"Sie sind Shanni", sagte Pierce, ohne sich besonders intelligent vorzukommen.
"Nicht so voreilig." Shanni war nicht näher gekommen, nachdem Miles und Toby den Hof verlassen hatten. "Sie sollten sich erst genauer davon überzeugen. Schließlich möchte man doch wissen, in wessen Obhut man seine Kinder zurücklässt."
"Hören Sie, ich …"
"Was fällt Ihnen eigentlich ein?" Das freundliche Begrüßungslächeln war wie fortgeblasen. "Wendy ängstigt sich zu Tode. Um ein Haar hätte ich den Polizisten geraten, die Kinder lieber der Fürsorge zu übergeben. Was für ein Vater sind Sie eigentlich? Und vor allem … wo zum Teufel haben Sie gesteckt?"
Statt die Frage zu beantworten, ging Pierce zum Gegenangriff über. "Würden Sie gütigerweise darauf achten, was Sie sagen?", fragte er. "Die Kinder sollen sich keine schlimmen Ausdrücke angewöhnen."
Shanni musste einmal tief Luft holen. "Soll das ein Scherz sein? Sie wollen verlassenen, halb verhungerten Kindern vorschreiben, wie sie sprechen sollen?"
"Sie sind nicht halb verhungert."
"Was haben Sie ihnen denn zum Mittagessen dagelassen?"
"Keine Ahnung." Es fiel Pierce immer noch schwer, klar zu denken. "Im Kühlschrank sind Eier, Steaks, Würstchen, tiefgekühlte Pommes frites …"
"Für all das braucht man einen Herd", fiel Shanni ihm ins Wort.
"Wir haben einen."
"Und wie sollten die Kinder Feuer machen?" Shannis Ton verriet äußerste Entrüstung.
"Hören Sie, ich bin gegen meinen Willen eingeschlafen."
"Tatsächlich?" Das klang nach bitterböser Ironie. "Sie gönnen sich ein Nickerchen und lassen Ihre Kinder verhungern?"
"Kinder verhungern nicht, wenn sie einmal kein Mittagessen bekommen."
Shannis Antwort war ein flammender Blick aus grünen Augen.
"Dad?" Wendy war hinter Shanni aufgetaucht.
Pierce wurde das Herz schwer. Er hatte Wendy im Stich gelassen, sein tapferes Mädchen, das schon viel zu viel Verantwortung tragen musste. Dabei hatte er gerade erst ihr Vertrauen gewonnen. Ein bisschen wenigstens.
"Zum Teufel, Wendy …"
"Bitte keine schlimmen Ausdrücke vor den Kindern", unterbrach Shanni ihn giftig.
"Ich bin eingeschlafen", wiederholte Pierce ungeduldig. "Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan. Wendy, sag ihr, wie schlecht ich geschlafen habe. Heute Morgen musste ich Bessy zum Arzt bringen und dann ewig auf ihre Medizin warten. Ich habe mich ins Auto gesetzt, weil ich Bessy nicht allein lassen wollte, und na ja …", er hob hilflos die Hände, "da bin ich eben eingenickt."
Eine längere Pause folgte, während Wendy nachdachte. "Er war wirklich die ganze Nacht wach", sagte sie dann zu Shanni, "und in der davor wahrscheinlich auch. Ich hatte einen Albtraum und bin aufgewacht. Da hat er mir heißen Kakao gemacht."
Shanni spürte, wie ihre kalte Verachtung Pierce gegenüber ein wenig nachließ. "Du meinst also, er hat eine Entschuldigung?"
"Er sieht schlimm aus", bestätigte Wendy.
"Allerdings", gab Shanni zu. "Wann hat er sich zum letzten Mal rasiert?"
"Er sieht gut aus, wenn er rasiert oder nur ein bisschen stoppelig ist", beteuerte Wendy. "Jetzt sind die Stoppeln zu lang." Sie nahm ihm Bessy ab und zog sich wieder hinter Shanni zurück.
"Es tut mir wirklich leid", sagte Pierce und versuchte, Shannis – nicht mehr ganz so strafenden – Blick zu ignorieren.
"Ich dachte, du seist weggelaufen", sagte Wendy.
"Obwohl ich dir versprochen habe, das nicht zu tun?"
"Männer lügen, das weiß ich von Mum. Alle Männer tun das."
Wieder entstand eine Pause, diesmal eine noch längere. Pierce wollte etwas antworten, aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein. Er spürte nur, dass er einer unbarmherzigen Prüfung unterzogen wurde.
"Mein Dad lügt nie", sagte Shanni schließlich zu Wendy. "Wirklich nicht, und ich kenne ihn jetzt seit achtundzwanzig Jahren. Er macht manchmal Fehler. Einmal hat er mich fünf Stunden auf der Eisbahn warten lassen, weil sein Buch so spannend war, aber er lügt nie." Sie wandte sich an Pierce. "Sind Sie hungrig?"
Darüber hatte er noch nicht nachgedacht. "Vielleicht ein bisschen", erwiderte er nach kurzer Überlegung.
"Wir haben noch kalte Bratwurst", erklärte Wendy. "Wir haben alle Würste gebraten, weil wir dachten, du würdest zum Essen nach Hause kommen. Shanni hat sogar Schokotörtchen gebacken."
Pierce sah erst Wendy und dann Shanni an. Zugegeben, er war wortbrüchig geworden, aber jetzt war nicht der richtige Augenblick, um das wiedergutzumachen. Glücklicherweise hatte die Geschichte von der Eisbahn erheblich zur Entspannung beigetragen. "Shanni hat Schokotörtchen gebacken?"
"Sie sind eine Spezialität von mir", bestätigte Shanni in aller Bescheidenheit. "Da kein Schokoladenstreusel im Haus war, mussten wir eine Tafel fein reiben."
"Ich denke, im Herd brannte kein Feuer."
"Wir haben es angezündet, weil wir heißes Wasser zum Abwaschen brauchten", erklärte Wendy stolz.
"Ihr habt Feuer gemacht? Ohne Holz?"
"Shanni hat es gehackt, und die Jungs haben es hereingetragen."
Shanni hatte Holz gehackt, Feuer gemacht, Schokotörtchen gebacken … Pierce kam aus dem Staunen nicht heraus.
"Ganz recht", bemerkte Shanni, die seine Gedanken erriet. "Ich bin eine Wundertäterin."
"Ruby hat gesagt, Sie seien Malerin." Himmel, das klang ja beinahe wie ein versteckter Vorwurf! "Ich meine …"
"Ich werde auf Holzhackerin umsteigen", beruhigte Shanni ihn. "Dabei kann man seinem Ärger Luft machen."
"Welchem Ärger?"
"Was für eine Frage!", ereiferte sich Shanni. "Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hergelockt zu werden …"
"Falscher Tatsachen?", wiederholte Pierce schwach.
"Ein Baby – und nicht fünf Kinder", fuhr Shanni unbeirrt fort. "Tante Ruby hat gesagt, es würde sich um ein Baby handeln, und das haben Sie bestätigt, als ich Sie aus Sydney anrief."
Pierce nickte. "Ruby konnte Ihnen nichts anderes erzählen, denn ich hatte ihr nur von dem Baby berichtet. Als Sie sich gemeldet haben, war ich so erleichtert, dass ich alles getan hätte, um Sie herzulocken und zum Bleiben zu bewegen."
Du bist ein Schuft, Pierce MacLachlan … ein ausgemachter Schuft!
Dass Bessy in diesem Augenblick energisch auf sich aufmerksam machte, war für alle eine Erlösung. Bisher hatte sie friedlich an Wendys Schulter gelegen, aber sie war erst acht Monate alt, hatte seit dem Frühstück nichts zu trinken bekommen und litt außerdem an Windpocken. Etwas von all dem musste ihr bewusst geworden sein, denn sie fing plötzlich gellend an zu schreien.
"Können Sie wenigstens bleiben, bis wir die Kleine gefüttert haben?", fragte Pierce in der Hoffnung, trotz des Geschreis verstanden zu werden.
"Ich bleibe, bis Sie mir einiges erklärt haben", antwortete Shanni grimmig. "Dann entscheide ich mich, wen ich umbringen werde … Sie oder Tante Ruby."
Du musst abreisen.
Seit Bessys erstem Schrei hatte nur hektische Betriebsamkeit geherrscht. Für Überlegungen oder sogar Erklärungen war keine Zeit gewesen.
Füttern, Baden, Trösten, wieder Füttern und wieder Trösten … Bessy hatte es genossen, Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein. Dann waren die Kinder an die Reihe gekommen und nach ihnen das Vieh. Letzteres hatte Pierce übernommen, wobei Shanni ihn durch das Küchenfenster beobachtete.
Auf der am nächsten gelegenen Koppel stand eine riesige Kuh … oder war es ein Bulle? Pierce hatte dem Tier eine ganze Schubkarre voll Heu gebracht und es hinter dem Gatter verstreut. Ängstlich war er dabei nicht vorgegangen. Er hatte das Tier sogar hinter den Ohren gekrault.
Natürlich hatte sie nicht nur das Tier beobachtet. Pierce war ebenfalls sehenswert, wenn nicht sehenswerter. Er war groß, schlank und athletisch gebaut. Das dunkelbraune Haar trug er zu lang, ein Dreitagebart bedeckte Wangen und Kinn, und unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. Jeans und Windjacke sahen aus, als hätte er mehrere Nächte darin geschlafen. Alles in allem machte er einen elenden Eindruck.
Elend und … sexy. So hatte er schon mit fünfzehn Jahren gewirkt, und daran hatte sich bis heute nichts geändert, nur dass er jetzt fünf Kinder am Hals hatte, und in diesem Punkt tat er ihr leid.
Andererseits hatte er es sich so ausgesucht. Für den Tod seiner Frau konnte man ihn nicht verantwortlich machen, wenn man nicht …"
"Woran denkst du?", hörte sie Wendy schüchtern fragen. Shanni hatte ihr und ihren Geschwistern erlaubt, sie zu duzen.
Shanni betrachtete die vier Teller, von denen das Rührei in Windeseile verschwunden war. "Ich denke daran, dass ihr in letzter Zeit zu wenig zu essen bekommen habt", antwortete sie.
"Pier… Dad ist kein guter Koch."
"Nennst du ihn Pierce?"
"Ja, aber nie vor anderen Leuten", antwortete Bryce für seine Schwester. "Dein Essen hat prima geschmeckt. Es war kein bisschen angebrannt."
"Das ist eine weitere Spezialität von mir … nach Schokotörtchen", erklärte Shanni stolz.
"Dads Spezialität ist Pizza", verriet Wendy. "Als er sie das letzte Mal bestellte, war jedoch kein Bargeld im Haus, und der Bote wollte keinen Scheck annehmen. Seitdem kommt er nicht mehr zu uns."
"Ich kann welche machen", sagte Shanni.
"Unmöglich." Pierce war unbemerkt vom Hof hereingekommen und betrachtete die ungewohnte häusliche Szene. "Sie können Pizza machen?"
"Sie meint die aus dem Supermarkt, die man zu Hause nur aufbacken muss", erklärte Bryce eilfertig.
"He!", rief Shanni gekränkt. "Ich bereite den Teig selbst zu, belege ihn nach Wunsch und backe ihn im Ofen."
"Auch für uns?", fragte Abby ungläubig.
"Für euch sogar besonders gern. Wenn ich alle nötigen Zutaten bekomme, kann ich schon morgen den Beweis antreten."
"Dann bleibst du bei uns?" Donald hatte bisher kaum gesprochen, sondern Shanni immer nur beobachtet. Jetzt stellte er die einzige Frage, der sie am liebsten ausgewichen wäre.
"Bis morgen bestimmt", antwortete sie. Es war längst zu spät, sich für die Nacht eine andere Bleibe zu suchen. "Vorausgesetzt, ihr habt ein freies Bett für mich."
"Wir haben sogar ein freies Schlafzimmer", warf Pierce ein.
"Mummys", ergänzte Donald, ohne Shanni aus den Augen zu lassen.
"Ist eure Mummy bei Bessys Geburt gestorben?", fragte Shanni mutig.
Donald schüttelte den Kopf. "Kurz danach."
Shanni ahnte, das hier noch viel im Dunkeln lag, das weiterer Erklärung bedurfte. Doch vielleicht war es klüger, das Thema erst einmal ruhen zu lassen. "Ist es nicht schon Schlafenszeit?", erkundigte sie sich stattdessen.
"Allerdings", bestätigte Pierce.
"Liest Shanni uns eine Gutenachtgeschichte vor?", fragte Abby hoffnungsvoll.
"Das übernehme ich", versprach Pierce.
"Nein!", riefen die Kinder im Chor. "Shanni soll es tun."
"Ich muss abwaschen", sagte Shanni nervös. Wohinein war sie bloß geraten? "Ich bin für den Haushalt da. Vorlesen ist Sache des Vaters."