Nach der Geräuschkulisse zu urteilen hatten im Saal viele Leute Zuflucht vor dem Unwetter gesucht. Da es in der Umgebung seit einer Weile immer wieder zu Rebellenangriffen kam, hatte Soren angewiesen, dass die Leute aus dem Dorf auf das Gut umziehen sollten. Das war mit ein Grund dafür, wieso es im Saal so laut zuging, doch der Lärm verstummte in dem Moment, als sie bei Soren untergehakt den weitläufigen Raum betrat.
Von Sorens Soldaten abgesehen kannte sie jeden in Alston von Kindheit an, dennoch kam sie sich vor, als wäre sie unter Fremden. Keinen von ihnen sehen zu können, weckte bei ihr in dieser Situation großes Unbehagen. Soren führte sie durch den Saal und gab ihr im Flüsterton Richtungsanweisungen, bis sie die große Tafel am Kopfende des Saals erreicht hatten, die dort immer stand.
„Bringt Lady Sybilla einen Stuhl!“, rief er, als sie um die Tafel herumgingen. Sie hörte das Gemurmel der Leute, hastige Schritte, und dann blieb Lord Soren zusammen mit ihr stehen. Er nahm seinen Arm fort und drehte sie so, dass sie sich hinsetzen konnte. Als er sich über sie beugte, um die Decke um ihre Schultern geradezuziehen, sagte er leise zu ihr: „Es sind nur zwanzig Schritte geradeaus und dann einer nach rechts, um die Treppe zu erreichen, aber ich werde Guermont herschicken, damit er dich abholt und in deine Gemächer begleitet, falls du dorthin zurück willst, bevor ich zu Ende gebadet habe.“
Bei seinen Worten wurde ihr wieder heiß, und besonders ihre Wangen begannen zu glühen. Sie wusste, er hatte das mit Absicht gemacht. Entspannen konnte sie sich erst, wenn er gegangen war, doch zumindest fand sie schnell heraus, dass er den Saal tatsächlich verlassen hatte, weil die Leute in diesem Moment wieder zu reden begannen. Es dauerte ein wenig, dann traute sich einer der Anwesenden, zu ihr zu kommen und mit ihr zu reden. Andere folgten, und Sybilla unterhielt sich mit jedem Einzelnen von ihnen, fragte, wie es der Familie ging, und erkundigte sich nach ihrem Wohlergehen. Viel Zeit verbrachte sie damit, bis ihr auf einmal etwas auffiel, als sie mit den Fingern über die Armlehnen des Stuhls strich und diese kunstvollen Schnitzereien ertastete, die sie nur zu gut kannte. Das … das war der Platz des Hausherrn der Feste – der Platz ihres Vaters! Plötzlich hatte sie das Gefühl, eine ungeheure Last würde auf sie einstürzen.
Ihr Vater war tot. Ebenso ihr Bruder. Jeder, von dem sie geliebt worden war und den sie geliebt hatte, war tot. Keiner war mehr da.
Und sie konnte nichts für ihre Leute tun, die sie jetzt am dringendsten brauchten. Sie konnte ihre Leute ja nicht einmal sehen! Sie wusste nicht, in welcher Verfassung sich jeder Einzelne befand. Niemals wieder würde sie in diese Gesichter blicken können, und nie wieder würde sie die Feste Alston im Morgengrauen oder bei Sonnenuntergang sehen.
Man hatte sie dazu bringen wollen, das Unvermeidliche zu akzeptieren, aber sie hatte sich geweigert. Und nun brach die Wahrheit über sie herein. Seit dem Unglück hatte sie keine Veränderung ihres Zustands erkennen können, keine Verbesserung, keinen schwachen Lichtschimmer. Nichts als Dunkelheit, wohin sie auch sah. Dunkelheit, die sie zu ersticken versuchte. Sie konnte spüren, wie die Schwärze ihr die Luft aus den Lungen zog.
Abrupt begann sie nach Luft zu schnappen und sprang auf, weil sie weglaufen wollte – fort von der Wahrheit und den Lügen, fort von jedem und allem. Aber sie konnte nicht weglaufen, weil sie nichts sah. Die Leute riefen ihren Namen und versuchten ihr zu helfen, aber die Rufe veränderten sich zu gellenden Schreien, zu Schmähungen und Beleidigungen, die ihr von allen Seiten entgegenschlugen. Sie stolperte vorwärts, versuchte die Schritte zu zählen, verzählte sich und blieb stehen, während sie spürte, dass die Leute ganz in ihrer Nähe waren.
Sie konnte nichts sehen!