Jake folgte ihr in die Küche und war sofort überwältigt vom Duft des selbst gekochten Essens. Als er sich in dem kleinen Raum umsah, fiel ihm auf, dass Rebecca beim Putzen der Schränke und des verstaubten Linoleums weit vorangekommen war.
Dass sie so hart gearbeitet hatte, überraschte ihn etwas. Als er sie auf Gerties Beerdigung zum ersten Mal gesehen hatte, hätte er ihr im Leben nicht zugetraut, einen Wischmopp in die Hand zu nehmen oder schwere Futtersäcke durch die Gegend zu wuchten. Allerdings hatte er sie da auch nicht wirklich besser gekannt als jetzt.
Rebecca deckte den Tisch mit großen roten Tellern mit abgestoßenen Rändern und Teegläsern, die in den vielen Jahren an Glanz verloren hatten.
„Was kann ich tun?“, fragte er.
„Nichts. Alles ist fertig.“
Sie zog die Salatschüssel aus dem Regal und stellte sie in die Mitte des Tisches neben eine Auflaufform mit Enchiladas.
Als sie nach einem der Stühle greifen wollte, zog Jake ihn ihr schnell heran. Er wusste nicht, wann er das zuletzt für eine Frau getan hatte, aber bei Rebecca fühlte es sich irgendwie richtig an.
Lächelnd sah sie zu ihm auf. „Danke, Jake.“
„Gern geschehen“, murmelte er und ließ ihren Oberarm nur widerwillig los. Dann setzte er sich auf den Stuhl ihr schräg gegenüber.
„Ich habe alle Fenster geöffnet“, sagte sie. „Aber durch den Ofen ist es hier drin sehr heiß geworden. Ich hoffe, die Hitze ist Ihnen nicht unangenehm.“
Die Hitze, die er verspürte, hatte allein mit ihr zu tun. „Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Mir geht es gut.“
Rebecca griff zu einem Pfannenheber und füllte Jake eine große Portion der Fleisch- und Tortilla-Mischung auf. Dasselbe tat sie für sich.
Hinter ihnen hatte sich Beau auf dem Boden zusammengerollt. Jetzt richtete er sich neugierig auf.
„Für eine Frau, die nie mit Tieren zu tun hatte, wissen Sie gut, wie man ihr Vertrauen gewinnt“, meinte Jake, während er den zufriedenen Hund beobachtete.
„Ich fühle mich fast wie ein Kind in einem Spielzeuggeschäft. So sehr genieße ich die Gesellschaft von Beau, Star und all den anderen.“
„Hatten Sie als Kind gar kein Haustier?“
Sie wich seinem Blick aus und schüttelte den Kopf. „Nicht ein einziges. Meine Mutter hätte es nicht erlaubt. Sie sagte immer, Tiere sind schmutzig und teuer und machen viel zu viel Arbeit.“
„Klingt nicht nach einer Tierliebhaberin.“
Rebecca verzog das Gesicht. „Nein, mit Tieren kann sie überhaupt nichts anfangen. Sie ist nicht sehr … naturverbunden.“
„Sie aber schon?“
Sie zuckte die Schultern. „Ich habe mich immer für tierlieb gehalten, auch wenn ich nie ein eigenes Tier hatte.“ Sie sah ihn mit ihren blauen Augen intensiv an. „Sie lachen vielleicht, wenn ich Ihnen das erzähle, Jake, aber als ich jung war, da hatte ich den leidenschaftlichen Wunsch, Tierärztin zu werden.“
Ihre Gabel verharrte mitten in der Luft. Ein dünner Schweißfilm glänzte auf ihrer Stirn, und ihre Wangen waren von der Wärme gerötet. Sie sah wunderschön, traurig und gleichzeitig verführerisch aus.
„Was ist passiert? Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?“
Sie schürzte die Lippen. „Ich habe sie nicht geändert. Meine Mutter hat das für mich getan.“
„Oh.“
Sie nahm sich noch etwas von dem Salat. „Als mein Vater noch lebte, war mein Leben ausgeglichen. Er verstand, dass ich andere Dinge brauchte als das, was meine Mutter für mich vorsah. Nach seinem Tod fehlte mir seine Unterstützung. Und als ich Tierärztin werden wollte, war meine Mutter der Meinung, die Pflege kranker Tiere sei eine zu primitive Tätigkeit für ihre Tochter und nur eine kindische Schnapsidee.“
„Und? War es das?“
Rebecca seufzte, und Jake spürte, dass da etwas in ihr rumorte. Ein verloren gegangener Teil von ihr, den sie erst wieder finden musste. Aber bis zu einem gewissen Punkt war das wohl bei allen Menschen so.
Seit Jahren verspürte er durch den Verlust seines Vaters eine große Leere in sich, und er fragte sich oft, wie er sich wohlfühlen würde, wenn er ihn jemals fand und ihm Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
Ja, wahrscheinlich fühlte sich jeder irgendwann in seinem Leben verloren.
„Das weiß ich nicht“, sagte sie. „Die Zeit hier mit Beau und den anderen Tieren wirft für mich die Frage auf, ob es nicht besser gewesen wäre, beharrlich zu bleiben und meinen Träumen nachzugehen.“
„Sie sind noch sehr jung und haben genug Zeit, um Ihre Träume zu verwirklichen.“
„Bei Ihnen klingt das so einfach. Das ist es aber nicht. Ich habe einen sehr gut bezahlten Job und habe hart gearbeitet, um so weit zu kommen. Das alles wegzuwerfen und wieder aufs College zu gehen, wäre eine immense Umstellung. Ganz zu schweigen von der vielen zusätzlichen Arbeit.“
„Arbeit ist keine Arbeit, wenn Sie Spaß daran haben.“
Sie schwieg für einen langen Moment, und plötzlich grinste sie ihn an.
Jakes Herz schlug heftig.
„Und Sie haben Spaß an dem, was Sie tun?“
Er lachte. „Wir reden gerade über Sie.“
„Ja, allerdings reden wir nur über mich. Ich würde auch gern etwas von Ihnen erfahren.“
„Ich bin nicht so interessant, Rebecca. Ich lebe ein langweiliges, ganz alltägliches Leben.“
„Das glaube ich nicht. Erzählen Sie mir von Ihrer Ranch. Wie heißt sie noch gleich?“
„Rafter-R. Das ist auch mein Brandzeichen. Ein Dachsparren mit einem R darin.“
„Abe sagt, dass zu dem Anwesen ein sehr schönes Stück Land gehört.“
„So, sagt er das?“
„Ja. Er sagt, es liegt in der Nähe eines alten Forts, das die Kavallerie bis vor einigen Jahren genutzt hat.“
„Stimmt. Die Rafter-R-Ranch liegt mitten im Niemandsland. Man benötigt sehr viele Hektar, um in New Mexico Rinder zu halten. Futtermittel sind knapp. Ganz anders als da, wo Sie wohnen. Dort wächst das Bermudagras kniehoch.“
„Verstehe. Sie sind also gern Rancher?“
„Meistens schon. Das ist die Art von Arbeit, die ich mein Leben lang ausgeübt habe. Ich war einige Jahre auf dem College und habe daran gedacht, irgendwann einmal eine andere Tätigkeit im Agrarbereich auszuüben. Ich habe sogar das Vordiplom gemacht, weil ich finde, dass jeder sich weiterbilden sollte. Aber manchmal ist es besser, etwas einfach zu tun, als es aus den Büchern zu lernen. Und in mir steckt einfach nicht mehr als ein Cowboy. Pferde, Rinder … davon verstehe ich etwas.“
Dass er auf einer Ranch aufgewachsen war, erzählte er nicht. Auch nicht, dass sein Vater ihn alles gelehrt hatte, was er über das Züchten von Pferden und Rindern wusste. Sogar seine Fähigkeit, einer der besten Hufschmiede in Lincoln County zu werden, hatte er Lee Rollins zu verdanken.
Du bist und bleibst in jeder Hinsicht wie dein Vater, Jake. Im Guten wie im Schlechten.
Das hatte seine Mutter zu ihm gesagt, und zwar häufiger, als er zählen konnte. Und wahrscheinlich hatte Clara recht. Er ähnelte tatsächlich in vielfacher Hinsicht Lee.
Dennoch wollte Jake nicht glauben, dass er ganz genau wie sein Vater war. Er war kein Mann, der sein eigenes Kind herzlos im Stich lassen würde. Und die Frau, der er geschworen hatte, zu lieben und zu ehren.
„Sie sind sicher sehr gut in dem, was Sie tun“, unterbrach Rebecca seine Gedanken und warf ihm einen verstohlenen Blick zu. „Ich würde die Rafter-R gern einmal besuchen, wann immer Ihnen die Arbeit mal nicht bis zum Hals steht.“
Interessierte sie sich wirklich für die Ranch, oder versuchte sie nur, höflich zu sein, weil er keine Mühe gescheut hatte, ihr mit Star zu helfen? „Ich würde Sie sehr gern abends mal abholen“, sagte er. „Erwarten Sie nur nicht zu viel. Ich arbeite erst seit ein paar Jahren an dem Anwesen. Es macht sich zwar langsam, aber es ist noch lange nicht da, wo ich es gern hätte.“
„Als Sie es gekauft haben, war es also nicht im allerbesten Zustand?“
„Dann hätte ich es mir niemals leisten können.“
Sie lächelte freundlich. „Nun, dann bin ich bestimmt aufrichtig beeindruckt.“
Beeindruckt? Was war los mit dieser Frau? Sah sie denn nicht, dass er nur ein Allerweltstyp war?
„Ich finde es gut, dass Sie sich entschieden haben, noch eine Weile zu bleiben“, sagte er schließlich. „Gut für mich, weil ich Ihre Gesellschaft genieße. Und für Sie, weil ich das Gefühl habe, dass Sie eine kleine Auszeit benötigen.“
Plötzlich hatte sie einen Kloß in der Kehle. „Ich hatte nicht vor, länger hierzubleiben. Jedenfalls nicht zunächst. Aber meine Tante hat verdient, dass ich ihr ein bisschen von meiner Zeit widme, finde ich. Schließlich hatte sie schon zu Lebzeiten nichts von mir. Und jetzt … alles was, was sie im Leben besaß, hat sie mir hinterlassen. Das ist …“
Ihre Kehle wurde so eng, dass ihr die Stimme versagte. Sie rang nach Fassung und blickte dabei auf ihre Füße. Dann sprach sie mit brüchiger Stimme weiter. „Das ist für mich nur schwer zu ertragen, Jake. Ich verdiene es nicht, auch nur irgendetwas von ihr zu bekommen.“
„Warum sagen Sie so etwas, Rebecca?“
„Weil ich sie nicht besucht und nie mit ihr gesprochen habe.“ Verzweifelt sah sie ihn an. „Das klingt jetzt vielleicht verrückt, aber ich habe mein Leben lang nicht gewusst, dass ich überhaupt eine Tante habe. Erst wenige Tage vor ihrer Beerdigung habe ich von ihr erfahren.“
Erstaunt starrte Jake sie an. „Mir war klar, dass Sie sie nie besucht haben. Aber ich dachte, dass Sie einfach zu beschäftigt waren.“
Beschämt schüttelte sie den Kopf. „Ich wünschte, es wäre so einfach. Das ist es aber nicht. Meine Familie … alles in meinem Leben kommt mir wie ein einziger Betrug vor.“
„Wow, Rebecca. Das sind ziemlich harte Worte. Vielleicht sollten Sie einen Gang zurückschalten und von vorne erzählen“, schlug er freundlich vor.
Rebecca wurde klar, dass wahrscheinlich nur die Hälfte des Gesagten einen Sinn für ihn ergab, deshalb nickte sie. „Sie haben recht. Ich sollte am Anfang beginnen. Meine Familie war schon immer sehr klein. Meine Großeltern mütterlicherseits habe ich nie gekannt. Sie haben meine Mutter erst im fortgeschrittenen Alter bekommen und starben noch vor meiner Geburt.“
„Und Ihre Großeltern väterlicherseits?“, fragte er.
„In den ersten Jahren meiner Kindheit lebten sie in Florida und kamen immer nur kurz zu Besuch. Einige Jahre vor dem Tod meines Vaters kamen sie bei einem Autounfall um.“