Möge Gott mich vor den Unschuldigen und den Narren bewahren! ging es Soren durch den Kopf, als diese Worte über ihre Lippen kamen. Über diese Lippen, die ihn dazu brachten, während der gemeinsamen Mahlzeit Wein zu trinken. Diese Lippen, die er am liebsten geküsst und gekostet hätte. Er wollte sie nicht haben?
Wenn sie ihn noch ein wenig mehr reizte, würde er sie auf dieses allzu verlockende Bett legen, ihr alle Kleidung ausziehen, die sie am Leib trug, und dann jedes Fleckchen ihrer Haut küssen. Und wenn es keine Stelle an ihrem Körper mehr gab, die nicht von seinem Mund und seinen Händen berührt worden war, dann würde er sich zwischen ihren Schenkeln in Position bringen und sie zu seiner Frau machen. Seine Männlichkeit regte sich bei dieser Vorstellung.
Sybilla glaubte, er wolle sie nicht haben?
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und betrachtete sie. So etwas würde sie ganz sicher nicht glauben, wenn sie gewusst hätte, wie viel Mühe es ihn gekostet hatte, mit dem Priester über eine Aufhebung ihrer Ehe zu reden, anstatt sich zu ihr ins Bett zu legen. Sein Verstand wusste, was ihre Frage zu bedeuten hatte, sein Körper dagegen wollte sie zu gern falsch verstehen.
„Die Worte eines Kindes.“ Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, weil seine erregte Männlichkeit ihn beim Sitzen störte. Zum Glück konnte sie ihn dabei nicht beobachten. „Während ich Raed unterwiesen habe, was zu seinen Pflichten gegenüber seinem Herrn gehört, ist mir ins Gedächtnis gekommen, welche Pflichten ich dir gegenüber habe.“ Er durfte jetzt nur nicht an ganz bestimmte Pflichten denken, sonst würde er gleich unterbrechen und sich zurückziehen müssen.
„Ich muss gestehen, ich kann Euch nicht folgen, Lord Soren.“ Sie sah ihn verwirrt und auch aus einem unerfindlichen Grund ein wenig verärgert an.
„Ich habe zu Raed gesagt, dass es zu den Pflichten eines Mannes gehört, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und zuzugeben, wenn er sich geirrt hat. Genau darum geht es, Sybilla.“
„Lord Soren, verzeiht mir meine Beharrlichkeit, aber warum sollte Euch interessieren, was mit mir geschieht? Ihr habt mir sehr deutlich Eure Gründe dargelegt, wieso Ihr mich hasst. Ich begreife Euren Hass, und ich begreife auch Euer Streben nach Vergeltung. Aber das hier, das …“, sie deutete mit einer Hand auf den Tisch, „… das begreife ich nicht.“
Er stand auf und schob den Stuhl nach hinten. Prompt verkrampfte sie sich, um sich auf das gefasst zu machen, was er als Nächstes tun würde. Dieses Verhalten hatte er bei ihr schon zuvor beobachtet.
„Der Axthieb, mit dem dein Vater auf mich losgegangen ist, hätte mich töten sollen, Sybilla. Niemand, weder Heilkundige noch Priester, nicht einmal Williams Leibarzt konnte sich erklären, wie ich diesen Angriff überlebte. Aber ich weiß wieso: Ich musste weiterleben, damit ich mich an ihm rächen konnte. Dieser Gedanke hielt mich am Leben, in jeder noch so qualvollen Stunde, bei jedem Versuch der Heilkundigen, das beschädigte Fleisch meines Körpers wiederherzustellen. Jedes Mal wenn ich in Versuchung geriet, einfach zu kapitulieren und mich dem Tod hinzugeben, da begann sich meine Rachsucht zu widersetzen und zwang mich zum Weiterleben.“
Bei seinen Ausführungen bekam sie eine Gänsehaut, während sie die Serviette mit beiden Händen zusammenpresste. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, ihr auch noch den Rest zu sagen. „Ich kam her, um dich zu töten und um alles zu vernichten, was Durward gehört hat“, erklärte er, ohne die Wahrheit zu beschönigen.
Sybilla schob ihren Stuhl ein Stück weit nach hinten und versuchte aufzustehen, aber er fasste sie an den Schultern und hielt sie zurück. Als er sie wieder zurück auf den Stuhl dirigiert hatte, sprach er: „Du bist jetzt vor mir sicher.“ Sie aber schüttelte den Kopf, und er konnte das wiedererwachte Entsetzen an ihrer Miene ablesen.
„Alston und du, ihr wart nicht das, was ich erwartet hatte“, verriet er ihr. „Ich habe lange Zeit vergessen, dass meine Männer aus dem Grund an meiner Seite kämpften, weil sie sich irgendwo zusammen mit mir niederlassen wollten. Deshalb haben sie mich begleitet. Ich war bereit, dich zu töten, bis mir deine Leute gezeigt haben, was Loyalität heißt. Als sie sich schützend vor dich stellten, da verlor ich den Willen, dir das Leben zu nehmen.“
Er hielt inne und musterte ihr wunderschönes Gesicht, das eine ganze Reihe von wechselnden Gefühlen erkennen ließ, die alle etwas mehr über sie verrieten. Den Gesichtsausdruck, den sie dann beibehielt, erkannte er sofort, da er ihn selbst oft genug zur Schau trug: Zorn.
„Also habt Ihr mich stattdessen geheiratet?“, fragte sie, warf die Serviette zur Seite und umklammerte die Armlehnen.
„Es schien mir zu der Zeit die bessere Lösung.“
Dann tat sie auf einmal etwas, was er bei ihr noch nie erlebt hatte: Sie lachte. Kein Kichern oder Lächeln, sondern ein von Herzen kommendes Lachen. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass sie blind war, weil ihre Augen dabei funkelten. Nach einem Moment wurde das Lachen leiser, dann verstummte es, und sie schaute ernst drein.
„Und jetzt wollt Ihr, dass ich von hier weggehe?“
Soren hatte den wahren Grund für die Heirat bislang verschwiegen, doch nun musste er mehr über seine Pläne verraten, als er es gegenüber irgendeinem Menschen tun wollte. Konnte er ihr vertrauen?
„Alston nimmt einen wichtigen Platz hier oben im Norden ein, Sybilla. Alston muss gehalten werden, damit die Grenze zu den Schotten auf ganzer Länge gesichert bleibt, und es muss Northumbria davon abhalten, sich Williams Land einzuverleiben.“ Er ließ eine Pause folgen, damit sie das alles verarbeiten konnte. „William hat mich hergeschickt, damit ich die Kontrolle über dieses Land übernehme und es verteidige. Ich soll beurteilen, wer loyal ist und wer danach streben könnte, seine Herrschaft hier und auch im Süden zu stürzen.“
Soren wusste, dass Morcar und Edwin glaubten, William würde sich mit dem Land begnügen, das den Godwinsons gehört hatte, doch ihm selbst war etwas anderes bekannt. William wollte über einen möglichst großen Teil der Insel herrschen, dabei war die westliche Hälfte des Nordens nur der Anfang.
„Und …?“ Kluges Mädchen. Sie wusste, das war noch nicht alles.
„Die Verräter sind näher, als ich es mir je vorgestellt hätte“, antwortete er. „Ich muss in Alston für Frieden sorgen, erst dann kann ich meine Anstrengungen auf die Feinde richten, die dort draußen lauern.“
„Dann heißt das, dass Ihr Euch Eurer Probleme hier in Alston entledigt, wenn Ihr mich ins Kloster schickt?“, fragte sie argwöhnisch.
Soren fuhr sich durchs Haar und schüttelte den Kopf. Sie glaubte tatsächlich, er wollte sie wegschicken. Offenbar ergab sein Plan für niemanden außer ihm selbst einen Sinn.
„Nein, ich brauche dich hier. Allerdings bin ich bereit, die Ehe für ungültig erklären zu lassen, nachdem hier Ruhe eingekehrt ist – sofern das dann immer noch dein Wunsch ist.“
Nun schüttelte sie den Kopf. „Ich verstehe das nicht. Wie soll es Euch von Nutzen sein, wenn ich bei Euch bleibe?“
„Ich muss in der Lage sein, mich auf die Ausbildung und Verteilung meiner eigenen und jener Männer zu konzentrieren, die Giles und Brice mir von ihren Streitkräften überlassen. Angesichts der Berichte über Rebellen in der Umgebung von Alston muss ich die Verteidigung des Guts und der Festung stärken und dafür sorgen, dass die Rebellen von ihren Verbündeten abgeschnitten werden. Da demnächst die Ernte ansteht, brauche ich jemanden, der mit Guermont und seinen Männern zusammenarbeitet und das Ganze überwacht. Jemanden mit Erfahrungen, jemanden, der sich mit den Äckern, den Getreidesorten und den Leuten hier auskennt. Du, Sybilla, bist dieser Jemand, den ich brauche.“
„Ich kann gar nichts überwachen, Mylord, weil ich nichts sehen kann.“
Der verbitterte Tonfall hallte einen Moment lang nach, ehe er begann, sein Angebot an sie zu versüßen. „Ich werde auf die Sicherheit deiner Leute achten, Sybilla. Wenn in diesem Gebiet Ruhe eingekehrt ist und die Rebellengruppen zerschlagen wurden, was alles nicht länger als ein halbes Jahr dauern wird, dann werde ich deiner Bitte nachkommen und dich gehen lassen. Ganz gleich, ob du dann noch blind bist oder wieder sehen kannst, du wirst dann frei sein das zu tun, was immer du willst. Ob du ins Kloster oder an einen anderen Ort willst, ich werde es für dich arrangieren.“
„Eine Ehe auf Zeit? Eine Aufhebung, selbst wenn ich wieder sehen kann?“ Sybilla wollte Gewissheit haben, dass sie diesen ungewöhnlichen Handel auch wirklich richtig verstand, den er ihr schmackhaft zu machen versuchte.
„Aye. Und wenn du dann nicht mehr ins Kloster gehen willst, sondern ein anderes Ziel ausgesucht hast, werde ich dafür sorgen, dass es dir möglich gemacht wird. Es wird dann so sein, als wären wir niemals verheiratet gewesen.“
Aus einem unerfindlichen Grund musste sie an den Kuss denken, den er ihr gegeben hatte, und unwillkürlich berührte sie ihre Lippen, während sie an die Leidenschaft dachte, die dieser eigentlich so harmlose Kuss bei ihr ausgelöst hatte. „Und werdet Ihr danach streben, diese Ehe zu vollziehen?“ Nur zögerlich kam sie auf dieses Thema zu sprechen, weil sie nicht wusste, ob er es nur vergessen hatte, oder …