Der Helikopter begann seinen Sinkflug zum Landeplatz im Innenhof des Palastes. Tausend Mal musste Rico eine solche Landung bereits mitgemacht haben. Er blickte auf die weißen Türme hinunter. Ein ihm völlig vertrauter Anblick.
Und doch wirkte er auf einmal fremd.
Rico wollte nicht hier sein, nicht die Konfrontation mit seinem Vater über sich ergehen lassen. Aber es musste getan werden. Je früher er es hinter sich brachte, desto besser.
Wie hatte sich sein Vater entschieden? Entweder hatte Falieri es nicht gewusst, oder man hatte ihm strikte Befehle erteilt, nicht den leisesten Hinweis zu geben. Bald würde er es wissen.
Der Helikopter setzte auf dem Boden auf, und der Lärm des Motors verstummte. Rico löste seinen Sicherheitsgurt, nickte dem Piloten zu und öffnete die Tür. Geschmeidig sprang er hinaus und duckte sich unter den Rotorblättern hindurch.
Als er sich aufrichtete, verließen vier Wachen den Palast. Sie trugen ihre offiziellen Uniformen. Rico blieb stehen und erwartete die Männer.
„Was ist los?“, fragte er scharf.
Der dienstälteste der Wachleute blickte mit ausdrucksloser Miene starr an ihm vorbei.
„Eure Hoheit, ich bedaure sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie unter Arrest stehen.“
Man brachte ihn in seine eigenen Gemächer und nahm ihm sein Handy ab. Auch alle anderen Kommunikationsmittel, wie Computer und Telefone, waren entfernt worden.
Was zur Hölle geht hier vor? dachte er ungläubig. Ruhelos ging er im Wohnzimmer auf und ab.
Unvermittelt wurde die Eingangstür von zwei Wachen geöffnet. Sein Vater betrat das Zimmer. Seine Augen blickten so kalt, wie Rico es noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte.
„Was soll das?“, fragte er.
„Ich habe dich unter Arrest gestellt“, erwiderte sein Vater, Prinz Eduardo.
„Wie lautet die Anklage?“
„Du hast ein Verbrechen gegen das Fürstentum San Lucenzo begangen“, seine Stimme war ebenso eisig wie sein Blick.
Rico starrte ihn an. „Was?“
„Dieses Gesetz stammt noch aus dem Mittelalter. Es betrifft die Eheschließungen der Herrscherfamilie.“
„Ich verstehe nicht, was du meinst.“
„Jedes Mitglied der königlichen Familie braucht die Zustimmung des regierenden Prinzen, um heiraten zu können. Du hast gegen dieses Gesetz verstoßen. Aus diesem Grund ist deine Ehe ungültig.“
Rico ließ die Worte auf sich wirken, dann sah er seinen Vater an. „Warum tust du das? Bedeutet es dir gar nichts, dass der Junge Paolos Sohn ist?“
„Paolo ist tot – wegen dieses Jungen. Wenn dieses ehrgeizige Mädchen ihn nicht in eine Falle gelockt hätte, hätte er nie sein Leben verloren.“
Ungläubig schüttelte Rico den Kopf.
„Wir wissen nichts über ihre Beziehung. Es kann sehr gut sein, dass sie sich geliebt haben. Auf jeden Fall hat Paolo sich wie ein Ehrenmann verhalten und sie um des ungeborenen Kindes willen geheiratet.“
Kurz blitzte etwas in den Augen seines Vaters auf, doch gleich darauf war seine Miene wieder hart und kalt wie Marmor.
„Er hatte kein Recht dazu. Zuallererst ist er seinem Namen verpflichtet. Aber ich gebe mir selbst die Schuld daran. Wir haben ihn als Kind zu sehr verwöhnt … und das waren die Konsequenzen.“
Ein eisiger Schauer lief Rico über den Rücken. Sein Vater sprach wieder, und er zwang sich, ihm zuzuhören.
„Dennoch war ich bereit, die kurze Ehe und damit auch den Sohn anzuerkennen. Der Junge wäre hier im Palast angemessen erzogen worden und als Mitglied der königlichen Familie akzeptiert worden. Leider hat sich die Sturheit der Tante als ernstes Hindernis erwiesen.“
„Sie ist mehr als eine Tante, sie ist seine Mutter. Ich habe doch wohl klar genug gemacht, dass man sie nicht von ihrem Sohn trennen darf. Dein Versuch, es trotzdem zu tun, ist verachtenswert.“
„Hüte deine Zunge, so sprichst du nicht mit mir“, entgegnete sein Vater frostig. „Allerdings wird es dich freuen zu hören, dass der Junge für uns keine Handlungsnotwendigkeit mehr darstellt. Ich habe meine Meinung zu Paolos Ehe geändert und erkenne sie nicht mehr an. Aus diesem Grund ist der Junge nur noch ein uneheliches Kind. Seine Zukunft ist nicht länger von Interesse für mich.“
„Er ist dein Enkelsohn“, sagte Rico.
Die Miene seines Vaters blieb unverändert hart. „Königliche Bastarde kümmern mich nicht. Er hat keinen Anspruch auf Paolos Erbe. Natürlich werden wir trotzdem eine angemessene Summe für seinen Lebensunterhalt zur Verfügung stellen. Damit ist die Angelegenheit beendet. Luca wird sich mit den Anwälten besprechen und alles in die Wege leiten. Und was dich angeht“, fuhr er kalt fort, „du wirst keinen weiteren Kontakt zu der Frau oder dem Jungen aufnehmen. Stimmst du dieser Bedingung zu, wird der Arrest aufgehoben. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“
Rico sah seinen Vater an, der nur ein paar Meter von ihm entfernt stand. Aber die Distanz zwischen ihnen hätte nicht größer sein können.
Ohne ein weiteres Wort wandte Prinz Eduardo sich um und verließ den Raum. Hinter ihm schloss sich die Tür, Rico war wieder allein.
Wie lange er einfach nur dort stand, wusste er nicht. Er fühlte überhaupt nichts mehr.
Irgendwann erklangen vor der Tür Stimmen, die eine scharf, die andere respektvoll.
Wieder öffnete sich die Tür, und dieses Mal betrat Luca das Zimmer.
Die Blicke der Brüder trafen sich.
„Warum hast du das getan?“, Lucas Frage klang fast resigniert. „Bist du komplett verrückt geworden … oder nur einfach bemerkenswert dumm? Wie konntest du heiraten und dann glauben, du könntest unseren Vater erpressen, deine Ehe anzuerkennen? Meine Güte, kennst du ihn immer noch nicht gut genug, um zu wissen, dass er niemals nachgibt?“
„Ich dachte, ein offener Bruch mit mir und der folgende Skandal würden ihm mehr ausmachen, als das Richtige für Paolos Sohn zu tun.“
„Das Richtige?“ Es schien, als würde ein Damm in Lucas Innerem brechen. „Mein Gott, Rico. Es ist deine Schuld, dass wir Paolos Sohn verloren haben. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie schwer es war, unseren Vater dazu zu bringen, Paolos Ehe zu akzeptieren? Seine erste Reaktion war, alles zu ignorieren. Irgendwann konnte ich ihn überzeugen, dass es das Beste wäre, den Jungen als eheliches Kind anzuerkennen. Und das bedeutete, der Junge konnte hierherkommen. Natürlich allein, das muss ich nicht extra betonen. Hast du wirklich geglaubt, unser Vater wollte auch nur für einen Moment etwas mit der Familie der Mutter zu tun haben?“
Lucas Miene verfinsterte sich. „Aber wie zur Hölle hätte ich wissen können, dass sich dieses Mädchen so anstellt und du es ihr auch noch durchgehen lässt? Verdammt, Rico, sie hätte dir aus der Hand fressen sollen, nicht umgekehrt. Ich habe dich nie für einen Idioten gehalten, aber jetzt tue ich es. Und dank deiner Idiotie hast du Paolos Sohn für uns verloren. Du bist dafür verantwortlich, dass der Junge nun ein Bastard ist. Das ist es, was du erreicht hast, und das werde ich dir nicht so schnell verzeihen.“
Bittere Wut mischte sich in seine Anschuldigung, dann blitzten seine Augen erneut.
„Es ist Zeit, erwachsen zu werden, Rico, und Verantwortung zu übernehmen. Hör auf, dich von deinem überaktiven Liebesleben kontrollieren zu lassen. Denn den Fotos nach zu urteilen ist ja wieder genau das passiert. Du hast sie herrichten lassen und dann verführt. Ich kann nur hoffen, es hat sich gelohnt, denn es ist vorbei. Bis auf hundert Meilen darfst du dich ihr von nun an nicht mehr nähern. Vielleicht lernst du so, was Verantwortung heißt, Rico. Das solltest du zumindest, denn es ist deine letzte Chance. Unser Vater hat das sehr klargemacht. Du warst so kurz davor, eine Grenze zu übertreten. So kurz“, er verstummte, schwer lastete sein Blick auf seinem Bruder.
„Verantwortung?“, wiederholte Rico langsam. „Ich hatte schon immer ein Problem mit Verantwortung. Weil ich nie welche hatte. Meine gesamte Verantwortung erstreckte sich darin, am Leben zu bleiben, das war alles. Falls du plötzlich tot umfallen solltest. Schwul wirst. Dich weigerst zu heiraten. Zeugungsunfähig bist. Bis dahin musste ich mir irgendwie die Zeit vertreiben. Wie und mit was auch immer. Denn mehr konnte ich nicht tun. Dann jedoch habe ich etwas gefunden, was nur ich tun konnte. Ich konnte Paolos Sohn retten.“
Er hielt seinen Blick fest auf Luca gerichtet. „Ich konnte ihn vor der grauenhaften Kindheit bewahren, die ihr für ihn geplant hattet. Erinnerst du dich an unsere Kindheit, Luca, oder hast du die praktischerweise vergessen? Ich kann mich gut daran erinnern, und um nichts auf der Welt werde ich zulassen, dass Paolos Sohn dasselbe widerfährt. Niemals werde ich erlauben, dass man ihn von der Frau trennt, die er wie eine Mutter liebt. Ich habe es verhindert, und ich bereue nichts von dem, was ich getan habe. Gar nichts.“ Erst jetzt nahm seine Stimme einen unwirschen Tonfall an. „Auch wenn ich dafür entdecken musste, was für ein unmenschlicher Abschaum meine Familie in Wahrheit ist.“ Er atmete scharf ein. „Und wenn du nicht willst, dass ich dich wieder niederschlage, dann solltest du jetzt mein Zimmer verlassen.“
„Hast du vor, wieder deinen Geheimgang zu benutzen und in die Hügel zu fliehen, Rico? Das wird dir nicht viel bringen. Damit wirst du nicht aus dem Loch kommen, in das du dich manövriert hast. Dir bleiben keine Möglichkeiten mehr. Deine Ehe ist für ungültig erklärt worden, und du stehst unter Arrest.“
„Es interessiert mich einen …“
„Erlaube mir“, unterbrach Luca ihn, „dir zu erklären, was das Gesetz von San Lucenzo dem regierenden Prinzen erlaubt.“
Und mit sehr präzisen Worten tat er genau das.
Rico hörte zu. Und während er zuhörte, erstarrte langsam seine Miene.