Die Schöne und der Bastard - Kapitel 15

~ Kapitel 15 ~

Nach der Geräuschkulisse zu urteilen hatten im Saal viele Leute Zuflucht vor dem Unwetter gesucht. Da es in der Umgebung seit einer Weile immer wieder zu Rebellenangriffen kam, hatte Soren angewiesen, dass die Leute aus dem Dorf auf das Gut umziehen sollten. Das war mit ein Grund dafür, wieso es im Saal so laut zuging, doch der Lärm verstummte in dem Moment, als sie bei Soren untergehakt den weitläufigen Raum betrat.

Von Sorens Soldaten abgesehen kannte sie jeden in Alston von Kindheit an, dennoch kam sie sich vor, als wäre sie unter Fremden. Keinen von ihnen sehen zu können, weckte bei ihr in dieser Situation großes Unbehagen. Soren führte sie durch den Saal und gab ihr im Flüsterton Richtungsanweisungen, bis sie die große Tafel am Kopfende des Saals erreicht hatten, die dort immer stand.

„Bringt Lady Sybilla einen Stuhl!“, rief er, als sie um die Tafel herumgingen. Sie hörte das Gemurmel der Leute, hastige Schritte, und dann blieb Lord Soren zusammen mit ihr stehen. Er nahm seinen Arm fort und drehte sie so, dass sie sich hinsetzen konnte. Als er sich über sie beugte, um die Decke um ihre Schultern geradezuziehen, sagte er leise zu ihr: „Es sind nur zwanzig Schritte geradeaus und dann einer nach rechts, um die Treppe zu erreichen, aber ich werde Guermont herschicken, damit er dich abholt und in deine Gemächer begleitet, falls du dorthin zurück willst, bevor ich zu Ende gebadet habe.“

Bei seinen Worten wurde ihr wieder heiß, und besonders ihre Wangen begannen zu glühen. Sie wusste, er hatte das mit Absicht gemacht. Entspannen konnte sie sich erst, wenn er gegangen war, doch zumindest fand sie schnell heraus, dass er den Saal tatsächlich verlassen hatte, weil die Leute in diesem Moment wieder zu reden begannen. Es dauerte ein wenig, dann traute sich einer der Anwesenden, zu ihr zu kommen und mit ihr zu reden. Andere folgten, und Sybilla unterhielt sich mit jedem Einzelnen von ihnen, fragte, wie es der Familie ging, und erkundigte sich nach ihrem Wohlergehen. Viel Zeit verbrachte sie damit, bis ihr auf einmal etwas auffiel, als sie mit den Fingern über die Armlehnen des Stuhls strich und diese kunstvollen Schnitzereien ertastete, die sie nur zu gut kannte. Das … das war der Platz des Hausherrn der Feste – der Platz ihres Vaters! Plötzlich hatte sie das Gefühl, eine ungeheure Last würde auf sie einstürzen.

Ihr Vater war tot. Ebenso ihr Bruder. Jeder, von dem sie geliebt worden war und den sie geliebt hatte, war tot. Keiner war mehr da.

Und sie konnte nichts für ihre Leute tun, die sie jetzt am dringendsten brauchten. Sie konnte ihre Leute ja nicht einmal sehen! Sie wusste nicht, in welcher Verfassung sich jeder Einzelne befand. Niemals wieder würde sie in diese Gesichter blicken können, und nie wieder würde sie die Feste Alston im Morgengrauen oder bei Sonnenuntergang sehen.

Man hatte sie dazu bringen wollen, das Unvermeidliche zu akzeptieren, aber sie hatte sich geweigert. Und nun brach die Wahrheit über sie herein. Seit dem Unglück hatte sie keine Veränderung ihres Zustands erkennen können, keine Verbesserung, keinen schwachen Lichtschimmer. Nichts als Dunkelheit, wohin sie auch sah. Dunkelheit, die sie zu ersticken versuchte. Sie konnte spüren, wie die Schwärze ihr die Luft aus den Lungen zog.

Abrupt begann sie nach Luft zu schnappen und sprang auf, weil sie weglaufen wollte – fort von der Wahrheit und den Lügen, fort von jedem und allem. Aber sie konnte nicht weglaufen, weil sie nichts sah. Die Leute riefen ihren Namen und versuchten ihr zu helfen, aber die Rufe veränderten sich zu gellenden Schreien, zu Schmähungen und Beleidigungen, die ihr von allen Seiten entgegenschlugen. Sie stolperte vorwärts, versuchte die Schritte zu zählen, verzählte sich und blieb stehen, während sie spürte, dass die Leute ganz in ihrer Nähe waren.

Sie konnte nichts sehen!

Sybilla drehte sich wieder und wieder um sich selbst, während sie nach einem Licht in der Schwärze suchte, das ihr den Weg weisen konnte. Aber wohin sie auch sah, überall war es pechschwarz. Sie rieb sich die Augen, weil sie hoffte, die Schicht wegreiben zu können, die ihr die Sicht nahm. Und dann begann die Schwärze selbst um sie herumzuwirbeln.

Sie würde niemals wieder etwas sehen können.

„Hier, Mylady“, sagte jemand. „Eure Gemächer befinden sich in dieser Richtung.“

Sybilla versuchte zu sehen, wer ihr da helfen wollte, aber sie sah natürlich nichts. Die Stimme klang vertraut, doch sie wusste nicht den Namen, der dazugehörte, auch wenn sie ihr Gedächtnis noch so sehr anstrengte. Kurz darauf sagte der bekannte und doch so fremde Mann an ihrer Seite, die Treppe befinde sich nun unmittelbar vor ihr. Sie ließ seinen Arm los, stolperte die ersten paar Stufen hinauf, bis sie das Seil zu fassen bekam, an dem sie sich regelrecht nach oben zog. Mit einem Arm rieb sie dabei ständig an der Mauer entlang, sodass der Ärmelstoff mit jeder Unebenheit der Mauersteine in Berührung kam und mit jeder Stufe ein wenig mehr aufgerissen wurde.

Ihr Schleier verfing sich und wurde ihr vom Kopf gerissen, ihre Hände rutschten ein paar Mal und glitten schmerzhaft über das grobe Seil. Aber sie lief weiter. Von unten rief man ihren Namen, von oben genauso, aber sie sah niemanden.

Weil sie nichts und niemanden sehen konnte.

Außer Atem erreichte sie den Treppenabsatz, taumelte zu schnell ein paar Schritte weit und stieß gegen die Wand. Nachdem sie sich wieder aufgerappelt hatte, lief sie weiter, diesmal auf der Suche nach dem Mann, der ihren Zustand verursacht hatte. Seinetwegen war sie erblindet, und dafür würde sie ihn bezahlen lassen. Sie tastete sich an der Wand entlang, bis sie die Tür zu ihren Gemächern erreicht hatte. Sie riss sie auf und achtete nicht auf diejenigen, die sich ein Stück hinter ihr befanden und ihren Namen schrien. Sie würden doch nur versuchen, sie aufzuhalten.

„Sybilla!“, rief Soren, als sie ins Zimmer gestürmt kam. Sie hörte, wie das Wasser wegen seiner hastigen Bewegung aus der Wanne auf den Fußboden spritzte, aber es kümmerte sie nicht. „Bleib stehen!“, forderte er sie auf, doch auch das kümmerte sie nicht.

Die Tür schlug hinter ihr zu.

Sie würde niemals wieder sehen.

Der Gedanke schlug wie ein Hammer auf ihren Kopf ein und bohrte sich wie eine Klinge in ihr Herz, sodass sie nach Luft zu schnappen begann. Sie hatte den Mann vor sich, der für ihre Blindheit verantwortlich war. Er hatte ihr das angetan, und er prahlte auch noch damit. Er hatte ihr das Land geraubt, er hatte ihr das Augenlicht geraubt, er hatte ihr das Leben geraubt.

„Sybilla“, redete er jetzt leiser auf sie ein. „Sybilla.“

Der Schmerz war so schrecklich, dass sie nicht anders konnte, als sich mit aller Wucht auf die Stimme zu stürzen. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihn erwischte und ihm so wehtat, wie er ihr wehgetan hatte.


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