Die Schöne und der Bastard - Kapitel 13

~ Kapitel 13 ~

Die Besucher waren schon vor langer Zeit abgereist, aber Soren ließ seine Männer immer noch in Verteidigungsbereitschaft. Er rief Stephen zu sich und gab ihm den Befehl, die Gäste auf ihrem Heimweg zu verfolgen. Etwas stimmte nicht, doch Soren wusste nicht, was es war. Aus verschiedenen Gründen hegte er Misstrauen, was ihre Loyalität betraf, aber es waren vor allem ihre Bemerkungen über Sybilla gewesen, die ihn argwöhnisch hatten werden lassen.

Auch wenn sie ihr Mitgefühl zum Ausdruck gebracht und versprochen hatten, Messen für Sybillas Genesung abzuhalten, hatten ihn ihre Bemerkungen gestört, sie sei mit einem Makel behaftet, und andere Männer hätten sich schon wegen geringerer Makel von ihren Frauen getrennt. Soren wünschte, er hätte Larenz mit dazugeholt, denn niemand konnte so gut wie er die wahren Absichten eines Menschen erkennen.

Gerade dachte er an Larenz, da überquerte der den Hof, gefolgt von Raed, und ging auf den Burgfried zu. Der Junge bemerkte Soren und schloss dichter zu Larenz auf, damit er sich hinter ihm wie hinter einem Schild verstecken konnte. Eigentlich wollte sich Soren darüber ärgern, doch er wusste, es gab keinen besseren Lehrer als Larenz, um dem Jungen das beizubringen, was er lernen musste.

Ausgenommen eine Sache, und die musste ihm sein Herr beibringen. „Larenz!“, rief er und bemerkte, dass jeder, der sich in Hörweite befand, seine Tätigkeit unterbrach und sich zu ihm umdrehte. „Schick den Jungen zu mir.“

Larenz redete mit Raed und schob ihn vor sich her zu Soren. Seine ganze Haltung ließ erkennen, wie sehr der Junge sich sträubte zu ihm zu kommen, vom gesenkten Kopf bis hin zu den langsamen, kleinen Schritten. Soren gab Larenz ein Zeichen, den Jungen allein zu ihm kommen zu lassen, und wartete, dass er zu ihm trat. Als er bei ihm war, nahm er ihn an der Schulter und führte ihn zum Zaun, dann standen sie eine Weile schweigend da und betrachteten die Pferde in ihrem behelfsmäßigen Gehege. Schließlich ging Soren in die Hocke, damit er auf Augenhöhe mit Raed war.

„Hast du diese Männer gesehen?“, fragte er. Raed sah ihn an, senkte gleich darauf wieder den Blick und nickte. „Ich weiß nicht, ob ich ihnen vertrauen kann. Darum lasse ich sie durch jemanden verfolgen, dem ich vertraue. Ich vertraue Stephen.“

Raed sah weiterhin stur zu Boden, aber Soren redete weiter. „Ich muss den Leuten vertrauen, die mir dienen, Raed. Ich muss wissen, dass sie meine Befehle ausführen und mir Rückendeckung geben.“ Er unterbrach sich und verkniff sich ein Lächeln. „Ich muss auch darauf vertrauen können, dass sie es mir sagen, wenn ihnen das nicht möglich ist. Mir, Raed, nicht Larenz oder irgendeinem anderen.“

Jetzt trat der Junge von einem Bein aufs andere. Soren hob mit einem Finger sein Kinn an und wunderte sich auch jetzt wieder darüber, dass der Junge ihm ins Gesicht sehen konnte, ohne sich vom schrecklichen Anblick beeindrucken zu lassen. „Kann ich dir vertrauen, Raed? Kann ich dir vertrauen, dass du mir Rückendeckung geben wirst?“

Die Unterlippe des Jungen begann zu beben, und Soren vermutete, dass er den Tränen nah war, aber dann nickte er. „Ihr könnt mir vertrauen, Lord Soren.“

„Gut, dann weißt du ja jetzt, was ein Herr von seinen Untergebenen erwarten kann“, sagte Soren und stand auf. „Belüge mich niemals, Raed, und stehe zu deinem Handeln, ob es nun richtig oder verkehrt war. Dann wirst du mir ein guter Knappe sein.“

„Aye, Mylord“, erklärte er.

„Jetzt geh zurück zu Larenz und erledige deine Aufgaben“, wies er den Jungen an und schaute ihm nach, wie er davonlief. Nach ein paar Schritten aber blieb er stehen.

„Lord Soren, wer passt denn auf die Mylady auf, wenn wir alle Euch unsere Treue schwören?“

Soren sah sich um, da er fest davon überzeugt war, dass Gautier auf dem Hof stand und ihn auslachte. Ein Kind, das ihn auf etwas hinwies, wo jeder andere versagt hatte – Gautier würde das sehr lustig finden. Er winkte Raed weiter, damit der sich seinen Aufgaben widmete, und stützte sich auf dem Zaun ab, um die Pferde zu betrachten.

Rache konnte ihn überleben lassen, aber sie konnte ihn nicht am Leben erhalten, das wusste er jetzt. Auch wenn das Verlangen nach Vergeltung nach wie vor durch seine Adern strömte, merkte er, dass er jetzt mehr wollte. Nachdem er hier angekommen war und die letzten Wochen mit der Arbeit an der Feste verbracht hatte, wusste er, dass es diese Art von Leben war, das er wollte. Davon hatte er immer geträumt, wenn er eine Schlacht geplant und darauf gehofft hatte, mit einem Sieg genug zusammenzubekommen, um eine friedliche Zukunft bezahlen zu können. Ein solches Leben hatte ihn, Giles und Brice zu diesen Ländereien geführt und sie dazu veranlasst, sie für William zu erobern.

Auch Stephen und die anderen, die von Brice und Giles kommen würden, um an seiner Seite zu kämpfen, würden hier bleiben wollen, sich eine Frau suchen und das Land beschützen und verteidigen. Schon in ihrer Jugend hatten sie sich das gegenseitig versprochen, später dann noch einmal, als Williams Ruf sie erreicht hatte.

Nun war die Zeit gekommen, diesen Traum zu verwirklichen.

Zunächst jedoch musste er mit dem Priester reden. Er hatte Fragen zu seiner Ehe und dazu, welche Möglichkeiten ihm offenstanden, um diese Ehe aufzuheben. Dann würde er mit Sybilla sprechen – mit ihr reden, sie nicht anschreien – und zu einer Einigung mit ihr kommen. So wie er eben Raed dazu angehalten hatte, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, so musste er selbst auch Verantwortung übernehmen. Jene Verantwortung, die Sybilla betraf.

Seine Gedanken waren so klar wie schon sehr lange nicht mehr, und genauso lange war es her, seit er zum letzten Mal sein Ziel so deutlich vor Augen gehabt hatte. Sofort machte er sich auf die Suche nach Vater Medwyn.

 

Sybilla nickte, als Guermont um Einlass in ihre Gemächer bat. Ein Tag war vergangen, seit Soren die beiden Besucher empfangen hatte, und inzwischen kehrte überall auf dem Gut der Alltag zurück. Zumindest hatte sie den Eindruck, wenn sie die Geräuschkulisse hörte, die vom Hof durch ihr Fenster drang, und wenn sie den Schilderungen ihrer Dienerinnen glauben durfte.

„Mylady, würdet Ihr mich zur Kapelle begleiten? Vater Medwyn wünscht Euch zu sprechen.“

Sybilla zögerte. „In der Kapelle? Kann er nicht herkommen und hier mit mir reden?“

„Ich führe nur meine Befehle aus, Mylady. Ich weiß nicht, über welches Thema er mit Euch reden möchte, und ich weiß auch nicht, warum ich Euch zu ihm bringen soll.“

Guermont hörte sich ein wenig gereizt an, was nur zu verständlich war, da er so viele Dinge erledigen musste und er nicht die Zeit dafür hatte, hier zu stehen und mit ihr zu diskutieren. Schließlich seufzte er.

„Verzeiht mir, Mylady“, bat er. „Ich wollte meine schlechte Laune nicht an Euch auslassen.“

„Ist schon gut, Guermont. Es kam nur so unvorhergesehen“, erwiderte sie, stand auf und hielt ihm ihre Hand hin. „Ich bin bereit. Aldys, du musst mich nicht begleiten.“

Sie kannte Vater Medwyn so gut wie gar nicht, dennoch wollte sie ihre Dienerin nicht in ihrer Nähe haben, wenn der Priester mit ihr persönlich reden musste. Über ihn wusste sie nur, dass er mit Lord Soren hergekommen und dann geblieben war. Er war ein Angelsachse aus dem Westen, aus Wessex, wo sich das Machtzentrum der Godwinsons befand. Und sie wusste auch noch, dass sie von ihm vermählt worden war, mehr aber nicht.

Wie üblich zählte Guermont mit ihr jeden Schritt, und wieder blieb er an der obersten Stufe der Treppe stehen, damit sie Mut fassen konnte, bevor sie eine Stufe nach der anderen nach unten ging. Diesmal jedoch war etwas anders als sonst.

„Mylady, streckt Eure rechte Hand aus, bis Ihr die Wand neben Euch berührt“, sagte er. „Nein, noch etwas tiefer.“

Plötzlich ertasteten ihre Finger ein Seil, das an einem Haken im Mauerwerk hing. „Was ist das?“ Sie folgte mit ihrer Hand dem Verlauf des Seils und stellte fest, dass es nach unten abfiel.

„Etwas, das Euch Halt geben soll. Lord Soren dachte sich, wenn Ihr Euch daran festhalten könnt, dann fühlt Ihr Euch auf der Treppe wohler.“

Ein solch umsichtiger Gedanke verblüffte sie, und als sie sich beim Gehen am Seil festhielt, merkte sie, wie sehr ihr das half. Den Weg nach unten schienen sie diesmal viel zügiger und müheloser zurückzulegen. Am Fuß der Treppe konnte Sybilla nicht anders und lächelte strahlend über diese Hilfe. Auch wenn sie nicht wusste, welchen Grund er für eine solche Maßnahme hatte, freute sie sich dennoch. Guermont machte eine kurze Pause, dann begleitete er sie zur Kapelle. Den Weg dorthin legten sie schnell zurück, da es nicht länger über festgetretene, unebene Erde ging. Stattdessen war der Untergrund nun ebenmäßig gepflastert, was sie erheblich zügiger vorankommen ließ. An der Kapelle angekommen, brachte Guermont sie nach drinnen.

„Lady Sybilla, willkommen“, sagte ein Mann zu ihr. „Ich bin Vater Medwyn, vormals aus Shildon, nun im Dienst von Lord Soren und den Menschen hier.“ Sie hörte, wie ein Möbelstück über den Steinboden geschoben wurde. „Hier, Mylady“, fuhr er fort, „nehmt Platz und macht es Euch bequem.“

Guermont begleitete sie bis zu einem Stuhl, stellte ihn hinter sie und half ihr beim Hinsetzen. „Mylady, Vater Medwyn wird nach mir rufen, wenn Ihr bereit seid, in Eure Gemächer zurückzukehren.“

Sie hörte, wie seine Schritte sich entfernten, als er sie mit dem Priester allein ließ. Sybilla versuchte, Ruhe zu bewahren, aber unter derartigen Umständen fiel ihr das nicht leicht. Nichts verriet ihr, ob sie mit dem Mann allein war oder ob sich noch andere Leute in der Kapelle aufhielten. „Vater, sind wir allein?“, fragte sie deshalb als Erstes.

„Aye, Mylady. Außer Euch und mir ist niemand hier.“

„Habt Ihr mich herkommen lassen, um mir die Beichte abzunehmen?“ Es war schon viele Wochen her, seit sie das letzte Mal gebeichtet hatte.

Der Priester lachte auf eine wundervolle, warmherzige Art, was ihr ein Lächeln entlockte. „Nein, Mylady, aber wenn Ihr es wünscht, kann ich das gerne machen. Nachdem wir diese Sache hier erledigt haben.“

Sie schluckte nervös. Wenn sie nicht beichten sollte, warum war sie dann hier?

„Lord Soren hat mich gebeten, mit Euch über Eure Ehe zu reden.“

Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit. Dann hatte Soren also eingesehen, dass es besser war, sie ins Kloster gehen zu lassen.

„Und über was genau sollt Ihr mit mir reden? Hat er beschlossen, die Eheschließung anzufechten?“ Eine Aufhebung würde nicht sehr lange dauern, wenn der König seiner Bitte entsprach. Sie konnte schon jetzt ins Kloster gehen und dort auf die Bestätigung warten. Auf einmal legte der Priester seine Hand auf ihre.

„Er bietet Euch die Möglichkeit, das zu tun. Er sagte mir, Ihr wollt Euch in ein Kloster zurückziehen.“

Seine Worte ließen sie aufhorchen. Lord Soren wollte es ihr also gestatten? Vielleicht hatte er ja eingesehen, dass er niemals in der Lage sein würde, sie als seine Ehefrau zu akzeptieren, nachdem sie nun den Grund für seinen Hass kannte und wusste, wie tief der bei ihm saß.

„Aye, Vater. Diesen Plan hatte ich schon am Tag seiner Ankunft gefasst.“ Sie konnte nicht glauben, dass das alles tatsächlich so schnell und problemlos geschehen sollte. „Er ist damit einverstanden? Tatsächlich?“

„Aye. Mylady. Und er wird dem Kloster eine großzügige Spende zukommen lassen, damit Ihr auch sicher aufgenommen werdet.“

Das hörte sich eigentlich zu gut an, um wahr zu sein. Er kam ihr nicht wie ein Mann vor, der es einer Frau gestatten würde, ihn zu verlassen. Nach allem, was Gytha erzählt hatte, war er es vielmehr gewohnt, dass die Frauen zu ihm kamen. Es musste doch einen Haken an der Sache geben … „Welchen Preis fordert er für meine Freiheit, Vater? Was erwartet Lord Soren dafür von mir?“

„Ihr könnt mir glauben, Mylady, er hat nichts Derartiges erwähnt. Er wandte sich an mich mit der Frage nach der Gültigkeit Eurer Ehe und nach den Bedingungen, um sie für ungültig zu erklären. Dann bat er mich, mit Euch zu reden und Euch das Gleiche zu sagen. Und ich soll euch unbedingt ausrichten, dass er Euch keine Steine in den Weg legen wird, wenn Ihr Euch für eine solche Vorgehensweise entscheidet.“

Sie ließ sich gegen die Rückenlehne sinken und dachte über diese sehr merkwürdige Situation nach. Sie musste mehr darüber erfahren. „Dann, Vater, erklärt mir bitte, was Ihr Lord Soren erklärt habt.“

„Wegen Eurer körperlichen Einschränkung, also Eurer Blindheit, kann die Ehe für ungültig erklärt werden. Wenn Euer Zustand von Dauer ist, wird er Euch daran hindern, Euren rechtlichen und ehelichen Pflichten nachzukommen, und er könnte jedem Kind Schaden zufügen, das aus dieser Ehe hervorgeht.“

Seine Worte verschlugen ihr die Sprache, doch er war noch nicht fertig.

„Zwar hat Lord Soren trotz des Wissens um Eure Einschränkung das Ehegelübde abgelegt, aber es ließe sich behaupten, dass ihm nichts von der Dauerhaftigkeit Eures Zustands bekannt gewesen ist. Also kann er ohne Weiteres die Ehe für ungültig erklären lassen.“

„Wollt Ihr damit sagen, dass er sich zu jedem Zeitpunkt von mir trennen kann, solange die Ehe nicht vollzogen ist?“

„Ob die Ehe vollzogen wurde oder nicht, ist nicht von Belang, Mylady. Wenn er zu dem Schluss kommt, dass Ihr Euer Augenlicht nicht zurückerlangen werdet, kann er die Ehe beenden.“

„Und wenn meine Blindheit nur von vorübergehender Dauer ist, so wie ich glaube?“ Es kümmerte sie nicht, wer ihr alles einreden wollte, dass sie nie wieder etwas sehen würde. Sie selbst glaubte nicht daran. Das konnte nicht sein. Wenn die Schwellungen in ihrem Kopf und rund um ihre Augen völlig abgeklungen waren, würde sie wieder sehen können.

Es musste so kommen.

Sie atmete angestrengt ein und wollte nicht darüber nachdenken, was sein würde, wenn sie für immer in dieser finsteren, höllischen Existenz gefangen sein sollte. Wieder tätschelte der Priester ihre Hand, sagte jedoch nichts. Er mochte ja nicht daran glauben, aber sie schon. Sie würde wieder sehen können.

„Wenn die Aufhebung gewährt wird, bevor Euer Augenlicht zurückkehrt, dann steht es Euch frei zu heiraten, wen Ihr wollt, was auch für ihn gilt. Wenn Ihr wieder sehen könnt und es noch nicht zur Aufhebung gekommen ist, dann bleibt Ihr vor Gott und seiner Kirche weiter verheiratet.“

„Und das weiß er auch?“, vergewisserte sie sich.

„Aye, Mylady. Habt Ihr noch Fragen an mich?“

„Was will er, Vater?“

Der laute Seufzer hallte von den Wänden der Kapelle wider. Sybilla konnte fast das wunderschöne Fenster sehen, das ihr Vater im Gedenken an ihre Mutter hatte anfertigen und auf der Westseite des Gebäudes einsetzen lassen. Die Verlobungszeremonie ihres Bruders hatte hier stattgefunden, und das war auch für sie selbst so vorgesehen, hätte der Tod ihr nicht vorzeitig den Vater genommen. Vor Cerdics Abreise auf Harolds Befehl hin hatte ihr Vater von einem möglichen Heiratsvertrag zu ihren Gunsten gesprochen, doch mehr als das hatte sie nicht erfahren.

„Lord Soren hat mit mir nicht über seine persönliche Neigung gesprochen, nur über die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Ich bin mir sicher, er wird mit Euch über alle Einzelheiten reden.“ Sie hörte, dass der Priester sich bewegte, und sie begriff, dass das Gespräch damit beendet war. „Ich rufe jetzt Guermont, damit er Euch in Eure Gemächer zurückbringt.“

„Vater, bitte. Kann ich noch ein paar Augenblicke hier verbringen, bevor Ihr Guermont ruft? Ich muss über so vieles nachdenken“, erklärte sie wahrheitsgemäß. Solange sie nicht gründlich über diese unverhoffte Entwicklung nachgedacht hatte, wollte sie weder ihren Dienerinnen noch jemand anderem gegenübertreten. Sie wollte auch niemanden in ihrer Nähe haben, solange sie nicht ihre Gedanken geordnet hatte, die sich in ihrem Kopf überstürzten. Wenn sie mit Soren darüber reden sollte, dann musste sie erst einmal wissen, was sie selbst überhaupt davon hielt.

„Gewiss, Mylady. Ich muss noch meine Gebete beenden, Ihr könnt also bleiben, solange Ihr wollt. Sagt mir einfach Bescheid, wenn Ihr Euch bereit fühlt, in Eure Gemächer zurückzukehren.“ Er ging davon, blieb aber noch einmal stehen. „Ihr seht momentan genau auf den Altar, falls Ihr Euch das gefragt haben solltet.“

Sie musste lächeln, erfreut darüber, dass der Geistliche so umsichtig war. Nachdem der nichts weiter zu ihr sagte, bekreuzigte sich Sybilla und betete wie gewohnt für die Seelen der Toten, für ihre Familie, für ihre Leute. Als sie niemanden mehr wusste, für den sie auch noch beten konnte, war die Zeit gekommen, sich dem zu widmen, was wirklich wichtig war.

Dabei stellte sie fest, dass sie sich nicht entscheiden konnte. Lord Soren hielt als ihr Ehemann die Macht in seinen Händen, und solange sie nicht wusste, was er beabsichtigte, war jede ihrer Entscheidungen bedeutungslos. Sie würde diese Angelegenheit einige Tage lang auf sich beruhen lassen und ihn dann bitten, mit ihm reden zu dürfen. Wenn er den Weg geebnet hatte, indem er zu Vater Medwyn gegangen war, dann musste er es so sehr wollen wie sie selbst. Es gab also keinen Grund, noch länger hier in der Kapelle zu verweilen. Als sie hörte, dass der Priester seine gemurmelten Gebete unterbrach, bat sie ihn, Guermont zu rufen.

Der Weg zurück zu ihren Gemächern erschien ihr nahezu wohltuend, nachdem ihr nun eine große Last von den Schultern genommen worden war. Die Luft duftete nach frischem Regen, sie atmete tief ein und erfreute sich an dem Aroma. Da der Mittag nicht allzu lange zurücklag, war es warm, aber wenn die Sonne sich erst einmal dem Horizont näherte, würde es schnell abkühlen. Alston lag so weit im Norden Englands, dass das Wetter zwar insgesamt recht angenehm war, der Frühling aber fiel ziemlich regnerisch aus. Jetzt, da der Sommer sich dem Ende zuneigte und der Herbst näher rückte, sollte eine gute Ernte ins Haus stehen, sofern der Krieg sich von ihnen fernhielt.

Abrupt blieb sie stehen, da ihr eine erschreckende Erkenntnis durch den Kopf ging: Sie würde nicht hier sein, um beim Einbringen der Ernte mitzuhelfen, sie würde nicht beim Einlagern von Getreide und Gemüse mitmachen, und sie würde auch nicht das Schlachten der Tiere überwachen, deren Fleisch sie alle durch den Winter bringen sollte. Und sie würde auch nicht mehr zugegen sein, wenn das Weihnachtsfest und der Jahreswechsel anstanden. Das galt natürlich auch für die Zeit, wenn der Frühling dem Land wieder Farbe gab.

„Mylady?“, fragte Guermont erschrocken. „Fühlt Ihr Euch nicht wohl?“

Sybillas Gedanken hatten sich nur darum gedreht, Soren zu entkommen, und dabei war ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie auch all das hier hinter sich zurücklassen würde. Als ihr Vater von einer Verlobung gesprochen hatte, da war ihr zwar klar gewesen, dass sie dann dort würde wohnen müssen, wo ihr Ehemann lebte. Doch durch den Tod ihres Bruders war sie die Erbin des Guts geworden, das sie aufgeben müsste, wenn sie vor Soren davonlief. Guermont berührte leicht ihre Hand, um auf sich aufmerksam zu machen.

„Mylady? Ihr seid mit einem Mal so blass. Habt Ihr Euch überanstrengt?“ Er legte einen Arm um ihre Taille, um sie zu stützen, während sie weitergingen.

Sybilla schüttelte den Kopf, als könnte sie so diese beunruhigenden Gedanken vertreiben. Was für ein Zeitpunkt, um zu einer so tiefgreifenden Erkenntnis zu gelangen!

„Gebt mir einen Moment, damit ich mich sammeln kann, Guermont“, sagte sie. Dann wartete sie, bis das Entsetzen abgeklungen war, schließlich nickte sie und ließ sich von Guermont nach drinnen führen. Das Seil an der Außenmauer der Treppe war eine große Hilfe, um die Stufen zügig bewältigen zu können, und so standen sie schon nach kurzer Zeit vor der Tür zu ihren Gemächern. Sie dankte ihrem Begleiter und wollte eintreten, da wurde die Tür von innen geöffnet.

„Soren“, sagte Guermont erstaunt.

„Komm herein, Sybilla“, forderte Soren sie auf.

Als sie ein paar Schritte gemacht hatte, schlug ihr das Aroma einiger ihrer Lieblingsspeisen entgegen, woraufhin ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Gebratene Wachteln? Sollte das wahr sein? Wild? Sogar den Kuchen, den der Koch für sie bei besonderen Anlässen zubereitete? Aber … wie konnte das sein?

Lord Soren ergriff ihre Hand und zog Sybilla weiter ins Zimmer, dann half er ihr, sich an den Tisch zu setzen. Ein Tisch – in ihren Gemächern? Tastend bewegte sie die Finger über die Tischplatte und stieß dabei auf Teller und Schüsseln von unterschiedlicher Größe. Lord Soren erklärte ihr jedes Mal, um welche Speise es sich handelte.

Ja, sie hatte recht gehabt. Das waren alles ihre Lieblingsgerichte.

„Das ist das Abendessen. Ich habe mir überlegt, dass wir etwas essen, während wir uns unterhalten“, erklärte er.

Sie fand zwar, dass das Ende ihrer Ehe kein geeignetes Thema war, um bei einem so köstlichen Essen darüber zu reden, aber er schien sich daran nicht zu stören. In den letzten Wochen hatte sie nur wenig zu sich genommen, meistens Brühe oder Eintopf, weil sie das trotz ihrer Blindheit auch ohne Hilfe bewerkstelligen konnte. Eine Schale, ein Löffel, damit kam sie zurecht. Was mehr Arbeit erforderte, weil es zum Beispiel klein geschnitten werden musste, war für sie zu viel, weshalb sie es auch gar nicht erst versucht hatte.

„Ich habe keinen Hunger, Lord Soren“, erwiderte sie kopfschüttelnd. „Trotzdem danke ich Euch dafür, dass Ihr Euch meinetwegen so viel Mühe gemacht habt.“

Ihre Botschaft war klar und deutlich und hätte ihn und jeden anderen davon überzeugen müssen, dass sie keinerlei Interesse an den dargebotenen Speisen hatte, wären in diesem Moment nicht zwei Dinge geschehen: Zum einen knurrte ihr Magen so laut, dass sich das Geräusch nicht überspielen ließ, zum anderen schob Soren ihr ein kleines Stück gebratene Wachtel in den Mund.

Das Fleisch war saftig und genau richtig durchgebraten, und es schmeckte so gut, dass sie mehr davon haben wollte.

„Gut, nicht wahr?“, fragte er. Er war jetzt dicht neben ihr, und sie hörte, wie er einen Stuhl für sich heranzog. „Hier habe ich noch mehr für dich vorbereitet“, sagte er und führte ihre Hand zu einem Zinnteller, der direkt vor ihr stand. „Koste davon.“

Dann wartete er einfach nur ab, bis sie seiner Aufforderung nachkam und die Hand auf den Teller legte, damit sie mit den Fingern ertasten konnte, was darauf lag. Zunächst verhielt sie sich zögerlich, da sie fürchtete, das Essen könnte vom Teller fallen und auf ihr oder auf dem Boden landen.

„Ah“, sagte er dann. „Jetzt wird mir der Grund für deine Sorge deutlich. Du willst dich nicht bekleckern.“ Er stand auf, ging einmal um sie herum und stellte sich dann hinter sie. „Lass mich Abhilfe schaffen.“

Ohne Vorwarnung zog er behutsam ihren Schleier fort, fasste nach ihren Armen und schob die Ärmel so weit hoch, dass sie nicht von selbst nach unten rutschen konnten. Schließlich legte er ihr noch ein Tuch um, das er in ihrem Nacken zusammenknotete. „Deine Kleidung ist jetzt sicher, Sybilla. Du kannst weiteressen.“

Ausgelassen. Ja, genau. Er verhielt sich ihr gegenüber ausgelassen. Vielleicht fand er ja, dass er sie nicht länger hassen musste, nachdem er erfahren hatte, dass diese Ehe für ungültig erklärt werden konnte. Auf jeden Fall war das nicht der Lord Soren, den sie bislang kennengelernt hatte, und deshalb wusste sie auch nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Doch ihr Magen machte diese Überlegungen hinfällig, da er genau in diesem Augenblick erneut laut zu knurren begann.

„Hier hast du mehr“, sagte er. Sie konnte eine Fülle verschiedener Aromen riechen, als er weitere Speisen auf ihren Teller legte. „Wir können uns unterhalten, wenn du satt bist. Links von dir steht ein Krug Ale, falls du durstig bist.“

Nachdem sie erst einmal angefangen hatte zu essen, fiel es ihr schwer, wieder damit aufzuhören. Bis zu diesem Moment war ihr nicht klar gewesen, was sie alles in der letzten Zeit nicht mehr zu sich genommen hatte. Er teilte das Fleisch für sie in kleine Stücke und legte immer wieder nach, wenn sich ihr Teller zu leeren begann.

„Und was ist mit Euch, Lord Soren? Wollt Ihr nichts essen?“

Schweigen schlug ihr entgegen, und sie fürchtete, sie könnte abermals etwas Verkehrtes gesagt haben.

„Ich muss meine Kappe abnehmen, wenn ich essen will“, erklärte er nach einer Weile. Als sie verständnislos mit den Schultern zuckte, fuhr er fort: „Ich trage eine Kappe, die meine … meine Verletzungen verdeckt. Ich mag es nicht, von den Leuten angestarrt zu werden.“ Seine Stimme klang anders, so wie der Lord Soren, den sie kannte. „Wenn ich sie trage, kann ich nicht essen.“

Sybilla wusste nicht, was sie dazu antrieb, auf jeden Fall fand sie, dass sie das Richtige tat, als sie erwiderte: „Dann nehmt diese Kappe ab, Lord Soren. Ich kann den Unterschied nicht feststellen, und Ihr fühlt Euch wohler.“

Nach einer kurzen Pause hörte sie Stoff rascheln, dann landete etwas zwischen ihnen auf dem Tisch, gefolgt von einem höchst beunruhigenden Laut – einem tiefen Stöhnen, das für große Erleichterung sprach. Auch wenn sie den Grund dafür nicht kannte, verkrampfte sich ihr Magen dabei.

Ohne noch ein Wort über die Angelegenheit zu verlieren, widmeten sie sich beide dem Essen. Er legte ihr immer wieder etwas anderes auf den Teller, schenkte ihr Wein ein – verdünnten Wein, weil sie die starke Sorte nicht gewöhnt war, die er mitgebracht hatte – und bot stets Nachschlag an, wenn sie wieder etwas aufgegessen hatte. Sie versuchte, nicht zu schnell zu speisen, da sie fürchtete, dass ihr Magen dann rebellieren würde. Doch jeder Happen machte Appetit auf noch mehr.

Zum Abschluss gab es süße Waffeln und kleine Kuchen in verschiedenen Geschmacksrichtungen, beides in einer Größe, mit der sie ganz ohne Hilfe zurechtkam. Sie aß nur eine Waffel und einen Kuchen, dann schüttelte sie nachdrücklich den Kopf.

„Ich danke Euch für das köstliche Essen, Lord Soren“, sagte sie, als sie den Teller wegschob. Sie griff nach der Leinenserviette, damit sie sich Mund und Hände abwischen konnte, aber er nahm die Serviette an sich, als sie mit ihren Händen fertig war.

„Lass mich das erledigen, ich kann sehen, wie verschmiert dein Mund ist“, neckte er sie.

„So schlimm?“, fragte sie, als er ihre Mundwinkel abtupfte und dann über Kinn und Lippen wischte. Gleich darauf fuhr sie mit der Zungenspitze über ihre Lippen, als sie auf einmal seinen Daumen bemerkte, der den Weg ihrer Zunge nachzeichnete. Die leichte Berührung genügte, um ein Kribbeln in ihrem Bauch aufkommen zu lassen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und Soren nahm seine Hand fort.

Sie beschloss, dass es Zeit für das Gespräch war, und sie wollte nicht noch länger warten, bis er endlich anfing zu reden. „Sagt mir, Lord Soren“, begann sie. „Was hat Euch zu dem Entschluss geführt, dass Ihr mich nicht länger als Eure Frau haben wollt?“


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