Verführt von dem schottischen Earl

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Warum muss Lady Sarra Bellecote nur so hinreißend schön sein? Highlander Giric Armstrong, Earl of Terrick, kann sich kaum auf seine Aufgabe konzentrieren. Er soll die widerspenstige Engländerin sicher nach Schottland bringen, wo sie auf Befehl des Königs einen Highland-Laird heiraten soll. Doch die Reise ist ein überaus gefährliches Unterfangen für die englische Lady und den schottischen Earl. Feinde setzen ihnen nach. Und gleichzeitig wächst mit jeder Meile zwischen ihnen ein unbezähmbares Verlangen. Dabei weiß Giric: Dieser verbotenen Leidenschaft nachzugeben und sich zu nehmen, was für den Laird bestimmt ist, wäre sein Todesurteil …


  • Erscheinungstag 08.11.2016
  • Bandnummer 307
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765491
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

An der englisch-schottischen Grenze, 1292

Lady Sarra Bellecote knüllte das Sendschreiben zusammen und warf es auf den Boden der Kapelle. „Soll ihn doch der Teufel holen!“ Entschlossen schritt sie an der alten Holzbank vorbei und blieb vor dem Buntglasfenster stehen.

Der Januarwind peitschte gegen das Glas. Das Wetter passte zu ihrer aufgewühlten Stimmung. Auf einen Schlag hatte sie nicht nur ihr Zuhause verloren, sie würde außerdem nicht selbst entscheiden dürfen, wen sie einmal heiraten wollte. Erbost über den Treuebruch ihres Vormunds schloss sie die Augen.

Wie konnte er es wagen, ihr ein derartiges Ultimatum zu stellen?

Sie sog tief die Luft ein, die nach Weihrauch und Holz duftete. Als sie sich schließlich ein wenig beruhigt hatte, öffnete sie die Augen wieder.

Vor sich erkannte sie das Abbild der Heiligen Jungfrau, das aus blauem, mattweißem und grauem Glas zusammengesetzt war. Friedvoll schien Maria ihren Blick zu erwidern, als wolle sie Sarra Zuversicht schenken in einem Moment, da diese nicht mehr wusste, wem sie noch vertrauen konnte.

Du darfst nicht an deinem Glauben zweifeln, ermahnte sie die Stimme ihrer Mutter, die aus einer längst vergangenen Zeit zu ihr drang.

Voller Bitterkeit zog sich ihre Kehle zusammen. Als ob Sarra nach all den Jahren gerade jetzt von Gott auch nur die geringste Hoffnung erwarten konnte!

Sarra presste ihre Hände fest zusammen, jedoch ohne zu beten. Schon lange hatte sie den Glauben an Gott verloren, wie so vieles andere auch.

Sie hörte Stoff rascheln und vernahm leise Schritte, die sich von hinten näherten.

„Mein Kind.“ Pater Ormands Stimme drang sanft beschwörend durch die brüchige Stille.

Kurz war Sarra versucht, sich ihm zu offenbaren wie einst als Kind. Damals hatte ihr der Glaube noch Halt gegeben. Doch schon gleich war dieses Bedürfnis verflogen, so wie ihr kindlicher Glauben, so wie im Lauf der Jahre all ihre Hoffnungen verflogen waren.

„Wie könnte ich jemals Lord Bretanes Aufforderung folgen und seinen Sohn heiraten? Selbst wenn ich für meine Weigerung einen hohen Preis zu zahlen habe, indem ich auf all meinen Besitz verzichten und ins Kloster gehen muss.“

Pater Ormand räusperte sich. „Lady Sarra, Euer Vormund weiß nicht, dass Ihr entschlossen seid –“

Sie fuhr herum, obwohl ihr bewusst war, dass man sich gegenüber einem ehrwürdigen Mann Gottes demutsvoller verhalten sollte. Doch ihr Schmerz war stärker als jede Etikette. „Als ob das Lord Bretane interessieren würde!“

Tiefe Falten gruben sich in die Stirn des Priesters. Er schaute sie ernst aus dunklen braunen Augen an. „Es wäre auch der Wunsch Eures Vaters gewesen, Mylady.“

„Mein Vater hätte niemals zugelassen, dass man mich unter Drohungen in eine Ehe zwingt.“

„Lord Bretane war der beste Freund Eures Vaters“, erklärte der Priester ruhig. Als wüsste sie das nicht selbst ganz genau. „Und Euer Vater war zudem der Pate von Lord Sinclair, dem Mann, den ihr heiraten sollt.“ Pater Ormand schüttelte den Kopf und musterte sie eindringlich. „Es ist Sitte, dass Ehen arrangiert werden, und Ihr solltet dankbar sein, dass Lord Bretane für Euch den Mann aussucht. Schließlich hat Euer Vater ihm so sehr vertraut, dass er ihm die Vormundschaft für seine Tochter übertragen hat. Bei Eurem Vermögen wäre es ebenso gut möglich, dass der König selbst sich einschaltet und bestimmt, wen Ihr zu heiraten habt.“

Sie wusste, dass sie dankbar sein sollte. Wenn König Edward Ehen stiftete, dann hatte er so gut wie immer ausschließlich seinen eigenen Vorteil im Auge. Dennoch würde sie sich unter keinen Umständen der Anordnung ihres Vormunds fügen, seinem Sohn bis spätestens Mittsommer das Jawort zu geben.

Höchst lebendig standen noch einmal die furchtbaren Geschehnisse der Vergangenheit vor ihrem inneren Auge, und Sarra verwandelte sich für einen Augenblick in das Mädchen, das sie einst gewesen war. Mit quälender Deutlichkeit hatten sich ihr die grauenvollen Bilder ihrer ermordeten Eltern eingeprägt, und zitternd presste sie die Finger gegen die Schläfen. Nach dem Tod von Vater und Mutter hatte Sarra sich nach und nach von all ihren Träumen und Hoffnungen verabschieden müssen. Und nun sollte sie auch noch den letzten Wunsch aufgeben, der ihr geblieben war, nämlich einen Mann zu heiraten, den sie liebte – und das für eine Zwangsehe mit einem Schotten. Allein der Gedanke daran war unerträglich.

Ihr lief es kalt den Rücken hinunter, als sie daran zurückdachte, wie ihr heutiger Verlobter in seiner Jugend Falkeneier zerquetscht hatte. „Drostan war ein abscheuliches Kind.“

„Lord Sinclair war noch ein unreifer Junge bei Eurer letzten Begegnung“, sagte Pater Ormand. „Und Jungen stellen viel Unsinn an. Doch irgendwann werden aus Knaben Männer. Es ist schon elf Jahre her, dass Ihr Lord Bretanes Sohn das letzte Mal gesehen habt. Man sollte nicht vorschnell urteilen, ehe man sich nicht mit eigenen Augen ein Bild gemacht hat.“

Er hatte recht, nur konnte Drostans Titel eines Barons nicht seine Herkunft aus einem Volk von Verbrechern ungeschehen machen.

Räuber und Viehdiebe, das sind die Schotten!

Gesetzlose Verbrecher, Diebe, Vergewaltiger und Mörder. Menschen, die die Grenze unsicher machten und Sarras Eltern auf dem Gewissen hatten. Und wofür das alles? Nur wegen des bisschen Goldes, das sie bei sich gehabt hatten.

Ein paar Strähnen lösten sich aus ihrem geflochtenen Haar und leuchteten in der Sonne, die durch das bunte Fensterglas fiel. Sarra steckte die losen honigblonden Strähnen wieder in ihren straffen Zopf, der ihre Haare unnachgiebig bändigte, genauso unnachgiebig wie die Konventionen, denen sie sich zu unterwerfen hatte.

„Lasst uns gehen“, drängte Pater Ormand. „Lord Bretanes Gesandte erwarten Eure Antwort. Wir haben ihre Geduld schon viel zu lang strapaziert.“

Nur allzu gern hätte Sarra den Priester allein in den Burghof zu den wartenden Schotten geschickt. Doch als Herrin von Rancourt Castle war es ihre Pflicht, selbst mit ihnen zu reden.

Sie nickte und ging zum Ausgang der Kapelle. Einzig ihrer Entschlossenheit und ihrem Stolz verdankte sie es, dass sie nach dem tragischen Tod ihrer Eltern durchgehalten hatte. Und nur so würde sie sich auch in der bevorstehenden Auseinandersetzung mit Lord Bretane behaupten können.

Sie mochte gar nicht an die anstrengende Reise zu dieser ungemütlichen Jahreszeit denken. Als kleines Mädchen war sie auf den Knien von Lord Bretane geritten, während er sie liebevoll angelächelt hatte. Sie musste einfach darauf vertrauen, dass jener gütige Herr von damals sie heute unter keinen Umständen zu einer Ehe mit einem Mann zwingen würde, den sie niemals lieben konnte. Anderenfalls würde sie verrückt werden.

Unheilvoll ballten sich die Wolken am Himmel zusammen. Dicke Schneeflocken wirbelten zu Boden. Der scharfe Wind zerrte unbarmherzig am Umhang von Giric Armstrong, dem Earl of Terrick. Regungslos verharrte er an der Spitze eines kleinen Trupps auf seinem Pferd.

Sie warteten.

Durch dichte schwarze Wimpern ließ Giric den Blick über den Hof der englischen Festung gleiten. Die Anlage war mit ihren stabilen Mauern in einem hervorragenden Zustand. Auf dem Übungsplatz zeigten die Ritter ihr Können, und das Klirren der stählernen Klingen hallte über ganz Rancourt Castle hinweg.

Voller Neid erkannte er die Qualität ihrer Waffen und unterdrückte seine Unzufriedenheit. Für diesen unkomplizierten Auftrag erhielt er genügend Gold, um beim Wiederaufbau von Wolfhaven Castle einen großen Schritt voranzukommen. Und darüber hinaus würde er auch noch seine Leute versorgen und robuste Stahlschwerter für seine Ritter beschaffen können. Er verzog das Gesicht und zurrte einen losen Riemen an der Seite seines Sattels fest. Damit würde er endlich den Schatten seines toten Vaters hinter sich lassen.

Am anderen Ende des Hofes schlug die Tür zum Wohnturm zu. Giric hob den Blick. Der Wind frischte auf und verwirbelte den Schnee zu einer dichten Wolke, die ihm vorübergehend die Sicht nahm. Schließlich erkannte er schemenhaft zwei in weite Mäntel gehüllte Gestalten. Ein eisiger Windstoß schlug den schwarzen Mantel der größeren Person zurück und offenbarte kurz ein Priestergewand.

Ein Pfarrer? Girics Blick ging nun zu der kleineren Gestalt, die in den üppigen Falten eines burgunderroten Umhangs beinahe zu verschwinden schien. An den Füßen blitzte der Saum eines elfenbeinfarbenen Kleides hervor. Lady Sarra Bellecote? Er runzelte die Stirn. Natürlich hatte er mit der Herrin der Burg gerechnet, jedoch in Begleitung ihrer Wachen. Warum also erschien sie nun mit einem Geistlichen? Ihm fiel nur ein einziger Grund ein: Sie weigerte sich, den für sie bestimmten Mann zu heiraten, und hatte sich deshalb in den Schutz der Kirche begeben.

Giric verscheuchte diesen bedrückenden Gedanken. So etwas konnte er nur denken, weil er den Lohn für den Auftrag so dringend brauchte. Tatsächlich gab es eine ganze Reihe anderer möglicher Erklärungen für die Begleitung durch den Geistlichen. Wahrscheinlich wollte Lady Sarra sich als gläubige Christin von ihm segnen lassen.

Giric rutschte in seinem Sattel in eine bequemere Position. Es würde ihre Reise bedeutend erleichtern, wenn sein Schützling, auf den er aufpassen sollte, eine sanfte und gottesfürchtige Jungfrau wäre.

Die beiden Gestalten näherten sich.

In einigen Schritten Entfernung gab die Frau dem Priester ein Zeichen, der daraufhin stehen blieb. Sie näherte sich nun allein den fremden Männern. Wenige Schritte vor Giric hielt sie inne.

Der Wind zerrte an der Kapuze ihres Umhangs, als die Frau langsam den Kopf hob. Ihre Haut war von einer zarten eleganten Blässe, während ihre grauen Augen an einen Wintersturm erinnerten. Sie betrachtete eingehend seine Clan-Brosche. Ihre Miene verfinsterte sich, als sie ihm schließlich in die Augen schaute.

Giric stockte der Atem. In den Stoffmengen dieses übergroßen Umhangs wären die meisten Frauen schier versunken. Doch nicht sie mit ihrer königlichen Haltung! In ihrem Blick lag eine Mischung aus Unschuld und Furcht, bei der es ihm heiß den Rücken hinunterlief.

Unterdrückt fluchend rang er sein unerwartet aufkeimendes Begehren nieder. Sein Auftrag lautete, die Frau zu ihrem Verlobten zu begleiten.

„Ich bin Lady Sarra Bellecote, Herrin von Rancourt Castle. Seid Ihr der Anführer dieser Männer?“

Ihre sinnlich klingende Stimme schien ihn wie ein knisterndes Feuer zu wärmen. „Richtig“, erwiderte Giric, verärgert darüber, dass diese schmale Frau ihn derart verwirrte – und darüber hinaus noch Engländerin war.

„Ihr werdet von mir hören. So lange seid Ihr meine Gäste auf Rancourt Castle.“ Nach einem flüchtigen Blick auf Girics Begleiter schritt sie Richtung Wohnturm.

Sie hatte ihn einfach stehen lassen! Giric schluckte die Flüche hinunter, die ihm auf der Zunge lagen. Es sollte ihn eigentlich nicht wundern, dass sie derart respektlos mit ihm umging, hatte er sie doch die ganze Zeit wie ein unerfahrener Grünschnabel angestarrt. „Mylady!“

Sie setzte ihren Weg unbeirrt fort, und mit jedem Schritt wurde sie mehr und mehr vom dichten Schneetreiben verschluckt.

Noch nie in seinem Leben hatte eine Frau ihn derart von oben herab behandelt. Giric stieg würdevoll von seinem Pferd. „Lady Sarra, ich –“

„Verehrter Ritter.“ Der Geistliche stellte sich ihm in den Weg und schaute der Herrin von Rancourt Castle besorgt hinterher, ehe er sich Giric zuwandte. Der Wind zerrte am Umhang des Priesters, und er zog seine Kapuze fester zusammen. „Bitte kommt mit Euren Männern in die Burg und wärmt Euch auf. Lady Sarra wird sich mit Euch unterhalten, sobald Ihr gespeist und Euch ausgeruht habt.“

Giric wollte den Geistlichen wegen der unangemessenen Anrede zurechtweisen, doch dann entschied er sich zu schweigen.

Er, ein Ritter!

Doch genau betrachtet musste er auf seinen Titel als Earl of Terrick vorläufig verzichten. Schließlich galt er in den Westlichen Marken nach wie vor als Gesetzloser. Einmal ganz abgesehen von der Schande, sich für Gold als Begleitschutz zu verdingen.

Also musste er sich in die Rolle fügen, für die er sich entschieden hatte.

Der Geistliche sah der sich entfernenden Frau mit gerunzelter Stirn nach.

Die Reaktion des Klerikers weckte Girics Interesse, und er musterte die im Schnee immer verschwommener wirkende Gestalt. Lady Sarra zu ihrem Verlobten nach Schottland zu begleiten, sollte eigentlich eine unproblematische Aufgabe sein. Doch allem Anschein nach war die Braut nicht gerade glücklich über ihre bevorstehende Heirat. „Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft.“

Der Priester sah zu den Ställen und gab ein Zeichen.

Ein Bursche kam aus dem Gebäude herbeigerannt und wandte sich an Giric. „Ich werde mich um Eure Pferde kümmern.“

Nach einem letzten Blick auf den Burgturm, der sich im immer dichter werdenden Schneetreiben erhob, gab Giric seinen Männern das Zeichen zum Absteigen. Alles, was er nun wollte, war, ins Warme zu kommen und sich zu stärken. Später würde ihm noch ausreichend Zeit bleiben, um über die attraktive Herrin von Rancourt Castle nachzudenken.

Drei Tage waren vergangen. Giric hatte sich mit seinen Männern zum Nachtmahl an der langen Tafel im großen Saal eingefunden. Mit verschränkten Händen und gesenktem Kopf wartete er, dass der Priester sein Tischgebet beendete. Die Aussicht auf das herzhafte Wildfleisch, gewürzt mit Zwiebeln und Salbei, linderte kaum seine Ungeduld, die mit jedem Tag weiter anstieg.

Die kraftvolle Stimme des Priesters hallte in dem ausladenden Raum wider. Giric warf einen verstohlenen Blick zum Podium, wo Lady Sarra aufrecht auf ihrem Stuhl saß und den Blick geradeaus gerichtet hielt. So wie jedes Mal beim Tischgebet hielt sie weder ihren Kopf gesenkt noch die Hände zum Zeichen ihres Glaubens fromm verschränkt.

Ihre Gleichgültigkeit ließ ihm keine Ruhe. Wenn sie die Aussicht auf ihre Heirat so quälte, warum suchte sie dann nicht Trost im Gebet? Doch ihre Lippen blieben unbewegt, und nichts an ihrem ganzen Betragen deutete darauf hin, dass sie für Gottes Hilfe empfänglich war.

Wenn sie die Kirche und den Glauben tatsächlich ablehnte, warum hatte sie sich bei ihrem ersten Zusammentreffen dann von dem Priester begleiten lassen? Ganz egal, was der Grund dafür gewesen sein mochte, so entschuldigte nichts ihr schlechtes Betragen ihm gegenüber. Seit seiner Ankunft hatte er sie jeden Morgen um eine Audienz ersucht, ohne auch nur einmal eine Antwort zu erhalten.

Auch wenn sie noch nicht miteinander gesprochen hatten, machte ihn allein schon ihr kühler Ausdruck wütend, sobald sich ihre Blicke zufällig trafen. Er betrachtete sie und musste sich widerwillig eingestehen, dass ihr schlanker Körper, ihre zarte Haut und ihr volles goldenes Haar ihn alles andere als kalt ließen. Zähneknirschend ermahnte er sich, dass sie nur Teil eines Auftrags war, nicht mehr.

Der Priester stieg in seiner Achtung, wenn Giric daran dachte, dass dieser sich jeden Tag mit der Herrin von Rancourt Castle auseinandersetzen musste. Der Tag, an dem er seinen argwöhnischen Schützling bei ihrem Verlobten in Schottland abliefern würde, würde ein Freudentag für ihn werden.

Zum Abschluss seines Tischgebets schlug der Priester das Kreuz.

Bedienstete traten mit Brot an die Tische, während ein Junge Fleischstücke von einem Wildschwein abhobelte, das über dem offenen Feuer briet.

Ein Knappe trat mit einem voll beladenen Tablett neben Giric. „Sir?“

Giric nickte. Der Junge servierte ihm eine große Portion Fleisch und schaufelte im Anschluss auch noch Zwiebeln und Karotten auf seinen Teller.

Daraufhin trat der Bursche zu einem hochgewachsenen Mann mit rotblonden Haaren, der rechts von Giric saß. „Sir?“

Girics langjähriger Freund, Colyne MacKerran, der Earl of Strathcliff, nickte, und der Bursche füllte seinen Teller, um sich darauf dem nächsten Gast zuzuwenden.

Colyne spießte das Fleisch mit seinem Dolch auf, nahm einen Bissen und kaute genussvoll. „Sehr gut.“

Giric fragte sich, wie er Colyne nur in diese Angelegenheit hatte mit hineinziehen können. Wie er selbst war auch sein Freund von Adel, dennoch gaben sie sich beide hier als einfache Ritter aus. Das Ganze ging im Grunde nur Giric etwas an, und doch hatte Colyne darauf bestanden, ihn zu begleiten. „Jedenfalls schmeckt es besser als Haferschleim“, erklärte Giric.

Colyne zog eine Braue nach oben und lachte. „Ja, recht hast du. Obwohl du dir den verdient hättest, so mürrisch wie du bist.“

Giric grummelte etwas vor sich hin und schnitt sich ein Stück Fleisch ab.

Colyne griff nach seinem Pokal. „Wenn du mich fragst, dann bist du so schlecht gelaunt, seit Lady Sarra den Raum –“

„Ich habe dich aber nicht gefragt.“

In den Augen seines Freundes blitzte der Schalk auf. „Das hast du in der Tat nicht. Allerdings ist es schon lange her, seit du eine Frau mehr als nur eines kurzen Blickes gewürdigt hast.“

„Mein Interesse gilt einzig und allein dem Gold, das man mir für diesen Auftrag zahlt.“ Der Wiederaufbau von Wolfhaven Castle erforderte all seine Kräfte, da würde er sich ganz gewiss nicht auch noch eine launische Erbin aufhalsen.

„Sie ist ziemlich attraktiv.“

Giric stieß seinen Dolch in das zarte Wildfleisch. „Und so kalt wie Eis.“

„Wenn ich mich recht entsinne, hast du in der Vergangenheit das Herz von mehr als einer Jungfrau zum Schmelzen gebracht“, bemerkte Colyne genüsslich.

„Selbst wenn diese Dame mich reizen sollte, was nicht der Fall ist: Sie ist verlobt.“

Die Augen seines Freundes funkelten. „Und wenn schon. Wenn du wolltest, würdest du sie bestimmt dazu bringen, dass sie dir einen Kuss gewährt.“

„Wenn du doch nur einmal deinen Mund halten würdest!“ Giric war der Appetit vergangen, und er schob seinen Teller von sich. „Ich weiß wirklich nicht, warum ich dich mitgenommen habe.“

Colyne lachte herzhaft, was seine Grübchen noch betonte, und hob seinen Pokal. „Nun, um dich vor irgendwelchen Fehlern zu bewahren, Sir Giric.“

Als Colyne ihn derart nachdrücklich als einfachen Ritter ansprach, löste sich Girics Anspannung. In der Tat sollte er besser seinen bescheidenen Rang nicht vergessen, bis er Lady Sarra bei ihrem Verlobten abgeliefert haben würde.

Der Klang der Krüge, die aneinandergestoßen wurden, vermischte sich mit den Stimmen der Männer. Über den Köpfen waberten dichte, stechende Rauchschwaden. Müdigkeit überkam Giric, und er rieb sich die Stirn. „Wenn es nach mir geht, dürfte unser Weg nicht allzu lange dauern. Es wird langsam Zeit, dass wir nach Hause zurückkehren.“

„Ohne deine Schwester wird es in der Burg ganz schön ruhig sein.“

„Mag sein, aber immerhin geht es ihr gut. Einen besseren Mann als Sir Nicholas könnte man ihr gar nicht wünschen. Und auch wenn er als Engländer König Edward die Treue geschworen hat, behandelt er die Schotten in seiner Nachbarschaft äußerst gerecht.“

Colyne nickte zustimmend, dennoch entging Giric nicht, wie sehr sein Freund nach wie vor litt. Über lange Jahre war er immer wieder auf Wolfhaven Castle zu Besuch gewesen, und Giric war keineswegs verborgen geblieben, dass Colyne Elizabet geliebt und sich vermutlich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als sie zu heiraten.

Elizabet jedoch hatte sich noch nie um Konventionen geschert und sich ausgerechnet in einen Mann verliebt, der eigentlich ihr Feind sein sollte. Giric verstand sie nur zu gut. Auch er schätzte diesen Engländer.

Es waren unruhige Zeiten. Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg zwischen Schottland und England suchten das Land mit der gleichen Regelmäßigkeit heim wie die häufigen Unwetter. Dass seine Schwester dennoch einen Mann gefunden hatte, der ihre Liebe wert war, machte ihren Bund nur umso wertvoller.

Er schaute zu Lady Sarra, die unverändert majestätisch auf dem Podest saß und das Essen auf ihrem Teller hin und her schob. Eine Welle des Bedauerns überkam ihn. Anscheinend hatte sie sich wie die meisten anderen Frauen mit einer Pflichtehe abgefunden.

In einiger Entfernung schlug ein Ritter mit der Faust auf die Tafel, und allgemeines Gelächter erhob sich.

Sarra hob die Augen und sah zu dem Krieger, ehe ihr Blick zu Giric weiterwanderte.

Ihre Blicke trafen sich.

Einen kurzen Moment lang glomm in Sarras Augen so etwas wie Sehnsucht auf, und sie öffnete verwundert den Mund.

Girics Körpertemperatur stieg um ein paar Grad.

Sie berührte ihre Lippen, als ob sie seine Gedanken lesen könnte. Doch dann wich der warme Ausdruck ihrer Augen wieder eisiger Kälte.

Die Luft zwischen ihnen schien zu knistern, doch als sie ihn jetzt derart kalt betrachtete, schwand das Gefühl des Bedauerns, das Giric noch kurz zuvor empfunden hatte. Er schaute sie unverwandt an, entschlossen, keinesfalls als Erster den Blick abzuwenden. Sie würde selbst mit ihrer Verachtung für ihn zurechtkommen müssen, was auch immer der Grund dafür sein mochte. Ob sie wollte oder nicht, sie würde mit ihm gemeinsam aufbrechen. Denn er hatte einen Auftrag zu erfüllen.

Einige Augenblicke vergingen.

Ihre Wangen röteten sich, wenngleich wohl kaum aus Verlegenheit. Dazu war ihr Ausdruck viel zu unnachgiebig.

Giric kniff die Augen zusammen.

Herausfordernd neigte sie den Kopf zur Seite. Ihre Nasenflügel begannen kaum merklich zu beben, und sie wandte den Blick ab.

Die in den vergangenen Tagen aufgestaute Energie ließ ihn rastlos hin und her rutschen. Er wusste nicht, ob ihre Entschlossenheit ihn eher freuen oder empören sollte.

Sie nahm einen Schluck aus ihrem Pokal und beugte sich dann zu dem Priester hinüber, um ihm etwas zuzuflüstern. Schließlich schob sie ihren Stuhl zurück und erhob sich.

Dieses Mal lasse ich sie nicht so einfach davonkommen, dachte Giric. Er griff nach dem Tuch neben seinem Teller, wischte sich das Fett von Mund und Fingern und warf es achtlos beiseite.

Lachend verfolgte Colyne Sarras Abgang. „Diese Rose scheint auch Dornen zu haben.“

„Und zwar nicht wenige.“ Giric erhob sich. Die Binsen knirschten unter seinen Stiefeln, als er ihr gemessenen Schrittes folgte, damit weder die Wachen noch sie selbst auf ihn aufmerksam wurden. Und doch bewegte er sich schnell genug, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Seit drei Tagen ließ sie ihn und seine Männer nun schon warten. Und da sie allem Anschein nach vorhatte, sich in ihr Gemach zurückzuziehen, würden es schon bald vier Tage sein. Doch dazu würde er es nicht kommen lassen und noch heute Abend das Gespräch mit ihr suchen.

Sobald er aus dem Blickfeld der Männer im großen Saal verschwunden war, stürmte er immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Wendeltreppe hoch. Vor ihm strich der Saum ihres elfenbeinfarbenen Leinenkleides über die Stufen und verschwand dann hinter einer Biegung.

Giric folgte ihr. Als er um die Ecke trat, sah er sie im Schein der Fackeln klar und deutlich vor sich. „Lady Sarra.“

Ihre Lederschuhe scharrten über den Steinboden der Treppe, als sie zu ihm herumfuhr. Im flackernden Fackelschein wirkte sie wie ein dunkler Engel. Misstrauisch beäugte sie ihn.

Er trat einen Schritt auf sie zu. Warum nur musste sie so verflucht schön sein? Noch mehr jedoch zog ihn ihre Ausstrahlung an.

Sie griff in die Falten ihres Kleides. Gleich darauf hielt sie einen Dolch in der Hand. „Bleibt stehen!“ Ihr unheilverkündender Befehl hallte in dem schwach erleuchteten Treppenturm wider. Doch bei aller Entschlossenheit schwang in ihrer Stimme auch Angst mit.

Allmächtiger, glaubte sie etwa, ihn mit einem Dolch beeindrucken zu können? „Ich hege keine bösen Absichten, Mylady. Ich möchte nur, dass Ihr mir einen kurzen Augenblick Eurer Zeit schenkt.“ Ihre kecke kleine Nase hob sich ein wenig wie der Schild eines Kriegers. „Was fällt Euch ein, mir in meiner eigenen Burg aufzulauern und mich derart in die Enge zu treiben?“

„Wenn Ihr mit mir geredet hättet, statt mir aus dem Weg zu gehen, wäre dies hier nicht nötig.“

Im Fackelschein blitzte die Klinge ihres Dolches auf. „Geht jetzt. Ich werde Euch empfangen, sobald ich es für richtig halte.“

Dachte sie tatsächlich, ihn mit einer Waffe oder einem knappen Befehl loswerden zu können? Er würde ihr das Gegenteil beweisen. Schließlich war er kein Bediensteter, mit dem sie auf diese Weise umspringen konnte. Er trat einen weiteren Schritt auf sie zu. „Wir müssen uns über unsere Abreise unterhalten.“

Sie zuckte zusammen, wich aber nicht zurück.

Er atmete tief ein. „Mylady, unsere Bekanntschaft stand bisher nicht gerade unter einem günstigen Stern.“ Abweisend kniff sie die Augen zusammen. Nur mühsam gelang es ihm, ruhig zu bleiben. Dabei war es nicht gerade hilfreich, dass sie den Dolch nach wie vor drohend gegen ihn gerichtet hielt. Dennoch fuhr er fort: „Lasst uns noch einmal von vorn beginnen, dieses Mal in angemessener Form. Ich würde mich gern vorstellen –“

„Nein!“ Sie trat einen Schritt auf ihn zu, den Dolch fest in der Hand. „Ich selbst entscheide, wann ich Rancourt Castle verlasse. Wie Ihr heißt, ist für mich ebenso unerheblich wie Eure Wünsche. Wenn Ihr meine Geduld noch weiter strapaziert, Sir, werdet Ihr die Nacht in meinem Verlies verbringen. Und dies ohne eine Strohmatratze.“ Majestätisch wie eine Königin verstaute sie ihren Dolch in seiner Scheide und verschwand nach oben.

Giric konnte seinen Zorn nicht länger beherrschen. Er hatte einen Fehler gemacht. Bei einer Frau wie dieser würde nicht einmal ein Heiliger ruhig bleiben können.

Mit einem Fluch auf den Lippen stürmte er die Treppe hinauf und hinter ihr her.

2. KAPITEL

Sarra vernahm die Schritte des wütenden Ritters, doch im selben Moment schon hatte der Schotte sie am Arm gepackt und gegen die Wand gepresst.

Die Kälte des Steins drang durch ihre Haut. Nur wenige Handbreit von ihr entfernt erhob sich sein kräftiger, wie gemeißelt wirkender Körper. Sie konnte den Blick nicht von seiner narbenübersäten mächtigen Hand lösen, die auf ihr ruhte. Mit flatterndem Atem schaute sie schließlich zu ihm auf.

Sein muskulöser Leib verdeckte das Licht, sodass sein Gesicht halb im Schatten lag. Seine harten Gesichtszüge verliehen ihm einen unnachgiebigen Ausdruck und betonten die eisblauen Augen, mit denen er sie musterte. Seine kohlschwarzen Haare verliehen seiner dunklen Erscheinung etwas Unheilvolles.

Sie erschauderte. Jeden Moment würde sie ihre mühsam errungene Selbstbeherrschung verlieren. Bereits beim ersten Blick auf ihn hatte sie geahnt, wie gefährlich dieser Mann war.

Sie war gefangen gewesen in ihrem Zorn auf ihren Vormund wegen seiner Anordnung, seinen Sohn zu heiraten, und so hatte sie schlicht vergessen, dass der schottische Ritter sie um eine Audienz gebeten hatte. Ohnmächtig hatte sie mit der Aussicht gerungen, Rancourt Castle für immer verlassen zu müssen, falls Lord Bretane nicht auf ihre Bitte eingehen und auf dieser Eheschließung bestehen würde. Im ersten Moment hatte sie sich sofort aufmachen wollen, um ihren Vormund von seinem Vorhaben abzubringen. Doch die Angst war stärker gewesen.

Sarra schämte sich für ihr Verhalten gegenüber dem Schotten. Er erledigte einfach nur einen Auftrag, für den man ihn bezahlte. Es war ungerecht, ihm derart aus dem Weg zu gehen. „Entschuldigt“, bat er sie.

Seine Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Sarra versuchte, ihn von sich wegzuschieben.

Er gab nicht nach.

„Lasst mich los.“ Er ging nicht darauf ein, und ihr Mund wurde ganz trocken. Sie befeuchtete ihre Lippen, während er sie gebannt beobachtete.

Der Ritter fluchte leise, und ein neuer beängstigender Gedanke erfüllte sie. Sarra ließ den Blick treppab schweifen, wo die Männer nach wie vor speisten, ohne zu ahnen, in was für einer Gefahr sie sich befand.

Der Ritter beugte den Kopf ein wenig zur Seite, sodass der schwache Schein der Fackeln auf sein Gesicht fiel. Seine eisblauen Augen funkelten noch immer zornig, doch Sarra erkannte auch Verlangen darin.

Bestürzt stemmte sie sich noch entschlossener gegen ihn. „Wenn Ihr mich nicht sofort loslasst, lasse ich Euch hängen!“

Er sah sie verächtlich an und lockerte schließlich seinen Griff ein wenig, ohne sie jedoch freizugeben. „Ihr müsst keine Angst haben, Mylady, dass ich etwas von Euch will. Selbst ein Wildschwein hätte mehr Reiz für mich.“

„W-wie könnt Ihr es wagen?“

„Und wie könnt Ihr es wagen, drei Tage lang meine Bitte nach einer Unterredung zu ignorieren?“

Er hatte recht. Wie sollte er auch wissen, dass seine dunkle Erscheinung sie schmerzvoll an die Banditen erinnerte, die ihre Eltern ermordet hatten? Aber auch an ihr künftiges Schicksal als Frau eines Schotten, den sie verabscheute. „Hier auf Rancourt Castle entscheide ich. Und nicht ich bin ohne Erlaubnis in der Burg umhergeschlichen.“

„Eure Unhöflichkeit ließ mir keine andere Möglichkeit.“

„Ich bin unnachgiebig, doch gerecht.“

Zweifelnd legte er die Stirn in Falten. „Glaubt Ihr selbst etwa, was Ihr da sagt?“

Aufgebracht und zornig erwiderte sie: „Ihr kennt mich überhaupt nicht.“

Er zog seine Augenbrauen zusammen. „So wie Ihr mich nicht kennt.“

Erneut stemmte sie sich gegen seine Brust. Zu ihrer Überraschung ließ er sie los, ohne jedoch einen Schritt zur Seite zu machen.

Ein unheilvolles Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Sie sollte sich vor ihm fürchten. Vor Angst schlottern. Noch nie hatte es ein Mann gewagt, sie auf diese Weise anzufassen. Dennoch verharrte sie regungslos, fasziniert und achtsam.

„Ihr seid gut darin, all jenen aus dem Weg zu gehen, die Euch nicht passen, richtig?“, fuhr er unbeirrt fort. „Stattdessen lasst Ihr andere die Probleme lösen, die Euch lästig sind.“ Der Schotte näherte sich ihr und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, so wie eben, als er sie gefangen gehalten hatte. Sein Blick ruhte auf ihr.

Vor ihrem inneren Auge blitzte das Bild eines Wolfs auf. Dunkel. Wild. Ungezähmt.

Doch niemals würde sie ihm die Befriedigung verschaffen und erkennen lassen, wie sehr er sie verwirrte. Entschlossen schob sie das Kinn nach vorn. „Sobald ich einmal diese Burg verlassen habe, werde ich wohl nie mehr hierher zurückkehren.“

„Also geht Ihr mir lieber aus dem Weg? Ohne mir Eure Gründe darzulegen?“

Was wusste er schon von ihr? Und warum machte sie sich darüber überhaupt Gedanken? „Meine Gründe gehen Euch nichts an.“ So würdevoll wie möglich wandte sie sich um und ging die Treppe hinauf. Von den Wänden hallte allein das Geräusch ihrer Schritte wider, doch sie spürte, wie er ihr hinterherschaute.

Sie wartete.

Schon die Nachricht ihres Vormunds hatte ihr geregeltes Leben aus der Bahn geworfen. Doch mit der Ankunft des Schotten schien das Schicksal sie weiter prüfen zu wollen.

Was ihr Verhältnis zueinander betraf, war das letzte Wort jedenfalls noch lange nicht gesprochen.

Verflucht! Giric schlug das Eingangstor der Burg hinter sich zu. Die eisige Abendluft schnitt ihm beißend ins Gesicht, als er nach draußen trat. Vereinzelt drang Mondlicht durch die dichten Wolken, die am Himmel dahinstürmten. Die bleichen Strahlen vermischten sich mit dem Schein der Fackeln und verliehen der gut erhaltenen Festung eine erhabene Schönheit.

Eines Tages würde auch seine Burg nicht minder stolz dastehen. Von diesem Ziel würde er sich weder von Lady Sarra noch von sonst jemandem ablenken lassen.

Giric bemühte sich, nicht mehr an die Engländerin zu denken, doch immer wieder kam ihm in den Sinn, wie verletzlich sie gerade eben im Treppenturm gewirkt hatte.

Warum nur beschäftigte ihn die Traurigkeit in ihren Augen? Er fühlte sich von ihrer Verletzlichkeit angezogen, zugleich deutete ihr Argwohn darauf hin, wie schwierig die bevorstehende Reise werden dürfte. Dabei hatte er auch ohne sie schon mehr als genug Probleme. Ganz zu schweigen davon, dass sie einem anderen versprochen war. Dennoch ging ihm nicht das Bild aus dem Sinn, wie ihr Mund kurz zuvor auf der Treppe nur wenige Handbreit von seinem entfernt gewesen war. An seinen Schläfen machte sich ein dumpfes Pochen bemerkbar. Hatte er etwa wirklich gedacht, dass seine Schwester Elizabet die Einzige war, die ihn um den Verstand bringen konnte? Er ließ seinen Blick über die dunklen Burgmauern schweifen. Irgendwo dort mussten sich Feen versteckt halten, die für das Durcheinander in seinem Kopf verantwortlich waren.

Missmutig zog er sich die Kapuze über den Kopf und durchquerte den Hof. Unter seinen Füßen knirschte der Schnee. Bei jedem Schritt erinnerte er sich an den schmerzlichen Ausdruck auf Lady Sarras Gesicht.

Er stieß einen Fluch aus und umfasste den Griff seines Breitschwerts, um sich daran zu erinnern, dass er einen Auftrag hatte, für den man ihn mit Gold entlohnte. Dafür war er nach Rancourt Castle gekommen, und nicht etwa, um sich die Sorgen eines anderen Menschen zu eigen zu machen.

Giric verzog das Gesicht und sah zum Himmel hinauf. Als ob Lady Sarra ihn je um Rat bitten würde. Was für ein lächerlicher Gedanke! Er musste ein Narr sein, wenn er glaubte, dass sie ihm je auch nur im Geringsten vertrauen würde. Drei Tage war er nun hier und hatte sich in dieser kurzen Zeit bereits mit der Frau überworfen, deren Schutz er übernommen hatte.

Was war nur in ihn gefahren, dass er sich ihr auf derart einschüchternde Weise genähert und sie sogar angefasst hatte? Und das, obwohl er das Gold für diesen Auftrag so dringend brauchte. Es waren keineswegs leere Worte gewesen, als sie ihm gedroht hatte, ihn von einer Wache in den Kerker werfen zu lassen. Diesen Albtraum wollte er nicht noch einmal erleben, das hatte er sich selbst geschworen.

Der Klang seiner Stiefel auf den steinernen Stufen hallte in dem Treppenhaus wider, das zum Mauergang hinaufführte. Oben nickte er einem Wachmann zu seiner Linken zu und folgte dem verschneiten Gang. Das Licht des Mondes fiel durch die Zinnen. Er sah, wie die Felder in der Ferne einem dichten Wald wichen. Nebelfetzen umwaberten seidenen Strähnen gleich die Bäume und schwebten über dem mondbleichen Schnee.

Auch wenn dies englisches Gebiet war, glich die raue Landschaft rund um die Festung jener seiner Heimat auf der anderen Seite der Grenze.

Knirschend öffnete sich in dem Turm vor Giric ein Fenster. Er schaute hinauf und erkannte die Frau, die für das gegenwärtige Chaos in seinem Leben verantwortlich war.

Lady Sarra lehnte sich aus dem Fenster und sah in die Nacht hinaus. Ihr langes goldenes Haar flatterte im Wind.

Giric hielt inne. Er wartete nur darauf, von ihr entdeckt und mit misstrauischen Blicken durchbohrt zu werden, ehe sie schließlich das Fenster zuwerfen würde. Mit ihrem Argwohn konnte er leben. Doch nun sah er eine unschuldige Jungfrau vor sich, deren unverändert traurige Miene in ihm den Wunsch hervorrief, sie zu beschützen.

Er trat ein wenig näher. Seine Lederstiefel knirschten, als er auf einer schneebedeckten Eisfläche stehen blieb.

Dennoch richtete sie ihren Blick nicht nach unten.

Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er im Schatten stand und die Geräusche, die er verursachte, vom Wind übertönt wurden. Sie ahnte nichts von seiner Anwesenheit.

Mehrere Augenblicke vergingen.

Giric verfluchte seine Unentschlossenheit. Entweder trat er jetzt ins Licht hinaus und gab sich zu erkennen, oder er ging fort. Doch überwältigt von ihrem gequälten Gesichtsausdruck konnte er nicht anders, als sie anzuschauen.

Seine Brust zog sich zusammen, und eine allgemeine Anspannung ergriff von ihm Besitz.

Erschüttert von den Empfindungen, die sie in ihm hervorrief, wandte er sich um und schritt davon.

Am übernächsten Tag drängten sich dunkle Wolken am Himmel, aus denen dicke Schneeflocken zur Erde fielen. Giric überprüfte bereits zum dritten Mal die Riemen seines Sattels. Alle Vorbereitungen zum Aufbruch waren abgeschlossen. Rechts von ihm scharrte ein Pferd mit den Hufen. Er konnte die Unruhe des Tieres nur zu gut nachempfinden.

Die Glocken läuteten zum ersten Morgengebet.

„Herr im Himmel, wo bleibt sie nur?“, murmelte Giric.

Colyne zuckte mit den Schultern. „Offensichtlich entscheidet die Dame selbst, wann es ihr genehm ist zu erscheinen.“

Wann es ihr genehm ist? Wie stur sie doch war! Giric schaute zur Burg, auf der sich der Neuschnee mehrere Handbreit hoch auftürmte.

Noch immer keine Spur von Sarra.

Zumindest hatte sie endlich eingewilligt, die Reise anzutreten. Er rieb die Hände aneinander, um sie zu wärmen. „Ich habe ihr erklärt, dass wir im ersten Morgenlicht aufbrechen müssen. Nach dem Unwetter von vergangener Nacht dürften wir nur langsam vorankommen und bieten ein leichtes Ziel.“

Colyne rückte das Halfter seines Pferdes zurecht. „Rechnest du damit, dass uns Räuber auflauern könnten?“

Giric seufzte. Er war nur allzu vertraut mit dem Unwesen der umherziehenden Banditen. „Nein, die meisten von ihnen werden zu Hause an ihrem Torffeuer sitzen.“

„Was macht dir dann Sorgen?“

Giric schaute noch einmal zum Eingangstor, ehe er sich abwendete. Verärgert dachte er daran, dass ihm bereits beim Aufwachen Lady Sarra durch den Kopf gespukt war. Er ließ von den Lederriemen seines Sattels ab. „Durch König Edwards Anspruch auf Schottland ist alles in Aufruhr, und die Unruhen könnten sich rasch zu einem Krieg auswachsen. Englischen Truppen über den Weg zu laufen, die auf einen Kampf vorbereitet sind, ist das Letzte, was ich will.“

„Verstehe.“ Colynes Kettenhemd klirrte, als er sich mit einem Knie an der Flanke seines Pferdes abstützte, um seinen Sattelgurt festzuzurren. „Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mit den Truppen des englischen Königs zusammenstoße. Seine Ritter fragen gar nicht erst lange, wer man ist. Wenn Schottland endlich wieder einen König bekommt, können wir alle tief durchatmen.“

„Robert Bruce The Competitor muss unser neuer König werden. Kein anderer hat einen vergleichbaren Anspruch auf die schottische Krone“, meinte Giric und fragte sich insgeheim, was der englische König wohl als Nächstes im Schilde führen mochte. Er konnte nur hoffen, dass König Edward noch keine Truppen zur Demonstration seiner Stärke in den Norden entsandt hatte.

Colyne strich seinem Pferd über den Widerrist. „Aber angesichts seiner Herkunft beansprucht auch Sir John Balliol den Thron vollkommen zu Recht für sich.“

„Balliol fehlt das Rückgrat, um es mit dem englischen König aufzunehmen. Der Mann wäre nicht mehr als eine Marionette von König Edward.“

„Ja, das fürchte ich auch“, stimmte Colyne ihm zu. „Hoffentlich trifft der schottische Rat bei seiner Wahl eines neuen Königs eine weise Entscheidung.“

Am Eingang der Burg entstand Bewegung. Giric wandte sich um und erstarrte.

Lady Sarra trat umgeben von ihren Leuten nach draußen. Ein sanftes Lächeln lag auf ihren Lippen. Am Fuß der Treppe hielt sie inne und legte einem spindeldürren Mann die Hand auf die Schulter – dem Kastellan, wie Giric während seines Aufenthalts erfahren hatte.

Ein Junge in vielfach geflickten Hosen und einem abgetragenen Umhang drängte sich zwischen dem Priester und dem beleibten Kerzenmacher hindurch nach vorn und hielt Sarra ein notdürftig verpacktes Geschenk entgegen.

Neugierig wartete Giric auf Sarras Reaktion. Sie dankte dem schmuddeligen Jungen nicht nur, sondern kniete sich nieder und schloss ihn fest in die Arme.

„Sie lässt sich ziemlich viel Zeit“, murrte er, als sie jedem ihrer Bediensteten einzeln Lebewohl sagte. Doch im Grunde sah Giric mit Wohlgefallen, wie herzlich sie sich von allen verabschiedete.

Aufmerksam musterte er ihre Reisekleidung. Er hatte erwartet, dass sie aufwendig zurechtgemacht aus der Burg kommen würde. Doch ihr Kammgarnumhang über dem einfachen Wollkleid und ihre Lederstiefel waren wie geschaffen für die bevorstehende Reise. Wenn sie ihn um Rat gebeten hätte, so hätte er ihr genau diese Ausrüstung empfohlen.

Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen. Ihr Auftreten sollte ihn froh stimmen, war er doch ein Freund praktischen Denkens. Und dennoch war er so übel gelaunt wie ein Dachs. Vermutlich weil die misstrauische, zuweilen unfreundliche Burgherrin der letzten Tage so gar nichts gemein hatte mit der herzlichen, liebenswürdigen jungen Frau, als die sie sich nun präsentierte.

Die Menge teilte sich, und Lady Sarra wandte sich in seine Richtung. Der fürsorgliche Ausdruck verschwand aus ihrem Gesicht und machte dem vertrauten kühlen Argwohn Platz.

Eine tiefe Verstimmung überkam ihn, doch zugleich auch großes Bedauern. Einen Augenblick lang wünschte er sich, sie würde ihn genauso zärtlich ansehen wie ihre Bediensteten.

Er umfasste seine Zügel und verfluchte sich insgeheim dafür, so ein Narr zu sein. Abgesehen davon, dass Lady Sarra bereits einem anderen versprochen war, würde er bei seiner finanziellen Lage niemals einer Frau von ihrem Stand den Hof machen können. Auch seine jahrelangen Raubzüge dürften sie wohl kaum beeindrucken.

Genug, ermahnte er sich. Es war an der Zeit aufzubrechen. Er reichte seine Zügel dem Stallknecht und ging auf Sarra zu. „Wir sollten schon lange unterwegs sein.“

„Eine Sache muss ich noch erledigen“, erklärte sie kühl.

„Mylady, angesichts des Schnees können wir nicht länger warten.“

Ihre grauen Augen blitzten auf. „Ihr werdet Euch noch ein wenig gedulden müssen.“

Ein Muskel zuckte in seiner Wange, und nur mit aller Willenskraft verkniff er es sich, sie scharf zurechtzuweisen. Obwohl sie es mehr als verdient hätte. Wie war er auch nur einen Moment lang darauf gekommen, sie für liebenswürdig zu halten? Am Abend zuvor mussten in der Tat Feen seinen Geist verwirrt haben. Was ihm wie Traurigkeit erschienen war, war vermutlich nichts anderes als Zorn gewesen.

Ihre Gefühle drohten Sarra zu überwältigen. Sie bemerkte die aufkeimende Wut in den Augen des Ritters, als sie sich von ihm abwandte. Konnte es ihr nicht egal sein, was er von ihr dachte? Man zwang sie, ihre Heimat zu verlassen, und das wohl für immer. Ihr Zuhause, das ihr alles bedeutete. War ihm denn gar nicht bewusst, was sie aufgeben musste?

Oder kümmerte es ihn einfach nur nicht?

Gereizt überquerte sie den Hof. Sie konnte es kaum abwarten, dass der Ritter mit seinen Männern endlich wieder aus ihrem Leben verschwand. Am Treppenturm angekommen, eilte sie die Stufen hinauf. Oben folgte sie dem Mauergang zu einer Lehmhütte in der äußersten Ecke.

Ein Flügelschlagen erfüllte bei ihrem Eintreten den kleinen Raum. Die Luft duftete nach Heu, doch lag in ihr auch der typische strenge Vogelgeruch. Erinnerungen an ihren Vater und ihre gemeinsamen Stunden hier oben überfielen sie, und ihr Herz zog sich zusammen. Mit zitternden Händen schloss sie die Tür.

Rechts von ihr erklang ein Kreischen und schreckte sie aus ihren schwermütigen Gedanken auf. Mit einem tränenerstickten Seufzen wandte sie sich einem Wanderfalken zu. „Ruhig, Sir Galahad.“

Der majestätische Greifvogel war mit Lederriemen festgebunden und scharrte mit den Klauen über seine hölzerne Sitzstange. Er legte seinen Kopf schief.

Sarra streifte einen dicken Lederhandschuh über und griff in einen Beutel, aus dem sie ein Fleischstück hervorholte, um es dem Vogel zu geben.

Nachdem er es kurz beäugt hatte, riss der Falke ihr das Fleisch aus den Fingern.

„Du warst schon immer wählerisch“, tadelte sie ihn sanft, während er das Fleischstück hinunterschlang. Ihr wurde ganz eng in der Brust. War es wirklich möglich, von Rancourt Castle wegzugehen? Die Burg war ihre Heimat, hier hatte sie sich nach der furchtbaren Tragödie ein eigenes Leben aufgebaut.

Das Schreiben ihres Vormunds hatte alles verändert. Was sollte sie tun, wenn er auf der Ehe bestand? Selbst wenn sie sich dem erfolgreich widersetzte, würde sie im Kloster enden.

So oder so konnte sie nur verlieren.

Sir Galahad sah sie mit geneigtem Kopf erwartungsvoll aus wachsamen schwarzen Augen an.

Eine Träne rann ihr über die Wange bei der Erinnerung an den Tag, als sie und ihr Vater die Mutter des Greifvogels tot auf dem Waldboden entdeckt hatten. Es war Frühling gewesen, weshalb ihr Vater sofort ein Falkennest in der Nähe vermutet hatte. Nach dem Tod der Falkenmutter, so Sarras Vater, würde der sichere Tod auch auf die Jungen warten.

Viele Stunden hatten sie gesucht, ehe sie schließlich den jungen Greifvogel in seinem Nest aus Ästen und Erde entdeckt hatten. Eingewickelt in ein Tuch hatten sie ihn nach Hause gebracht. Zu Sarras großer Freude hatte ihr Vater ihr den Jungvogel geschenkt und ihr später beigebracht, wie man mit dem älter gewordenen Falken umgehen musste.

„Eek, eek“, kreischte Sir Galahad.

Sarra wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ich werde dich auch vermissen.“ Zärtlich strich sie ihm über die blaugrauen Schwingen, schloss die Augen und gab sich dem warmen Gefühl hin, das die Erinnerung an die Vergangenheit in ihr hervorrief.

Reine, unschuldige Freude füllte ihr Herz. Ihr kamen die zahllosen Geschichten in den Sinn, die ihr Vater von König Artus, Camelot, seinen treuen Rittern und ihren Abenteuern erzählt hatte.

Sir Gawain und Sir Lancelot mochten König Artusʼ engste Vertraute gewesen sein, dennoch war Sir Galahad, Sir Lancelots Sohn, immer Sarras Lieblingsritter gewesen, weil er seine Herkunft verschwiegen und es nur aufgrund seiner eigenen Verdienste zum Ritter geschafft hatte. Zutiefst hatte sie die Aufrichtigkeit des tapferen Mannes bewundert.

Stolz schaute sie den Wanderfalken an, der mit seiner Treue zu Recht den Namen des Ritters aus der Artuslegende trug. Doch Männer wie Sir Galahad gab es leider nur in irgendwelchen Geschichten.

Jemand klopfte sachte an die Tür.

Sarra wischte sich die Tränen ab. „Herein.“

Die Tür öffnete sich mit einem dumpfen Knarren.

Vor Sarra stand der Mann, den sie in diesem Moment wirklich am allerwenigsten sehen wollte.

Das Sonnenlicht umfing die Gestalt des Ritters in seinem Kettenhemd, und sein Gesicht lag im Schatten.

Der Augenblick schien sich endlos zu dehnen.

„Mylady, seid Ihr bereit zum Aufbruch?“ Seine weiche klangvolle Stimme erinnerte sie an Samt. Er kam näher. „Seid Ihr krank?“

Dass er sich derart fürsorglich nach ihrem Befinden erkundigte, traf sie vollkommen unvorbereitet. Ihre Abwehrhaltung bröckelte, und alles drängte sie dazu, sich seinem Mitgefühl hinzugeben, das er ihr offensichtlich entgegenbrachte und das sie gerade jetzt so nötig hatte.

Sie sah ihn unverwandt an, während all ihre Sorgen aus ihr heraussprudelten. „Wie kann ich gerade jetzt von hier fortgehen? Amice, meine Näherin, erwartet in den nächsten zwei Wochen ein Kind. Ich muss mit den Pächtern sprechen, ob ihre Vorräte ausreichen. Außerdem muss ich mit meinem Verwalter über die nächste Aussaat reden. Natürlich habe ich alle möglichen Vorkehrungen getroffen, doch was, wenn ich nie zurückkehren sollte? Was wird dann? Ich kann nicht …“ Überwältigt schüttelte sie den Kopf.

„Mylady“, sagte er ruhig und einfühlsam, „es ist nie leicht, in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen.“

Seine verständigen Worte verrieten, dass auch er bereits manch schwierige Situation durchgemacht haben musste. Wie konnte es auch anders sein? Als Ritter dürfte er manchen Kampf erlebt und mehr als einmal dem Tod ins Auge gesehen haben. Sie zögerte. Wie konnte sie auch nur einen Moment daran denken, diesem Schotten zu vertrauen? Einem Mann, den allein die Aussicht auf ein paar Goldstücke hierhergelockt hatte.

Sir Galahad kreischte und schlug mit den Flügeln, während er auf seiner Sitzstange hin und her trippelte.

Sarra wandte sich dem Wanderfalken zu und sprach leise auf ihn ein und strich ihm dabei über die Flügel. Der Greifvogel beruhigte sich. Sie schaute zu dem Eindringling hinüber, der einen Moment lang in ihr den Wunsch geweckt hatte, ihm zu vertrauen.

„Wir sollten so schnell wie möglich aufbrechen, Mylady. Der Himmel zieht sich zu, und noch vor dem Abend könnte uns ein neues Unwetter drohen.“

„Ich brauche nur noch einen kurzen Augenblick.“

„Schon zu Eurer eigenen Sicherheit können wir nicht länger warten.“

Sie wollte ihm widersprechen, doch dann erkannte sie, dass sie sich von ihrem Verstand und nicht ihren Gefühlen leiten lassen musste. „Also gut, gehen wir.“

Giric nickte ihr zu und öffnete die Tür. „Mylady.“

Sie wandte sich ein letztes Mal zu dem Falken um. „Pass gut auf dich auf, Sir Galahad. Ich werde dich vermissen.“ Ohne den Blick des Schotten zu erwidern, schob sie sich an ihm vorbei. Es war an der Zeit, die Reise anzutreten. Je eher sie den Ritter loswurde, desto besser.

3. KAPITEL

Der raue, scharfe Wind zerrte an Giric. Er beugte sich noch tiefer über den Hals seines Pferdes, das sich erneut durch eine Schneewehe kämpfte. Der Schnee drang kalt und stechend durch die Ritzen seines Umhangs.

Er schaute zu Lady Sarra hinüber, die einige Schritte neben ihm ritt. Durch das dichte Schneetreiben konnte er kaum ihre Umrisse erkennen.

Er lenkte sein Pferd um einen großen Felsen. Ein eisiger Windstoß ließ ihn schaudern. Er hob seinen Blick und sah nichts als eine nicht enden wollende weiße Fläche. Ihnen blieb keine andere Wahl, als sich einen schützenden Unterstand zu suchen.

„Mylady?“ Der Wind übertönte seine Stimme. „Lady Sarra!“

Ohne sich zu regen oder ihm zu antworten, verharrte Sarra im Sattel.

Mit einem Zug an den Zügeln dirigierte er sein Pferd zu der widerspenstigen Adelsfrau. Vom ersten Moment an hatte sie den Ritt zu einer wahren Geduldsprobe werden lassen. Hatte er etwa erwartet, dass sie ausgerechnet jetzt Vernunft annahm und ihm antwortete?

Giric zupfte an ihrem Umhang, der von einer dicken Schneeschicht bedeckt war.

Sie drehte sich kaum merklich zu ihm um. Ihre Kapuze hielt ihr Gesicht verdeckt.

„Wir müssen uns einen Unterschlupf suchen“, rief er ihr zu.

Über ihnen ächzten die Bäume unter der Schneelast.

Sarras Pferd scheute vor einer alten Eiche, deren kahle Äste sich im Wind wie knochige Finger in den Himmel reckten. Sarra ritt davon.

Schnee drang ihm in den Nacken. Er zog die Kapuze enger zusammen und sah seinem Schützling durch das weiße Treiben nach, während Sarra sich immer weiter entfernte. Sie hatte den Verstand eines Schafs.

Er wandte sich um zu seinen Männern und zu Lady Sarras Magd und ließ dann seinen Blick über die Gegend schweifen, ohne dass er in dem unendlichen Weiß auch nur einen Orientierungspunkt auszumachen vermochte.

Den ganzen Tag hindurch hatte es ununterbrochen geschneit. Im Verlauf der letzten Stunde war der Schnee zu dicken schweren Flocken geworden, die einem die Sicht nahmen. Die sich verfinsternden Wolken deuteten darauf hin, dass das Unwetter die ganze Nacht hindurch mit unverminderter Kraft anhalten würde.

Sie mussten einen Schutz finden. Auf der Stelle.

Giric presste seinem Pferd die Schenkel in die Flanken und schloss zu Lady Sarra auf. Er berührte sie an der Schulter und zeigte dann zu einer Formation großer Felsen vor ihnen. „Reitet dorthin.“

Ihr Pferd kämpfte sich durch die immer tiefer werdenden Schneewehen. Torkelnd, wie betrunken, wandte sie sich zu ihm um. Der Wind riss ihr die Kapuze vom Kopf.

Eiszapfen hingen ihr an den Haaren, in den Augenbrauen hatten sich Eiskristalle gebildet. Die vereisten Locken schlugen ihr ins Gesicht, und sie starrte ihn aus weit geöffneten wirren Augen an. Sie unternahm keinerlei Versuche, sich zu schützen.

„Wir müssen ein Lager aufschlagen!“, erklärte er im Befehlston und hoffte auf eine Reaktion von ihr. Und sei es nur, dass sie wütend wurde.

Ihr Blick blieb leer.

Endlich ging ihm auf, warum sie ihm nicht geantwortet hatte. Sie war am Erfrieren und hatte seine Worte gar nicht registriert. Giric nahm ihre Zügel, dann hob er sie aus dem Sattel und setzte sie vor sich auf sein Pferd.

Sie leistete keinerlei Widerstand.

Autor

Diana Cosby

Diana Cosby ist eine internationale Bestsellerautorin. Ihre preisgekrönten historischen Liebesromane, die im mittelalterlichen Schottland spielen, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bevor sie Autorin wurde, machte Diana Karriere bei der Navy, zog in dieser Zeit 34 Mal um und lernte auf diese Weise viele unterschiedliche Kulturen kennen. Ihre Zeit in Europa...

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