Die Schöne und der Bastard - Kapitel 4

~ Kapitel 4 ~

In seinem Kopf pochte der Schmerz und seine Kehle war vom Schreien rau geworden. Seine Hände allerdings hätten nichts lieber getan, als sich um den Hals dieser Frau zu legen und zuzudrücken, damit Durwards Saat keinen weiteren Nährboden mehr finden konnte. Aber mit seinen unüberlegten Worten hatte er sich selbst um die Möglichkeit gebracht, ihrem Leben ein baldiges Ende zu setzen. Mit einer Hand rieb er über seine Stirn, um den Schmerz dahinter zu lindern. Ein Augenblick der Schwäche, und nun war er für diese Frau verantwortlich. Eine Schwäche, von der er geglaubt hatte, sie sei längst zerschlagen worden durch den unerbittlichen Schmerz seines Martyriums, durch die Demütigungen, die ihm wegen seines Zustands zugefügt worden waren, und durch den Verlust aller Dinge, die er am Leben geschätzt hatte.

Die Frau, der sein Hass galt und der er zugleich die Ehe versprochen hatte, saß schweigend und reglos auf dem Holzstuhl, den er hatte kommen lassen, als sie in seiner Gegenwart zusammengebrochen war – nachdem sie nicht von ihrem bevorstehenden Tod, sondern von ihrer bevorstehenden Vermählung erfahren hatte.

Aber Soren wusste, ihre Reaktion wäre um ein Vielfaches stärker ausgefallen, hätte sie ihn in seiner heutigen Verfassung sehen können. Er streifte jegliches Bedauern und alle Reue von sich ab und versuchte den Weg zu akzeptieren, den er mit seiner öffentlichen Erklärung eingeschlagen hatte, sie zu seiner Ehefrau zu machen. Sein Blick wanderte wieder durch den Saal bis hin zur Tür, die in einen Flur führte, aber einen Priester konnte er nirgends entdecken. Ein weiteres Mal rief er energisch den Namen des Geistlichen und hoffte, jemand würde den Mann finden und ihn zur Eile antreiben.

Da im Saal wieder völlige Stille herrschte, konnte er hören, dass sich eine kleinere Gruppe näherte, und wenige Augenblicke später atmete er erleichtert auf, da ein rundlicher Priester und dessen Ministrant durch die Tür hereingestolpert kamen. Sie bahnten sich ihren Weg durch die sprachlose Menge, die nun auf sein Wort wartete. Der Geistliche erreichte das Podest gerade noch rechtzeitig, bevor Soren auch noch den Rest an Geduld verlor. Wenigstens reagierte der Priester nicht mit Entsetzen, als sich ihre Blicke trafen, dennoch konnte Soren sehen, wie sein Gegenüber die Augen zusammenkniff und sich bemühte, keine Reaktion erkennen zu lassen. Durch die vielen im Knien verbrachten Gebetsstunden und das Fasten hatte der Priester offenbar ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung erlernen können.

Soren verschränkte die Arme und nickte dem Geistlichen und seinem Ministranten zu, als die beiden zu ihnen auf das Podest kamen. „Sagt ihr, sie soll sich für die Heirat bereit machen“, zischte er dem Priester zu und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Frau. Er musste die Sache schnell hinter sich bringen, bevor er es sich noch anders überlegen konnte.

„M… Mylord …“, stammelte der Priester. „Sie … sie ist …“

„Ich sagte, Ihr sollt Euch ihrer annehmen, Vater.“

Dann sah er dem Priester hinterher, wie der zu ihr ging, plötzlich jedoch stehen blieb. Nachdem Vater Medwyn zwischen ihm und seiner Zukünftigen einmal hin und her geschaut hatte, wandte er sich langsam von ihr ab und kehrte zu Soren zurück.

„Mylord, sie ist blind“, flüsterte er Soren zu.

Soren winkte mit bewusst übertriebener Geste ab, während er sie betrachtete. „Aye, Vater, sie ist blind.“ Dann richtete er seinen Blick auf den unwilligen Priester, während er darauf wartete, dass der Mann sich entschied, ob er gehorchen oder aufbegehren wollte.

„Mylord, wenn Ihr gestattet“, bat der Priester und beugte sich vor, damit niemand sonst seine Worte hören konnte. „Ihre Blindheit ist ein eindeutiges Hindernis für eine Eheschließung. Könnt Ihr nicht vielleicht eine andere Frau finden?“

Dem Priester war wohl nicht klar, dass diese Blindheit der entscheidende Vorteil war, der für diese Frau sprach. Falls ihm der Gedanke doch gekommen sein sollte, würde er ihn dennoch ganz sicher nicht aussprechen. Soren dagegen sah keinen Grund zu verschweigen, dass sie gerade wegen ihrer Blindheit seine Frau werden und seine Söhne zur Welt bringen sollte.

„Für eine Heirat mit ihr bin ich nicht auf ihre Augen angewiesen, Vater. Ich benötige lediglich ihren Leib, um die Ehe zu vollziehen.“

Da sämtliches Murmeln und Tuscheln im Saal verstummt war, hörte Soren seine eigenen Worte von allen Seiten widerhallen. Zudem stand er so dicht bei Sybilla, dass ihm nicht entging, wie sie erschrocken nach Luft schnappte und ihr ganzer Körper sich verkrampfte, nachdem er seine beleidigende, entwürdigende Bemerkung ausgesprochen hatte. Tatsache war, dass sie ihn weniger kümmerte als das Pferd, das er zuletzt gekauft … nein, das er sich verdient hatte. Dessen körperliche Eigenschaften und Fähigkeiten waren das, was ihn wirklich interessierte. Eine Ehefrau würde mit ihm das Bett teilen und ihm Kinder gebären. Söhne, die das erben würden, was er mit seinem Fleisch und seinem Blut bezahlt hatte. Auch wenn es ihm, dem einstigen „schönen Bastard“, wehtat, wusste Soren dennoch, dass ihm ein gerechter Handel lieber war, bei dem er für Liebesdienste bezahlte, anstatt das Entsetzen in den Augen einer Frau zu sehen.

In den Augen seiner Ehefrau.

Sie kann mich nicht sehen.

Damit war es besiegelt.

„Bringt sie zu mir“, befahl er und wartete, dass seine Anweisung ausgeführt wurde.

Auch wenn ein paar von seinen Männern ihr Missfallen offen zeigten, gehorchten sie dennoch. Gleich darauf stand Durwards Tochter neben ihm, flankiert von zwei seiner Leute. Bislang hatte sie noch kein Wort gesagt, aber Soren konnte ihr flaches Atmen hören, da erneut Totenstille Einzug gehalten hatte. Was sie nicht sah – was aber keinem ihrer vormaligen Untergebenen entging –, war ein weiterer Soldat, der hinter ihr stand und sein gezogenes Schwert auf sie gerichtet hielt. Wenn nur einer von ihnen einen Laut von sich gab oder gar aufschrie, dann würde das ihr Tod sein. Manche von ihnen hatten einen rebellischen Gesichtsausdruck aufgesetzt, anderen konnte man die nackte Angst ansehen, doch hinter all diesen Regungen entdeckte Soren etwas, das ihm in diesem Augenblick Angst bereitete. Die Leute liebten ihre Herrin so sehr, dass sie für ihre Sicherheit alles tun würden, selbst wenn es bedeutete, sich ihm zu unterwerfen.

Später würde er sich das nicht mehr eingestehen wollen, doch genau jetzt ließ ihn diese Hingabe und bedingungslose Liebe nahezu die Nerven verlieren. Als sein Blick zu Sybilla wanderte und er bemerkte, wie stolz sie dastand, obwohl seine Männer sie festhielten, wurde ihm klar, dass sie ihre Leute umgekehrt genauso liebte.

In diesem Moment überkam ihn eine Sehnsucht, die so eindringlich war, dass sie ihn fast auf die Knie zwang und ihm Herz und Seele zu zerreißen drohte. Es fiel ihm schwer, Luft zu holen, nein, es war ihm sogar fast unmöglich. Er schüttelte kurz den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen, da bahnte sich ein anderes Gefühl den Weg durch seinen Körper – ein Gefühl, das ihn an seine eigentlichen Absichten erinnerte. Das eine Gefühl, das ihn seit jenem Nachmittag im September und an jedem nachfolgenden, quälenden Tag alle Schmerzen und alles Leid hatte durchstehen lassen.

Zorn.

Wut in ihrer reinsten Form.

Rechtschaffen, reinigend und bekräftigend.

Und dieser Zorn verhalf ihm dazu, die Selbstbeherrschung zurückzuerlangen und den Gedanken an Gnade zu verbannen, der sich in sein Herz und seine Seele einzuschleichen versuchte. Er baute sich zu voller Größe auf und warf allen einen drohenden Blick zu, die auch nur den Anschein erweckten, sie könnten seiner Entscheidung, Sybilla zu ehelichen, widersprechen oder zumindest Bedenken äußern. Zufrieden sah er, wie einer nach dem anderen kapitulierte. Schließlich wandte er sich dem Priester zu und wartete darauf, dass der mit der Zeremonie begann.

Dass der Geistliche kaum merklich zögerte, entging Soren nicht, und er nahm sich vor, den Priester dafür später noch zur Rechenschaft zu ziehen. Nachdem Vater Medwyn erst einmal begonnen hatte, vollzog er die Trauung zügig. Keiner der Anwesenden wagte eine Bemerkung dazu zu machen, dass die Braut ihr Gelübde nur sehr leise sprach und der Bräutigam keine erkennbare Begeisterung zeigte. Nachdem der Geistliche sie zu Mann und Frau erklärt hatte, schaute Soren sofort zum Fenster, um festzustellen, wie hell es draußen noch war, wie lange sie noch Tageslicht haben würden und wie viel Arbeit sich in dieser Zeit noch erledigen ließ, bevor sich irgendeiner von ihnen schlafen legen konnte.

Auf dem Weg zu den Stufen, die vom Podest nach unten führten, rief er seinen Leuten Anweisungen zu, darauf bedacht, bei so vielen Aufgaben nichts zu vergessen. Doch auf einmal lenkte einer seiner Männer seine Aufmerksamkeit zurück auf … seine Ehefrau.

„Soren?“, rief Guermont laut genug, um den anschwellenden Lärm zu übertönen, der von den Soldaten und Sybillas Leuten verursacht wurde, die jetzt nach dem Ende der Zeremonie ihre Unterhaltungen weiterführten. „Mylord?“

Soren blieb stehen, während er die Lederkappe abnahm und an ihrer Stelle die Kettenhaube über seinen Kopf zog. Mit einem Kopfschütteln lehnte er den Helm ab, den ihm einer der jüngeren Männer hinhielt, und wandte sich Guermont zu, um zu sehen, was der von ihm wollte.

Guermont nickte nur knapp, dann wurde ihm deutlich, dass er sie … seine Ehefrau einfach in der Obhut seiner Soldaten zurückgelassen hatte, die darauf warteten, dass er ihnen einen Befehl erteilte.

„Bringt sie …“, setzte er zum Reden an, verstummte aber gleich wieder, als ihm einfiel, dass er mit dieser Feste noch gar nicht vertraut war und er somit auch nicht sagen konnte, wohin sie sie bringen sollten.

Also wandte er sich ihren Leuten zu, die noch immer dicht gedrängt an der Wand standen. „Wo sind ihre Gemächer?“, rief er der Frau zu, die zuerst auf Knien um Gnade für Durwards Tochter gefleht hatte. Als weder sie noch einer der anderen antwortete, zuckte er nur flüchtig mit den Schultern und wandte sich kopfschüttelnd an Guermont.

„Bindet sie da fest“, sagte er und zeigte auf den Stuhl, auf dem sie vor der Zeremonie gesessen hatte. „Ihr könnt später immer noch nach einer Kammer suchen, in der sie vorläufig untergebracht werden kann.“

Ganz so, wie von ihm erwartet, zeigte diese Drohung Wirkung, da die alte Frau sich auf einmal zu Wort meldete.

„Mylord?“, sprach sie und kam dabei näher, ohne erst auf eine Aufforderung von seiner Seite zu warten. „Ich diene Lady Sybilla, und ich habe auch schon ihrer Mutter gedient. Ich möchte mich weiter um sie kümmern.“

Damit wurde seine Vermutung bestätigt, dass diese Leute viel für ihre Herrin tun würden. Die alte Frau kroch nicht zu Kreuze, sie bettelte und flehte auch nicht. Sie wandte sich nicht einmal von ihm ab, als sich ihre Blicke trafen. Da Soren aber nicht bereit war, vor allen Anwesenden auf etwas einzugehen, was eher einer Forderung als einer Bitte gleichkam, straffte er die Schultern und ging mit ausholenden, zügigen Schritten auf die Frau zu, die immerhin klug genug war, den Kopf zu neigen.

„Und nach meinem Belieben wirst du ihr auch weiterhin dienen“, sagte er und musterte sie aufmerksam, ob er eine Spur von Aufbegehren in ihrem Mienenspiel entdecken konnte. Aber sie wahrte einen respektvollen und gehorsamen Gesichtsausdruck, der auch nicht erkennen ließ, ob seine Worte sie gekränkt hatten.

„Wie Ihr wünscht, Mylord. Nach Eurem Belieben.“

Soren war für den Moment beschwichtigt und nickte. „Zeig ihnen, wo sie sie hinbringen sollen, und bereite sie auf mich vor.“

„Mylord?“, fragte sie, bevor er weitergehen konnte.

„Habe ich mich etwa in irgendeiner Hinsicht unklar ausgedrückt? Ich habe kein Geheimnis daraus gemacht, für welche Zwecke ich die Tochter des Verräters gebrauchen kann. Wenn das Land gesichert ist, werde ich mit ihr die Ehe vollziehen.“

Lord Gautier hätte ihn für seine respektlosen Worte mit dem Stock geprügelt, doch Soren konnte nicht anders. So wie meist, wenn er mit solcher Verachtung redete, brannte die Bitterkeit seiner Worte ihm auf der Zunge, noch bevor er sie ganz hatte aussprechen können. Dennoch würde und konnte er in diesem Punkt nicht einlenken. Also starrte er die alte Frau an, bis sie endlich verstehend nickte.

„Erledige das“, sagte er ihr, dann verließ er den Saal und ging hinaus auf den Hof, um sich mit einer anderen Art von Chaos zu befassen, als dem, das ihm jetzt Magenschmerzen bereitete.

 

Sybilla bekam kaum etwas von dem mit, was um sie herum geschah. Der Schmerz pochte fast ohrenbetäubend in ihrem Kopf, ihre Augen brannten, sodass sie Mühe hatte, sich überhaupt auf den Beinen zu halten. Anstatt sich dagegen zu wehren, von den Männern in einem festen Griff gehalten zu werden, schonte sie ihre eigenen Kräfte und ließ sich von den beiden stützen. Es war so schrecklich verkehrt, vor einem Priester einem Mann das Eheversprechen zu geben, den sie überhaupt nicht heiraten wollte. Doch die erschreckenden Ereignisse dieses Tages hatten ihr gar keine andere Wahl gelassen, als ihm zu gehorchen, sich seinem Willen zu beugen und nicht dem eigenen Willen zu folgen.

Eines Tages würde sie erklären müssen, warum sie nicht widersprochen hatte, als sie vom Priester gefragt wurde, ob sie mit der Heirat einverstanden sei. Aber momentan fühlte sie sich von allem schlicht überrannt, um sich darüber eingehendere Gedanken machen zu können. Außerdem fehlte es ihr an körperlicher Kraft und auch am nötigen Willen, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren als darauf, nicht von den Soldaten des Feindes wie ein Sack Mehl über den Boden geschleift zu werden.

Die Soldaten folgten Aldys wortlos, die vor ihnen die Treppe hinaufging und sie im ersten Stock durch den Flur bis zum Gemach im Eckturm führte. Als Sybilla zum dritten Mal stolperte, da sie weder die Höhe der Stufen richtig einschätzen konnte noch mit dem Tempo der beiden Männer zurechtkam, die sie mit sich zogen, brach sie schließlich in Tränen aus. Das hier war ihr Zuhause, jener Ort, den sie besser kannte als jeden anderen, und doch wusste sie nicht, wie viele Stufen sie zurücklegen musste und wie hoch sie waren. In ihren Gemächern angekommen, begann die Angst vor ihrem Schicksal und vor der Möglichkeit, vielleicht für den Rest ihres Lebens blind zu sein, sehr schnell die Kontrolle über sie zu übernehmen, und sie konnte nicht anders, als tränenüberströmt zusammenzubrechen, kaum dass die Soldaten sie losgelassen hatten.

 

Nichts hatte sie in ihrem Zustand tiefster Verzweiflung gestört, der nur Minuten, vielleicht aber auch Stunden gedauert haben mochte, sodass sie nach einer Weile begann, sich und ihre Umgebung wieder klarer wahrzunehmen.

Nun hörte sie auf einmal ihre Dienerin und Aldys, die gemeinsam für sie beteten!

Sybilla versuchte die Hand zu heben und sie an ihren Kopf zu legen, von dem aus sich die Schmerzen überall in ihrem Körper ausbreiteten, aber sie konnte sich nicht bewegen.

„Mylady“, flüsterte Gytha. „Ihr seid wach!“

Sie nickte nur, da sie fürchtete, die Tränen könnten sie wieder überwältigen, wenn sie den Mund auch nur aufmachte. Eine Hand wurde an ihren Hinterkopf gelegt, um ihr Halt zu geben, damit sie aus einem Becher trinken konnte. Der verdünnte Wein linderte die Trockenheit, die ihre Kehle zuschnürte.

„Wir hatten schon Angst, Ihr würdet vielleicht nicht aufwachen“, flüsterte Gytha weiter. Nach dem ängstlichen Tonfall zu urteilen, hielten die Frauen es wohl für besser, leise zu sein.

„Wo bin ich?“, fragte Sybilla. Ohne Augenlicht kam ihr alles fremd vor. Da sie nichts um sich herum sehen konnte, nicht einmal ihr Bett, in dem sie lag – sofern es überhaupt ihr Bett war –, fühlte sich nichts vertraut an. „Sind wir allein?“, fragte sie.

Es folgte eine Pause, bis Gytha antwortete. Sybilla konnte sich in diesem Moment lebhaft vorstellen, wie die beiden Frauen sich zunächst ansahen, bevor sie zum Reden ansetzten. Dieses Verhalten zeigten sie oft, seit sie sich gemeinsam um ihr Wohl kümmerten, und für gewöhnlich taten sie es, um einer Antwort die Heftigkeit zu nehmen. Sybilla hatte es beobachtet, als die Nachricht vom Tod ihres Bruders bei Stamford Bridge eintraf, genauso einige Monate später, als das Schicksal ihres Vaters weiter südlich bei Hastings bekannt geworden war. Dieser wortlose Blickkontakt war so voller Mitgefühl, dass sie selbst es in diesem Moment fast spüren konnte. Sie wollte sich aufrichten, aber auch diesmal gehorchten ihr die Arme nicht.

„Ganz ruhig, Mylady“, beschwichtigte Aldys sie. „Wir haben die Wunde gesäubert und einen neuen Verband angelegt. Die Blutung hat fast ganz aufgehört.“ Sybilla spürte durch den Verband hindurch die sanfte Berührung durch eine Hand. „Und wir befinden uns in Euren Gemächern.“

Dann meldete sich Aldys zu Wort, die etwas näher an ihrem Ohr war. „Wir sind allein, aber seine Lakaien sehen oft nach uns und beobachten ganz genau, was wir hier machen. Vermutlich belauschen sie uns auch, deshalb müsst Ihr Vorsicht walten lassen.“ Daraufhin versuchte Sybilla zu nicken, um zu zeigen, dass sie den Ernst der Lage erfasst hatte.

„Wo ist er?“, wollte sie wissen. Früher oder später würde er ohnehin kommen, nachdem sie beide nun vermählt waren. Die Angst davor schnürte ihr die Kehle zu.

„Er hat die Feste verlassen, nachdem … nachdem …“ Wieder nickte Sybilla. Sie wusste nur zu genau, wann er die Feste verlassen hatte. „Man kann ihn hören, wie er auf dem Hof Befehle erteilt, aber auch außerhalb der Mauern.“

Ein Schaudern durchfuhr sie, da ihr der Klang seiner Stimme ins Gedächtnis kam, als er die Kapitulation von Alston gefordert hatte. Und als er verlangt hatte, dass sie vortrat, um sein Todesurteil entgegenzunehmen. Ein Todesurteil war es dann nicht geworden, aber er konnte ihr das Leben jetzt zu einer solchen Hölle machen, dass sie sich den Tod herbeisehnen würde. Während sie im Geiste wieder das Bild von ihm in seiner schwarzen Rüstung sah, dachte sie mit Grausen daran, wie er sie wohl würde leiden lassen.

„Ich … ich …“, stammelte sie ohne zu überlegen, da die Angst sie überwältigte. „Ich kann das nicht!“

Aldys und Gytha beugten sich vor, griffen nach ihren Händen und drückten sie sanft. „Ganz ruhig, Mylady“, redete Aldys auf sie ein. „Ruht euch aus und sammelt Eure Kräfte.“

Ihr werdet sie später noch dringend nötig haben. Das sprach sie zwar nicht aus, aber es war das, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Bedauerlicherweise traf dieses Später viel zu früh ein.

„Mylady?“, ertönte eine helle Stimme aus dem Flur. Sybilla konnte sie niemandem zuordnen, den sie kannte.

„Was willst du, Junge?“, erwiderte Aldys.

„Lord Soren schickt mich, damit Ihr Euch für ihn bereithaltet.“

„Er schickt einen kleinen Jungen, um Euch solche Dinge wissen zu lassen?“, flüsterte Gytha ungläubig.

„Ungeheuer wie er benutzen jeden, den sie losschicken können, um für sie die Arbeit zu erledigen – Frauen, Kinder, wen auch immer!“ Aldys war so wütend, dass ihre Stimme kaum wiederzuerkennen war.

„Mylady?“, rief der Junge wieder.

„Aye, Kleiner, ich habe deine Nachricht verstanden“, brachte Sybilla mit Mühe heraus und fügte eine Frage an: „Bist du aus Alston?“

„Nein, Mylady, ich bin Raed. Ich komme aus Shildon.“

„Shildon?“, wiederholte sie. Das Dorf lag einige Tagesritte östlich von Alston.

„Aye, Mylady. Mylord Soren hat mich von dort mitgenommen, damit ich ihm diene.“

Sybilla stieß erschrocken den Atem aus. Ihr Kopf schmerzte von der Verletzung, aber auch von allem, womit sie konfrontiert wurde. Gott im Himmel, dieser Mann war ein wahres Monster! Er nahm Familien die Kinder weg und zwang sie, ihm zu dienen? Sie schüttelte den Kopf und schwieg, weil ihr die Worte fehlten.

Aufgewühlt und entsetzt über Sorens Verhalten, kam sie gar nicht mehr zur Ruhe. Sie drehte sich und wand sich auf ihrem Bett hin und her. Nichts konnte die Schmerzen in ihrem Kopf und in ihrem Herzen lindern. Mit jeder Stunde, die ereignislos verstrich, spürte Sybilla, wie die zerbrechliche Selbstbeherrschung immer schwächer wurde. Als sie dann hörte, wie sich im Korridor Schritte näherten, wünschte sie, sie könnte auf der Stelle in eine tiefe Ohnmacht sinken, um nichts von dem mitbekommen zu müssen, was geschehen würde, nachdem er ihre Gemächer betreten hatte.

Aber die Heiligen und selbst der Allmächtige schienen sich nicht um ihre Gebete zu kümmern, sodass der Wunsch nach einer Ohnmacht unerfüllt blieb. Sybilla konnte nur hoffen, dass sie nicht sich selbst und ihren Namen entehrte, wenn er sie berührte. Doch da ihre Angst sie bereits fest im Griff hatte, wusste sie, dass alle Selbstbeherrschung ihr in dem Moment entgleiten würde, wenn er ihr nahe genug kam.


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