Wird sich dieser Traum erfüllen?

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Sogar ein Herz aus Stein wäre von dieser Schönheit berührt! Als Brice, der reiche Earl of Palliser, nach zweijähriger Brieffreundschaft der jungen Emma endlich persönlich gegenübersteht, beginnt sein Herz zu rasen. Aber kann er ihr sagen, wer er wirklich ist?


  • Erscheinungstag 16.12.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733754501
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

3431 41st St., N.W.

Apartment #202

Washington, D.C. 20017

U.S.A.

9. Juni 1998

The Right Hon. the Earl of Palliser

Sheldale House

St. Peter Port

Guernsey, Channel Islands GY1 2NU

U.K.

Sehr geehrter Lord Palliser,

bitte verzeihen Sie die Kühnheit, mit der ich mich direkt an Ihre Residenz wende. Ich bin pharmazeutische Botanikerin am Botanischen Labor NBL in Washington, D.C. und habe die Absicht, vom 5. bis zum 12. Juli nach England zu reisen.

In John Turnhills Buch über englische Landhäuser sah ich ein Foto der Gartenanlage von Sheldale House. Es gibt Anlass zu der Vermutung, dass dort eine sehr seltene Heilpflanze wächst.

Ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie mir während meines Aufenthaltes in England eine Besichtigung Ihrer Gärten gestatten würden.

Meine Anfrage ist zweifellos ungewöhnlich, aber ich kann Ihnen versichern, dass Ihre Erlaubnis für meine Arbeit im Botanischen Labor NBL in Washington von größter Bedeutung ist.

Da ich noch ganz am Anfang meiner Reiseplanungen stehe, kann ich Ihnen zurzeit leider keine weiteren Auskünfte geben.

Bitte lassen Sie mich wissen, ob eine Besichtigung Ihrer Gärten für Sie überhaupt infrage kommt. Sie erreichen mich entweder unter der oben angegebenen Adresse oder, im Juli, im Sunnington Hotel, Hampstead, London.

Hochachtungsvoll,

Emma Lawrence

3431 41st St., N.W.

Apartment #202

Washington, D.C. 20017

U.S.A.

9. Juni 1998

18 Cecile Park Road

Crouch End

London, N9 AS

U.K.

Lieber John,

entschuldigen Sie bitte die kitschige Washington-Ansicht auf dieser Postkarte, aber ich wollte Ihnen so schnell wie möglich schreiben, und deshalb musste ich mich mit der Auswahl vom Kiosk gegenüber zufriedengeben.

Entweder diese Postkarte oder der scheußliche Briefkopf vom Labor! Übrigens, als ich bei der Auskunft nach Ihrer Telefonnummer fragte, hieß es, Sie seien nicht eingetragen!

Wie dem auch sei, ich habe großartige Neuigkeiten! Einen Tusch, bitte: Wir werden uns endlich persönlich treffen!

Das Labor schickt mich vom 5. bis zum 12. Juli nach England.

Am 6. und 7. nehme ich an einem Symposium teil, aber danach bin ich zeitlich sehr flexibel, abgesehen von ein paar Kleinigkeiten, die ich zu erledigen habe. Ich hoffe, Sie können ein wenig Zeit erübrigen …? Ich bin äußerst gespannt, wie Sie wohl aussehen (warum haben Sie mir denn nie ein Foto von sich geschickt?!) Auch heute habe ich wieder nur Zeit für einen kurzen Gruß, aber so ist es hier nun mal, Sie kennen das ja.

Sollte meine Karte Sie nicht mehr rechtzeitig erreichen, finden Sie mich ab dem 5. Juli im Hotel Sunnington in Hampstead.

Bin sehr in Eile! Bis bald!

Herzlichst,

Emma

1. KAPITEL

„Soll das heißen, dass diese amerikanische Gärtnerin, der du seit zwei Jahren unter meinem Namen Liebesbriefchen schreibst, jetzt nach London kommt und dich treffen will?“

Robert Brice Sorrelsby Palliser, der siebzehnte Lord Palliser, betrachtete seinen Freund John Turnhill hinter sich im Spiegel. „Sie ist pharmazeutische Botanikerin, und unsere Briefe würde ich kaum als ‚Liebesbriefchen‘ bezeichnen. Aber davon abgesehen hast du recht, ja.“

John lächelte spöttisch. „Und nun hättest du gern meine Erlaubnis, das Theater weiterzuspielen? Mit John Turnhill in der Hauptrolle, verkörpert von dir?“

Brice nickte ratlos. „Ich weiß nicht, was ich sonst tun sollte.

John schüttelte belustigt den Kopf. Das Dilemma seines Freundes bereitete ihm sichtlich Vergnügen. „Ich kann es kaum fassen. Ist das derselbe Brice Palliser, der die erfolgreichste Tageszeitung Großbritanniens verkaufte, weil er ihre Art von Journalismus für ‚unseriös‘ hielt?“

„Sie ist unseriös.“

John lachte lauthals auf. „Das müsste allerdings doch auch für die Tatsache gelten, dass du dich für jemand anderen ausgibst.“

Brice holte tief Luft. Er wollte Johns Behauptung scharf zurückweisen, brach dann aber ab. John hatte recht. Seit zwei Jahren schon korrespondierte Brice mit Emma Lawrence unter Namen und Adresse von John Turnhill, dessen Londoner Stadthaus nur wenige Kilometer von seinem eigenen entfernt war. Unbeschadet seiner Gründe – er hatte sehr gute, jedem einleuchtende Gründe – musste das natürlich eigentlich als Betrug bezeichnet werden.

Vor zwei Jahren hatte John einen Fotoband über englische Landhausgärten veröffentlicht. Emma, die auf einem Foto des Gartens von Brices Familiensitz, Sheldale House auf der Kanalinsel Guernsey, eine sehr seltene Pflanze entdeckte, hatte John brieflich um weitere Auskünfte gebeten. Da aber Brice mit der Pflanze vertrauter war als er, hatte er den Brief an Brice weitergegeben, und Brice hatte für John geantwortet. Das schien damals der beste und einfachste Weg, Emmas Anfrage zu erwidern.

Anfangs war Brices Korrespondenz mit Emma sehr unpersönlich gewesen. Doch dann hatte sie ihm wieder geschrieben, und etwas in ihrer Antwort hatte ihn innerlich berührt. „Ich musste unwillkürlich auflachen, als Sie erwähnten, dass Sie gerade ein ‚trauriges Hühnchen‘ in die Mikrowelle schieben“, schrieb sie. „Ob Sie es glauben oder nicht, vor mir auf dem Tisch steht gerade dieselbe Mahlzeit. Langsam habe ich den Eindruck, wir sind aus dem gleichen Holz geschnitzt. Wenn Sie mir jetzt noch erzählen würden, es sei trotz größter Mühe verbrannt und zäh wie Gummi, wäre ich sicher …“

Er hatte ihr wieder geschrieben, und um ihret- und um seinetwillen wollte er die Illusion nicht zerstören, die er erzeugt hatte. Noch bevor es ihm selbst klar wurde, hatte sich zwischen ihnen eine tiefe Freundschaft entwickelt. Und plötzlich war es zu spät, ihr zu sagen, dass er nicht der war, von dem sie dachte, dass er es wäre.

„Wie entscheidest du eigentlich, wann eine Lüge gerechtfertigt ist und wann nicht?“, fragte John und setzte ein herausforderndes Grinsen auf sein sommersprossiges Gesicht.

„Es war keine gewöhnliche Lüge“, entgegnete Brice ruhig. „Die Absicht macht den Unterschied. Ich habe Emma weder arglistig über meinen wahren Namen getäuscht, noch will ich sie ausnutzen. Außerdem weißt du ebenso gut wie ich, dass ich den ersten Brief nur unter deinem Namen geschrieben habe, um dir einen Gefallen zu tun. Ich wollte dir einfach aus der Klemme helfen. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass sich irgendeine Art persönlicher Korrespondenz daraus ergeben könnte.“

„Komm schon, alter Junge.“ John klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Du hattest fast zwei Jahre Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen. Warum hast du es nicht getan?“

„Es ist ein wenig merkwürdig, das gebe ich zu.“ Die Worte kamen ihm nur stockend über die Lippen. Sogar die Wahrheit hörte sich in seinen Ohren wie eine Lüge an. „Um ehrlich zu sein, sie hat einen … einen Spleen, wie sie es nennt, mit der Aufrichtigkeit.“

„Einen Spleen?“

„Es ist ihr sehr ernst. Und das ist gut so.“ Emma hatte ihn ins Vertrauen gezogen, und deshalb wollte er nicht mehr dazu sagen. Keinesfalls würde er John in die Einzelheiten einweihen, gleichgültig, wie sehr es seinen eigenen Interessen dienen würde. „Tatsache ist, als ich den Zeitpunkt für gekommen hielt, ihr die Wahrheit zu sagen, war es schon zu spät.“

„Es ist niemals zu spät, einer Frau zu sagen, dass du Lord Palliser bist.“ John lachte und wies mit einer Handbewegung in den prachtvoll ausgestatteten Raum. „Ich bin sicher, sie wäre begeistert, wenn sie deine wahre Identität erführe. Es wäre weitaus aufregender für sie als mein langweiliges altes Ich.“

Brice warf ihm einen ernsten Blick zu. „Nein. Das hier interessiert sie nicht.“

John beobachtete den Freund einen Moment lang. Durch ein hohes, schmales Fenster fiel sonniges Licht auf einen kostbaren Sessel aus der Zeit Ludwigs XVI. John setzte sich. „Selbst wenn dem so wäre, ich sehe nicht, wie du das Problem lösen willst. Es gibt eine Menge Leute in diesem Land, die dich auf den ersten Blick erkennen würden. Ganz besonders die Frauen, die Zeitschriftenartikel lesen wie ‚Die zehn begehrtesten Junggesellen in Europa‘. Wie gedenkst du diese Art der Enttarnung zu verhindern?“

Brice seufzte tief. John hatte wieder einmal recht. Als erfolgreicher Unternehmer mit uraltem Adelstitel stand er seit Jahren im Blickpunkt des öffentlichen Interesses, und von Zeit zu Zeit erfuhr er von einer Zeitschrift, die ihn auf die Liste der heiratsfähigen Junggesellen gesetzt hatte. „Emma würde diese Zeitschriften nie lesen.“

„Und wenn doch?“

Brice zuckte mit den Schultern. Er war sicher, dass sie es nicht tat. „Wie viele Leute würden mich leibhaftig wiedererkennen, nachdem sie gerade ein oder zwei schlecht reproduzierte Fotos von mir gesehen hätten?“

„Wenn du mich fragst, bist du sogar auf schlechten Fotos gut wiederzuerkennen.“

Brice betrachtete sich eingehend in dem vergoldeten Wandspiegel. Sein dunkles, leicht gewelltes Haar war zwar ein wenig länger als üblich, sah aber dennoch nicht ungewöhnlich aus. An der markanten Gesichtsform der Pallisers – hohe Wangenknochen und eine ausgeprägte Stirn – war er tatsächlich leicht zu erkennen. Selbst die grünen Augen, die er von seinem Vater geerbt hatte, schienen ihm jetzt irgendwie auffallend.

„Und wenn …“ John unterbrach seine Gedanken „Und wenn du es einfach riskierst, ihr offen und ehrlich die Wahrheit zu sagen und dem sprichwörtlichen Schicksal seinen Lauf zu lassen? Das scheint mir alle Mal besser, als sich noch länger den Kopf zu zerbrechen.“

„Ich möchte sie nicht verlieren“, hörte Brice sich sagen. Und ihm wurde bewusst, dass es die Wahrheit war. Vielleicht war er egoistisch, aber er wollte die Freundschaft zu Emma um jeden Preis bewahren. „Es ist die erste und einzige Beziehung, die jemand um meiner selbst willen zu mir aufrechterhält und nicht wegen dieser … dieser Maskerade.“ Hilflos deutete er auf das prunkvolle Mobiliar.

John ahmte ihn nach. „Wenn du diese Maskerade verleugnest, verleugnest du dann nicht einen großen Teil von dem, was du wirklich bist?“

Brice sah der Handbewegung hinterher, mit der John auf die prächtige Einrichtung deutete. Orientalische Teppiche bedeckten den matt glänzenden Holzfußboden. Kunstwerke und Gobelins von unschätzbarem Wert schmückten die hohen Wände. Sein Blick fiel auf ein Gemälde von Remington, das zweifellos teurer war als das Eigenheim mancher Leute. Nein, das war beileibe nicht der Eindruck, den er Emma von seinem Leben vermittelt hatte. „Vielleicht hast du recht“, meinte er seufzend.

John nickte zustimmend. „Und außerdem hast du meinen Namen für dein Versteckspiel benutzt. Zwei dicke Lügen, in die du verstrickt bist wie eine Spinne ins eigene Netz.“

Unglaublich verstrickt, stöhnte Brice innerlich. Fast schon krankhaft gespalten. Doch für alles, was er von sich verschwiegen hatte, entdeckte er etwas noch Wichtigeres. Etwas, was in vielerlei Hinsicht zu einer anderen, einer höheren Wahrheit gehörte. Das war der Kern seines Problems. Einer der Hauptgründe für Brices Widerwillen, Emma seine wirkliche Identität zu offenbaren, lag darin, dass er in seinen Briefen eine nie gekannte Freiheit genoss. Dort konnte er der Mann sein, der er wirklich sein wollte, aber sonst nicht sein durfte. Dort war er gelöst, fantasievoll, ja manchmal sogar albern. Niemals hatte er die vielen Pflichten angesprochen, die er als Person des öffentlichen Lebens, als Verwalter seiner historischen Residenzen oder als Leiter eines internationalen Unternehmens zu erfüllen hatte. Die schwere Last dieser Verpflichtungen fiel von ihm ab, wenn er den Füller als „John“ in die Hand nahm.

Emma wäre zutiefst enttäuscht, wenn sie erführe, dass der Mann, mit dem sie die ganze Zeit über im Briefwechsel stand, ein ernster, pflichtbewusster Aristokrat war, der nur auf dem Papier davon träumte, am Springbrunnen vor dem „Ritz“ mit ihr zu tanzen.

Als John wieder das Wort ergriff, sprach er sehr ernsthaft. „Du musst vorsichtig sein, wenn du dich mit jemandem einlässt.“

„Ich weiß.“

„Zumindest solange, bis du deiner Mutter die Wahrheit über Caroline erzählt hast.“

Caroline Fortescue war die Tochter des Geschäftspartners von Brices Vater. Obwohl beide Männer vor einigen Jahren verstorben waren, rechnete die Familie und vor allem Brices Mutter damit, dass die beiden eines Tages heiraten würden.

Für das Unternehmen wäre es eine überaus vorteilhafte Verbindung: Die Fusion der aufblühenden „Mikrochip-Technology“ der Fortescues mit der „Palliser Telecommunications-Technology“ würde den Markt beherrschen. Ihre Eltern waren der Auffassung, dass sie eine glänzende Partie abgeben würden.

Seit Brice und Caroline Anfang zwanzig waren, hatten die Familienoberhäupter den beiden ihre Ansicht förmlich aufgezwungen. Um den Frieden zu wahren, hatten beide schließlich zum Schein eingewilligt und wollten den Schein so lange aufrechterhalten, bis sie herausgefunden hätten, was sie wirklich mit ihrem Leben anfangen wollten. Über eines aber waren sie sich beide völlig im Klaren: Sie würden niemals heiraten.

Brice stöhnte. „Wenn ich meiner Mutter beichte, dass Caroline und ich keine Heiratsabsichten haben, würde sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um mich anderweitig möglichst Gewinn bringend zu verkuppeln.“ Kopfschüttelnd wehrte er den Gedanken ab. „Das wäre wirklich das Letzte.“

Brices Eltern hatten selbst eine solche glänzende Partie gemacht. Brice wuchs mit kühlen, distanzierten Eltern auf, die auf Äußerlichkeiten mehr Wert legten als auf ein liebevolles Verhältnis zueinander. Dieses Vermächtnis gab seine Mutter nun an ihn weiter. Im Alter von zwanzig Jahren fand er es viel angenehmer, allein zu leben als mit zwei Menschen, die ein so ausgesprochen kaltes Verhältnis zueinander hatten. Ja, vielleicht, wenn zwei Menschen sich liebten, dann könnte das Zusammenleben etwas anderes bedeuten als das, was er kennengelernt hatte. Aber bedingungslose Liebe war etwas für andere Leute. Er hatte sie noch nie erlebt – wie sollte er auch? Schon sein bloßer Name stellte Bedingungen her, unter denen es sich nur schwer leben ließ. Die Tatsache, ständig im Licht der Öffentlichkeit zu stehen, war nur eine von ihnen.

„Solange du nicht anders Stellung nimmst, und zwar deutlich“, sagte John, „solange musst du auf Caroline Rücksicht nehmen.“

„Das stimmt“, pflichtete Brice ihm bei.

„Dann solltest du es Emma wissen lassen“, beharrte John. „Und zwar, bevor sie sich romantischen Träumereien hingibt und damit unaufhaltsam eine Katastrophe heraufbeschwört.“

Ein Glück, das zumindest befürchtete er nämlich nicht. „Emma hegt keinerlei heimliche Absichten in Bezug auf mich.“ Brice dachte über seine Worte nach, während er dem sanften Schaukeln der Bäume im Wind zuschaute. Dann gab er sich einen Ruck. „Das steht völlig außer Frage. Und deshalb braucht sie es also auch niemals zu erfahren.“

John war keineswegs überzeugt. „Bist du dir wirklich sicher?“

„Absolut sicher.“ Brice sprach im Brustton der Überzeugung. „Also, wie sieht es aus? Überlässt du mir dein Haus, während sie hier in London ist, oder nicht? Du bist doch ohnehin verreist, stimmt’s?“

„Ja, allerdings.“

„Dann ist ja alles klar. Ich muss jetzt weg.“ Brice lehnte sich gegen den Fenstersims und sah hinaus. Der Rasen zog sich vor dem Haus hinunter bis zu dem schmiedeeisernen Tor, das an eine ruhige Straße im Stadtteil South Kensington grenzte. Draußen war niemand zu sehen, obwohl es ein warmer, sonniger Tag war. Eigentlich war draußen nie jemand zu sehen.

Er konnte Emma nicht zu sich nach Hause einladen, selbst wenn er es gewollt hätte. Die Nachbarschaft war vornehm, ganz wie er – Menschen, die ein stilles Dasein im Schatten des pulsierenden Stadtlebens führten. Er fragte sich, ob irgendjemand hier wirklich jemals Spaß hatte. War das überhaupt möglich? Er bezweifelte es. Er musste Johns Haus für Emmas Besuch benutzen, zumindest für den Fall, dass sie sehen wollte, wie er lebte. „Du weißt, dass ich dich nicht fragen würde, wenn es nicht wirklich notwendig wäre“, bemerkte er leise.

„Ich weiß.“ John sah ihn einen Moment lang schweigend an, dann lächelte er. „In Ordnung. Wenn du darauf bestehst, die Sache so anzugehen, dann kann ich dich nicht vor dir selbst schützen.“ Er griff in seine Tasche und zog ein Bund mit drei Schlüsseln heraus. Geräuschvoll ließ er sie auf den Tisch fallen. „Wenn ich darüber nachdenke, ist es vielleicht genau das, was du brauchst, um aus deinem Schlamassel herauszukommen.“

Brice warf ihm einen scharfen Blick zu. „Was für ein Schlamassel?“

John blieb geduldig. „Der Schlamassel, der aus dir den verbissensten, ernsthaftesten Mann des ganzen Landes macht. Der Schlamassel, in dem du seit zig Jahren steckst. Sag, wie alt bist du?“

„Du übertreibst. So schlimm ist es nicht.“

„Nein? Der ‚Independent‘ bezeichnete dich neulich als Lebendspender für eine Herztransplantation.“

Brice verzog gelangweilt das Gesicht. „Was für ein abgedroschener Witz. Offenbar habe ich ihren Einfallsreichtum überschätzt.“ Er weigerte sich standhaft, über das Körnchen Wahrheit in der Behauptung nachzudenken.

John zuckte mit den Schultern. „Du wirst zugeben müssen, dass du nicht eben der glücklichste Mann der Welt bist. Vielleicht denkst du mal darüber nach. Aber nun zum Haus. Am zweiten Juli fliegt Sarah nach Venedig, ich reise ihr einen Tag später hinterher. Danach gehört das Haus dir.“

„Ausgezeichnet. Danke.“

Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach ihr Gespräch. Ein Dienstmädchen trat ein und präsentierte einen Expressbrief auf einem silbernen Tablett. Brice nahm den Brief und entließ die Angestellte mit einem Kopfnicken.

Verwirrt starrte er den Briefumschlag an. Eine schlimme Befürchtung stieg in ihm hoch. Er riss den Umschlag auf, überflog den Brief und spürte, wie das Blut aus seinen Wangen wich. „Um Himmels willen!“

„Was ist los?“

„Ärger. Schlechte Nachrichten von Sheldale House auf Guernsey.“ Brice schüttelte ungläubig den Kopf und reichte John den Brief.

„Sehr geehrter Lord Palliser“, John las laut vor, „bla, bla, bla, ‚habe die Absicht, vom 5. bis zum 12. Juli nach England zu reisen‘ … ‚Wenn Sie mir während meines Aufenthaltes in England eine Besichtigung Ihrer Gärten gestatten würden,‘ bla, bla, bla … ‚Bitte lassen Sie mich wissen‘, bla, bla, bla …“ Fragend zog er die Augenbrauen hoch. „Und?“

„Sieh dir den Absender an.“

John drehte den Umschlag um. „Emma Lawrence“, las er. Vor Überraschung vergaß er, den Mund wieder zu schließen. „Dieser Brief? Von der gleichen Frau? Von Emma Lawrence?“

Brice nickte. „Sie muss ihn an demselben Tag abgeschickt haben, an dem sie mir auch nach London schrieb.“ Er nahm John den Brief aus der Hand und zerknüllte ihn. Es war zwei Jahre her, dass ihre Korrespondenz irgendetwas mit den Gärten in Sheldale zu tun hatte. Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie sich noch dafür interessieren könnte.

„Wo liegt das Problem?“, fragte John.

„Sie kann nicht nach Sheldale fahren, ohne zu entdecken, wer ich wirklich bin.“

„Du könntest das Personal anweisen, sämtliche Fotografien und Porträts von den Wänden zu nehmen“, schlug John vor.

„Und alle bitten, so zu tun, als sei ich jemand anderes, als würden sie mich gar nicht kennen?“, höhnte Brice. „Bleib auf dem Teppich.“

„Du bist nicht verpflichtet, sie bei ihrer Besichtigung zu begleiten. Schick sie doch einfach nach Sheldale, und verabrede dich mit ihr, wenn sie zurückkommt.“

„Soll ich etwa riskieren, dass sie dort etwas Verräterisches sieht oder hört, ohne dass ich es dann überhaupt erfahre?“ Dieser Gedanke ernüchterte ihn augenblicklich. „Das darf ich auf keinen Fall zulassen.“

Sie schwiegen eine Weile.

„Was wirst du tun?“, fragte John schließlich.

„Ich werde ihr nicht antworten.“ Brice war regelrecht atemlos. Im Grunde war er ein äußerst verantwortungsbewusster Mann, der sich mit jeder Faser gegen diese Entscheidung sträubte. „Es ist das Einzige, was ich in dieser Lage tun kann. Der ‚Lord‘ wird für die Zeit ihres Besuchs aus dem Verkehr gezogen.“

„So lange, bis sie dich zu Gesicht bekommt“, betonte John. „Offenbar ist sie mit dem ‚Lord‘ vertrauter, als du glaubtest. Immerhin hat sie deine Adresse herausbekommen.“

„Jede einigermaßen findige Person hätte das tun können“, erwiderte Brice. „Aber das heißt noch lange nicht, dass sie weiß, wie ich aussehe. Ganz sicher hält sie mich für einen alten Tattergreis.“

„Aber wenn sie nun hierherkommt? Im Zusammenhang mit der Umwandlung von ‚Palliser Telecommunication‘ in eine Aktiengesellschaft war dein Foto allein in dieser Woche mehrmals in der Zeitung.“

Brice musste ihm zustimmen. „Das sind nur Lokalnachrichten“, meinte er dann beschwichtigend, mehr für sich selbst als für John. „In Amerika hört man davon nichts. Außerdem glaube ich kaum, dass sie die Wirtschaftsnachrichten lesen wird, wenn sie hier in London ist.“

Emma stolperte förmlich aus der Zollabfertigung des Flughafens London-Heathrow. Dank der glatten Sohle ihrer neuen Schuhe und des blank polierten Linoleums schlitterte sie direkt in den nächsten Zeitungskiosk und stieß einen Stapel Zeitungen um, der auf dem Boden lag. „Entschuldigung“, stammelte sie und bückte sich, um die Zeitungen wieder einzusammeln.

Eine Schlagzeile fiel ihr ins Auge: „Gigantische Kursgewinne bei Pallisers Telecommunications-Aktien“. Palliser! Genau der Mann, den sie treffen wollte. Sie hob das Blatt auf, um sich die Seite näher anzusehen.

„Sie möchten bezahlen?“, fragte der Verkäufer mit scharfer Stimme. Er ließ sie keine Sekunde aus den Augen.

„Oh ja, sofort, selbstverständlich.“ Bestürzt suchte Emma nach ihrem Portemonnaie, als ihr plötzlich einfiel, dass sie noch gar kein Geld getauscht hatte. „Entschuldigung, ich habe gerade kein Kleingeld dabei …“ Unter den misstrauischen Blicken des Verkäufers sammelte sie die restlichen Zeitungen auf und gab sie ihm zurück. „Willkommen in England“, murmelte sie lautlos vor sich hin.

Sie verließ den Kiosk und wünschte, sie hätte ein Bild von Lord Palliser sehen können. Sie war ein bisschen nervös, weil er auf ihren Brief nicht geantwortet hatte. Anfangs hatte sie auf einen freundlichen alten Mann gehofft, der stolz und glücklich wäre, sie bei ihrer Besichtigungstour durch die Gärten seines Anwesens begleiten zu können. Im Laufe der Zeit befürchtete sie allerdings mehr und mehr, an einen arroganten, geizigen Mittfünfziger geraten zu sein, der ihren Brief kaum gelesen und postwendend in den Mülleimer befördert hatte. Und noch dazu ihre amerikanische Dreistigkeit verfluchte, weil sie es gewagt hatte, eine Anfrage an ihn zu richten.

Möglicherweise hatte er sich sogar bei John beschwert, da sie ja dessen Buch in ihrem Brief erwähnt hatte. Vielleicht war das der Grund, weshalb John immer so merkwürdig unverbindlich blieb, wenn sie ihn in ihren Briefen irgendetwas über Lord Palliser oder über Sheldale House fragte. Hoffentlich nicht, dachte sie. Für den Fall, dass der Lord keinen persönlichen Kontakt wünschte, konnte er doch nicht John die Schuld an der Sache gegeben haben.

Nein, das waren überflüssige Sorgen. John hätte sicher etwas gesagt, wenn der Lord ihm Ärger gemacht hätte. Er verheimlichte ihr nichts. Sie lächelte schon bei der Vorstellung, ihn endlich zu treffen, doch dann durchfuhr sie plötzlich ein unangenehmer Gedanke. Was, wenn er bei ihrer ersten Begegnung von ihr enttäuscht wäre? Obwohl er mit ihr nie darüber gesprochen hatte, wie er sich ihr Aussehen vorstellte, befürchtete sie, er könnte eine große, schlanke, blonde kalifornische Schönheit erwarten. Wenn das so war, dann musste er sich auf eine echte Überraschung gefasst machen.

Emma war eher unscheinbar. Sie hatte recht gewöhnliche Gesichtszüge, bräunliche Augen, eine gerade Nase und ein unauffälliges Lächeln. Mit 1 Meter 75 war sie allerdings ziemlich groß. Dabei war sie zwar nicht dick, aber auch nicht gertenschlank oder gar mager, und ihre Figur war weder besonders üppig noch sehr kurvenreich.

Normalerweise ging sie durchs Leben, ohne sich groß um ihr Aussehen zu kümmern. Normalerweise spielte es auch keine Rolle. Und so sollte es bleiben, dachte sie. Zwischen ihr und John hatte sich bereits eine enge Freundschaft entwickelt, und weder sie noch er dachten daran, irgendetwas anderes daraus zu machen.

Es ging nicht ums Aussehen. Gehörte es eigentlich zum Leben einer jeden Frau, an ihrem Aussehen zu zweifeln? Oder traf es immer nur diejenigen, die sich gerade besonders unsicher fühlten? Leises Bedauern schlich sich in ihre Gedanken. Vor jedem Bewerbungsgespräch, vor jeder Party und vor jeder ersten Verabredung fühlte Emma sich sehr unwohl.

Aber das war das Gute an ihrem Verhältnis zu John. Sie mochten sich wegen dem, was sie wirklich waren, und nicht wegen ihres Aussehens, ihres Geldes, ihrer Jobs oder irgendeinem anderen Etikett, das ihnen anhaftete.

Es war die … Wie hieß das Wort? Es war die aufrichtigste Beziehung, die sie jemals gehabt hatte.

Autor

Elizabeth Harbison
Elizabeth Harbison kam erst auf Umwegen zum Schreiben von Romances. Nach ihrem Abschluss an der Universität von Maryland, ihrem amerikanischen Heimatstaat, arbeitete sie zunächst in Washington, D.C. als Gourmet-Köchin. 1993 schrieb sie ihr erstes Backbuch, danach ein Kochbuch, wie man besonders romantische Mahlzeiten zubereitet, dann ein zweites Backbuch und schließlich...
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