Sybilla, Lady of Alston, stellte sich aufrecht hin und stöhnte auf, als diese Bewegung ihr einen schmerzhaften Stich durch den Rücken jagte. Sie presste die Fäuste gegen ihr Kreuz, um den Schmerz zu lindern, der daher rührte, dass sie sich zu oft vorgebeugt und zu schwere Steine hinauf auf den Wehrgang geschleppt hatte. Sie mussten ihre Verteidigung verstärken, hatte Gareth gesagt, der Befehlshaber jener Leute, die immer noch bereit waren, sie und die Feste zu verteidigen. Also half sie ihnen, so gut sie konnte. Ganz gleich, dass sie eine Lady war, machte ein zusätzliches Paar Hände allen anderen die Arbeit ein klein wenig leichter, und sie konnte nur hoffen, dass die Wand ausreichend verstärkt werden konnte, damit die Feste vor den anrückenden Invasoren geschützt war.
Sybilla nahm einen Becher Wasser von einer ihrer Dienerinnen entgegen, zog die Lederbänder um ihren Zopf fester und widmete sich wieder ihrer Arbeit. Ihnen blieb nur noch wenig Zeit, bis die Marionette des Königs vor ihren Toren stand. Nachdem sie erfahren hatte, dass dieser Mann hierher unterwegs war, um ihr das Land ihrer Familie streitig zu machen, hatten sie und Algar – der einstige Steward ihres verstorbenen Vaters – beschlossen, sich vor den Verwüstungen zu schützen, denen ihre Nachbarn und Familien in der gleichen Situation zum Opfer gefallen waren. Zwar glaubte sie nicht, dass sie sich allzu lange erfolgreich zur Wehr setzen konnten, aber wenn sie Stärke demonstrierten, würde es hoffentlich möglich sein, eine friedliche Übergabe auszuhandeln. Dann könnten ihre Leute das alles lebend überstehen, und sie wäre in der Lage, sich in das Kloster ihrer Cousine zurückzuziehen, um dort den Rest ihres Lebens in Frieden und innerer Einkehr zu verbringen.
Da ihr Vater und ihr Bruder tot waren und es keinem ihrer angelsächsischen Verwandten möglich war, sie in Sicherheit zu bringen oder ihr beim Kampf gegen diese Invasorenhorden beizustehen, die sich unaufhaltsam in Richtung Norden bewegten, wusste Sybilla nur zu gut, dass sie und ihre Leute kaum eine andere Wahl treffen konnten und tatsächlich nur über wenig Macht verfügten.
Sie arbeiteten bis zum Einbruch der Dunkelheit und nutzten jeden Augenblick des sommerlichen Tageslichts, um den schützenden Wall irgendwie zu erhöhen und zu stärken. Gareth hatte auf seine ernste, finster dreinblickende Weise mit einem knappen Nicken seine Zustimmung gegeben, dennoch wusste Sybilla, es würde nicht genügen. Aber ihnen blieben noch zwei, vielleicht sogar drei Tage, ehe die Invasoren hier auftauchten, und bis dahin würden sie jeden verfügbaren Augenblick nutzen, um sich darauf vorzubereiten.
Der Gesang der Vögel, der den Anbruch des neuen Tages ankündigte, brachte auch das Entsetzen vor ihre Tore. Denn im Morgengrauen überquerten die Invasoren den Hügelkamm gegenüber der Feste und stellten sich in Angriffsformation auf. In aller Eile holte Sybilla die Kinder zusammen und brachte sie in den hinteren Teil der Feste, um danach jeden von Gareths Befehlen auszuführen. Ihr ganzes Leben hatte sie hier verbracht, doch nicht ein Mal war es notwendig gewesen, die Feste vor Angreifern zu schützen. Selbst als ihr Bruder nach Stamford Bridge und später ihr Vater nach Hastings aufgebrochen waren, um an der Seite ihres Königs zu kämpfen, waren alle Verteidigungsmaßnahmen lediglich der Form halber ergriffen worden und nie zum Einsatz gekommen.
Jetzt dagegen bedeuteten sie den Unterschied zwischen Leben und Tod.
Als in der Feste alle auf ihrem Posten waren, stieg Sybilla hinauf zum Wehrgang, um sich ein Bild davon zu machen, mit welcher Streitmacht sie es zu tun hatten. Gareth wollte sie wegschicken, doch sie war der Meinung, es könnte die angespannte Lage etwas lindern, wenn sie sich dem Feind von Angesicht zu Angesicht stellte. Wenn der von Duke William der Normandie geschickte Krieger in ihnen keine Bedrohung sah, würden sie womöglich verhandeln können, noch bevor er sich zum Angriff entschloss. Mit einer Hand schirmte sie ihre Augen vor der aufgehenden Sonne ab – und erschauderte, als sie ihren Gegenspieler sah.
Schwarz. All seine Kleidung war schwarz, selbst sein Schild, über den ein Zeichen wie ein schroffer, roter Blitz verlief, der sich nach links neigte, was darauf hindeutete, dass er ein Bastard war. Oder bezog sich das auf den Duke? Sie wusste es nicht mit Gewissheit, trotzdem zitterte sie wieder am ganzen Leib. Die Rüstung des Mannes war so pechschwarz, dass sie keinen Sonnenstrahl reflektierte. Sein Pferd, ein monströs großes Schlachtross, war dunkel wie die tiefste Nacht, nicht eine helle Stelle war im Fell zu erkennen. Sybilla kam es vor, als würde der Tod persönlich vor den Toren ihrer Feste stehen.
Oder war er eher der Teufel als der Tod?
Sie schüttelte die Angst ab, die sie fest im Griff hatte, und ging zu Gareth. Der stand mit verbissener Miene da und gab seinen Leuten Befehle, wobei er so leise redete, dass seine Stimme nicht bis hinüber zum Feind getragen wurde. Erst da fiel Sybilla auf, dass Totenstille herrschte. Sie begann, die gegnerischen Krieger zu zählen, auch wenn sie längst nicht alle sehen konnte.
Heilige Mutter Gottes! Den Angriff einer so großen Streitmacht würden sie nicht überleben. In ihr wuchs die Überzeugung, dass sie einen Fehler begangen hatten. Das wurde gleich darauf bestätigt, als der schwarze Riese zu reden begann.
„Ich beanspruche das Land und die Leute von Durward dem Verräter für mich und befehle, dass die Tore geöffnet werden!“
Gareth schüttelte den Kopf, und obwohl Sybilla sich versucht fühlte, ihm zu widersprechen und eigene Befehle zu erteilen, vertraute sie auf seine Erfahrung und sein Wissen in derartigen Angelegenheiten. Es sollte sich als Fehler erweisen.
„Dann macht euch bereit zu sterben!“, rief der Krieger, der im nächsten Moment mit seinen Truppen vorrückte.
Daraufhin schickte Gareth Sybilla fort, die die Stufen hinuntereilte, um sich im Burgfried in Sicherheit zu bringen, ehe die Angreifer den Wall erreichten. Wenig später wurde dieser Wall von schweren Erschütterungen getroffen, und ihr wurde klar, dass die erste Angriffswelle mit Rammen versuchte, den schützenden Wall zu bezwingen! Schlimmer noch war jedoch, dass sie nicht gegen die stabilsten Abschnitte gleich neben dem Tor anrannten, sondern ihre Waffen gegen die zuletzt errichtete, schwächste Stelle richteten. Sie musste unbedingt an dem Bereich vorbeikommen, den sie einzurennen versuchten.
Zielstrebig folgte sie ihrem Weg, machte den Soldaten Platz, die sich beeilten, um ihre Position einzunehmen, und sie hörte ihre Leute vor Aufregung und Entsetzen schreien und weinen. Dabei versuchte sie, sich ganz auf das zu konzentrieren, was Gareth ihr gesagt hatte. Dennoch hielt sie jedes Mal kurz inne, wenn die Mauer um die Feste erneut zitterte und bebte. Und dann erfüllten sich ihre schlimmsten Befürchtungen, als der unmittelbar vor ihr liegende Abschnitt des Schutzwalls zerbarst.
Erst als Sybilla das Bewusstsein wiedererlangte, wurde ihr klar, dass sie ohnmächtig geworden war.
Sie versuchte aufzustehen, aber ihr Kopf schmerzte, und ein Schwindelgefühl löste Übelkeit aus. Schließlich griff sie nach dieser Augenbinde, die man ihr aus irgendeinem Grund um den Kopf gelegt hatte, und stutzte, als sie die Binde nach oben schob und dann feststellen musste, dass die ihr gar nicht die Sicht genommen hatte. Vielmehr war sie … blind!
„Vorsicht, Mylady“, flüsterte ihr eine vertraute Stimme ins Ohr.
Aldys, die Dienstmagd ihrer Mutter, berührte ihr Gesicht und zog den Verband wieder nach unten bis über die Augen, dann half sie ihr, sich wieder hinzulegen. „Ihr wurdet verletzt, Mylady. Ihr müsst ruhig liegen bleiben“, redete Aldys auf sie ein.
Als Sybilla versuchte, ihr Gesicht zu berühren, schob Aldys sanft, aber bestimmt ihre Hände zur Seite. Entsetzen überkam sie, sie begann aufgeregt nach Luft zu schnappen. Dann griff eine andere Frau nach ihren Händen und hielt sie fest.
„Mylady, sie haben die Mauer durchbrochen und stehen nun vor dem Burgfried. Gareth sagt, dass Ihr hierbleiben müsst“, erklärte ihre Dienerin Gytha leise. „Ein Stein hat Euch am Kopf getroffen, direkt an den Augen, und es blutet sehr stark.“
Der Druck auf ihren Kopf ließ ein wenig nach, kehrte dann aber gleich wieder zurück. „Wir versuchen die Blutung aufzuhalten.“
„Ich kann nichts sehen“, flüsterte Sybilla. „Ich kann nichts sehen!“ Sie spürte, wie ihre Selbstbeherrschung ihr zu entgleiten drohte, und eine ungewohnte Art von Entsetzen erfasste Herz und Seele.
„Beruhigt Euch, Mylady“, redete Aldys leise auf sie ein. „Wir kümmern uns um Eure Verletzung. Es wird alles wieder gut werden.“
Die Schmerzen wurden stärker und stärker, und Sybilla spürte deutlich, wie sich eine erneute Ohnmacht anbahnte. Doch im nächsten Moment war sie wieder hellwach, da sie hörte, wie das Tor der Feste durchbrochen wurde. Gleich darauf erscholl der Kampflärm im Inneren der Festungsanlage.
„Gytha“, stöhnte sie. „Du musst sofort die Kinder in Sicherheit bringen.“
„Dafür ist es zu spät, Mylady“, erwiderte ihre Dienerin.
Urplötzlich wurde Sybilla von jemandem gepackt, der sie hinter sich herzog. Frauen schrien entsetzt auf, und sie wurde angerempelt, als die anderen sich gegen den energischen Griff desjenigen zu wehren versuchten, der es bis zu ihnen geschafft hatte. Genauso unerwartet wurde sie dann zu Boden gestoßen. Sie presste die Hände an den Kopf und versuchte vergeblich aufzustehen. Dann nahm Aldys sie in ihre Arme, und zu ihrer anderen Seite hörte sie Gytha reden.