Zeit der Zärtlichkeit, Zeit der Liebe – Kapitel 4

~ Kapitel 4 ~

    Jake folgte ihr in die Küche und war sofort überwältigt vom Duft des selbst gekochten Essens. Als er sich in dem kleinen Raum umsah, fiel ihm auf, dass Rebecca beim Putzen der Schränke und des verstaubten Linoleums weit vorangekommen war.

Dass sie so hart gearbeitet hatte, überraschte ihn etwas. Als er sie auf Gerties Beerdigung zum ersten Mal gesehen hatte, hätte er ihr im Leben nicht zugetraut, einen Wischmopp in die Hand zu nehmen oder schwere Futtersäcke durch die Gegend zu wuchten. Allerdings hatte er sie da auch nicht wirklich besser gekannt als jetzt.

Rebecca deckte den Tisch mit großen roten Tellern mit abgestoßenen Rändern und Teegläsern, die in den vielen Jahren an Glanz verloren hatten.

„Was kann ich tun?“, fragte er.

„Nichts. Alles ist fertig.“

Sie zog die Salatschüssel aus dem Regal und stellte sie in die Mitte des Tisches neben eine Auflaufform mit Enchiladas.

Als sie nach einem der Stühle greifen wollte, zog Jake ihn ihr schnell heran. Er wusste nicht, wann er das zuletzt für eine Frau getan hatte, aber bei Rebecca fühlte es sich irgendwie richtig an.

Lächelnd sah sie zu ihm auf. „Danke, Jake.“

„Gern geschehen“, murmelte er und ließ ihren Oberarm nur widerwillig los. Dann setzte er sich auf den Stuhl ihr schräg gegenüber.

„Ich habe alle Fenster geöffnet“, sagte sie. „Aber durch den Ofen ist es hier drin sehr heiß geworden. Ich hoffe, die Hitze ist Ihnen nicht unangenehm.“

Die Hitze, die er verspürte, hatte allein mit ihr zu tun. „Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Mir geht es gut.“

Rebecca griff zu einem Pfannenheber und füllte Jake eine große Portion der Fleisch- und Tortilla-Mischung auf. Dasselbe tat sie für sich.

Hinter ihnen hatte sich Beau auf dem Boden zusammengerollt. Jetzt richtete er sich neugierig auf.

„Für eine Frau, die nie mit Tieren zu tun hatte, wissen Sie gut, wie man ihr Vertrauen gewinnt“, meinte Jake, während er den zufriedenen Hund beobachtete.

„Ich fühle mich fast wie ein Kind in einem Spielzeuggeschäft. So sehr genieße ich die Gesellschaft von Beau, Star und all den anderen.“

„Hatten Sie als Kind gar kein Haustier?“

Sie wich seinem Blick aus und schüttelte den Kopf. „Nicht ein einziges. Meine Mutter hätte es nicht erlaubt. Sie sagte immer, Tiere sind schmutzig und teuer und machen viel zu viel Arbeit.“

„Klingt nicht nach einer Tierliebhaberin.“

Rebecca verzog das Gesicht. „Nein, mit Tieren kann sie überhaupt nichts anfangen. Sie ist nicht sehr … naturverbunden.“

„Sie aber schon?“

Sie zuckte die Schultern. „Ich habe mich immer für tierlieb gehalten, auch wenn ich nie ein eigenes Tier hatte.“ Sie sah ihn mit ihren blauen Augen intensiv an. „Sie lachen vielleicht, wenn ich Ihnen das erzähle, Jake, aber als ich jung war, da hatte ich den leidenschaftlichen Wunsch, Tierärztin zu werden.“

Ihre Gabel verharrte mitten in der Luft. Ein dünner Schweißfilm glänzte auf ihrer Stirn, und ihre Wangen waren von der Wärme gerötet. Sie sah wunderschön, traurig und gleichzeitig verführerisch aus.

„Was ist passiert? Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?“

Sie schürzte die Lippen. „Ich habe sie nicht geändert. Meine Mutter hat das für mich getan.“

„Oh.“

Sie nahm sich noch etwas von dem Salat. „Als mein Vater noch lebte, war mein Leben ausgeglichen. Er verstand, dass ich andere Dinge brauchte als das, was meine Mutter für mich vorsah. Nach seinem Tod fehlte mir seine Unterstützung. Und als ich Tierärztin werden wollte, war meine Mutter der Meinung, die Pflege kranker Tiere sei eine zu primitive Tätigkeit für ihre Tochter und nur eine kindische Schnapsidee.“

„Und? War es das?“

Rebecca seufzte, und Jake spürte, dass da etwas in ihr rumorte. Ein verloren gegangener Teil von ihr, den sie erst wieder finden musste. Aber bis zu einem gewissen Punkt war das wohl bei allen Menschen so.

Seit Jahren verspürte er durch den Verlust seines Vaters eine große Leere in sich, und er fragte sich oft, wie er sich wohlfühlen würde, wenn er ihn jemals fand und ihm Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.

Ja, wahrscheinlich fühlte sich jeder irgendwann in seinem Leben verloren.

„Das weiß ich nicht“, sagte sie. „Die Zeit hier mit Beau und den anderen Tieren wirft für mich die Frage auf, ob es nicht besser gewesen wäre, beharrlich zu bleiben und meinen Träumen nachzugehen.“

„Sie sind noch sehr jung und haben genug Zeit, um Ihre Träume zu verwirklichen.“

„Bei Ihnen klingt das so einfach. Das ist es aber nicht. Ich habe einen sehr gut bezahlten Job und habe hart gearbeitet, um so weit zu kommen. Das alles wegzuwerfen und wieder aufs College zu gehen, wäre eine immense Umstellung. Ganz zu schweigen von der vielen zusätzlichen Arbeit.“

„Arbeit ist keine Arbeit, wenn Sie Spaß daran haben.“

Sie schwieg für einen langen Moment, und plötzlich grinste sie ihn an.

Jakes Herz schlug heftig.

„Und Sie haben Spaß an dem, was Sie tun?“

Er lachte. „Wir reden gerade über Sie.“

„Ja, allerdings reden wir nur über mich. Ich würde auch gern etwas von Ihnen erfahren.“

„Ich bin nicht so interessant, Rebecca. Ich lebe ein langweiliges, ganz alltägliches Leben.“

„Das glaube ich nicht. Erzählen Sie mir von Ihrer Ranch. Wie heißt sie noch gleich?“

„Rafter-R. Das ist auch mein Brandzeichen. Ein Dachsparren mit einem R darin.“

„Abe sagt, dass zu dem Anwesen ein sehr schönes Stück Land gehört.“

„So, sagt er das?“

„Ja. Er sagt, es liegt in der Nähe eines alten Forts, das die Kavallerie bis vor einigen Jahren genutzt hat.“

„Stimmt. Die Rafter-R-Ranch liegt mitten im Niemandsland. Man benötigt sehr viele Hektar, um in New Mexico Rinder zu halten. Futtermittel sind knapp. Ganz anders als da, wo Sie wohnen. Dort wächst das Bermudagras kniehoch.“

„Verstehe. Sie sind also gern Rancher?“

„Meistens schon. Das ist die Art von Arbeit, die ich mein Leben lang ausgeübt habe. Ich war einige Jahre auf dem College und habe daran gedacht, irgendwann einmal eine andere Tätigkeit im Agrarbereich auszuüben. Ich habe sogar das Vordiplom gemacht, weil ich finde, dass jeder sich weiterbilden sollte. Aber manchmal ist es besser, etwas einfach zu tun, als es aus den Büchern zu lernen. Und in mir steckt einfach nicht mehr als ein Cowboy. Pferde, Rinder … davon verstehe ich etwas.“

Dass er auf einer Ranch aufgewachsen war, erzählte er nicht. Auch nicht, dass sein Vater ihn alles gelehrt hatte, was er über das Züchten von Pferden und Rindern wusste. Sogar seine Fähigkeit, einer der besten Hufschmiede in Lincoln County zu werden, hatte er Lee Rollins zu verdanken.

Du bist und bleibst in jeder Hinsicht wie dein Vater, Jake. Im Guten wie im Schlechten.

Das hatte seine Mutter zu ihm gesagt, und zwar häufiger, als er zählen konnte. Und wahrscheinlich hatte Clara recht. Er ähnelte tatsächlich in vielfacher Hinsicht Lee.

Dennoch wollte Jake nicht glauben, dass er ganz genau wie sein Vater war. Er war kein Mann, der sein eigenes Kind herzlos im Stich lassen würde. Und die Frau, der er geschworen hatte, zu lieben und zu ehren.

„Sie sind sicher sehr gut in dem, was Sie tun“, unterbrach Rebecca seine Gedanken und warf ihm einen verstohlenen Blick zu. „Ich würde die Rafter-R gern einmal besuchen, wann immer Ihnen die Arbeit mal nicht bis zum Hals steht.“

Interessierte sie sich wirklich für die Ranch, oder versuchte sie nur, höflich zu sein, weil er keine Mühe gescheut hatte, ihr mit Star zu helfen? „Ich würde Sie sehr gern abends mal abholen“, sagte er. „Erwarten Sie nur nicht zu viel. Ich arbeite erst seit ein paar Jahren an dem Anwesen. Es macht sich zwar langsam, aber es ist noch lange nicht da, wo ich es gern hätte.“

„Als Sie es gekauft haben, war es also nicht im allerbesten Zustand?“

„Dann hätte ich es mir niemals leisten können.“

Sie lächelte freundlich. „Nun, dann bin ich bestimmt aufrichtig beeindruckt.“

Beeindruckt? Was war los mit dieser Frau? Sah sie denn nicht, dass er nur ein Allerweltstyp war?

„Ich finde es gut, dass Sie sich entschieden haben, noch eine Weile zu bleiben“, sagte er schließlich. „Gut für mich, weil ich Ihre Gesellschaft genieße. Und für Sie, weil ich das Gefühl habe, dass Sie eine kleine Auszeit benötigen.“

Plötzlich hatte sie einen Kloß in der Kehle. „Ich hatte nicht vor, länger hierzubleiben. Jedenfalls nicht zunächst. Aber meine Tante hat verdient, dass ich ihr ein bisschen von meiner Zeit widme, finde ich. Schließlich hatte sie schon zu Lebzeiten nichts von mir. Und jetzt … alles was, was sie im Leben besaß, hat sie mir hinterlassen. Das ist …“

Ihre Kehle wurde so eng, dass ihr die Stimme versagte. Sie rang nach Fassung und blickte dabei auf ihre Füße. Dann sprach sie mit brüchiger Stimme weiter. „Das ist für mich nur schwer zu ertragen, Jake. Ich verdiene es nicht, auch nur irgendetwas von ihr zu bekommen.“

„Warum sagen Sie so etwas, Rebecca?“

„Weil ich sie nicht besucht und nie mit ihr gesprochen habe.“ Verzweifelt sah sie ihn an. „Das klingt jetzt vielleicht verrückt, aber ich habe mein Leben lang nicht gewusst, dass ich überhaupt eine Tante habe. Erst wenige Tage vor ihrer Beerdigung habe ich von ihr erfahren.“

Erstaunt starrte Jake sie an. „Mir war klar, dass Sie sie nie besucht haben. Aber ich dachte, dass Sie einfach zu beschäftigt waren.“

Beschämt schüttelte sie den Kopf. „Ich wünschte, es wäre so einfach. Das ist es aber nicht. Meine Familie … alles in meinem Leben kommt mir wie ein einziger Betrug vor.“

„Wow, Rebecca. Das sind ziemlich harte Worte. Vielleicht sollten Sie einen Gang zurückschalten und von vorne erzählen“, schlug er freundlich vor.

Rebecca wurde klar, dass wahrscheinlich nur die Hälfte des Gesagten einen Sinn für ihn ergab, deshalb nickte sie. „Sie haben recht. Ich sollte am Anfang beginnen. Meine Familie war schon immer sehr klein. Meine Großeltern mütterlicherseits habe ich nie gekannt. Sie haben meine Mutter erst im fortgeschrittenen Alter bekommen und starben noch vor meiner Geburt.“

„Und Ihre Großeltern väterlicherseits?“, fragte er.

„In den ersten Jahren meiner Kindheit lebten sie in Florida und kamen immer nur kurz zu Besuch. Einige Jahre vor dem Tod meines Vaters kamen sie bei einem Autounfall um.“

 

„Das ist schlimm“, sagte er leise.

Sie verzog die Lippen. „So ist das Leben. Meins zumindest.“ Sie holte tief Luft und stieß sie gehetzt wieder aus. Weder meine Mutter noch mein Vater hatten Geschwister. Zumindest hat man mir das erzählt. Also hatte ich auch keine Tanten, Onkels oder Cousinen. „Die meiste Zeit meines Lebens war ich allein mit meiner Mutter.“

Jake zog die Stirn in Falten. „Wie haben Sie von Gertrudes Existenz erfahren?“

„Ein Anwalt aus Ruidoso hat mich in dem Kaufhaus, in dem ich arbeite, angerufen. Er erklärte mir, dass Gertrude die strikte Anweisung hinterlassen hatte, mich erst nach ihrem Tod zu informieren – auf gar keinen Fall vorher. Und dass ich all ihre Habseligkeiten – Land- und Schürfrechte inklusive – erben solle.“

Während sie sprach, nahm er ihre Hand. Rebecca war überrascht, dass eine Berührung so aufregend und zugleich so tröstend sein konnte.

„Das muss ja ein ziemlicher Schock für Sie gewesen sein.“

Sie seufzte. „Zuerst dachte ich, dass mir jemand einen grausamen Streich spielt. Ich habe dem Anwalt sogar widersprochen und ihm gesagt, dass ich doch wohl meine eigene Familie kenne. Können Sie sich vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich erfuhr, dass dem nicht so ist? Im ersten Moment wollte ich es nicht wahrhaben. Und dann war ich erstaunt und beschämt.“

Jake blickte gedankenverloren zu dem Espenwäldchen und dem Stall, der zum Teil von den Ästen verborgen wurde. „Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, was das für ein Gefühl war. Man erfährt, dass man eine Tante hat, und noch im selben Atemzug, dass sie verstorben ist.“ Er sah Rebecca forschend an. „Wie konnte es dazu kommen?“

Sie schüttelte resigniert den Kopf. Ihre Stimme zitterte. „Das weiß ich noch nicht, Jake. Ich habe meine Mutter gefragt, aber sie hat mir kaum etwas verraten. Sie und Gertrude waren Zwillingsschwestern. Doch irgendwann, als sie erwachsen waren, trennten sie sich und gingen ihre eigenen Wege.“

„Und den Grund dafür hat sie Ihnen nie verraten?“

„Nur, dass sie völlig unterschiedliche Menschen sind und sich einfach dafür entschieden haben, dass jede ihr eigenes Leben führt.“

„Glauben Sie, dass das alles ist?“

Rebecca schnaubte. „Natürlich nicht! Wenn es so leicht wäre, hätte meine Mutter keinen Grund gehabt, Gertrude vor mir geheim zu halten.“

„Hmm. Vielleicht fürchtete sie, die Frau könnte einen schlechten Einfluss auf Sie ausüben.“

„Gertrude war meine einzige andere Blutsverwandte. Selbst wenn sie ein schlechter Mensch war, hatte meine Mutter kein Recht, ihre Existenz vor mir geheim zu halten. In jeder Familie gibt es ein, zwei schwarze Schafe. Deshalb bleiben sie trotzdem Verwandte. Außerdem glaube ich nicht, dass Gertrude schlecht war. Sie etwa?“

Er schien von dieser Frage überrascht. „Wie? Nein, natürlich nicht“, gab er zurück. „Wieso sollte sie schlecht gewesen sein? Sie blieb gern für sich und hat nie Probleme gemacht. Hat Ihre Mutter sie denn schlecht gemacht?“

Rebecca verzog das Gesicht. „Nicht wirklich. Sie weigert sich, überhaupt irgendetwas zu erzählen. Und das macht mich rasend. Ich kann mich fast nicht mehr überwinden, überhaupt noch mit meiner Mutter zu sprechen. Es ist auch immer dasselbe. Sie bettelt mich an, nach Hause zu kommen, bleibt mir jedoch jede Erklärung schuldig.“

Jake drückte ihre Hand etwas fester. „Den Cantrells fiel auf, dass Sie die einzige Verwandte auf Gerties Beerdigung waren. Da haben sie sich natürlich gefragt, warum. Und ich auch. Wollte Ihre Mutter denn nicht einmal bei der Beerdigung ihrer Schwester dabei sein?“

Rebecca schloss schmerzerfüllt die Augen. „Meine Mutter hat sich geweigert, hierherzukommen. Sie sagte, sie wolle ihrer Schwester auf ihre eigene Art gedenken.“ Jetzt öffnete sie die Augen wieder, und in ihrem Blick lagen Schmerz und das Gefühl, belogen und verraten worden zu sein. „Ich schäme mich, Ihnen das sagen zu müssen, aber ich glaube, der Tod einer Fremden hätte sie stärker berührt. Sie möchte ihrer Schwester auf gar keine Art gedenken. Und schon gar nicht über sie reden.“

Jake nickte nachdenklich. „Sie als ihre Tochter wissen bestimmt mehr darüber als irgendjemand sonst. Ich frage mich, warum Gertrude nie versucht hat, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen. Sie sagten, sie hätte dem Anwalt aufgetragen, Sie erst nach ihrem Tod zu kontaktieren?“

Rebecca nickte. „Das stimmt. Ich habe so viel Zeit damit verbracht, über die Motive meiner Mutter nachzudenken, dass ich mir über die von Gertrude gar keine Gedanken mehr gemacht habe. Warum hat sie nie den Kontakt zu mir gesucht? Warum lebte sie hier in New Mexico, wo ich weiß, dass meine Mutter in Houston geboren wurde? Das bedeutet doch, dass auch Gertrude dort einmal gelebt hat.“

Sie rieb sich das Gesicht und sagte mit angespannter Stimme: „Oh, Jake, vielleicht wollte meine Tante mich gar nicht kennenlernen. Schließlich wusste sie, wo ich lebe und arbeite.“

Mitfühlend legte er einen Arm um ihre Schultern. „Sie zermartern sich den Kopf wegen etwas, das nicht einmal wahr sein muss. Ich kannte Gertie zwar nicht, dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass sie Sie absichtlich aus ihrem Leben verbannt hat.“

Es war ein herrliches Gefühl, seine starke Schulter als Stütze zu haben. Zu spüren, wie die Wärme seines Körpers auf ihren überging und die eisige Leere in ihrem Innern wärmte. „Sie sind nur nett zu mir, Jake.“

„Ich bin vernünftig.“

Sie seufzte. „Ich fürchte, ich bekomme nie die Antworten, die ich über meine Tante – und meine Familie – brauche.“

Er schwieg für eine Weile. So lange, dass Rebecca schließlich den Kopf leicht hob, um Jake anzusehen. Sie bemerkte gerade noch das schwache Lächeln auf seinem Gesicht, als er sich an sie schmiegte.

„Fühl dich deswegen nicht schlecht, Rebecca. Ich bin seit Jahren auf der Suche nach Antworten über meine eigene Familie.“

Während er durch ihre Haare strich, merkte Rebecca, dass sie ihm nicht widerstehen konnte. In diesem Moment wollte sie sich nicht mehr bewegen oder sich aus seiner zarten Berührung lösen. „Was für Fragen?“

„Weißt du noch, wie ich dir gesagt habe, dass ich keinen Vater mehr habe?“

Sie dachte an den Tag der Beerdigung zurück. Als Jake sie in seinem Auto mitgenommen hatte, hatte sie ihn nach seinem Vater gefragt. Und die Antwort war kurz und ausweichend gewesen. „Ja, ich erinnere mich.“

Jake atmete heftig aus. Der Gedanke, dass es etwas gab, das diesen Mann so betroffen machte, kam für Rebecca völlig überraschend. Seit sie ihn kennengelernt hatte, war er ihr wie ein mit sich zufriedener Mann ohne Sorgen vorgekommen. „Nun, der Grund dafür ist nicht, dass ich ihn bei einem Autounfall verloren habe.“

Sein Blick schweifte hinaus auf das freie Feld, doch Rebecca wusste, dass er nicht dem schwächer werdenden Dämmerlicht oder den umtriebigen Nachtschwalben galt. Seine Gedanken waren sehr weit weg.

„Willst du damit etwa sagen, dass du nie einen Vater hattest? Dass deine Mutter dich allein großgezogen hat?“

„Nein. Bis ich dreizehn war, hatte ich einen Vater. Dann hat er seine Sachen gepackt und uns verlassen.“

Sie zog ihren Kopf unter seinem Kinn hervor und starrte ihn an. „Warum?“

Jake nahm seinen Arm von ihrer Schulter und stand abrupt auf. „Er fand eine andere Frau. Mit ihr wollte er lieber ein gemeinsames Leben aufbauen als mit meiner Mutter.“

„Deine Eltern sind also geschieden?“

„Ja, sie haben sich getrennt.“ In seiner Stimme lag ein zynischer Ton. „So wie jedes Jahr Tausende Ehen in die Brüche gehen.“

Überrascht beobachtete sie, wie er sich mit einer Hand an dem Verandapfeiler abstützte. „Ich verstehe nicht, Jake. Welche Fragen beschäftigen dich dann noch? Dein Vater hat deine Mutter betrogen, und daraufhin haben sie sich getrennt.“

„Ganz so eindeutig ist es nicht. Für meine Eltern vielleicht schon. Aber nicht für mich.“ Als er sie ansah, sah sie zum ersten Mal eine kalte Härte in seinem Blick. Dieses Gefühl passte nicht zu dem Mann, als den sie ihn kennengelernt hatte. Der Anblick ließ sie frösteln.

„Wie meinst du das?“, fragte sie leise.

„Bevor Lee – so heißt mein Vater – ausgezogen ist, hatten wir ein langes Gespräch. Er sagte mir, dass er mich liebt, und dass ich mit der Scheidung zwischen ihm und meiner Mutter nichts zu tun habe. Er versprach, dass ich immer sein Sohn bleiben und er mich so oft wie möglich anrufen und besuchen würde.“

„Und was ist passiert?“

„Das ist achtzehn Jahre her. Seitdem habe ich nie wieder etwas von ihm gehört.“ Seine Stimme klang emotionslos, doch Rebecca spürte seinen Schmerz und das Gefühl des Verrats, mit dem er nun schon so lange lebte. „Siehst du, Rebecca. Wir haben etwas gemeinsam. Beide wissen wir nicht, weshalb uns unsere Eltern belogen haben. Oder warum sie sich so entschieden haben.“

Sie trat vor und legte ihm die Hand auf den Rücken. „Das mit deinem Vater tut mir leid, Jake. Aber ich sage dir dasselbe, was du mir vor wenigen Minuten gesagt hast. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Mann dich mit Absicht aus seinem Leben verbannt hat.“

Er wandte sich ihr zu. Dieses Mal umspielte ein betrübtes Lächeln seine Lippen. Die Vorstellung, dass er genauso verletzt worden war wie sie selbst, dass er damit so viele Jahre gelebt hatte, berührte Rebecca. „Ich rede mir ein, dass es mir jetzt nichts mehr ausmacht.“

„Das tut es aber“, sagte sie leise.

„Ja. Tief innen drin tut es das wohl. Genau wie dir die Geschichte mit deiner Tante keine Ruhe lässt.“

Ihre Blicke begegneten sich. Und dieses Mal schien es ihr ganz natürlich, nach seinen Händen zu greifen und dicht an ihn heranzutreten. „Danke, Jake.“

Seine Augenbrauen hoben sich leicht. „Wofür?“

„Dafür … dass du hier bist.“

Sie drückte seine Hand, und für einen langen Moment sahen sie einander nur an. Und dann bemerkte Rebecca, dass er den Kopf langsam auf sie zubewegte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm auf halbem Weg entgegenzukommen.

Als ihre Münder sich trafen, überkam es sie wie ein Stromstoß.

Ich vergehe, dachte sie aufgeregt, während sie in einer heißen Welle versank. Sie stöhnte auf.

Ihr Herz raste, als sie sich an ihn klammerte. Ihre Lippen, die ihm nun ausgeliefert waren, begannen zu pochen.

Und dann, gerade als ihre Sinne in einem schwindelerregenden Rausch zu versinken drohten, löste er sich von ihr und trat zurück.

„Ich … gehe jetzt wohl besser, Rebecca. Sofort.“

Bevor sie Luft holen und etwas sagen konnte, eilte er auch schon die Verandastufen hinunter und verschwand auf der Rückseite des Hauses.

Verwirrt starrte Rebecca ihm nach. Was war da gerade passiert? Warum ging er?

Sie eilte von der Veranda und rannte ihm nach.

 


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