Pierce erwachte und sah eine Abordnung an seinem Bett stehen. Abby, Donald und Bryce.
Erschrocken richtete er sich auf und kontrollierte den Wecker. Es war kurz nach sechs Uhr. Da er erst um zwei Uhr ins Bett gegangen war, hatte er knapp vier Stunden geschlafen.
"Es ist noch ziemlich früh", erklärte er, obwohl er ahnte, dass die Nacht für ihn endgültig vorbei war.
"Wendy ist weg", sagte Abby kläglich.
"Sie hat ihr Bett gemacht und eine Nachricht hinterlassen", fügte Donald hinzu.
Jetzt war Pierce hellwach.
"Hier, das hat sie geschrieben." Donald reichte ihm einen Zettel. "Bis Sydney ist es ganz schön weit."
Pierce sah erst Donald und dann die Notiz an. Es war gerade hell genug, dass er die Nachricht entziffern konnte.
Ich bin auf dem Weg zu Shanni. Ich muss sie etwas fragen … etwas sehr Wichtiges, worüber ich mit Pierce nicht sprechen kann. Sie hat mir ihre Adresse gegeben, daher weiß ich, wo ich sie finde. Sie wird euch anrufen, wenn ich bei ihr bin.
"Seit wann ist sie weg?", fragte Pierce.
"Das wissen wir nicht", antwortete Abby. "Ich bin aufgewacht und habe gesehen, dass sie ihr Bett gemacht hatte. Da bin ich zu den Jungs gegangen."
"Ich habe ihr Kissen angefühlt", ergänzte Bryce. "Es ist kalt."
Gott im Himmel! Pierce sah an den Gesichtern der Kinder, dass sie seine Befürchtungen teilten. Wendy, die Zuverlässigste von allen. Wendy zu Fuß unterwegs nach Sydney.
Pierce legte den Zettel auf den Nachttisch und griff nach seinen Jeans. "Blake! Nik! Olga!", rief er laut auf dem Weg zur Tür. Wofür waren Brüder und eine Haushälterin schließlich da?
Während er die Treppe hinunterlief, streifte er seine Windjacke über den Kopf. Genug Schuhe standen unten im Flur.
"Wo brennt's denn?" Blake und Nik tauchten verschlafen aus ihren Zimmern auf, und auch Olga ließ nicht lange auf sich warten. Sie trug ein knöchellanges Nachthemd und Lockenwickler. "Falls du zum Melken gehst, rechne nicht mit der Nächstenliebe deiner Brüder."
"Ich muss Wendy finden." Pierce stand schon an der Tür. "Sie versucht, nach Sydney zu kommen. Kümmert euch um die Kinder. Ich bin wieder da, sobald ich sie gefunden habe."
"Hast du dein Handy bei dir?" Blake war Pierce nachgerannt und hielt ihn am Arm fest.
"Ich hole es!", rief Bryce von oben.
"Wendy ist irgendwo da draußen …"
"Ja, und wenn jemand sie findet, müssen wir dir Bescheid sagen können." Blake behielt von allen den kühlsten Kopf. "Weißt du, wohin sie wollte?"
"Zu Shanni."
"Besitzt sie ein Handy?"
Zum Teufel, woher sollte er das wissen? Und wo war sie überhaupt? Bei Julie? Bei Ruby? "Gut möglich, dass sie eins hat."
"Ich rufe Ruby an und frage sie."
Inzwischen hatte Bryce das Handy gefunden. Er sprang die Treppe hinunter und übergab es Blake, der es an Pierce weiterreichte. "Wo willst du suchen?"
Pierce rannte zu seinem Auto, als müsste er einen neuen olympischen Rekord aufstellen. "Auf der Schnellstraße!", rief er zurück.
"Okay. Nik und ich suchen in der Umgebung. Melde dich in jedem Fall, wenn dein Handy klingelt."
Die kurze Fahrt von "Two Creeks" nach Craggyburn kam Pierce endlos vor. Wenn Wendy wirklich nach Sydney wollte, musste sie diesen Weg benutzen. Ab Craggyburn gab es die Schnellstraße, aber Wendy würde Stunden brauchen, um sie zu erreichen.
Und was dann? Es fuhren Busse, aber Wendy kannte den Fahrplan nicht und hatte auch kein Geld. Oder doch?
Pierce hielt auf dem Randstreifen und rief zu Hause an. "Überprüft meine Brieftasche", sagte er, als Blake sich meldete. "Sie liegt auf dem Nachttisch."
"Darin sind hundertfünfzig Dollar in Scheinen", meldete Blake wenig später.
"Okay, dann hat sie nichts genommen."
Wendy hatte also kein Geld. Das beruhigte Pierce etwas, aber wenn sie nun ein Auto angehalten hatte oder sich irgendwo versteckte? Das war in dieser flachen Landschaft schwierig, aber Kinder waren erfinderisch, und einem kleinen Mädchen bot jeder Baumstamm genügend Deckung.
Als Pierce Craggyburn erreichte, konnte er vor Angst und Sorge kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Da klingelte sein Handy. Im ersten Moment reagierte er nicht, als könnte er das Unglück dadurch aufhalten. Dann fuhr er an die Seite und meldete sich.
"Ja?"
"Sie haben Wendy gefunden." Es war Blake. "Sie ist auf der Polizeistation von Craggyburn. Der Fahrer eines Milchwagens sah sie mit erhobenem Daumen am Straßenrand stehen. Der Mann hat Familie und war anständig genug, sie direkt zur Wache zu bringen. Sie wartet dort auf dich."
Shanni lag in Rubys Gästezimmer. Sie schlief besonders fest, denn sie war bis vier Uhr früh ruhelos auf und ab gegangen und dann erst ins Bett gegangen. Daher dauerte es eine Weile, bis sie begriff, dass ihr Handy klingelte.
"Ja?", meldete sie sich schlaftrunken.
"Miss Jefferson?"
"Ja?" Sie erkannte die tiefe Männerstimme nicht.
"Hier spricht Officer Toby Lester von der Polizeistation in Craggyburn. Vielleicht erinnern Sie sich, dass Sie mir vor einigen Wochen in 'Two Creeks' Ihre Telefonnummer gegeben haben."
Toby? In "Two Creeks"? Allmählich dämmerte es ihr. Wollte der Kerl sie etwa um sechs Uhr morgens zu dem versprochenen Date einladen?
"Ja, Officer? Was kann ich für Sie tun?"
"Hier ist jemand, der würde gern mit Ihnen sprechen." Toby war die Milde selbst. "Bitte, Wendy. Jetzt bist du dran."
Pierce brachte Wendy nach Hause. Sie kauerte auf dem Beifahrersitz, als hätte sie immer noch Angst, und sagte wenig. Sie sah sehr jung aus. Niemand hätte ihr Alter auf elf geschätzt.
Pierce fand keine Erklärung für diese Flucht, sosehr er sich auch bemühte, und Wendy schwieg sich aus.
"Ich musste sie einfach etwas fragen", brachte Pierce nur aus ihr heraus. "Es tut mir leid."
"Wendy", bat er so eindringlich, wie er konnte, "wenn du jemals wieder irgendjemand irgendetwas fragen willst, wenn du irgendwann irgendjemand besuchen willst … komm vorher zu mir. Ich bringe dich zu ihm, das schwöre ich."
Wendy überlegte. "Ich glaube dir", erklärte sie dann, "aber diesmal musste ich sie allein sprechen."
Auch zu Hause war nicht mehr von ihr zu erfahren. Olga warf nur einen Blick auf sie und nahm sich des Mädchens mütterlich an.
"Ihr lasst die Kleine in Ruhe", befahl sie der versammelten Familie. "Oder seht ihr nicht, dass sie einen Schock hat? Und ihre Füße! So weit in den hübschen Sandalen zu laufen … Du nimmst jetzt ein schönes warmes Bad, Schatz, und Abby leistet dir dabei Gesellschaft." Sie wandte sich an Pierce. "Und Sie kochen ihr ein weiches Ei und machen Toastritter dazu."
"Toastritter?", fragte Pierce ratlos.
"He, die kenne ich sogar!", rief Nik, und alle lachten. "Aber keine Angst, Bruder… du wirst bestimmt noch ein richtiger Vater."
Nachdem Wendy gebadet und etwas gegessen hatte, machte Olga ihr das alte Küchensofa als Bett zurecht.
"Du möchtest doch bestimmt nicht allein in deinem Zimmer sein", sagte sie und begann, alle anderen hinauszuscheuchen.
"Abby", flüsterte Wendy.
"Ich lege mich zu ihr, bis sie eingeschlafen ist", sagte Abby freiwillig, und keiner widersprach.
"Sonst hat hier niemand etwas verloren", erklärte Olga noch einmal. "Wer nicht weiß, was er machen soll, kümmert sich um das Vieh oder den Garten."
Pierce sah seine Pflegebrüder misstrauisch an. "Wolltet ihr beide nicht heute abreisen?"
"Was fällt dir ein", antwortete Blake und stieß Nik mit dem Ellbogen an. "Wir sind schon neugierig auf den nächsten Akt."
Sie brauchten nicht lange auf den nächsten Akt zu warten. Olga hatte mittags gerade ein köstliches Roastbeef serviert, als Shanni durch den Hintereingang die Küche betrat. Sie trug Jeans und Windjacke, wie Pierce an diesem Morgen, und hatte völlig zerzaustes Haar.
"Guten Tag", begrüßte sie die Tischrunde.
Keiner reagierte, die Überraschung war einfach zu groß.
"Shanni", stieß Pierce endlich mühsam hervor.
"Es ist tatsächlich Shanni!" Abby lief zum Bett und rüttelte Wendy an den Schultern. "Wendy, wach auf. Shanni ist da!"
"Warum bist du gekommen?", fragte Pierce, nachdem er sich einigermaßen gefasst hatte.