„Jake, warte!“
Als Rebeccas Stimme hinter ihm ertönte, griff Jake bereits nach dem Türgriff seines Trucks.
Er hielt inne, blickte über seine Schulter und sah, wie sie auf ihn zugerannt kam. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihm bis hierher nachlaufen würde. Dass sie es doch getan hatte, erstaunte und verärgerte ihn gleichermaßen. „Du hättest mir nicht folgen sollen, Rebecca.“ Seine Stimme war heiser. „Ich sagte doch, dass ich wegmuss.“
„Ich verstehe dich nicht, Jake. Ich dachte, wir hätten einen wunderschönen Abend zusammen verbracht.“
Irgendetwas in seiner Brust zog sich zu einem Knoten zusammen. Es war ein Schmerz, wie er ihn noch nie gespürt hatte. Und dieses Gefühl ängstigte ihn fast so sehr wie ihr Kuss. „Den haben wir auch. Es war … schön. Wirklich schön. Aber …“ Er stockte und stellte verwundert fest, dass ihm die Worte fehlten.
Bisher war es ihm nie sonderlich schwergefallen, sich mit Frauen zu unterhalten. Wenn Worte nicht wirkten, dann konnte er seinen Gefühlen immer noch auf körperliche Weise Ausdruck verleihen. Rebecca gegenüber hatte er in dieser Hinsicht jedoch schon zu viel geäußert.
Sie kam näher, und für einen Moment war er kurz davor, in seinen Truck zu flüchten. Dann wäre er wenigstens nicht mehr versucht, sie in seine Arme zu ziehen und ihre sinnlichen Lippen mit weiteren Küssen zu bedecken.
Rebecca sah ihn verwundert an. „Aber warum, Jake? Hat dir der Kuss nicht gefallen?“
Er stöhnte tief auf. „Natürlich hat er mir gefallen!“
„Warum läufst du dann vor mir davon?“
Ja, warum eigentlich? Er war noch nie vor einer Frau davongelaufen. Im Gegenteil, bisher hatte er sich ihnen nur allzu gern ausgeliefert – zumindest für eine Weile. „Weil das, was auf der Veranda zwischen uns passiert ist … ich hatte das nie so geplant.“
Nein, aber du hast es dir verdammt noch mal vorgestellt.
„Ich auch nicht.“
Er atmete heftig aus. „Ich will nicht, dass du denkst … Sieh mal, Rebecca, du bist eine Lady, und als ich heute hierherkam, war ich fest entschlossen, mich wie ein Gentleman zu benehmen.“
Sie musste lächeln.
Jake merkte, wie er sie anstarrte und sich dabei fragte, warum sich ihr Kuss so anders angefühlt hatte als die von allen Frauen, die er geküsst hatte.
„Auch Ladys küssen, Jake. Erst recht, wenn sie mit einem Gentleman zusammen sind, den sie mögen.“
Er schüttelte den Kopf und versuchte zu lachen, doch heraus kam nur ein hilfloses Stöhnen. „Und du denkst, ich bin so einer? Da täuschst du dich, Rebecca. Ich bin ein Durchschnittstyp, der gut darin ist, sich für etwas auszugeben, was er nicht ist. Ich bin nicht wie die Männer, mit denen du normalerweise ausgehst. Die Männer, die du küssen willst.“
Mit ernster Miene ging sie einen weiteren Schritt auf ihn zu. „Woher weiß du, welche Männer ich küssen will?“
Er versuchte lässig zu bleiben und mit den Schultern zu zucken, doch innerlich zitterte er.
Es war verrückt. Einfach lächerlich. Was war nur los mit ihm? Eigentlich war es doch eine Freude, einer Frau wie ihr so nahe zu sein. Einer Frau, nach der er so lange gesucht hatte.
„Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht die Art Mann bin.“
„Vielleicht hätte ich mich noch deutlicher ausdrücken sollen.“
Wenn sie noch deutlicher wäre, würde seine Selbstkontrolle wie ein dürrer Zweig zwischen ihren sanften Fingern zerbrechen. Er war immer noch erstaunt, dass er die Kraft gefunden hatte, sich von ihr und dem Kuss zu lösen.
„Es war deutlich genug, Rebecca. Wir sind zwei völlig unterschiedliche Menschen. Im Moment siehst du in mir wahrscheinlich den Reiz des Neuen. Großstadtpflanze trifft raubeinigen Cowboy. Aber das passt nun einmal nicht zusammen. Aus diesem Grund können du und ich nur Freunde sein. Mehr nicht.“
Seufzend überbrückte sie auch noch die letzte Distanz und legte eine Hand auf seinen Unterarm. „Warum tust du das, Jake?“
Er schluckte. „Warum tu ich was?“
„Du machst eine Riesensache aus einem kleinen Kuss. Ich schwöre, dass ich nicht versucht habe, dir einen Strick umzulegen.“
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Jake wahrscheinlich über ihre Bemerkung gelacht. Vor allem, weil sie ernsthaft annahm, er sei besorgt darüber, von ihr angebunden zu werden. Nach dreißig Minuten würde sie ihn doch wieder losbinden, ihm einen Tritt in den Hintern verpassen und ihn in die Herde zurückschicken. Im Moment war ihm jedoch gar nicht zum Lachen zumute. „Ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, was du vielleicht tun könntest. Und ich mache auch keine Riesensache daraus.“
„Tatsächlich? Du springst also immer auf und lässt deine weiblichen Gäste einfach so sitzen?“
„Du bist heute nicht mein Gast. Ich bin deiner.“
Rebecca war sichtlich verzweifelt. Doch als sie seine Miene betrachtete, wurde ihre Miene weicher, und sie drückte sanft seinen Arm. „Jake, ich will nicht, dass du im Zorn gehst. Ich mag dich. Und der heutige Abend war für mich etwas ganz Besonderes.“
Die Mauer des Widerstands, die er zwischen ihnen errichtet hatte, begann zu bröckeln wie alter Lehm. „Ich bin nicht wütend. Nicht im Entferntesten. Ich versuche nur …“ Nicht den Verstand zu verlieren. Hilflos suchte er nach den richtigen Worten. „Vorhin auf der Veranda … wenn dieser Moment noch länger gedauert hätte, dann hätte ich mich möglicherweise nicht mehr zurückhalten können.“
„Wäre das denn so schlimm gewesen?“
Sie hatte angedeutet, dass ein gemeinsames Liebesspiel kein Tabu für sie war. Normalerweise war das genau das Startsignal, dass Jake sich von einer Frau erhoffte. Er war sich jedoch unschlüssig, ob er das auch von Rebecca wollte. „Vor einer Sekunde sagtest du, dass du mich magst“, gab er zurück. „Nun, ich mag dich auch, Rebecca. Und ich möchte nicht, dass irgendetwas geschieht, das dieses Gefühl zunichtemacht.“
Sie forschte eine gefühlte Ewigkeit in seinem Gesicht. Dann nickte sie gedankenverloren und ließ seinen Arm los. „Ich verstehe.“
Tat sie das wirklich? Er verstand sich selbst nämlich absolut nicht. Eine Frau zu mögen – das hatte ihn nie davon abgehalten, mit ihr zu schlafen. Bis jetzt zumindest nicht.
Er drehte sich zur Wagentür um und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Ich gehe jetzt besser, Rebecca.“
„Wirst du … sehen wir uns wieder?“, fragte sie.
Er wich ihrem Blick aus, aus Angst, sein Vorsatz, ein Gentleman zu sein, könne in sich zusammenfallen.
„Natürlich. Ich komme irgendwann mal abends vorbei und nehme dich zur Rafter-R-Ranch mit. Wenn du sie immer noch sehen möchtest.“
„Natürlich will ich das. Bevor du gehst, habe ich noch eine Frage.“
Das machte ihn neugierig. „Ja?“
„Die Frau auf der Beerdigung meiner Tante. Ihre Freundin, die du Bess genannt hast. Wenn du denkst, dass es sie nicht stört, würde ich gern mal mit ihr reden. Kannst du mir sagen, wo ich sie finde?“
„Natürlich. Wenn du Alto durchquerst, gibt es auf der rechten Seite einen kleinen Gemüseladen mit der Hausnummer 532. Morgens arbeitet sie dort.“
„Danke. Ich hoffe, dass sie mir ein paar Fragen über meine Tante beantworten kann.“
„Das ist gut möglich.“ Jake riss die Wagentür auf und kletterte hinter das Steuer, bevor er sich noch einen letzten Blick auf Rebecca erlaubte. „Bis bald, Rebecca.“
Wortlos hob sie die Hand zum Abschied.
Er winkte, während er den Motor startete. Und bevor er seine Meinung noch ändern konnte, fuhr er davon.
Während draußen die Sonne gleißend hell schien, war es im Innern des Ladens düster.
Der Duft von Gebratenem stieg Rebecca in die Nase. Als ihr Blick zur linken Kasse wanderte, sah sie, dass der Laden an einen kleinen Imbiss angeschlossen war, der warme Mahlzeiten servierte.
Hinter der Kasse hockte eine füllige Frau mit einer schwarzen Hose und einer roten Bluse, die rechts in Brusthöhe das Wort „Frank’s“ aufgestickt hatte.
Die Frau war gerade dabei, einem jungen Mann, der Getränke einkaufte, das Wechselgeld zu zählen. Ihre Haarfarbe war eine Mischung aus Grau und Haselnussbraun, und obwohl sie wahrscheinlich noch keine sechzig Jahre alt war, hatte sie zahlreiche Falten im Gesicht.
Rebecca konnte sich nur undeutlich an die Beerdigung erinnern, aber sie erkannte das Gesicht der Frau wieder. Sie wartete an der Seite, bis der Kunde den Laden verlassen hatte. Dann trat sie näher.
„Kann ich Ihnen helfen, Miss?“
„Ich denke schon. Sie sind Bess, nicht wahr?“
Mit der Hüfte schob die Frau die Kassenschublade zu. „Ja, warum? Kennen wir uns?“
„Ich bin Rebecca Hardaway, Gertrude O’Dells Nichte.“
Die Frau starrte Rebecca an, als hätte diese ihr gerade eröffnet, sie käme vom Mars. „Sie machen Witze. Sie sind die Frau, die ich auf der Beerdigung gesehen habe?“
Rebecca nickte und sah unbewusst an ihrer legeren Kleidung hinunter. Für diesen Besuch hatte sie sich absichtlich in ihre älteste Jeans und ein einfaches T-Shirt geworfen. Sie trug auch kein Make-up, und ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Zweifellos sah sie der Houston-Rebecca überhaupt nicht mehr ähnlich.
„Das ist richtig“, entgegnete sie. „Tut mir leid, dass ich an dem Tag keine Gelegenheit hatte, mit Ihnen zu sprechen. Ich wollte Ihnen danken, dass Sie sich die Zeit genommen haben, zur Beerdigung meiner Tante zu kommen.“
Bess musterte sie ein, zwei Sekunden lang gedankenverloren. Dann drehte sie plötzlich den Kopf und rief jemandem im hinteren Bereich des Ladens zu. „Sadie! Kommst du mal und übernimmst die Kasse für mich? Zeit für meine Pause.“
„Moment!“, rief eine Stimme aus dem hinteren Bereich des Ladens zurück. „Ich komme in einer Minute!“
„Draußen gibt es einen Platz, wo wir uns hinsetzen können“, sagte Bess zu Rebecca. „Ich habe ein paar Minuten Zeit, wenn Sie reden möchten.“
Hinter ihr schlurfte eine sehr junge Frau mit pink-schwarzen Haaren und einer gepiercten Unterlippe heran. „Okay, bin schon hier. Lass dir Zeit. Ist ja nicht so, dass heute massenhaft Kundschaft da wäre.“ Sie sah Rebecca kurz an. „Sie werden schon bedient?“
„Sie ist hier, um mich zu besuchen“, erklärte Bess der Kollegin und führte Rebecca eilig zur Tür hinaus. „Sadie ist ein nettes Mädchen, aber sie liebt es, Tratsch zu verbreiten. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Ich verstehe schon“, nickte Rebecca. Gleichzeitig fragte sie sich, ob diese Frau ihr irgendetwas über ihre Tante erzählen wollte, das nicht für fremde Ohren bestimmt war.
Auf der Westseite des Gebäudes stand ein Picknicktisch im Schatten zweier Espen. Rebecca nahm auf der einen Seite Platz, während sich Bess ihr gegenüber vorsichtig auf die Bank plumpsen ließ.
„Oh, ja“, sagte sie und seufzte zufrieden. „Das tut den alten Füßen gut. Bin schon seit fünf Uhr morgens auf den Beinen.“
Erstaunt warf Rebecca einen Blick auf die Uhr. Es war fast elf. „Sie arbeiten schon seit fünf Uhr früh?“
„Eigentlich habe ich sogar etwas früher angefangen. Das bekommt mein Chef allerdings nicht mit. Ich muss ja das Gebäck und die Frühstück-Tacos vorbereiten. Die Arbeiter wollen etwas, das sie unterwegs essen können. Wahrscheinlich haben sie keine Frauen, die für sie kochen.“ Sie sah Rebecca an und lachte. „Jetzt merkt man mir aber mein Alter an, nicht wahr, meine Liebe? Ehefrauen kochen doch heutzutage nicht mehr.“