sich praktisch alles leisten, was er wollte. Da er jedoch keinen Luxus brauchte, schloss dies hauptsächlich Extremsport ein oder das Verwöhnen seiner Familie, falls diese es erlaubte – seinen Eltern ein Haus zu kaufen, sie in Ferien zu schicken, von denen sie nie zu träumen gewagt hätten, seinem Bruder das Collegestudium zu finanzieren …

Jemand mit blondem Haar und einem unvergesslichen fuchsiafarbenen Rock huschte an seinem Büro vorbei. Er blickte auf die Uhr. Es war schon zehn.

Was zum Teufel …?

Er stand auf und ging um seinen Schreibtisch herum, um einen Blick in den Gang zu werfen. Ja, es war tatsächlich Kenna Mallory, die in Riemchensandaletten mit Absätzen, die ihm geradezu selbstmörderisch erschienen, durch die Korridore stolzierte.

„Sie sind also doch nicht nur ein Albtraum!“, rief er, halb in der Hoffnung, dass sie dann verschwand.

Langsam blieb sie stehen, dann drehte sie sich zu ihm um, ihre Arme voller Taschen, die alle bis zum Rand gefüllt waren mit Kleidungsstücken. Während er noch hinsah, geriet der Föhn, den sie sich über die Schulter gehängt hatte, ins Rutschen. „Es ist noch nicht spät genug für Albträume.“

„Was tun Sie hier?“

„Vielleicht haben Sie den Mallory-Teil des ‚San Diego Mallory‘ übersehen.“

„Ich meinte“, entgegnete er trocken, „was Sie so spät noch im Büro tun?“

„Ich wollte mir ein bisschen Lesematerial holen, bevor ich auf mein Zimmer gehe.“ Sie stöhnte frustriert, als ihr die Sachen aus den Armen rutschten.

Weston fing eine Tasche auf, aber da waren schon eine Zeitschrift, ein Lippenstift, ein Kamm, eine Puderdose, eine Wimperntusche und zwei Tampons herausgefallen.

Als er sich bückte, um Kenna beim Einsammeln zu helfen, vermied er es bewusst, die Tampons zu berühren, und hob stattdessen die Zeitschrift auf. „Outside.“ Dieses Stadtmädchen las ein Abenteuermagazin? „Ich hätte Sie nicht als jemand eingeschätzt, der ‚Outside‘ liest.“

„Sie können mich als gar nichts einschätzen …“, sie riss ihm die Zeitschrift aus der Hand, „… da Sie überhaupt nichts von mir wissen. Und in diesem Monat steht ein großartiger Artikel über entspannende Strandurlaube drin“, gab sie zurück. „Falls es Sie interessiert.“

Unglücklicherweise musste praktisch alles, was sie betraf, ihn interessieren, da sie aller Voraussicht nach für eine Zeit lang eng zusammenarbeiten würden, bis sich ihr ein anderer, verlockenderer Job bot und sie weiterflatterte.

Auf den Knien begann sie ihre Sachen einzusammeln und warf sie wieder in ihre Tasche. „Und bis wir eine gewisse Routine entwickelt haben – eine, die uns daran hindert, uns gegenseitig umzubringen …“, sie zeigte auf ihn mit dem Gegenstand in ihrer Hand, „… gewöhnen Sie sich schon einmal daran, mich hier zu sehen.“ Sie brach ab und starrte auf den Tampon in ihrer Hand, dann funkelte sie Weston böse an, als wäre es seine Schuld, dass sie den Tampon wie einen Zeigestock benutzte.

„Wie kommen Sie darauf, wir würden uns gegenseitig umbringen?“, erkundigte er sich neugierig.

Sie lachte. „Soll das heißen, dass Sie mich mit offenen Armen willkommen heißen?“

„Ich gedenke Sie willkommen zu heißen, wie ich es bei jedem anderen neuen Angestellten tue.“

„Na, wenn das keine politisch korrekte Antwort ist.“

„Hören Sie, Miss Mallory …“

„Kenna. Mein Name ist Kenna.“

„Kenna.“ Er hob etwas von ihrem Wechselgeld auf und gab es ihr. „Ich denke, wir können das auch auf freundschaftliche Art und Weise tun.“

„Was? Um die nächste Sprosse auf der Karriereleiter wetteifern?“

„Okay, das verdiente er vermutlich. Vielleicht war er ein bisschen zu steif gewesen heute Vormittag. Ich will damit nur sagen, wir sitzen zusammen in dieser Klemme, und …“

„Ich sitze nicht in der Klemme. Ich sitze nie in der Klemme. Ich tue, was ich will und wann ich es will, und hier zu arbeiten gefällt mir.“

„Im Moment noch.“

Kenna, die sich gerade nach einem Stift bückte, erstarrte mitten in der Bewegung, und ihr Rock glitt unglaublich hoch, sodass man viel von ihrem glatten sonnengebräunten Oberschenkel sah. Das erinnerte Weston daran, dass sie anscheinend keine Strümpfe mochte. Und da er auch nur ein Mann war, fragte er sich, ob ihr Slip wohl genauso farbenfroh war ihre übrige Kleidung.

„Hören Sie“, sagte sie, „ich nehme diese Arbeit ernst. Also tun Sie mir einen Gefallen und nehmen Sie mich ernst. Übrigens, ich ziehe hier ein.“

„Was?“

„Ich werde hier im Hotel wohnen.“

Es passierte Weston nicht oft, dass ihm die Worte fehlten, aber irgendwie überraschte es ihn gar nicht, festzustellen, dass es Kenna gelang, ihn sprachlos zu machen. „Warum?“

„Weil ich es will.“ Dann unterbrach sie sich, um beinahe im Flüsterton hinzuzufügen: „Und weil es das kleinere Übel ist.“

„Ihr Vater hat gesagt, Sie müssten es tun, nicht wahr?“

„Natürlich nicht.“

„Hat er gedroht, Ihnen Ihre Kreditkarte zu sperren, wenn Sie nicht ins Hotel ziehen?“

Wenn Blicke töten könnten, wäre Weston jetzt ein toter Mann. „Sein Geld interessiert mich nicht.“

„Und was ist es, was Sie interessiert?“, fragte er.

„Nicht sein Geld“, wiederholte Kenna. „Ich stehe auf eigenen Füßen. Und was Ihre Frage nach meinen Interessen angeht – mein Leben interessiert mich. Zu leben, wie ich will, was bis jetzt etwas völlig anderes war als diese geregelte, erbarmungslose Geschäftsatmosphäre. Und wie ist es bei Ihnen, Mr. Roth?“

„Wes.“

„Wes“, sagte sie mit einem zustimmenden Nicken. „Was interessiert Sie?“

„Zunächst einmal interessiert mich dieses geregelte, erbarmungslose Geschäft.“

Kenna lachte tatsächlich, griff nach dem letzten Gegenstand auf dem Boden, einem Lippenstift, und steckte ihn zurück in ihre Tasche. „Nun, das dürfte uns zu einem interessanten Paar machen.“

„Ja, das tut es.“ Sein Blick fand ihren und hielt ihn fest. Ihre Augen funkelten. Humor, Intelligenz und unbefangene Lebensfreude lagen in ihrem Blick.

Verdammt, wenn das nicht attraktiv war! Er richtete sich auf und trat ein wenig zurück.

„Ich kann diese Arbeit tun“, sagte Kenna ruhig. „Ich bin gut in Finanzplanung, der Entwicklung von Marketingstrategien, der Strukturierung von Geschäftszielen und so weiter. Das Einzige, was ich nicht gut kann, ist, mit Leuten umzugehen, die sich nach Äußerlichkeiten ihr Urteil bilden …“ Sie warf ihr blondes Haar in den Nacken. „Lassen Sie sich nicht von der Verpackung täuschen, Wes.“

„Was ist, wenn ich es nicht tue, solange Sie es nicht tun?“

„Was?“

Er schob seine Brille höher. „Wollen Sie bestreiten, dass Sie mich nach dem ersten Blick sofort mit allen anderen Anzugträgern hier in einen Topf geworfen haben?“

Sie lachte wieder, und er fand ihr Lachen richtig süß. „Okay, Sie haben recht. Ich habe Sie mit all den anderen konservativen Anzugträgern in einen Topf geworfen. Sagen Sie mir nur eins: Was ist so schlimm an Farben, Wes? Warum trägt kein Einziger aus dem Management auch nur ein bisschen Farbe?“

Er blickte auf seine schwarzen Basketballshorts, seine schwarzen Basketballschuhe und sein schwarzes T-Shirt.

Wieder lachte sie. „Sie haben nicht einmal bemerkt, dass Schwarz hier die vorherrschende Farbe ist, nicht wahr?“

„Nein“, sagte er aufrichtig und konnte nicht anders, als den Kopf zu schütteln. „Ich schwöre, ich habe auch ein paar Sachen, die nicht schwarz sind.“

„Ja? Dann beweisen Sie es. Schockieren Sie mich morgen. Aber weiße Wäsche zählt nicht.“

Er blinzelte.

„Unterwäsche“, erklärte sie. „Einfache weiße Baumwollslips zählen nicht als Farbe.“

„Ich trage keine einfachen weißen Baumwollslips.“

Er trug einfache weiße Boxershorts, weil ein Mann ein bisschen Platz benötigte.

„Das sagen Sie.“

Sie versuchte ganz eindeutig, ihn herauszufordern, aber er hatte absolut nicht vor, über seine Unterwäsche mit ihr zu diskutieren. Nicht um zehn Uhr abends, auf einer leeren Etage, mit niemand anderem in der Nähe als dieser lachenden, scharfzüngigen und schockierend attraktiven Frau, die belustigt zu ihm aufblickte.

Sie richtete sich auf. „Also … wie wäre es dann damit? Ich übersehe die Tatsache, dass Sie wie ein Mallory-Klon aussehen, und Sie übersehen die Tatsache, dass ich besser geeignet für Wettbewerbe mit nassen T-Shirts erscheinen mag als für Meetings im Konferenzsaal.“

Wes dachte nach. Zuerst über das nasse T-Shirt – das ließ sich nicht verhindern – und dann über ihren Vorschlag.

Sie wartete einen Moment, dann sagte sie: „Kommen Sie. Ich finde, das ist ein ausgezeichneter Kompromiss.“

Er musste grinsen. „Einverstanden.“

„Einverstanden“, wiederholte sie, sammelte ihre Sachen ein und begann sich zu entfernen. „Gute Nacht“, rief sie über ihre Schulter. „Schlafen Sie gut.“

Gut schlafen? Er hatte das Gefühl, dass er überhaupt nicht mehr gut schlafen würde. Zumindest nicht in nächster Zeit.

6. KAPITEL

In dieser Nacht blieb Kenna lange auf und arbeitete bis spät in die Nacht hinein in ihrem luxuriösen Zimmer. Bei ihrem kleinen Ausflug in den Aktenraum hatte sie eine interessante Entdeckung gemacht. Es gab eine detaillierte Kostenaufstellung für die Renovierungsarbeiten, in der alle Posten aufgeführt waren, aber es hatte keine Ergänzungen mehr gegeben, seit das Hotel an „Mallory Enterprises“ verkauft worden war. Deshalb war niemand in der Lage, auf einen Blick zu sehen, wie die Dinge sich entwickelt hatten.

Hatten sie den Etat mit den bisher erfolgten Renovierungen überschritten? Oder waren sie innerhalb des Budgets geblieben?

Die Arbeitsverträge der Angestellten mussten erneuert werden, doch wie konnte die Geschäftsleitung mit den Verhandlungen beginnen, ohne festzustellen, ob die alten Verträge für sie von Vorteil waren oder nicht?

Und so verbrachte Kenna die nächsten zwei Stunden an ihrem kleinen Laptop, der immer wieder abstürzte – das arme Ding war so alt, dass es kaum mit all den Arbeitsblättern und Berichten fertig wurde – und arbeitete bis spät in die Nacht hinein, bis sie präzise Ideen zu der Angelegenheit entwickelt hatte.

Erst dann ging sie ins Bett, zufrieden, dass sie an diesem Tag ordentliche Arbeit geleistet hatte.

Es gab jedoch eines, was Kenna noch nie gekonnt hatte, nämlich ihr Gehirn abschalten. Sie lag in ihrem kostbaren antiken Bett, starrte die mit Stuckornamenten verzierte Zimmerdecke an und dachte nach über das, was sie getan hatte.

Durch die Übernahme des Jobs war sie für sechs Monate gebunden.

Klar, die Arbeit mit Zahlen würde ihr sicher Spaß machen und Serena zu ärgern, indem sie als Vizepräsidentin fungierte, auch. Womöglich würde sie auch Wes ein bisschen quälen, aber der Job hier würde zweifelsfrei seinen Tribut von ihr fordern.

Obwohl Wes sie tatsächlich zum Lachen gebracht hatte heute Abend. Wie schockierend. Sie hatte schon immer etwas übrig gehabt für Männer, die sie zum Lachen bringen konnten, und ihr Instinkt sagte ihr, dass unter Weston Roths konservativen dunklen Anzügen das Herz eines scharfsichtigen Zynikers schlug. Komisch, aber irgendwie gefiel ihr das.

Okay, vergiss das Schlafen, dachte sie. Sie würde ja doch kein Auge zutun. Sie schlug ihre Decke zurück, sah sich um und fragte sich, wie sie sich amüsieren konnte. Zum ersten Mal seit Jahren stand ihr praktisch jeglicher Luxus zur Verfügung, und sie lag einfach nur im Bett. Was für eine Zeitverschwendung!

Sie ließ sich ein Schaumbad in der dekadenten Wanne ein. Es war himmlisch, in das heiße Wasser einzutauchen, und Kenna lehnte sich behaglich zurück. Sie fragte sich, was der morgige Tag bringen würde, ob die Leute ihren Bericht zu schätzen wissen würden und ob Wes morgen etwas Farbiges tragen würde.

Als sie endlich wieder versuchte, einzuschlafen, etwas entspannter nun, gelang es ihr sofort. Leider klingelte dann jedoch irgendwann im Morgengrauen – oder zumindest kam es ihr so vor – das Telefon.

„Hör mal zu, Cousine“, sagte Serena, als Kenna es endlich schaffte, sich den Hörer ans Ohr zu halten, „Wir haben ein paar Dinge miteinander zu besprechen.“

Blinzelnd schaute Kenna auf die Uhr. Acht. Acht Uhr morgens! „Verdammt!“ Sie sprang aus dem Bett. „Ich komme zu spät.“

„Ach, stell dich nicht so an.“

„Ich will nicht zu spät kommen.“ Kenna griff nach dem Radiowecker, der eigentlich für die richtige Zeit programmiert gewesen und auch tatsächlich angesprungen war und in diesem Augenblick leise Rockmusik spielte.

Offenbar zu leise, da Kenne davon nicht aufgewacht war. Sie warf das Radio weg und sah sich um. Sie brauchte etwas zum Anziehen.

„Hey, Cousinchen, lauf mir jetzt nicht fort. Dieser Anruf betrifft mich. Okay? Also hör gut zu. Halt dich fern von ihm, denn er gehört mir.“

Kenna sah einen Rock über der Rückenlehne eines Stuhles hängen, der vermutlich aus dem achtzehnten Jahrhundert stammte. „Fernhalten von wem?“

„Tu nicht so schüchtern. Wes hat den knackigsten Po, den ich je gesehen habe. Wes ist ein guter Fang, und ich habe bereits die Fängerhandschuhe an.“

„Weston Roth?“

„Wach auf, hörst du? Kneif dich, ohrfeig dich, tu irgendwas.“

„Ich bin wach.“ Jetzt auf jeden Fall. Was würde zu dem Rock passen? „Du redest von ihm, als wäre er ein Stück Fleisch.“

„Tue ich das?“

Kenna unterbrach ihren Striptease. „Du meinst das ernst. Du willst ihn haben, weil er einen knackigen Po hat.“

„Warum sonst?“

Vielleicht, weil er intelligent war. Oder einen guten Job hatte.

Okay, auch weil er einen tollen Hintern hatte.

Aber ein schöner Po machte noch lange keinen guten Mann. Kenna verlangte sehr viel mehr. Ihre Cousine konnte Wes gern haben. „Und wie denkt er darüber?“

„Also wirklich“, spottete Serena. „Wenn du zuerst daran gedacht hättest, würdest du Wes auch benutzen.“

„Ich habe kein Verlangen, ihn zu benutzen. Oder irgendjemand anderen.“

„Du liebe Güte, was bist du doch für eine Heuchlerin! Die ganze Familie weiß, dass du insgeheim davon träumst, so zu sein wie alle anderen von uns. Und nun halten sie dir diesen Job wie einen Köder vor die Nase, also tu nicht so, als interessierte dich das nicht. Du willst, dass dein Vater dein wahres Ich erkennt und stolz auf dich ist. Und sollte sich herausstellen, dass Wes dir dabei behilflich kann, wirst du ihn bedenkenlos benutzen. Und deshalb sage ich dir jetzt, lass die Finger von ihm.“

„Du bist verrückt.“

„Na gut. Du willst es also nicht die Finger von ihm lassen. Dann kann ich nur sagen: Auf dass die Beste gewinnt!“

„Ich beteilige mich nicht an diesem Spielchen, Serena.“

„Wie auch immer. Aber er wird mir gehören. Viel Glück heute, Cousine.“

Kenna legte auf und schüttelte den Kopf. Glück würde sie brauchen, aber nicht aus den Gründen, die Serena vermutete. Wes war viel zu sehr mit ‚Mallory Enterprises‘ verflochten, aber er hatte das Recht, der Mann zu sein, der er sein wollte, so wie sie das Recht hatte, sie selbst zu sein. Sie würde ihn nicht benutzen, denn sie hatte sich vorgenommen, die Sache ganz allein bewältigen. Und deswegen brauchte sie ein bisschen Glück.

Von einem Bein auf das andere hüpfend, streifte sie ihren Rock über und sah im Geist Wes, wie er auf seine teure Armbanduhr blickte. Nun, wenigstens brauchte sie hier nicht ihr Bett zu machen, dafür gab es schließlich Zimmermädchen. Ihre Absätze waren etwas flacher heute, aber nicht sehr viel, da die zusätzliche Größe ihr Selbstvertrauen gab. Auch ihr Rock war länger, aber enger, was große Schritte schwieriger, wenn nicht gar zu einer Gefahr für ihre Gesundheit machte. Auf die Bluse jedoch war sie stolz. Sie war nicht sehr konventionell mit ihrer Transparenz, aber das Satinshirt, das sie darunter trug, wirkte sehr edel. In dem Ensemble fühlte sie sich hübsch und sexy, und sie wusste, wenn sie hübsch und sexy war, konnte sie es mit der ganzen Welt aufnehmen.

Sie verließ ihr Zimmer und fuhr mit dem Aufzug in die Büroetage, die mit einem großen eleganten Empfangsbereich begann, der wie der Rest des Hotels eingerichtet war – exklusiv, aber nicht protzig.

Hier herrschte rege Betriebsamkeit. Wohin sie auch schaute, überall gingen gut angezogene, dunkel gekleidete Angestellte ihren Aufgaben nach … obwohl sie sich, was das betraf, noch nicht ganz sicher war, da sie sich die Personalakten und Arbeitsplatzbeschreibungen noch nicht angesehen hatte. Aber das würde sie bald nachholen.

Ihre Cousine Serena, perfekt gestylt in ihrem gut sitzenden marineblauen Kostüm, stand bei einem der vorderen Schreibtische. Er war besetzt von einem Mann Anfang Zwanzig, dessen Finger nur so über eine Tastatur flitzten.

„Na und? Dann bist du eben mit Arbeit überhäuft“, sagte Serena zu ihm, wobei sie praktisch über seiner Schulter hing. „Das ist dein Job, Josh, und mein Onkel …“

„Ja, ja, wir alle wissen, wer dein Onkel ist.“ Er warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. „Aber wenn du aufhören würdest, dir Pornografie aus dem Internet herunterzuladen, würde dein Computer vielleicht nicht mehr dauernd abstürzen.“

„Es ist keine Pornografie. Ich wollte mir nur den Kalender der Feuerwehrmänner herunterladen.“

„Woran willst du erkennen, dass es Feuerwehrmänner sind?“ Josh drückte auf einige Tasten, und das Foto eines fast völlig nackten Mannes erschien auf dem Bildschirm. „Die einzige erkennbare Ausrüstung ist sein …“

„Bring es einfach bloß in Ordnung.“

„Klar.“ Joshs Schlips war gelockert, seine Ärmel waren bis über seine Ellbogen aufgekrempelt. Mit seinem schlanken Körper, den hochgezogenen Schultern und seiner missbilligenden Miene wirkte er ziemlich angespannt. „Was ist eigentlich so toll an diesen Feuerwehrmännern?“, murmelte er. „Ich würde genauso gut aussehen in Hosenträgern, ohne Hemd und mit ’nem Feuerwehrhelm. Möchtest du es sehen?“

„Nicht in diesem Leben“, entgegnete Serena. Dann bemerkte sie Kenna und setzte ein überlegenes Lächeln auf. „Nun, sieh mal an, wer sich entschlossen hat, zur Arbeit zu erscheinen. Onkel Kenneth bat mich, dir ein eigenes Büro zu geben, also habe ich ein ganz besonders schönes für dich ausgesucht.“ Das Lächeln, das sie Kenna schenkte, versetzte diese in höchste Alarmbereitschaft. „Es ist das letzte auf der linken Seite. Du hast heute den ganzen Tag Besprechungen, angefangen mit …“ Sie blickte auf ihre diamantbesetzte Armbanduhr. „Oje. Das war vor zehn Minuten. Die erste ist eine Begrüßung in Konferenzraum A. Komm, ich bringe dich besser hin.“

„Ich finde ihn schon.“

„Vermutlich ja, aber es wird sehr viel lustiger sein, zuzusehen, wie du dich bei deinem ersten richtigen Job durchwurstelst.“

„Du bist ja wirklich reizend so früh am Morgen“, sagte Kenna. „Es ist richtig rührend.“ Zusammen gingen sie einen Korridor mit auf Hochglanz polierten Marmorböden hinunter. Kenna fragte sich, wie ihr Vater es vermied, nicht fortwährend wegen gebrochener Knöchel vor Gericht gezerrt zu werden.

Autor

RaeAnne Thayne

RaeAnne Thayne hat als Redakteurin bei einer Tageszeitung gearbeitet, bevor sie anfing, sich ganz dem Schreiben ihrer berührenden Geschichten zu widmen. Inspiration findet sie in der Schönheit der Berge im Norden Utahs, wo sie mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern lebt.

Foto: © Mary Grace Long

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