Nacht der Wunder

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Arizona, 1896. Eine Schneelawine reißt den Zug von den Schienen - und zerstört Lizzies McKettricks Plan: Zum Fest wollte sie bei ihren Eltern sein und ihnen Whitley vorstellen. Verlobung nicht ausgeschlossen! Doch nicht Whitley hilft den Verletzten, macht den Verzweifelten Mut, sondern der attraktive junge Doktor Morgan Shane. Und weckt so in Lizzies Herzen das helle Licht wahrer Liebe ...


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • Bandnummer 7
  • ISBN / Artikelnummer 9783955760816
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Linda Lael Miller

Ein Fest der Liebe – Nacht der Wunder

Roman

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

McKettrick’s Christmas

Copyright © 2008 by Linda Lael Miller

erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: Corbis GmbH, Düsseldorf;

mauritius images GmbH, Mittenwald; pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz /

John Hall Photography

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-081-6

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

1. KAPITEL

22. Dezember 1896

Lizzie McKettrick lehnte sich in ihrem Sitz nach vorn, als würde der Zug auf diese Weise schneller fahren. Nach Hause. Sie fuhr endlich nach Hause, auf die Triple M Ranch, zu ihrer großen, lauten Familie. Nach über zwei Jahren, in denen sie zuerst in Miss Ridgelys Anstalt für junge Frauen gutes Benehmen und Kultiviertheit gelernt und dann eine normale Schule besucht hatte, kehrte Lizzie zurück. Endlich zurück zu den Menschen, die sie liebte – und zwar für immer. Sie kam einen Tag früher als erwartet an, um alle zu überraschen – ihren Vater, ihre Stiefmutter Lorelei und die kleinen Brüder John Henry, Gabriel und Doss. Für alle hatte Lizzie Geschenke gekauft. Die meisten hatte sie schon vor Wochen von San Francisco aus losgeschickt. Ein paar besonders wertvolle jedoch lagen gut verpackt in einer ihrer drei riesigen Reisetruhen.

Nur ihr Großvater Angus McKettrick, der Patriarch des großen Familienclans, wusste, dass sie schon heute Abend kam. Er wird an dem kleinen Bahnhof in Indian Rock auf mich warten, dachte Lizzie glücklich – wahrscheinlich mit den Zügeln eines großen flachen Pferdeschlittens in der Hand. Mit diesen Schlitten schafften sie normalerweise das Futter zu eingeschneiten Rinderherden. Sie hatte ihm in ihrem letzten Brief geschrieben, dass sie all ihre Sachen mitbringen würde. Denn dieses Mal kam sie für immer zurück und nicht nur für einen kurzen Besuch zu Weihnachten wie in den letzten beiden Jahren.

Lizzie lächelte, weil selbst ihr engster Vertrauter Angus – von ihren Eltern einmal abgesehen – nicht alle Fakten ihrer Rückkehr kannte.

Aus den Augenwinkeln betrachtete sie Whitley Carson, der neben ihr gegen das verrußte Fenster gelehnt und in eine Decke gekuschelt tief und fest schlief. Sein Atem ließ die Scheibe beschlagen. Immer wieder zuckte er zusammen und grummelte etwas vor sich hin.

Leider war Whitley zwar äußerst charmant, hielt aber offenbar wenig von Zugreisen. Seit sie in San Francisco eingestiegen waren, hatte er kaum eine Gelegenheit verstreichen lassen, sich zu beschweren.

Der Zug wäre schmutzig.

Es gäbe keinen Speisewagen.

Der über ihnen wabernde Zigarrenqualm reizte seinen Husten.

Ihm würde nie mehr warm werden.

Was in aller Welt war nur in die Frau drei Reihen hinter ihnen gefahren, dass sie eine so lange Reise mit zwei frechen Kindern und einem schreienden Säugling antrat?

In diesem Moment gab das Baby einen kläglichen Schrei von sich.

Lizzie, die an Babys gewöhnt war, weil es so viele davon auf Triple M gab, störte das nicht. Was sie hingegen sehr wohl störte, war Whitleys offensichtlicher Unmut gegenüber Kindern. Obwohl sie als Lehrerin arbeiten wollte – verheiratet oder nicht –, hoffte sie, eines Tages selbst einen ganzen Stall voller Kinder zu haben. Gesunde, laute, wilde Kinder, aus denen selbstbewusste Erwachsene und Freidenker werden würden. Es fiel ihr nicht leicht, in jenem Whitley den Vater ihrer Kinder zu sehen.

Der Mann jenseits des Gangs legte seine Zeitung zur Seite, stand auf und streckte sich. Er war vor ein paar Stunden zugestiegen, in Phoenix, in der Hand eine Arzttasche aus gesprungenem und verkratztem Leder. Seine Weste war sauber, aber sichtlich abgetragen. Er trug weder Hut noch Waffe – ein seltener Anblick in dem noch immer wilden Gebiet um Arizona herum.

Obwohl Lizzie annahm, dass Whitley, sobald sie bei ihrer Familie waren, um ihre Hand anhalten würde, warf sie dem Fremden verstohlene Blicke zu. Er hatte irgendetwas an sich, das immer wieder ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

Der Mann hatte dunkles, recht langes Haar und braune ernste Augen. Auch wenn er vermutlich nicht viel älter als Lizzie war, die demnächst zwanzig wurde, lag eine Reife in seinem Verhalten und seiner Miene, die sie anzog. Es kam ihr so vor, als ob er schon viele Leben gelebt hätte, zu anderen Zeiten und an anderen Orten.

Sie hörte, wie er leise zu der Mutter sprach, und spürte ein ganz spezielles kleines Ziehen an der geheimsten Stelle ihres Herzens, als sie sah, wie er das in einen schäbigen, ausgefransten Quilt gewickelte Kind hielt.

Whitley schlief weiter.

Außer ihnen saßen nur wenige andere Passagiere in dem Waggon. Ein fahler und sehr magerer Soldat in blauer Uniform, der sich offenbar gerade von einer grässlichen Krankheit oder Verletzung erholte. Ein beleibter Vertreter mit einem Musterkoffer auf dem Schoß, dessen Griff er mit einer Hand umklammerte, während er in der anderen eine brennende Zigarre hielt. Offenbar besaß er einen unerschöpflichen Vorrat an diesen Dingern, da er eine nach der anderen wegpaffte. Ein älteres, schweigsames Paar reiste mit einem exotischen weißen Vogel in einem wunderschönen Messingkäfig bei sich. Herrliche blaue Federn schmückten den Kopf des Vogels, der, sobald seine Besitzer das rote Seidentuch vom Käfig zogen, vor sich hin plapperte.

Sie alle – von Whitley natürlich abgesehen – waren Fremde für Lizzie. Wobei ihr Whitley in diesem neuen und unangenehmen Licht ebenfalls fremd erschien.

Neues Heimweh erfasste Lizzie. Sie sehnte sich entsetzlich danach, unter Menschen zu sein, die sie kannte. Menschen wie Lorelei, die bestimmt seit Wochen unaufhörlich buk, Päckchen versteckte und Geheimnisse bewahrte. Oder wie ihr Vater Holt, der sich in den Pausen im Schuppen einschloss, um Schlitten, Spielzeugkutschen und Puppenhäuser zu schnitzen. Einiges davon würde er Lizzies Brüdern und den vielen Cousins und Cousinen schenken. Doch der größte Teil war für die ärmeren Haushalte in der Umgebung von Triple M gedacht.

Zwar lagen immer Berge von Geschenken unter dem Weihnachtsbaum, und es gab reichlich köstliches Essen, doch für die McKettricks ging es Weihnachten überwiegend darum, Leuten Geschenke zu machen, die nicht so viel besaßen wie sie. Darum nähten Lorelei, Lizzie und alle Tanten jedes Jahr etliche Stoffpuppen und -tiere, die beim Gemeindefest am Weihnachtsabend in der Kirche verteilt wurden.

Der Fremde, der jetzt mit dem Baby auf dem Arm den Gang entlangging, riss Lizzie aus ihren Gedanken. Er sah ihr ins Gesicht. Zwar lächelte er nicht direkt, doch irgendetwas blitzte in seinen Augen auf.

Sein Anblick beschämte Lizzie. Sie hätte der überforderten Mutter drei Reihen weiter hinten ihre Hilfe anbieten sollen. Das Kind beruhigte sich bereits ein wenig, es gurrte und sabberte auf das weiße Hemd des Mannes. Falls ihn das störte, so ließ er es sich nicht anmerken.

Hinter den Zugfenstern wirbelten dicke Schneeflocken durch die zunehmende Abenddämmerung. Und obwohl Lizzie mit Gedankenkraft versuchte, das Tempo des Zugs zu beschleunigen, schien er eher langsamer zu werden.

Gerade als sie dem Mann den Säugling abnehmen wollte, ertönte aus allen Richtungen ein entsetzliches Getöse – als ob tausend Gewitter gleichzeitig zusammenkrachten. Der Waggon ruckte heftig und stoppte dann unvermittelt mit einem Beben. Als ob der ganze Zug aus den Schienen springen wollte, neigte er sich zur Seite, stellte sich dann aber wieder mit einem Übelkeit erregenden Wackeln auf.

Der Vogel schlug vor Angst wild kreischend mit den Flügeln.

Lizzie, die beinahe aus ihrem Sitz geschleudert wurde, spürte einen festen Griff an ihrer Schulter. Beim Aufsehen erkannte sie den Fremden, der noch immer aufrecht stand, das Baby sicher in seiner rechten Armbeuge. Irgendwie war es ihm gelungen, auf den Beinen zu bleiben, das Kind zu halten und Lizzie davor zu bewahren, auf den gegenüberliegenden Sitz geworfen zu werden.

“W…was?”, murmelte sie erschrocken.

“Eine Lawine vermutlich”, erwiderte der Mann ruhig.

Der wiedererwachte Whitley war genauso verängstigt wie der Vogel. “Sind wir entgleist?”, wollte er wissen.

Der Fremde ignorierte ihn. “Ist jemand verletzt?”, fragte er, tätschelte den Rücken des Babys und schaukelte es vorsichtig an seiner Schulter.

“Mein Arm”, wimmerte die Mutter des Säuglings im hinteren Teil. “Mein Arm …”

“Keine Panik”, sagte der Mann, drückte Lizzie das Baby in die Arme und nahm die Medizintasche von der Ablage über seinem Sitz. Er sprach leise mit dem älteren Ehepaar. Lizzie sah, wie sie nickten. Sie waren also in Ordnung.

“Keine Panik!”, krächzte der Vogel. “Keine Panik!”

Trotz der ernsten Situation musste Lizzie lächeln.

Whitley rieb sich den Nacken und beäugte die Arzttasche. “Ich glaube, ich bin verletzt”, rief er. “Sie sind Arzt, nicht wahr? Ich brauche Laudanum.”

“Laudanum!”, forderte der Vogel.

“Psst, Woodrow”, flüsterte die alte Dame. Ihr Mann legte das Tuch über den Käfig, woraufhin Woodrow umgehend verstummte.

Mit einem kurzen Nicken beantwortete der Arzt Whitleys Anfrage. “Ja, ich bin Arzt. Mein Name ist Morgan Shane. Ich werde Sie mir ansehen, sobald ich Mrs. Halifax’ Arm verarztet habe.”

Das Baby begann in Lizzies Armen zu schreien und sich nach seiner Mutter zu strecken.

“Bring es zum Schweigen”, blaffte Whitley. “Ich habe Schmerzen.”

“Schweigen”, wiederholte Woodrow gedämpft durch das Seidentuch. “Ich habe Schmerzen!”

Ohne auf Whitley zu achten, stand Lizzie auf. “Dr. Shane?”

Er hockte im Gang neben der Mutter des Säuglings und untersuchte behutsam ihren Arm. “Ja?”, fragte er ein wenig gereizt und ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Die älteren Kinder, ein Junge und ein Mädchen, klammerten sich auf dem anderen Sitz aneinander.

“Das Baby – so wie es schreit – denken Sie, es könnte verletzt sein?”

“Es ist ein Mädchen”, wisperte die Frau.

“Sie hat sich nur sehr erschreckt”, erklärte Dr. Shane, diesmal freundlicher. “So wie der Rest von uns auch.”

“Ich glaube, wir sind verschüttet”, rief der Soldat.

“Verschüttet!”, stimmte Woodrow mit einem Rascheln seiner Federn zu.

Tatsächlich drückten sich auf einer Seite des Waggons Schnee, Äste und Steine gegen die Fenster. Auf der anderen Seite lag ein tiefer Abgrund, wie Lizzie von ihren früheren Reisen wusste.

“Nur eine Verstauchung”, verkündete Dr. Shane Mrs. Halifax. “Ich mache Ihnen eine Schlinge. Wenn die Schmerzen zu schlimm werden, kann ich Ihnen etwas Medizin geben. Allerdings würde ich lieber darauf verzichten. Sie stillen das Baby, oder?”

Mrs. Halifax nickte und biss sich auf die Unterlippe. Lizzie bemerkte, dass die Frau höchstens so alt war wie sie, vielleicht sogar jünger. Sie war mager, geradezu ausgezehrt, ihre Kleider waren zerschlissen und ausgeblichen.

Spontan dachte Lizzie an den Inhalt ihrer Truhen: Wollkleider, Schals und der warme schwarze Mantel mit dem marineblauen Seidenkragen. Lorelei hatte ihn Lizzie zum Schulabschluss geschickt, damit sie auf der Heimfahrt schick aussah und trotzdem nicht frieren musste. Sie hatte allerdings beschlossen, dieses teure Kleidungsstück nur sonntags anzuziehen.

Sie lief zurück zu Whitley, das Baby noch immer in den Armen. “Wir brauchen deine Decke”, sagte sie.

Whitley runzelte die Stirn und wickelte sich nur noch fester in den weichen Stoff. “Ich bin verletzt”, protestierte er. “Könnte sein, dass ich unter Schock stehe.”

“Du bist nicht verletzt”, antwortete sie genervt und klopfte mit dem Fuß auf den Boden. “Aber Mrs. Halifax. Whitley, gib mir die Decke.”

Daraufhin umklammerte Whitley die Decke so heftig, dass seine Fingerknöchel weiß wurden, und schüttelte hartnäckig den Kopf. In diesem Moment erkannte sie, dass sie Whitley Carson nicht heiraten konnte. Nicht einmal, wenn er sie auf Knien anflehen würde, was zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber eine befriedigende Vorstellung war.

“Nehmen Sie meine, Ma’am”, rief der Soldat von hinten und bot ihr einen ausgewaschenen Quilt an, den er aus seinem überdimensionalen Seesack zog.

Der Vertreter, dessen Zigarre beim Unfall ausgegangen war, aber noch immer zwischen seinen Lippen steckte, öffnete den Musterkoffer. “Ich habe hier ein paar Geschirrtücher”, wandte er sich an Dr. Shane. “Feinste ägyptische Baumwolle, handgewebt. Eins davon würde bestimmt eine gute Schlinge abgeben.”

Der Arzt bedankte sich bei dem Vertreter und nahm den Quilt von dem Soldaten entgegen.

“Wenn ich nur zu meinen Reisetruhen käme”, ärgerte sich Lizzie, während sie sich das inzwischen etwas ruhigere Baby gekonnt auf die Hüfte setzte. Durch ihre jüngeren Brüder und die zahlreichen Cousins war sie den Umgang mit kleinen Kindern gewöhnt.

“Das ist nun wirklich nicht der Zeitpunkt, um sich Sorgen über die Garderobe zu machen”, bemerkte Dr. Shane abfällig. Er war gerade dabei, aus dem Geschirrtuch eine Schlinge für Mrs. Halifax’ Arm herzustellen.

Lizzie errötete. Fast hätte sie ihm erklärt, warum sie zu ihrem Gepäck wollte – nämlich aus wahrhaft uneigennützigen Gründen –, doch ihr Stolz hielt sie davon ab.

“Ich habe Schmerzen!”, beschwerte sich Whitley weiter vorn.

“Ich habe Schmerzen”, echote Woodrow inzwischen deutlich leiser.

“Vielleicht sollten Sie sich um Ihren Mann kümmern”, bemerkte Dr. Shane knapp, während er sich aufrichtete.

Lizzies Wangen wurden noch heißer, obwohl es in dem Waggon immer kälter wurde. Inzwischen konnte sie schon ihren eigenen Atem sehen. “Whitley Carson”, erwiderte sie, “ist mit Sicherheit nicht mein Mann.”

So etwas Ähnliches wie ein Lächeln tanzte in Dr. Shanes dunklen Augen. “Nun”, sagte er gedehnt, “dann haben Sie doch mehr Verstand, als ich Ihnen zugetraut hätte, Miss …?”

“McKettrick”, sagte Lizzie. “Lizzie McKettrick.”

Dr. Shane, der gerade im Begriff war, sich zu dem Soldaten umzudrehen, hielt inne und hob die Augenbrauen. Er kennt den Namen McKettrick, dachte Lizzie. Er war auf dem Weg nach Indian Rock, der letzten Station auf dieser Strecke, sonst säße er nicht in diesem Zug. Vielleicht hatte er sogar geschäftlich mit ihrer Familie zu tun.

Ihr kam ein schrecklicher Gedanke. War jemand in ihrer Familie krank? Ihr Vater? Lorelei? Oder Angus? Während ihrer Abwesenheit hatte sie viele Briefe geschrieben und erhalten. Lizzie hatte mit fast allen Mitgliedern der riesigen Familie korrespondiert. Aber vielleicht hatten sie ihr etwas verheimlicht und warteten darauf, ihr persönlich die schlechte Nachricht zu überbringen …

Als Dr. Shane ihr Gesicht sah, aus dem sämtliche Farbe gewichen sein musste, runzelte er die Stirn. Er trat sogar einen Schritt auf sie zu. Vielleicht aus Furcht, dass sie das kleine Mädchen fallen ließ, das sich jetzt an Lizzie schmiegte. Der kleine Körper erbebte unter einem leichten Schluckauf, den das Weinen verursacht hatte.

“Geht es Ihnen gut, Miss McKettrick?”

Lizzie drückte ihr Rückgrat durch, ein Trick, den sie von ihrem Großvater kannte. Halt den Rücken gerade und deine Schultern auch, Lizzie-Mädchen, vor allem, wenn du dich fürchtest.

“Mir geht es gut”, sagte sie fest.

Dr. Shane schenkte ihr die Kopie eines anerkennenden Lächelns. “Gut, denn wir haben hier noch einiges vor uns, und ich brauche Ihre Hilfe.”

Nachdem der erste Schock langsam nachließ, überrollte die Erkenntnis, wie gefährlich die Situation war, Lizzie wie eine zweite Lawine.

“Ich muss nach dem Lokführer und dem Schaffner sehen”, sagte Dr. Shane und drückte sich in dem engen Gang an ihr vorbei.

“Man wird uns retten”, sagte sie mit einem Nicken, ebenso sehr zu sich selbst wie zu Dr. Shane. Whitley hörte nicht zu, er hatte einen Flakon aus seiner Tasche gezogen und begonnen, große Schlucke zu trinken. Der Vertreter und der Soldat unterhielten sich mit leiser Stimme, während Mrs. Halifax und ihre Kinder sich unter dem Quilt zusammenkuschelten. Das ältere Ehepaar flüsterte sich beruhigend zu, Woodrows Käfig spannte sich von einem Schoß zum anderen wie eine Brücke. “Wenn wir nicht pünktlich in Indian Rock ankommen, wird man nach uns suchen”, erklärte sie ihren Mitreisenden.

Ihr Vater. Ihre Onkel. Jeder kräftige Mann und Junge in Indian Rock vermutlich. Alle würden ihre Pferde satteln, Schlitten anspannen und den Schienen folgen, bis sie den verunglückten Zug gefunden hätten.

“Haben Sie mal aus dem Fenster gesehen?”, fragte Dr. Shane gedämpft. “Hier ist meilenweit nichts. Auf der einen Seite liegen mindestens fünf Meter Schnee und auf der anderen ein Abgrund. Zwar kann ich nur raten, aber sie scheinen mir ein vernünftiges, praktisch veranlagtes Mädchen zu sein, also werde ich Ihnen die Wahrheit zumuten. Wir stecken in großen Schwierigkeiten. Eine weitere Lawine könnte uns in den Abgrund reißen. Es bräuchte eine ganze Armee, um uns auszugraben, und ein kranker Soldat ist noch lange keine Armee. Wir können nicht bleiben, wir können nicht gehen. Da draußen tobt ein ausgewachsener Schneesturm.”

Nachdem sie einmal heftig geschluckt hatte, hob Lizzie das Kinn. “Ich bin kein Mädchen”, entgegnete sie. “Ich bin fast zwanzig, und ich bin Lehrerin.”

Zwanzig?”, spöttelte der Arzt. “So alt. Und eine Lehrerin obendrein.”

Doch Lizzie dachte schon wieder an ihre Familie – ihren Vater, ihren Großvater, ihre Onkel. “Sie werden kommen”, wiederholte sie mit Überzeugung. “Ganz gleich, was passiert.”

“Ich hoffe, Sie haben recht”, seufzte Dr. Shane, während er an den Ärmeln seines abgetragenen Mantels zupfte. “Wer auch immer ‘sie’ sein mögen, sie sollten sich beeilen und in der Lage sein, sich durch einen Berg von Schnee zu graben, um uns hier rauszuholen. Es wird stockdunkel sein, bevor irgendjemand auch nur bemerkt, dass unser Zug Verspätung hat. Und da Verspätungen nicht gerade ungewöhnlich sind, vor allem bei diesem Wetter, wird die Suche nicht vor morgen früh beginnen – wenn überhaupt.”

“Wo bleibt denn das Laudanum?”, wimmerte Whitley. Seine Wangen glühten rot in dem blassen Gesicht. Wenn Lizzie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie geglaubt, er wäre schwindsüchtig.

Dr. Shane klopfte auf seine Arzttasche. “Genau hier”, antwortete er. “Und es verträgt sich nicht mit dem Whiskey, den Sie da runterschütten. Ich würde mich an Ihrer Stelle etwas zurückhalten.”

Whitley sah aus wie ein hübsches, schmollendes Kind. Was habe ich nur je in ihm gesehen, fragte sich Lizzie. Wo war der umwerfende Charme geblieben, den er in San Francisco ausgestrahlt hatte, wenn er seinen Namen bei jedem Fest auf ihre Tanzkarte eintrug, poetische Liebesbriefe schickte und Blumen?

“Wollen Sie ihn nicht untersuchen?”, fragte Lizzie und dachte an ihre frühere Überzeugung, dass sie beide sich nach ihrer Hochzeit in Indian Rock niederlassen würden, damit sie dort unterrichten und immer in der Nähe ihrer Familie sein konnte. Es schien Whitley nichts auszumachen, so weit entfernt von seinen eigenen Verwandten zu leben. Doch nun erst erkannte sie, dass er sich nie darauf oder auf überhaupt irgendetwas festgelegt hatte. “Er könnte wirklich verletzt sein, wissen Sie.”

“Ihm geht’s gut”, entgegnete Dr. Shane kurz. Dann lief er mit seiner Tasche den Gang entlang Richtung Lokomotive.

“Was für ein Arzt ist der überhaupt?”, grummelte Whitley.

“Einer, der viel zu tun hat, vermute ich”, antwortete Lizzie. Dabei sah sie jedoch nicht zu ihm, sondern auf die Tür, durch die Dr. Shane gerade verschwunden war. Sie wusste, dass der Waggon vor ihnen leer war und sich daran die Lokomotive anschloss. Seit der Lawine hatten sie kein Lebenszeichen vom Schaffner bemerkt. Wäre er nicht sofort in den einzigen besetzten Waggon geeilt, um zu sehen, ob es Verletzte gab, wenn er gekonnt hätte? Und was war mit dem Lokomotivführer?

Voller Sorge beschloss sie, Dr. Shane zu folgen. Sie musste einfach wissen, wie schlimm die Situation wirklich war. Gerade wollte sie Whitley das Baby in den Arm drücken, als der zurückzuckte, als ob sie ihm eine zischende Klapperschlange hinhalten würde.

Ungehalten brachte Lizzie das Kind zurück zu Mrs. Halifax, legte es ihr behutsam in den Schoß und wickelte dann den Quilt wieder fest um sie. Der Vertreter und der Soldat saßen jetzt beieinander und spielten irgendein Kartenspiel auf dem Kofferdeckel. Der ältere Herr überließ Woodrow der Obhut seiner Frau und stand auf. “Gibt es etwas, das ich tun kann?”, fragte er niemand Bestimmtes.

Lizzie antwortete nicht, sondern warf dem alten Mann nur ein dankbares Lächeln zu und eilte auf die Lokomotive zu.

“Wohin gehst du?”, fragte Whitley mürrisch, als sie an ihm vorbeikam.

Aber sie machte sich nicht die Mühe zu antworten.

Ein kalter Wind schnitt in ihre Haut, als sie aus dem Waggon trat. Der Schnee fiel jetzt noch heftiger und legte sich bedrohlich über das Dach des Zugs – wie ein Baldachin. Der Waggon vor ihrem lag auf der Seite. Die schwere Eisenkuppplung, die ihn einmal mit dem zweiten Waggon verbunden hatte, war in zwei glatte Teile zerbrochen.

Kurz dachte Lizzie daran umzukehren, doch das verzweifelte Bedürfnis, das wahre Ausmaß des Unglücks zu erfahren, war größer als jede Vorsicht. Behutsam kletterte sie über die eisbedeckte kleine Leiter nach unten und bückte sich, um in den umgefallenen Waggon zu schauen.

Die Sitze, die seitlich aus den Wänden ragten, boten einen schauerlichen Anblick. Sie stieß ein leises Dankgebet aus, dass niemand in diesem Teil des Zugs gesessen hatte, und kroch hinein. Drinnen zog sie sich an einer offenen Gepäckablage hoch und ging durch den Waggon, indem sie von einem Sitz auf den nächsten trat.

Als sie die Tür erreichte, machte sie sich bereit, erneut auf den Boden zu klettern, um danach in die Lokomotive zu steigen.

Die Lokomotive stand jedoch aufrecht, und der Schnee lag so dicht zwischen den beiden Wagen, dass sie darüber gehen konnte. Lizzie kletterte in den Maschinenraum.

Dampf zischte aus einem zerstörten Kessel.

Der Schaffner lag auf dem Boden, der Lokomotivführer neben ihm.

Bei ihnen kniete Dr. Shane und blickte mit so einem bestürzten Gesicht zu Lizzie auf, dass sie gelacht hätte, wenn die Situation nicht so schrecklich gewesen wäre.

“Sie sagten doch, dass Sie vielleicht meine Hilfe brauchen”, erklärte sie.

So wie der Arzt aussah, wusste Lizzie sofort, dass die beiden Männer auf dem Boden der Lokomotive entweder tot oder tödlich verletzt waren.

Tränen brannten in ihren Augen, als sie sich deren Familien vorstellte, die gerade das Weihnachtsfest vorbereiteten, ohne zu ahnen, dass die sehnsüchtig erwarteten Menschen niemals zurückkehren würden.

“Es ging schnell”, sagte Dr. Shane, der jetzt vor ihr stand und eine Hand auf ihre Schulter legte. “Kannten Sie sie?”

Stumm schüttelte sie den Kopf. Sie kämpfte darum, ruhig zu bleiben. In ihren Gedanken hörte sie die tiefe Stimme ihres Großvaters.

Halt den Rücken gerade

“Haben sie – haben sie hier gelegen, nebeneinander, so wie jetzt?” Was für eine seltsame Frage. Vielleicht stand sie ja doch unter Schock. “Als Sie sie gefunden haben, meine ich?”

“Ich habe sie so hingelegt”, antwortete der Arzt, “nachdem ich festgestellt habe, dass beide nicht mehr leben.”

Nur die Tatsache, dass sie sich aufrecht hinstellte und die Schultern straffte, gab ihr schon ein besseres Gefühl.

Ein leichtes, grimmiges Lächeln umspielte Dr. Shanes fein gezeichnete Lippen. “Diese Rettungsmannschaft, die Sie erwarten”, sagte er. “Wenn die Leute nur ein bisschen wie Sie sind, können wir vielleicht doch hoffen zu überleben.”

Was hätte sie nicht dafür gegeben, jetzt zu Hause auf der Triple M Ranch zu sein, inmitten ihrer Familie. Im Salon des Haupthauses würde ein großer duftender Baum stehen, mit schimmerndem Lametta geschmückt. Vertraute Stimmen würden sich unterhalten, lachen, singen.

“Natürlich werden wir überleben”, hörte sie sich sagen. Dann sah sie wieder zu den beiden toten Männern, und ein Klumpen verschloss ihren Hals. Sie musste mehrfach schlucken und das Kinn noch ein paar Zentimeter höher heben, bevor sie weitersprechen konnte. “Zumindest die meisten von uns. Mein Vater, meine Onkel, selbst mein Großvater – sie alle werden kommen, sobald sie gehört haben, dass der Zug nicht angekommen ist.”

“Alle sind McKettricks, wie ich vermute.”

Als Lizzie jetzt nickte, zitterte sie. Der Kessel strahlte keine Wärme mehr aus. Vermutlich war der Schornstein voller Schnee. “Sie kommen zu uns durch, das werden Sie schon sehen. Nichts kann einen McKettrick aufhalten, vor allem, wenn jemand in Schwierigkeiten steckt.”

“Ich glaube Ihnen, Miss McKettrick”, versicherte ihr Dr. Shane.

“Bitte nennen Sie mich Lizzie”, bat sie ihn. Ihren Vornamen zu hören, würde ihr Kraft geben.

Autor

Linda Lael Miller
Linda Lael Miller wurde als Tochter eines Town Marshalls in Washington geboren. Natürlich wurde sie auch durch den Beruf ihres Vaters in den „Western lifestyle“ hineingeboren, der ihr Leben prägte. Sie verließ Washington und folgte ihrem Fernweh. Sie lebte in Arizona und London (Europa) und reiste rund um die Erde....
Mehr erfahren