Julia Hochzeitsband Band 20

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EINE BRAUTJUNGFER ZUM VERLIEBEN von CHILDS, LISA
Clayton McClintock ist die Vernunft in Person. Doch dann sieht er bei der Hochzeit seiner Schwester überraschend Abby wieder. Die impulsive Schönheit ist eine hinreißende Brautjungfer - und immer noch die einzige Frau, die stürmische Gefühle in Clayton weckt...

EIN TRAUZEUGE ZUM VERLIEBEN von CHILDS, LISA
Nick Jameson hat seinen Arztkittel nur mit einem Smoking vertauscht, um Trauzeuge bei der Hochzeit seines Freundes zu spielen. Dass er dabei der Schwester der Braut näherkommt, ist ihm gar nicht recht - droht Colleen doch, den Panzer um sein Herz zu durchbrechen …

EIN BRÄUTIGAM ZUM VERLIEBEN von CHILDS, LISA
Brenna war als Mollys Trauzeugin auserkoren - doch dann läuft die Braut weg. Und stellt damit nicht nur das Leben ihres ehemaligen Zukünftigen, sondern auch das von Brenna auf den Kopf. Denn den verlassenen Bräutigam zu trösten geht ihr näher, als es angebracht wäre …


  • Erscheinungstag 30.03.2010
  • Bandnummer 20
  • ISBN / Artikelnummer 9783862956463
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

LISA CHILDS

Eine Brautjungfer zum Verlieben

Die hübsche Geschäftsfrau Abby ist fest davon überzeugt, ihrem kleinstädtischen Heimatort Cloverville auf immer und ewig den Rücken gekehrt zu haben. Jedenfalls bis ihre beste Freundin Molly McClintock sie überredet, bei ihrer bevorstehenden Hochzeit die Brautjungfer zu spielen. Und Abby überraschend ihren heimlichen Jugendschwarm Clayton wiedersieht …

Ein Trauzeuge zum Verlieben

Hat Nick Jameson ihr etwa eben diesen funkelnden Blick zugeworfen, um mit ihr zu flirten? Die Sekretärin Colleen McClintock will es nicht glauben, denn während der Arbeit nimmt der Chirurg sie kaum wahr. Vielleicht passt sie in dem roten Kleid, das sie zur Hochzeit der Schwester trägt, nur besser in sein Beuteschema? Colleen wird Nick auf die Probe stellen …

Ein Bräutigam zum Verlieben

Sollte es wirklich ein glücklicher Wink des Schicksals sein, dass Molly ihren Bräutigam Josh vor dem Altar hat sitzen lassen? Denn seit ihm Brenna bei den Vorbereitungen der Hochzeitsparty zur Seite gestanden hat, fühlt sich der attraktive Arzt immer stärker zu der warmherzigen Trau-zeugin mit den aufregenden Kurven hingezogen …

1. KAPITEL

Genervt holte Clayton McClintock sein Mobiltelefon aus der Tasche und tippte eine Nummer ein. „Ich werde mich verspäten“, erklärte er seiner Verabredung knapp, während er die Tafel mit den Ankunftszeiten am Flughafenterminal beobachtete. Alle Flüge bis auf einen würden pünktlich ankommen. Und natürlich saß sie in dem einzigen verspäteten Flugzeug. Wie konnte es auch anders sein?

Seine Gesprächspartnerin antwortete nicht. Verwundert blickte er aufs Display. Mit der Verbindung war alles in Ordnung.„Ellen? Bist du noch da?“

„Ja“, erwiderte sie in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass ihre Geduld erschöpft war. Ein theatralisches Seufzen, das Clayton unangenehm an seine beiden Schwestern erinnerte, folgte. „Es hat einfach keinen Zweck, Clayton. Andauernd versetzt du mich. Nur ein einziges Mal haben wir uns in den letzten zwei Wochen gesehen.“

Schuldbewusst und auch ein wenig resigniert antwortete er: „Wegen der Hochzeit meiner Schwester ging bei uns alles drunter und drüber.“ Er hatte unzählige Schecks ausstellen müssen und war schließlich dazu verdonnert worden, heute den Chauffeur zu spielen, während alle anderen bereits bei der Probe waren.

Nervös blickte er auf seine Uhr. Wenn Abbys Flugzeug nicht bald landete, würden sie nicht nur die Probe in der Kirche, sondern auch noch das Abendessen bei den Kellys verpassen. Eigentlich hatte er geplant, seine Freundin Ellen nach der Probe abzuholen, damit sie ihn zum Familienessen begleitete. Doch wieder einmal schien es, dass er seine eigenen Pläne zugunsten seiner Familie aufgeben musste.

„Ja, es gab eine Menge zu tun“, räumte Ellen ein. „Und dein Bruder …“

Rory, der mit seinen vierzehn Jahren gerade eine schwierige Phase durchmachte, erinnerte Clayton ständig an sie. Doch sie war natürlich kein Teenager mehr. Menschen wurden älter und vernünftiger – vermutlich traf das sogar auf Abby Hamilton zu.

Und Clayton hoffte inständig, dass auch sein Bruder Rory eines Tages erwachsen werden würde. Natürlich nur, wenn er ihn bis dahin nicht erwürgt hatte.

„Immer geht es nur um deine Familie, Clayton“, sagte Ellen vorwurfsvoll. „Für mich hast du nie Zeit.“

Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Sie hatte ja recht. Er hatte nicht einmal Zeit für sich selbst. Seine Arbeit, seine Geschwister und seine Mutter beschäftigten ihn rund um die Uhr. Wie hatte sein Dad das nur geschafft? Clayton hatte die Verantwortung für die Familie bereits vor acht Jahren übernommen, und noch immer verstand er nicht, wie sein Vater alles so scheinbar mühelos bewältigt hatte. Müde rieb er sich die Augen.

„Mir ist schon vor einiger Zeit klar geworden, dass es mit uns beiden nicht klappt, Clayton. Also ruf mich bitte nicht mehr an.“

„Morgen heiratet meine Schwester.“ Damit würde zumindest ein Teil der Verantwortung von seinen Schultern genommen. „Danach wird alles besser.“

„Ja? Nimmt sie denn deine Mutter und deine anderen Geschwister mit? In deinem Leben ist weder Platz für mich noch für irgendeine andere Frau, Clayton. Es tut mir leid.“

Das Telefon klickte, und die Verbindung war unterbrochen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Abgesehen davon, dass er jetzt ohne Partnerin zu der Hochzeit gehen musste, störte das abrupte Ende dieser Beziehung Clayton nicht sonderlich. Er war noch nie längere Zeit mit einer Frau zusammen gewesen und spürte eher ein Gefühl der Erleichterung. An ernsthaften Beziehungen war er nicht interessiert, denn sie stellten für ihn lediglich eine weitere Verpflichtung dar, auf die er gut und gern verzichten konnte.

Hier im Flughafen auf Abby warten zu müssen, war schlimm genug. Es war typisch für sie, erst in der allerletzten Minute anzukommen. Sie war wirklich eine vorbildliche Brautjungfer! Zum Glück hatte Molly ihre langjährige Freundin Brenna gebeten, die Erste Brautjungfer zu sein. Clayton konnte sich nicht vorstellen, dass Abby dieser Aufgabe gewachsen gewesen wäre.

Er ging hinüber ins Flughafencafé und bestellte sich einen Cappuccino. Als er der Kellnerin das Geld dafür gab, ignorierte er ihr charmantes Lächeln und ihr Augenzwinkern. Vielleicht sollte er für eine Weile aufhören, sich mit Frauen zu treffen – er hatte eh nicht vor, sich ernsthaft zu binden. Das überließ er lieber Molly, Colleen und Rory. Ja, es würde ihn nicht einmal stören, wenn auch seine Mutter noch einmal heiratete. Schließlich war es schon acht Jahre her, seitdem sein Vater gestorben war.

Und genauso lange war Abby Hamilton schon fort. Gleich nach dem Begräbnis war sie verschwunden. Nicht einmal ihren Highschool-Abschluss hatte sie noch gemacht. Na ja, mit ihrem eigenen Jahrgang hätte sie die Abschlussprüfung auch gar nicht absolvieren können, denn sie war kurz zuvor von der Schule geflogen. Wenn Clayton es nicht bald schaffte, Rory zur Vernunft zu bringen, würde der jüngste Spross der McClintocks vermutlich eine ähnliche Karriere anstreben.

Was machte sie eigentlich jetzt? Seine Schwestern und seine Mom hatten den Kontakt zu ihr immer aufrechterhalten, doch mit ihm hatten sie nie über Abby gesprochen. Sie wussten, was er von ihr hielt. Als Letztes hatte er gehört, dass sie sich mit Gelegenheitsjobs durchschlug. Es hatte ihn nicht sonderlich erstaunt, denn es war Abby schon immer schwergefallen, sich längere Zeit für eine bestimmte Sache zu interessieren.

„Flug 3459 landet an Gate B4.“

Die Durchsage schreckte ihn so unvermittelt aus seinen Gedanken auf, dass der Kaffee über seine Hand schwappte und er sich die Finger verbrannte. Abby war zurück. Claytons Magen zog sich zusammen. Hatte er zu viel Koffein getrunken? Oder lag es daran, dass Abby Hamilton schon immer nichts als Ärger gemacht hatte? Sie mochte inzwischen älter und vielleicht auch vernünftiger sein, doch er zweifelte stark daran, dass sie sich wirklich verändert hatte.

Suchend blickte er über die anderen Menschen hinweg, die ebenfalls auf verspätete Fluggäste warteten. Die ersten Ankömmlinge wurden lautstark und herzlich begrüßt. Irgendwie zweifelte er daran, dass Abby sich darüber freuen würde, ihn zu sehen. Niemand hatte ihr gesagt, dass er ihr Chauffeur sein würde.

Neugierig betrachtete er die herankommenden Passagiere. Wo war sie nur? Es war inzwischen völlig aussichtslos, dass sie es noch zur Probe in der Kirche schaffen würden. Er konnte froh sein, wenn sie nicht auch noch das Abendessen verpassten.

Sie hatte sich also kein bisschen verändert. Endlich erblickte er sie hinter einer Gruppe von Nachzüglern. Erst als die anderen in Richtung Gepäckband gingen, konnte er sie genauer ansehen, denn sie war kaum größer als einen Meter fünfzig. Als sie näher kam, musterte er ihr Gesicht, das von einer wilden Lockenmähne umrahmt war. Ihre Augen waren noch immer leuchtend blau, und ihre Wimpern unglaublich lang.

Claytons Blick wanderte an ihrem Körper hinunter, der in einem weißen Top und ausgewaschenen engen Jeans steckte. Wieder zog sein Magen sich zusammen. Abby würde auch diesmal für Ärger sorgen – vielleicht sogar für noch größeren Ärger als damals.

Plötzlich bemerkte er, dass sie jemanden an der Hand hielt. Neben ihr ging ein kleines Mädchen, das etwa fünf Jahre alt war. Mit ihren blonden Locken und den strahlend blauen Augen war sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.

Niemand hatte ihm gesagt, dass Abby Hamilton ein Kind hatte.

Abby sah sich suchend um. Anscheinend hielt sie nach Molly oder Colleen oder auch Brenna Ausschau. Doch dann erblickte sie Clayton. Verlegen rieb er sich die schokoladenbraunen Augen. Mit seinen dreißig Jahren sah er dem Jungen, der er vor acht Jahren gewesen war, zwar noch sehr ähnlich, doch inzwischen war er zum Mann geworden. Sein Gesicht war kantiger, und sein schwarzes Poloshirt spannte sich über seinen muskulösen Oberkörper.

Abby holte tief Luft und verdrehte die Augen. „Oh nein!“

„Was ist denn, Mommy?“, fragte das kleine Mädchen, wobei es an ihrem Ärmel zog.

Abby war wie angewurzelt stehen geblieben. Sie wollte nicht in Claytons Richtung gehen. Offensichtlich hatte niemand ihm von Lara erzählt. Einerseits freute Abby sich über die Zuverlässigkeit ihrer Freundinnen, doch andererseits hätte es sie gar nicht so sehr gestört, wenn eine von ihnen ihr Versprechen, niemandem in Cloverville von ihrer Tochter zu erzählen, gebrochen hätte. Warum hatte sie damals überhaupt von ihnen verlangt, Stillschweigen darüber zu bewahren? Sie schämte sich nicht dafür, eine alleinerziehende Mutter zu sein. Doch ein Teil von ihr war noch immer achtzehn und hatte Angst vor der Missbilligung der Stadtbewohner. Und niemand in Cloverville hatte sie mehr missbilligt als Clayton McClintock.

Hätte sie statt ihres legeren Outfits doch nur eines ihrer maßgeschneiderten Bürokostüme getragen. Doch jetzt war es zu spät, die Garderobe zu wechseln. Und wohl auch zu spät, Claytons Meinung von ihr zu ändern.

Mit einigen wenigen großen Schritten war er bei ihr. „Abby.“

Nur mit Mühe gelang es ihr, ihn freundlich anzulächeln. „Clayton.“

„Es ist lange her“, sagte er, während er sie unverwandt anstarrte.

Nicht lange genug. Anscheinend war er genauso wenig daran interessiert, sie hier zu haben, wie sie sich wünschte, zurück zu sein.

Dann blickte er zu Lara hinunter, und sein Gesichtsausdruck wurde weicher. „Und wer ist diese hübsche junge Dame?“

„Meine Tochter.“

„Das glaube ich gern“, erwiderte er und lächelte die Kleine freundlich an.

Abbys Puls beschleunigte sich. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn jemals zuvor lächelnd gesehen zu haben. Lara war allerdings eher verängstigt als erfreut und versteckte sich hinter ihrer Mutter. Ängstlich presste sie einen abgegriffenen Teddybären an sich.

„Du brauchst keine Angst zu haben“, beruhigte Abby ihre Tochter, obwohl sie selbst einen großen Teil ihrer Kindheit damit verbracht hatte, den großen Bruder ihrer Freundinnen zu fürchten. Doch sie war schon vor vielen Jahren erwachsen geworden – es war ihr gar nichts anderes übrig geblieben. „Clayton ist kein Fremder. Ich kenne ihn schon seit vielen Jahren. Na ja, sagen wir, ich kannte ihn vor vielen Jahren.“

„Ich kannte deine Mutter schon, als sie noch so klein war wie du“, erklärte Clayton ernsthaft. „Und du siehst ganz genau so aus wie sie, als sie zum ersten Mal mit meiner Schwester Molly zu uns nach Hause kam.“

Wie ein streunender Hund. So hatte er sie zumindest immer betrachtet. Doch im Grunde war es nicht so schlimm gewesen. Meist kam sie mit schmutzigen Kleidern, aufgeschürften Knien und einem vor Hunger knurrenden Magen ins Haus der McClintocks. Und seine Mom hatte sich immer um sie gekümmert. Sie hatte Abby zu essen gegeben, ihre Sachen gewaschen und geflickt und ihre Schrammen verarztet. Mrs. Mick, wie Abby sie genannt hatte, war die einzige wirkliche Mutter gewesen, die Abby je hatte, denn ihre eigene Mom hatte sich nicht im Geringsten um ihr Kind gekümmert. Sie war lieber in der Kneipe als zu Hause gewesen. Und Abbys Vater war nie da, denn er arbeitete als Fernfahrer.

„Wie heißt du denn?“, fragte Clinton das Mädchen.

„Lara“, flüsterte die Kleine.

„Lara?“ Fragend blickte Clayton zu Abby.

Sie nickte und bestätigte dann seine Vermutung.„Lara Hamilton.“

Clayton richtete sich auf. „Du bist also nicht verheiratet?“

„Nein. Mollys Hochzeit morgen wird die einzige Gelegenheit sein, bei der ich in die Nähe eines Altars komme.“ Diese Hochzeit war der Grund dafür gewesen, dass Abby zurück nach Cloverville gekommen war. Sie würde ihrer Freundin dabei zusehen, wie diese den größten Fehler ihres Lebens beging. Es sei denn, es würde ihr gelingen, Molly diesen Plan noch auszureden. Wenn sie in den letzten Monaten nicht so viel zu tun gehabt hätte, wäre Abby schon viel früher zurück nach Cloverville gekommen, um mit Molly zu sprechen. Sie hoffte, dass es noch nicht zu spät war. „Es tut mir leid, dass du wegen mir zum Flughafen kommen musstest, Clayton. Ich hatte gedacht, sie würden jemand anderen schicken.“

„Sie sind alle schon auf der Probe.“

Abby blickte auf ihre Uhr und schloss dann resigniert die Augen. „Oh nein. Wir kommen zu spät.“

Sicher gab er ihr die Schuld an den technischen Problemen in O’Hare, die ihren Flug verzögert hatten. Sie machte sich auch selbst Vorwürfe, weil sie nicht früher gekommen war. Doch gerade Clayton war einer der Gründe gewesen, weshalb sie eigentlich nie wieder nach Cloverville zurückkommen wollte. Es war völlig gleichgültig, was sie seit ihrem Verschwinden vor acht Jahren erreicht hatte: Die Leute hier – und allen voran Clayton – würden in ihr immer das arme, heruntergekommene Hamilton-Mädchen sehen, das in der Schule schon versagt hatte, noch bevor es schließlich wegen groben Unfugs und Vandalismus hinausgeworfen worden war.

„Kann ich jetzt kein Blumenmädchen mehr sein?“, fragte Lara.

Abby sah den besorgten Blick auf Laras Gesicht. Ihre Tochter hatte sich sehr auf ihre wichtige Aufgabe bei Mollys Hochzeit gefreut, und sie würde furchtbar enttäuscht sein, wenn Abby ihrer Freundin wirklich die Heirat ausredete.

Auch Clayton hatte sich wieder Lara zugewandt und beruhigte sie, noch bevor Abby etwas sagen konnte. „Nein, Schätzchen. Die Hochzeit ist erst morgen, und du wirst das hübscheste Blumenmädchen sein, das Cloverville je gesehen hat.“ Mit seinen dunklen Augen blinzelte er Lara zu.

Abbys Herz klopfte. Doch das lag sicher nur daran, dass sie hier war – weniger als eine Stunde Autofahrt von Cloverville entfernt.

„Aber wir sollten jetzt wirklich versuchen, noch rechtzeitig zur Probe zu kommen, damit wir morgen wissen, was wir tun müssen. Und nach der Probe werden wir alle zusammen bei Mr. und Mrs. Kelly zu Abend essen. Den beiden gehört die Bäckerei, und sie haben immer eine Menge wunderbarer Leckereien da. Bei ihnen gibt es zum Beispiel die köstlichsten Kekse der Welt.“

Lara zog an Abbys Hand. „Kann ich einen von diesen Keksen haben, Mommy?“

Abby nickte. Die Probe und das Abendessen würden zwar erst nach Laras gewöhnlicher Schlafenszeit zu Ende sein, doch zum Glück hatte Zucker auf Lara nicht die gleiche Wirkung wie auf ihre Mutter.

„Ich hole dann mal eure Koffer“, erklärte Clayton und machte sich auf den Weg zum Gepäckband.

Abby eilte ihm nach. Es widerstrebte ihr, seine Hilfe anzunehmen. Warum nur hatte sie nicht darauf bestanden, sich einen Mietwagen zu nehmen? Doch Brenna Kelly, die Erste Brautjungfer, war dagegen gewesen. Sie hatte darauf beharrt, dass es schneller und unkomplizierter sein würde, wenn irgendjemand Abby vom Flughafen abholte. „Ich kann unsere Koffer selber holen, Clayton. Du weißt doch gar nicht, wie sie aussehen!“

„Nun ja, vermutlich sind es die beiden letzten, die noch übrig sind“, entgegnete er grinsend und ging weiter zum Gepäckband.

Wütend ballte Abby ihre Faust und wünschte sich sehnlichst, etwas in der Hand zu haben, das sie ihm an den Hinterkopf werfen könnte. Clayton McClintock war ihr schon immer unglaublich auf die Nerven gegangen mit seinem überheblichen „Ich habe alles unter Kontrolle“-Benehmen. Warum hatten ihre Freundinnen nur gerade ihn geschickt, um sie und Lara abzuholen? Diese Hochzeit musste allen Beteiligten den Verstand geraubt haben.

„Er ist nett, Mommy.“

Clayton McClintock besaß viele Eigenschaften. Er war voreingenommen, humorlos und verklemmt. Doch eines war er ganz bestimmt nicht: nett. Während alle anderen McClintocks ihr immer das Gefühl gegeben hatten, sie würde zur Familie gehören, hatte Clayton nie einen Zweifel daran gelassen, dass er sie für einen Eindringling hielt.

Und er hatte ja recht. Doch damals hatte Abby keine Wahl gehabt. Sie hatte kein anderes Zuhause besessen als das der McClintocks.

„Mommy?“

Sie blinzelte und sah dann zu Lara hinunter. „Was ist denn, Liebling?“

„Magst du Clayton nicht?“

Nachdenklich wandte sie sich zu ihm um und beobachtete, wie er ihre Koffer vom Gepäckband hob. Deutlich zeichneten sich seine kräftigen Muskeln unter dem T-Shirt ab. Und dann belog sie ihre Tochter zum ersten Mal.

„Natürlich mag ich ihn.“

Clayton stand nur wenige Meter von ihr entfernt, und obwohl das Gepäckband summte, konnte er jedes Wort verstehen. Er unterdrückte ein Lachen. Abby hatte ihn noch nie gemocht, und er konnte sehr gut damit leben. Sie war immer eine unerträgliche Göre gewesen.

„Ich würde die beiden nicht noch einmal wegfahren lassen“, bemerkte eine männliche Stimme hinter ihm.

Clayton blickte über seine Schulter und sah einen grauhaarigen Mann, der direkt hinter ihm stand. „Wie bitte?“

„Na, ihre Frau und ihre Tochter“, erklärte der ältere Mann und zeigte auf Abby und Lara. „Ich war mit ihnen im Flugzeug von Chicago.“

Claytons Mund war plötzlich so trocken, dass es ihm nicht gelang, dem älteren Herrn eine Antwort zu geben und das Missverständnis aufzuklären. Seine Frau und seine Tochter? Er würde niemals heiraten und erst recht keine Kinder bekommen. Diesen Plan hatte er schon vor langer Zeit gefasst, und er hatte nicht vor, ihn zu ändern.

„Trotz der Computerprobleme am Flughafen, die unseren Abflug verzögert haben, waren die beiden so nett und so geduldig. Sie sind wundervoll“, fuhr der Fremde fort. „Sie müssen ein sehr glücklicher Mann sein.“

Clayton nickte nur wortlos. Es lohnte sich nicht, Zeit mit Erklärungen zu verschwenden. Sie hatten es ohnehin schon sehr eilig. Nach dem Abendessen würde er Abby, ihre Tochter und ihre Koffer beim Haus seiner Mutter absetzen, und damit wäre er nicht länger für sie zuständig.

„Fahr langsamer, Clayton!“, zischte Abby. In beängstigender Geschwindigkeit flogen Felder, Wiesen und Bäume am Fenster des großen Geländewagens vorbei. Besorgt drehte Abby sich zu Lara um, die auf dem Rücksitz eingeschlafen war.

Doch Clayton starrte verbissen nach vorn und schien ihre Bitte gar nicht gehört zu haben. Sie berührte seinen Oberschenkel, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Seine Muskeln zogen sich zusammen, und der Wagen schoss nach vorn, als Clayton heftig aufs Gaspedal trat.

„Clayton, bitte, fahr langsamer“, flüsterte Abby, um Lara nicht aufzuwecken.

„Wenn du möchtest, dass ich langsamer fahre, solltest du nicht noch einmal mein Bein begrapschen“, entgegnete Clayton knapp und nahm den Fuß vom Gas. „Es könnte sonst leicht passieren, dass wir im Graben landen.“

Abby zog ihre Hand so schnell zurück, als habe sie sich die Finger verbrannt. „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken, aber du hattest mich anscheinend nicht gehört.“

„Als du mir sagtest, ich solle langsamer fahren?“, fragte er. „Da ich deinen Fahrstil kenne, hielt ich es für einen Scherz. Dir konnte es doch früher gar nicht schnell genug gehen.“

„Das stimmt“, gab Abby zu. „Früher.“ Allerdings war ihre stets halsbrecherische Geschwindigkeit nicht der Grund dafür gewesen, dass sie früher eine lausige Fahrerin gewesen war. Es hatte vielmehr an einem nicht diagnostizierten Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom gelegen – und an kaputten Bremsen.

„Dann bist du also ruhiger geworden, seit du dein Kind bekommen hast?“

Mit einer speziellen Diät und regelmäßigem Training hatte sie ihr ADHS unter Kontrolle bekommen, doch nichts hatte sie so sehr verändert wie ihr Muttersein.

„Ja“, stimmte sie zu.

„Verantwortung verändert Menschen“, sagte er bitter.

Verwundert sah Abby ihn an. Sie hatte immer geglaubt, dass er es genoss, den Patriarchen zu spielen. Selbst als sein Vater noch lebte, hatte er seine jüngeren Geschwister und Abby so sehr herumkommandiert, dass sie alle den Beginn seiner Collegezeit kaum erwarten konnten.

Vielleicht war er so verbittert, weil er den Tod seines Vaters noch nicht verwunden hatte. Es war ein drastischer Einschnitt in ihrer aller Leben gewesen. „Clayton …“

Er wandte sich ihr zu und sah ihr in die Augen. Abbys Herz setzte einen Schlag aus. Was war denn jetzt los? So hatte er sie früher nie angesehen. Und dabei hatte sie es sich damals so sehr gewünscht. Wie oft hatte sie sich ausgemalt, er würde vom College nach Hause kommen und plötzlich bemerken, dass sie kein kleines Mädchen mehr war.

„Was ist denn?“, fragte er, als sie nicht weitersprach. Gedankenverloren sah sie ihn an. Zu ihrer Überraschung hatte er ihr gefehlt, als er aufs College gegangen war. Doch sie bezweifelte, dass er sie während der letzten acht Jahre vermisst hatte.

Sie seufzte. „Wir sind also auf dem Weg zur Kirche?“

Er schüttelte den Kopf. „Als wir vorhin zum Auto gegangen sind, habe ich Brenna angerufen. Reverend Howland hatte noch einen anderen Termin und konnte nicht länger auf die fehlenden Gäste warten.“

„Also auf uns“, stellte sie fest und machte sich auf einen seiner vorwurfsvollen Blicke gefasst. Schon immer hatte er sie für alle Schwierigkeiten verantwortlich gemacht, in die seine Schwestern geraten waren. Wie zum Beispiel für die Tattoos. Doch diese Hochzeit war die schlimmste Katastrophe, in die Molly sich je hineinmanövriert hatte. Hoffentlich gelang es ihr, das Unheil noch abzuwenden.

„Nein, wir sind nicht die Einzigen, die die Probe verpasst haben“, gab Clayton zu. „Weder der Trauzeuge noch Eric haben es rechtzeitig geschafft.“

„Eric.“ Eric South war der einzige Junge in der Clique von Abby, Brenna Kelly, Molly und Mollys jüngerer Schwester Colleen gewesen. „Hoffentlich schafft er es zum Essen“, sagte Abby. Sie war sich sicher, dass Eric ihr helfen würde, Molly die verrückte Idee auszureden, einen völlig fremden Mann zu heiraten.

„Ich hoffe, wir schaffen es“, murmelte Clayton und drückte das Gaspedal herunter.

Abby sah ihn missbilligend an. „Es erstaunt mich etwas, dass ein Versicherungsmakler wie du so unverantwortlich schnell fährt. Ich kann mich noch gut an die Belehrungen erinnern, die ich mir von Mr. Mick anhören musste, als ich meinen Führerschein bekommen habe.“

„Du hast ihm zugehört?“, fragte Clayton überrascht. Wahrscheinlich erinnerte auch er sich an die Worte seines Vaters, denn er drosselte die Geschwindigkeit.

„Jetzt gehört die Firma ja dir. Bist du nun derjenige, der die warnenden Worte an die Führerscheinneulinge richtet?“

Er nickte. „Ja, ich gebe sogar Kurse in der Highschool.“

„Warum hast du es eigentlich so eilig? Bei den Kellys gibt es doch immer Unmengen zu essen. Sie werden uns schon etwas übrig lassen. Oder hast du etwa noch eine Verabredung?“

„Nein, jetzt nicht mehr“, antwortete er betont gleichgültig.

Abby konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wie gut, dass auch die Clayton McClintocks dieser Welt gelegentlich eine Abfuhr bekamen. „Dann geht es dir also nur darum, nicht zu lange mit mir allein zu sein?“

Er widersprach ihr nicht. „Wie lange wirst du bleiben?“

Offensichtlich lag ihm genauso wenig an ihrer Anwesenheit in Cloverville wie ihr selbst. Da er jetzt etwas langsamer fuhr, konnte Abby sich die Umgebung ansehen. Weite Felder und Wälder mit herrlichen dunkelgrünen Bäumen erstreckten sich vor dem Fenster. An mehreren Stellen waren neue Baugebiete mit zahllosen schmucken Häusern, Einkaufszentren und Fastfood-Restaurants entstanden. „Das hier ist Cloverville?“, fragte Abby ungläubig.

„Die Stadt ist stark gewachsen, seit du fortgegangen bist. Hast du geglaubt, hier würde alles beim Alten bleiben?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nichts bleibt je, wie es war.“ Das hatte sie schon als Kind gelernt. Und auch Lara hatte sich schon viel zu oft an neue Lebensumstände gewöhnen müssen. Abby wusste, dass es Zeit war, sich irgendwo niederzulassen und Wurzeln zu schlagen. Ihre Tochter brauchte einen Ort, der länger als ein oder zwei Jahre ihr Zuhause war. Und auch Abbys Vermittlungsagentur für Aushilfskräfte benötigte einen langfristigen Firmensitz. Abby hatte ihr Apartment in Chicago bereits aufgegeben. Sie musste sich jetzt nur noch überlegen, wo sie sich mit ihrer Tochter niederlassen wollte. Es gab niemanden, auf den sie bei dieser Entscheidung Rücksicht nehmen musste. Laras Vater hatte den Kontakt zu Abby abgebrochen, nachdem sie ihm von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte. Obwohl sie inzwischen, nach fast fünf Jahren, über die Enttäuschung hinweg war, konnte sie immer noch nicht fassen, wie sehr sie sich damals in ihm getäuscht hatte. Er war ein so netter, verantwortungsvoller Mann gewesen. Doch vielleicht war es auch gar nicht seine Schuld gewesen, dass er sie nicht lieben konnte. Nicht einmal ihre eigenen Eltern hatten sie geliebt.

Clayton bog gerade in die Hauptstraße ein. Hier hatte sich kaum etwas verändert. Mrs. Hilds preisgekrönter Vorgarten sah aus wie eh und je, und die üppigen Rosensträucher umrankten das Ortsschild von Cloverville. In der Mitte der Straße lag Mr. Carpenters Eisenwarenladen, in dessen Schaufensterscheiben sich die Sonne widerspiegelte. Sie kamen auch an McClintocks Versicherungsagentur vorbei, an deren Eingang das gleiche goldene Logo prangte wie auf Claytons T-Shirt. Das große, dreigeschossige Backsteingebäude, in dem die Agentur sich befand, gehörte zu den größten Häusern der Straße. Ein „Zu vermieten“Schild hing in einem der Fenster im ersten Stock.

„Dr. Strover ist nicht mehr da?“, fragte Abby.

„Er ist jetzt im Ruhestand“, erklärte Clayton. „Deshalb suche ich einen neuen Mieter. Ich hatte gehofft, Josh würde seine Praxis hier einrichten, aber sein Partner meint, dass sie mehr Platz benötigen. Deshalb bauen sie ein neues Gebäude am westlichen Stadtrand.“

„Josh?“, wiederholte sie und sah ihn fragend an.

„Dr. Josh Towers ist der Mann, den Molly morgen heiraten wird. Ich dachte, ihr zwei hättet immer einen so engen Kontakt gehabt?“ Seine Missbilligung war nicht zu überhören. „Und du kennst nicht einmal den Namen ihres Verlobten?“

„Molly und ich telefonieren oder mailen jeden Tag.“ Und Molly hatte ihren Verlobten tatsächlich kaum erwähnt. Sie hatte sich ja auch erst vor kurzem verlobt – mit einem Mann, den sie offensichtlich gar nicht liebte. „Findest du das Ganze nicht auch etwas überstürzt?“

„Wie bitte?“

„Die Hochzeit. Die beiden kennen sich doch kaum.“

Die Muskeln an seinem Oberarm zogen sich zusammen als er das Lenkrad umklammerte. „Seit ihrem ersten Jahr auf dem College kennen sie sich. Molly hat in den Sommerferien in dem Krankenhaus gejobbt, in dem auch Josh arbeitet. Sie kennt ihn also schon ziemlich lange.“

„Aber nicht richtig! Sie haben erst vor kurzem angefangen, sich zu verabreden.“ Frustriert dachte Abby daran, wie sie vergeblich versucht hatte, Molly diesen Plan auszureden. Warum nahm ihre Freundin sich bloß keine Zeit zum Nachdenken, bevor sie sich in etwas so Ernstes wie eine Ehe stürzte? Normalerweise war sie kein bisschen impulsiv, sondern eher nüchtern und pragmatisch – fast wie ihr großer Bruder. „Ich hätte nicht gedacht, dass du über diese Blitzheirat glücklich bist.“

„Warum nicht?“

„Na ja, du warst immer so vernünftig und …“

„Langweilig?“, beendete er den Satz für sie. Er wusste, was sie früher von ihm gehalten hatte. Und er konnte sich gut vorstellen, wie sie jetzt – nachdem sie jahrelang in verschiedenen Großstädten gelebt hatte – über ihn, das Landei aus Cloverville, dachte. Doch natürlich war ihre Meinung ihm völlig egal. Er sorgte sich nur um Molly. Sicher irrte Abby sich mit ihrer Ansicht über die Hochzeit. Molly war viel zu klug und zu verantwortungsbewusst, um etwas Unüberlegtes zu tun. Das war eher Abbys Art.

„Voreingenommen“, entgegnete sie.

Obwohl sie ihm natürlich gleichgültig war, verletzte ihn ihre Bemerkung. Auch früher hatte sie es immer wieder geschafft, ihn aus der Reserve zu locken.

„Du findest mich also voreingenommen?“, fragte er herausfordernd. „Dabei habe ich doch dazu gar nichts gesagt.“ Demonstrativ blickte er in den Rückspiegel und betrachtete Lara. Sie war wirklich ein niedliches Kind. Genau wie ihre Mutter es damals gewesen war.

Abby schnappte empört nach Luft. „Clayton!“

Es interessierte ihn nicht, dass sie eine alleinerziehende Mutter war. Ihr Vorwurf war unberechtigt; er verurteilte niemanden. Doch er hätte wirklich gern gewusst, warum sie alleinerziehend war. War es ihr Entschluss gewesen, ihre Tochter allein großzuziehen, oder hatte sie keine Wahl gehabt? Hatte sie es abgelehnt, den Vater ihres Kindes zu heiraten, weil die Ehe ihrer Eltern ein so grauenhaftes Beispiel für sie gewesen war? Oder hatte der Typ sie verlassen? „Warum bist du nicht verheiratet, Abby?“

Sie schnaufte. „Ich hätte wissen müssen, dass deine Freundlichkeit Lara gegenüber nur gespielt war. Du bist noch immer ein voreingenommener Idiot.“

Anstatt wütend über ihre Beleidigung zu sein, musste Clayton lachen. Sie besaß noch immer diese typische Mischung aus Frechheit und kämpferischem Stolz. Er konnte sich gut vorstellen, dass sie einen Heiratsantrag abgelehnt hatte, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren. „Warum bist du also nicht verheiratet?“, fragte er beharrlich.

„Das geht dich einen Scheißdreck an, Clayton!“

Sie hatte natürlich Recht. Ihr Leben ging ihn nichts an, doch er wollte zu gern mehr über Laras Vater wissen. Nur zu gut konnte er sich vorstellen, mit was für Typen Abby ausging: wilde, verantwortungslose und aufregende Männer. Sein Magen zog sich zusammen, als er sich Abby im Bett eines anderen Mannes vorstellte – nackt, leidenschaftlich …

Entschlossen, diese Gedanken abzuwimmeln, trat er heftig auf die Bremse. Sie standen vor dem Eingang zum Stadtpark von Cloverville. „Sieh mal, Abby, manche Dinge sind noch wie früher. Sie haben den Colonel immer noch nicht in Ordnung gebracht.“

Abby blickte zu dem Podest, auf dem eine bronzene Statue stand: Colonel Clover, Bürgerkriegsheld und Begründer der Stadt. Sein Hut war verbeult, sein rechtes Ohr fehlte, und seine Arme und Beine waren nur notdürftig mit Draht an seinem Körper fixiert. „Konnte die Stadt es sich nicht leisten, ihn wieder vernünftig restaurieren zu lassen?“, fragte Abby entnervt. „Es ist doch inzwischen acht Jahre her.“

Acht Jahre, seitdem sie von der Schule verwiesen worden war, weil sie mit ihrem Auto gegen Colonel Clover gefahren war. Sie hatte damals Glück gehabt und nicht die kleinste Schramme gehabt. Claytons jüngere Schwester hingegen, die ebenfalls im Wagen gesessen hatte, hatte Schnittwunden im Gesicht und mehrere gebrochene Rippen davongetragen.

Er erinnerte sich an die harschen, anklagenden Worte, die er in jener Nacht zu Abby gesagt hatte. „Unruhestifterin“ und „Störenfried“ waren noch die freundlicheren Bezeichnungen gewesen. Sein Vater hatte damals gerade im Sterben gelegen, und Clayton wusste nicht, ob die Familie es verkraftet hätte, wenn Colleen noch schwerer verletzt worden wäre.

Er blickte auf den Rücksitz; zu dem kleinen Mädchen, das völlig von Abby abhängig war. Armes Kind. So hatte sein Vater Abby immer bezeichnet, wenn er Clayton ermahnt hatte, netter zu ihr zu sein und ihr eine Chance zu geben. Für Mr. McClintock senior war Abby immer eine außergewöhnliche junge Dame gewesen. Selbst auf seinem Sterbebett hatte er für Abby noch ein gutes Wort bei Clayton eingelegt.

Clayton blinzelte. Er hätte auf seinen Vater hören und Abby weniger scharf angreifen sollen. Sie war schließlich noch ein halbes Kind gewesen. Auch heute sah sie nicht viel älter aus als damals.

„Ich schätze, die Leute haben recht, wenn sie sagen, dass man niemals wieder heimkommen kann, wenn man einmal fort war“, sagte Abby leise.

Als sie sich zu ihm umdrehte, sah er die ungeweinten Tränen in ihren blauen Augen. Wieder zog sich etwas in ihm zusammen.

Hatte er nachträglich Mitleid mit ihr, oder lag es daran, dass ihre Rückkehr ihn beunruhigte? Denn auch wenn Abby Hamilton inzwischen erwachsen geworden war, hatte Clayton keinen Zweifel daran, dass sie Unruhe stiften würde.

Und zwar in seinem Leben.

2. KAPITEL

Abby lehnte sich über Lara und strich ihr einige verschwitzte Locken aus dem Gesicht, bevor sie den Sicherheitsgurt öffnete. Plötzlich umschlossen zwei starke, warme Hände Abbys Taille und zogen sie sanft aus der Türöffnung. Ihr Herz machte einen Satz, und sie hob so unvermittelt ihren Kopf, dass sie sich schmerzhaft am Wagendach stieß.

„Ich werde sie tragen“, erklärte Clayton bestimmt.

Manche Dinge änderten sich nie. Sie rieb sich den Schädel und fühlte, ob sie eine Beule bekommen würde, während sie ihn ansah. Doch Clayton hatte sich bereits umgedreht, um Abbys schlafende Tochter aus dem Auto zu heben. Vorsichtig lehnte er ihren Kopf an seine Schulter. Abby spürte ein seltsames Ziehen, als ihr bewusst wurde, wie gut es zu Clayton passte, sich um das Kind zu kümmern. Um ihr Kind.

„Du wirst dir den Rücken ruinieren, wenn du sie selbst trägst. Sie ist ja fast so groß wie du“, murmelte er und blickte Abby über Laras Kopf hinweg an. „Du bist überhaupt nicht mehr gewachsen.“

Körperlich vielleicht nicht. Doch emotional war Abby durchaus erwachsen geworden. Sie wusste, dass sie niemals erwarten konnte, dass ein Mann wie Clayton sich für sie interessierte. Verantwortungsvolle und anständige Männer hatten noch nie etwas für sie übrig gehabt. Ihre Anziehungskraft schien nur auf egoistische Mistkerle zu wirken, die sie zwar ausnutzten, sie aber niemals liebten. Doch vielleicht lag es auch gar nicht an den Männern. Wahrscheinlich war sie einfach nicht liebenswert.

„Abby!“, tönte es aus einer Gruppe von Frauen, die sich gerade durch die Gartentür des viktorianischen Anwesens der Familie Kelly drängte.

Drei der Frauen umarmten Abby gleichzeitig und redeten aufgeregt auf sie ein. Sie hatte schon immer diese Wirkung auf Brenna Kelly und Claytons zwei Schwestern gehabt. Bevor die energiegeladene, überschwängliche Abby in ihr Leben getreten war, waren Molly und Colleen fleißige, strebsame und vernünftige junge Damen gewesen. Während Clayton Abbys Einfluss sehr besorgt beobachtet hatte, war sein Vater immer der Ansicht gewesen, dass Abby eine wunderbare Bereicherung für seine Töchter war. Sie würde ihnen helfen, fröhlich zu sein und Spaß zu haben, erklärte er immer. Er ging sogar so weit anzudeuten, dass auch Clayton von Abbys Gesellschaft profitieren könnte.

Vom Stimmengewirr geweckt öffnete Lara verschlafen die Augen. Verwirrt blickte sie sich um und sah dann zu Clayton hinauf. Er erwartete, dass sie weinen oder nach ihrer Mutter rufen würde, denn schließlich war er ein Fremder, und vorhin am Flughafen war die Kleine ziemlich schüchtern gewesen. Doch ihr kleiner Mund formte sich zu einem Lächeln, und mit einem zufriedenen Seufzer lehnte sie ihren Kopf wieder an seine Schulter. Clayton spürte, wie sein Herz sich zusammenzog – ganz so, als habe sich gerade eine kleine Hand darumgelegt.

„Wenn Mom dich so sieht, wirst du Probleme bekommen“, neckte Colleen ihren Bruder mit unverhohlener Schadenfreude.

„Warum denn das?“, fragte Abby verständnislos, während sie Clayton und ihre Tochter musterte.

„Na, weil er ein Kind auf dem Arm hat“, erklärte Molly und strich Lara zärtlich durchs Haar. „Hallo, Liebling.“

Colleen grinste. „Mom setzt Clayton schwer zu, weil sie unbedingt Enkelkinder haben will. Wenn sie jetzt sieht, wie gut er mit Lara auskommt …“

„Ich mag Kinder“, bestätigte Clayton. „Anderer Leute Kinder.“

„Dann hast du anscheinend die Zwillinge von Josh noch nicht kennengelernt“, murmelte Colleen mit einem leisen Seufzen.

„Sie sind nette Jungs“, verteidigte Brenna die Kinder des Bräutigams, während Molly mit verschlossenem Gesicht schwieg.

Sollte Abby doch recht haben? Hatte Molly den Heiratsantrag überstürzt angenommen? Clayton musste dringend mit seiner Schwester unter vier Augen sprechen. Seit sie vor knapp zwei Wochen von der Universität nach Hause gekommen war, hatte er kaum Gelegenheit gehabt, mit ihr zu reden. Bis heute hatte er gedacht, sie sei einfach zu beschäftigt mit den Hochzeitsvorbereitungen. Doch nun kam ihm der Verdacht, dass sie ihm aus dem Weg gegangen sein könnte.

„Tut mir leid, dass wir zu spät gekommen sind“, sagte Abby gerade. „Sind denn alle anderen Gäste inzwischen da?“

Molly schüttelte den Kopf. „Eric … hat auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Er kann nicht kommen.“

„Schade“, sagte Abby. „Aber ich sehe ihn ja morgen.“

„Er wird auch morgen nicht kommen“, entgegnete Molly mit brüchiger Stimme.

„Geht es ihm gut?“, fragte Clayton, während die vier Frauen sich vielsagende Blicke zuwarfen.

„Ja, Eric geht es gut“, antwortete Molly und wechselte dann schnell das Thema. „Mom! Abby und Lara sind da!“.

„Wie war deine Reise, mein Schatz?“, begrüßte Mrs. McClintock die Neuankömmlinge und umarmte Abby liebevoll.

Abby schlang ihre Arme um Mrs. McClintock und drückte die ältere Frau an sich. Glücklich atmete sie den vertrauten Duft von Vanille und Zimt ein. Sie liebte die Mutter von Clayton und seinen Schwestern sehr und bewunderte sie aufrichtig dafür, wie sie ihr Leben mit den vier dickköpfigen Kindern nach dem Tod ihres geliebten Mannes gemeistert hatte. Als Kind war es Abbys sehnlichster Wunsch gewesen, ebenfalls eines ihrer Kinder zu sein. Bei der Erinnerung an ihre Kindheit musste Abby schlucken. „Wir hatten einen guten Flug“, antwortete sie.

Mrs. McClintock ließ Abby los und nahm Clayton die schlaftrunkene Lara ab. „Sie ist ja so groß geworden, seitdem ich sie das letzte Mal in Chicago gesehen habe. Immer wenn ich sie sehe, sieht sie dir ein bisschen ähnlicher!“

Immer wenn sie sie sieht? Molly war nicht das einzige Familienmitglied, mit dem Clayton reden musste. Warum hatte seine Mutter ihm nie erzählt, dass Abby eine Tochter hatte?

Und, was noch wichtiger war, warum spürte er dieses Gefühl von Verlust, nachdem seine Mutter ihm die Kleine aus den Armen genommen hatte? Clayton holte tief Luft – und nahm dabei den verlockenden Duft von gegrilltem Fleisch wahr. Mr. Kelly war für sein Barbecue genauso berühmt wie für seine Backwaren, doch Clayton verspürte erstaunlicherweise keinen Hunger. Das fing ja gut an. Abby Hamilton war erst seit einer Stunde in der Stadt, und schon hatte er seinen Appetit verloren.

Er blickte zu ihr hinüber und nahm widerwillig wahr, wie ihre Kurven das Top und die engen Jeans ausfüllten. Ihre Freundinnen waren wegen der Probe in der Kirche alle anständig angezogen, doch sie sah noch immer aus wie ein Teenager. Ein verdammt sexy Teenager, wie er zugeben musste.

Doch noch interessanter als ihre Figur fand er ihre neue Ausstrahlung. Ihr Gesicht spiegelte eine tiefe Zuneigung wider, wenn sie seine Mutter oder Lara ansah. Diese offensichtliche Liebe berührte ihn sehr und ließ ihn eine Sehnsucht verspüren, für die in seinem Leben kein Platz war.

„Clayton, wo ist denn Erin?“, fragte seine Mutter.

„Erin?“, wiederholte er abwesend.

„Sie meint Ellen“, erklärte Colleen. Auch außerhalb des Büros benahm sie sich oft wie Claytons Assistentin. „Wolltest du sie nicht mitbringen?“

„Sie hat es nicht geschafft.“

„Ziemlich viele Leute haben es heute Abend nicht geschafft“, stellte Brenna fest. Die Stimme der Ersten Brautjungfer klang frustriert, als sie hinzufügte: „Selbst der Trauzeuge ist nicht aufgetaucht. Es wird sicher furchtbar chaotisch morgen.“

Obwohl Brenna sehr besorgt aussah, musste Abby lächeln. Brenna hatte schon immer die Rolle der fürsorglichen Mutter innerhalb ihrer Clique übernommen. Genau wie Clayton liebte sie es, immer alles unter Kontrolle zu haben. Deshalb hatte sie auch schon früh das Geschäft ihrer Eltern übernommen und die Bäckerei zu einem erfolgreichen mittelständischen Unternehmen ausgebaut. Gelegentlich hatte Abby sich schon gefragt, weshalb Clayton sich nie für die üppige Rothaarige interessiert hatte, obwohl die beiden so viele Gemeinsamkeiten hatten. Doch er hatte Brenna immer wie eine seiner Schwestern behandelt. Ganz im Gegensatz zu Abby, die für ihn immer eine unerwünschte Außenseiterin gewesen war.

Acht Jahre waren vergangen, und Abby war nicht mehr darauf aus, von Clayton akzeptiert zu werden. Weder von ihm, noch von irgendjemandem hier in Cloverville. Sie war nur wegen Mollys Hochzeit zurückgekommen.

Die zukünftige Braut hakte sich bei Abby unter. „Du wirst also morgen nicht die Einzige sein, die keine Ahnung hat, was sie tun soll“, neckte sie Abby.

Abby biss sich auf die Zunge, um nicht zu antworten, dass auch Molly anscheinend nicht wusste, was sie tat. Sie hatte in den vergangenen Jahren nicht nur gelernt, mit ihrem ADHS umzugehen, sondern auch ein gewisses Taktgefühl entwickelt. Schade, dass diese Besonnenheit bei Clayton nicht funktionierte.

„Ich werde mal zu den Männern in den Garten gehen“, erklärte er gerade und ging zum Gartentor. Er schien es eilig zu haben, sich von Abby zu entfernen.

Doch Lara wollte ihn nicht gehen lassen. „Kann ich auch in den Garten gehen, Mommy?“, bat sie. Als Abby ihr zunickte, rannte sie hinter Clayton her und griff nach seiner Hand, als zwei kleine Jungen auf sie zustürmten. Sie hatten auffallend blaue Augen und eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem dunkelhaarigen Mann, der neben Mr. Kelly vor dem Grill stand. Obwohl sie in Laras Alter waren, schien das kleine Mädchen Angst vor den beiden zu haben, denn sie klammerte sich an Claytons Arm fest.

„Clayton hat einen Fan“, sagte Mrs. McClintock lächelnd und machte sich sogleich auf den Weg in die Küche, um Mrs. Kelly zu helfen.

Molly, Brenna, Colleen und Abby waren nun allein. Ein breites Grinsen breitete sich auf Colleens Gesicht aus. „Endlich sind wir wieder alle zusammen!“

„Einer fehlt noch“, erinnerte Molly sie an Erics Abwesenheit.

Abby konnte sich gut vorstellen, weshalb Eric es abgelehnt hatte, Trauzeuge zu sein. Sie vermutete, dass er noch immer in Molly verliebt war. Manche Dinge hatten sich eben doch nicht verändert.

„Es ist so wunderbar, dich wieder zu Hause zu haben, Abby“, rief Colleen und schlang ihre Arme um Abbys Hals.

Trotz ihrer Sorge wegen der bevorstehenden Hochzeit, freute Abby sich sehr. Sie tätschelte Colleens Rücken. „He, du tust ja fast so, als hättest du mich seit Jahren nicht gesehen. Ihr habt mich doch besucht. Zwar nicht oft genug, aber immerhin.“ Sie grinste.

„Das ist nicht das Gleiche. Da warst du nicht hier“, beharrte Colleen. „Da du jetzt deine Wohnung in Chicago aufgelöst hast, wäre es doch das Beste, wenn du wieder nach Cloverville ziehen würdest. Du könntest hier die dritte Filiale von ‚Kollegen nach Maß‘ eröffnen.“

Abby hatte keine Lust, dieses Thema schon wieder zu diskutieren. Sie hatte Colleen und den anderen Freundinnen in den letzten Wochen oft genug erklärt, dass Cloverville für sie nun einmal kein Zuhause war. Deshalb versuchte sie schnell, das Thema zu wechseln.

„Brenna, hast du eigentlich für heute Abend einen Stripper engagiert?“

Colleen schüttelte sich vor Lachen. Mit ihrer tollen Figur und dem sehr hübschen Gesicht hätte sie ohne weiteres ein Model sein können. Auf jeden Fall eher als eine Büroleiterin. Doch genau wie ihr großer Bruder hatte auch sie sich aus Verantwortungsbewusstsein für diese Karriere entschieden. Oder vielleicht aus Schuldbewusstsein?

Abbys euphorische Stimmung wurde jäh getrübt, als sie darüber nachdachte, welche Rolle sie im Zusammenhang mit Colleens Schuldgefühlen spielte. Möglicherweise hatte Clayton recht. Vielleicht hatte sie im Haushalt der McClintocks wirklich zu viel Ärger gemacht.

„Stripper?“ Colleen schüttelte den Kopf. „Du hast den Bräutigam noch nicht gesehen. Mit ihm könnte kein Stripper mithalten.“

„Es gibt heute Abend keinen Stripper“, bekräftigte Brenna mit angespanntem Gesicht. Was war los mit ihr? Eigentlich war Brenna Kelly alles andere als prüde. Waren ihr die Aufgaben der Ehrenjungfer bei der Hochzeitsvorbereitung zu viel geworden? Während der Telefonate in den letzten Wochen hatte Abby mehr als einmal das Gefühl gehabt, dass für Brenna die Hochzeitsvorbereitungen wichtiger waren als für die Braut selbst. Und vielleicht war auch ihr Interesse am Bräutigam größer als das von Molly?

„Ich glaube, das Essen ist fertig“, murmelte der Rotschopf und ging zu den anderen Gästen auf die Terrasse.

„Na, komm schon“, neckte Colleen ihre Schwester, „du könntest Josh doch für eine Nacht mit uns teilen. Du hast ihn schließlich den Rest deines Lebens für dich allein.“

Der letzte Rest Farbe wich aus Mollys Gesicht.

„Die Vorstellung, den Rest meines Lebens mit demselben Mann zu verbringen, würde mir auch Angst machen“, tröstete Abby sie. Natürlich stellte sich ihr dieses Problem nicht, denn wer wollte sie schon haben? Nicht einmal ihre eigenen Eltern …

Molly schüttelte den Kopf. „Nein, es ist nur …“

„Was denn?“ Abby hoffte, Molly würde endlich über ihre Zweifel sprechen.

Doch Molly schüttelte nur ihr brünettes Haar und lächelte gequält. „Ich habe ihn noch nie nackt gesehen.“

Colleen seufzte. „Was für eine Verschwendung! Aber Clayton wird sich sicher freuen, wenn er erfährt, dass du jungfräulich in die Ehe gehst.“

Abby hatte den Verdacht, dass ihre Freundin einen anderen Grund dafür gehabt hatte, mit dem Sex bis nach der Hochzeit zu warten. Molly liebte ihren Bräutigam nicht. Und wenn sie nicht mit ihm intim sein wollte, dann durfte sie ihn auf keinen Fall heiraten!

Mollys dunkle Augen füllten sich mit Tränen. Es gab kaum ein wirkungsvolleres Mittel, um Claytons Beschützerinstinkt auf den Plan zu rufen. Was zum Teufel hatte Abby nun wieder getan? Die beiden waren doch nur wenige Minuten allein gewesen.

Er bat seinen Bruder Rory, sich um Lara zu kümmern, und ging zu Molly. „He, Schwesterchen, ist alles okay?“, fragte er im gleichen Ton, in dem er auch mit Lara gesprochen hatte. Es beunruhigte ihn, dass die starke Molly plötzlich unsicher wirkte. Was mochte Abby ihr gesagt haben?

Er blickte verärgert zu der blonden Unruhestifterin hinüber, die ihm, ohne ihr Gespräch mit seiner Mutter und Mrs. Kelly zu unterbrechen, verschwörerisch zublinzelte.

Obwohl noch Tränen in ihren Wimpern hingen, musste Molly lachen. „Es hat sich nichts geändert zwischen euch“, stellte sie fest.

„Was meinst du denn damit?“ Zwischen ihm und Abby hatte es doch stets nur Feindseligkeit gegeben.

„Ihr zwei lasst euch nicht aus den Augen.“

Claytons Puls beschleunigte sich. Sah Abby ihn genauso an wie er sie? „Ich passe nur auf, dass sie nicht schon wieder etwas anstellt.“

„Ist diese Ausrede nicht inzwischen etwas abgegriffen, Clayton?“

Vielleicht war sie es. Doch er konnte nicht zugeben, dass er Abby anziehend fand. Nicht einmal sich selbst gegenüber. Es wäre sowieso vergeblich. Damals hatte Abby Cloverville gar nicht schnell genug verlassen können. Und auch heute sah es nicht so aus, als wenn sie vorhätte zu bleiben. Wie auch immer – er war eh nicht interessiert.

„Sieh dich doch an, Molly. Sie ist erst wenige Minuten hier und hat dich schon zum Weinen gebracht.“

„Das sind nicht solche Tränen“, behauptete Molly.

„Dann bist du also glücklich?“

Sie wich seinem Blick aus. „Natürlich bin ich glücklich. Abby ist wieder zu Hause. Sie gehört zu uns. Ich hoffe sehr, dass sie bleiben wird.“

Claytons Magen zog sich zusammen. Er hoffte inständig, dass sie fortgehen würde, bevor er gezwungen war, sich einzugestehen, was er für sie empfand. „Freust du dich auf morgen?“, fragte er. „Auf die Hochzeit?“

Mollys Hand zitterte ein wenig, als sie auf ihren künftigen Ehemann wies, der mit einem Zwilling in jedem Arm neben dem Grill stand. „Er ist ein toller Mann. Erfolgreich, gut aussehend, großzügig und ein wundervoller Vater.“

Aber liebte sie ihn? Mit Liebe kannte Clayton sich nicht aus. Er wusste nur, dass sie schmerzen konnte. Und er hatte nicht vor, sich in diesem Bereich weiterzubilden. Er konnte sich noch gut an die völlige Verzweiflung erinnern, mit der seine Mutter auf den Tod seines Vaters reagiert hatte. Auf keinen Fall würde er das Risiko eingehen, selbst so zu leiden.

„Du bist dir also ganz sicher?“, fragte er noch einmal. „Du willst ihn heiraten?“

Obwohl sie nickte, traten erneut Tränen in ihre Augen. „Ja“, erklärte sie mit gebrochener Stimme. „Und ich wollte mich noch bei dir bedanken. Für alles. Dafür, dass du mein Studium bezahlt hast und …“

„Das habe ich nicht“, unterbrach er sie protestierend. „Dad hat das alles geregelt.“

„Es ist jetzt dein Geld“, korrigierte Molly ihn. „Du hast es verdient. In deiner Firma. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass du sogar die Hochzeit bezahlen willst.

„Dad hätte es so gewollt“, erklärte Clayton gepresst. „Es ist richtig so.“

„Und Clayton tut ja immer das Richtige“, neckte sie ihn traurig.

Aber was war mit ihr? War es für sie wirklich das Richtige, morgen Josh zu heiraten? „Molly …“

Doch Molly hatte sich bereits umgedreht.

„Lass sie gehen. Alle Frauen sind am Tag vor ihrer Hochzeit am Rande eines Nervenzusammenbruchs“, erklärte seine Mutter, die zu ihm getreten war.

„Wieso hat mir eigentlich niemand etwas von Lara erzählt?“, fragte er sie. Diese Frage beschäftigte ihn schon seit dem Flughafen.

Seine Mutter lächelte ihn milde an. „Du neigst leider dazu, etwas voreingenommen zu sein, mein Schatz.“

Erst Abby und nun seine eigene Mutter. Beleidigt presste er die Lippen zusammen. „Ich bin überhaupt nicht voreingenommen!“

„Oh nein“, stimmte sie ihm zu. „Außer es handelt sich um Abby. Und genau aus diesem Grund mussten wir ihr versprechen, dir nichts zu sagen.“

Dann hatte also Abby ihre Tochter vor ihm verheimlichen wollen? Warum? Er hätte nie gedacht, dass sein Urteil sie interessierte.

„Apropos Abby“, fuhr seine Mutter fort, „du musst sie nachher bei uns zu Hause absetzen. Statt einer Junggesellinnen-Party wollen die Mädchen eine ihrer berüchtigten Pyjamapartys bei uns daheim veranstalten. Ganz wie in alten Zeiten. Und morgen fahren wir dann alle zusammen zur Kirche.“

„Ich könnte ihre Koffer in dein Auto umladen“, schlug er vor.

Doch seine Mutter schüttelte den Kopf. „Das ist doch Unsinn. Viel zu umständlich. Übrigens muss Rory heute bei dir übernachten. Du hast doch genug Platz.“

Platz schon, aber Clayton war sich nicht sicher, ob er auch genügend Geduld für seinen kleinen Bruder hatte. Er würde die ganze Nacht wachbleiben müssen, um seine Hausbar zu bewachen. Clayton blickte zu Rory hinüber, der wie zufällig neben Mr. Kellys Kühlschrank stand. Sicher wartete er nur auf eine günstige Gelegenheit, um sich ein Bier zu nehmen. Erst vor kurzem hatte Clayton ihn nachts betrunken im Park erwischt. Der Junge wollte mit aller Gewalt erwachsen werden. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis er die Verantwortung für seinen kleinen Bruder los sein würde.

Abby schlenderte gerade auf Rory zu, der vor Verlegenheit rot anlief. Lässig lehnte sie sich über die Kühlschranktür und holte eine Dose heraus, die sie dem Jungen reichte. Eine Cola.

Belustigt grinste Clayton vor sich hin. Seine Mutter klopfte ihm auf die Schulter.

„Es ist schön, dich lächeln zu sehen, Clayton. Du bist immer so ernst. Zu ernst. Du brauchst irgendetwas …“ Ihr Blick wanderte zu der kichernden Blondine, die gerade mit ihrem jüngeren Sohn herumalberte. „Oder vielleicht auch irgendjemanden, der dich aufmuntert.“

Egal, wie viele Enkelkinder Molly ihr bescherte – seine Mutter würde niemals aufhören, ihn verkuppeln zu wollen. Aber er hatte nicht vor, eine Familie zu gründen. Auf keinen Fall! Und schon gar nicht mit Abby Hamilton.

3. KAPITEL

„Wirst du während meines gesamten Aufenthalts hier mein Chauffeur sein?“, fragte Abby grinsend, als Clayton in Mrs. McClintocks Auffahrt anhielt. Seine Mutter hatte darauf bestanden, Lara in ihrem serienmäßigen Kindersitz zu transportieren. Für Abby war kein Platz mehr gewesen, da auch noch Colleen, Molly und Rory mitfahren mussten. Rory würde nur schnell seine Sachen holen und dann mit zu Clayton fahren.

Clayton lebte in der Innenstadt, in einem geräumigen Apartment direkt über der Versicherungsagentur. Es war Abby ein Rätsel, wie jemand freiwillig aus diesem Haus ausziehen konnte. Ihr Herz schlug höher als sie das große Gebäude im niederländischen Kolonialstil erblickte, in dem sie in ihrer Kindheit so viel Zeit verbracht hatte. Obwohl Rory längst zu groß dafür war, hing noch immer die alte Schaukel in der großen Eiche im Vorgarten. Das Haus war zwar nicht so pompös wie die viktorianische Villa der Kellys, doch für Abby war es der Inbegriff von Familie und Geborgenheit. Beides hatte sie selbst schmerzlich vermisst. Dieses Haus war der eigentliche Grund dafür, warum sie ihre Wohnung in Chicago aufgegeben hatte. Sie wollte, dass ihre Tochter in einem solchen Zuhause aufwuchs.

Schade nur, dass dieses Haus in Cloverville stand.

„Ich habe dich nur mitgenommen, weil ich Rory abholen muss“, erklärte Clayton.

„Aber er hätte doch gleich bei dir mitfahren können. Dann hättest du dir diesen Umweg gespart“, wunderte Abby sich. Dann wurde ihr klar, wer für dieses Arrangement verantwortlich war, und sie errötete. „Deine Mutter …“

„Sie ist nicht gerade subtil“, sagte er mit einem bitteren Lachen. „Sie findet, dass du gut für mich bist und mich aufheiterst.“

Abby schnaubte ungläubig. Mrs. Mick versuchte, sie mit Clayton zu verkuppeln?

„Ganz genau“, stimmte er ihr sarkastisch zu. „Wie lange wirst du eigentlich bleiben?“, wechselte er das Thema. Ein bisschen zu schnell, wie Abby fand.

Spöttisch sah sie ihn an. „Mach dir keine Sorgen. Ich werde auf jeden Fall fort sein, bevor deine Mom uns vor den Traualtar zerrt.“

Wortlos trug Clayton ihr Gepäck zur Haustür. „Die einzige Hochzeit, um die ich mir Sorgen mache, findet morgen statt.“

Vielleicht findet sie morgen statt“, korrigierte Abby ihn.

Er ließ ihre Taschen fallen und drehte sich abrupt zu ihr um, sodass sie zwischen seinem Körper und dem parkenden Minivan seiner Mutter gefangen war. „Du wirst nicht versuchen, Molly diese Hochzeit auszureden“, befahl er drohend. Molly war vielleicht etwas durcheinander, aber er war überzeugt, dass sie im Grunde ihres Herzens Dr. Josh Towers heiraten wollte.

Abby lächelte ihn provozierend an. Schon immer hatte dieses Lächeln ihn zur Raserei gebracht. Nur zu gern würde er es von ihrem Mund wischen – am liebsten mit seinen Lippen. Clayton atmete tief ein, um seine Wut unter Kontrolle zu bekommen. Niemand, nicht einmal Rory, konnte ihn so auf die Palme bringen wie Abby.

„Molly trägt Joshs Ring. Sie hat seinen Heiratsantrag akzeptiert. Und niemand, auch nicht du, hat das Recht, ihre Entscheidung anzuzweifeln!“

„Aber ich glaube nicht, dass sie ihn liebt!“, beharrte Abby.

Clayton schluckte, doch er konnte seine Neugier nicht länger zügeln. „Warst du jemals verliebt, Abby?“

Entschieden schüttelte sie ihren Kopf.

„Aber du hast doch ein Kind.“

Sie lachte laut auf. „Clayton, du bist so altmodisch!“

Ja, vielleicht war er das.

„Und voreingenommen“, fügte sie hinzu. „Selbst wenn ich eine Nonne und nicht eine alleinerziehende Mutter geworden wäre, würdest du noch immer etwas an mir auszusetzen haben.“

„Hast du deshalb von allen verlangt, mir nichts von Lara zu erzählen?“, fragte er und trat so nah an sie heran, dass ihre Körper sich berührten. „Hattest du Angst davor, was ich dazu sagen würde?“

Verächtlich schüttelte sie ihren Kopf. „Es interessiert mich nicht im Geringsten, wie du über mich denkst, Clayton!“

Er spürte, wie eine Welle von Wut ihn durchlief. Es war ihr also egal, wie er über sie dachte? Obwohl es ihm gleichgültig sein sollte, war er verletzt. „Warum hast du dann allen verboten, es mir zu erzählen?“, fragte er. „Schämst du dich für deinen Fehler?“

Abby stieß ihm mit beiden Händen so heftig gegen die Brust, dass er nach hinten stolperte und beinahe über das Gepäck gefallen wäre.

„Wag es ja nicht, so etwas zu sagen!“ Ihre Stimme bebte vor Zorn. „Du wirst meine Tochter niemals wieder als einen Fehler bezeichnen!“

Er legte seine Hände auf ihre Schultern und hielt sie sanft aber bestimmt fest. „Es tut mir leid, Abby. So habe ich es nicht gemeint.“

Er betrachtete Kinder nie als Fehler. Unter keinen Umständen. Und er wusste genau, dass Abby ihre Tochter über alles liebte. „Ich habe mich falsch ausgedrückt.“

„Das kann man wohl sagen“, stimmte sie zu und atmete tief ein. In ihren Augen glitzerten Tränen.

„Ich gehe wohl besser.“ Seine Hand zitterte, als er die Tür öffnete.

„Clayton?“

Er drehte sich wieder zu ihr um.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte sie. „Ich werde Cloverville sofort nach der Hochzeit wieder verlassen.“

Er nickte. Egal wie seine Mutter darüber dachte, Abby war definitiv nicht gut für ihn.

„Ich sehe dich dann morgen in der Kirche“, verabschiedete er sich.

„Ach ja, in der Kirche …“

Aber nur, wenn es ihr nicht gelang, Molly diese unsägliche Hochzeit auszureden.

Als sie sich an ihm vorbei durch die Haustür zwängte, bekam sie eine Gänsehaut. Bestimmt lag es an der kühlen Abendluft. Und nicht etwa an Claytons muskulösem Körper.

„He, Kumpel“, begrüßte Rory seinen großen Bruder. „Warum kommst du erst jetzt? Sie veranstalten heute eine Pyjamaparty.“ Genervt verdrehte er die Augen, um seinem Bruder zu zeigen, dass er niemals etwas so Kindisches tun würde.

„Du kannst dich ja schon mal ins Auto setzen“, schlug Clayton vor. „Ich bringe nur noch die Koffer nach oben.“

„Das ist nicht nötig“, protestierte Abby, während sie ihm in den zweiten Stock folgte. Warum musste er sich immer wie ein Macho benehmen? „Ich kann meine Sachen sehr gut selber tragen. Außerdem ist hier oben heute Abend eine männerfreie Zone.“

„Ich mache meine Augen zu“, versprach Clayton. „Welches Zimmer hat Mom dir gegeben?“

Als sie nicht antwortete, öffnete er seine Augen wieder und sah sie an. „Oh, natürlich. Meines.“ Er stellte die Taschen vor die Tür.

„Das ist nicht mehr dein Zimmer“, erinnerte Abby ihn und folgte dann seinem Blick zum Bett. Seinem Bett. Ihr Magen zog sich zusammen.

„Du solltest jetzt gehen“, befahl sie. „Wir haben hier heute eine geschlossene Gesellschaft. Nur für Frauen!“

Wortlos ging Clayton die Treppe hinunter.

„Da bist du ja endlich“, begrüßte Colleen sie, die gerade aus ihrem Schlafzimmer gekommen war. „Komm herein!“

„Wo ist Brenna?“, fragte Abby, nachdem sie in das gemeinsame Zimmer der Schwestern getreten war.

„Brenna hilft ihren Eltern noch beim Aufräumen“, erklärte Molly, die sich gerade die Fußnägel lackierte. „Außerdem wollte sie T.J. und Buzz nicht allein dort lassen.“

„Warum nicht? Ihre Eltern scheinen doch großartig mit den beiden Jungs zurechtzukommen“, wunderte Abby sich.

„Vielleicht sogar etwas zu gut“, stimmte Colleen zu.

„Es ist typisch für Brenna, dass sie sich erst um die Kinder kümmert, anstatt zu uns zu kommen. Sie ist genauso versessen auf Verantwortung wie Clayton. Die beiden würden ein perfektes Paar abgeben.“

„Tja, aber Clayton sieht Brenna nun einmal nicht so an wie dich“, stichelte Colleen.

„Wir wollen doch nicht den ganzen Abend über Clayton reden, oder?“, versuchte Abby das Thema zu wechseln.

„Dann wird es also gar keine Pyjamaparty, wie wir sie früher immer hatten?“, lachte Molly.

„Was soll denn das heißen? Wir haben doch früher nie über Clayton gesprochen.“

Wir nicht“, stimmte Colleen zu. „Aber du schon.“

Anscheinend hatten ihre beiden Freundinnen sich gegen sie und mit ihrer verkuppelnden Mutter verbündet. Sie hatte sich früher bestenfalls darüber beklagt, dass Clayton ihnen immer jeden Spaß verdorben hatte. Abby nahm ein Kissen und warf es Colleen an den Kopf.

„Mommy! Man darf im Haus nicht mit Sachen herumwerfen“, schalt Lara sie energisch, die gerade mit Mrs. McClintock hereingekommen war.

Das Gesicht der älteren Frau strahlte vor Zufriedenheit. „Es ist so wundervoll, alle meine Mädchen wieder zu Hause zu haben“, sagte sie. „Ich werde Lara jetzt etwas vorlesen und sie dann ins Bett bringen. Und ihr könnt weiter über Jungs quatschen. So wie ihr es immer getan habt.“

Abby gab ihrer Tochter einen Kuss. „Danke, dass du heute so brav warst, mein Liebling.“

„Ich bin doch immer brav, Mommy“, erklärte Lara verwundert. Fröhlich winkte sie Molly und Colleen zum Abschied zu, als Mrs. McClintock sie auf den Arm nahm, um sie ins Bett zu bringen.

„Bist du sicher, dass sie von dir ist?“, zog Molly Abby auf. „Sie ist einfach entzückend.“

Manchmal wunderte Abby sich selbst. „Ihr wart doch alle dabei, als sie geboren wurde“, erinnerte sie die Schwestern. „Molly natürlich nur, bis sie ohnmächtig wurde.“

Abbys Freundinnen und Mrs. Mick waren nach Detroit gekommen, als Laras Geburtstermin bevorstand. Abby wusste nicht, was sie ohne ihre Unterstützung getan hätte.

„Kaum zu glauben, dass eine Ärztin beim Anblick von Blut in Ohnmacht fällt“, fing Colleen an.

„He, ich war total erschöpft“, verteidigte Molly sich. „In meinem Zeitplan ist für Schlaf einfach kein Platz.“

Für ihre Freundinnen hingegen hatte Molly immer Zeit gehabt. Und genau aus diesem Grund würde Abby jetzt auch für Molly da sein. Deshalb war sie nach Cloverville gekommen und würde aussprechen, was gesagt werden musste.

„Lara ist ein liebes Mädchen“, sagte Abby, „aber Kinder bedeuten auch eine Menge Verantwortung.“

„Oh nein! Clayton hat sie angesteckt. Sie spricht von Verantwortung.“ Colleen schüttelte ungläubig ihre braunen Locken.

„Kinder brauchen verantwortungsbewusste Eltern, das ist alles. Sie verdienen Stabilität und Liebe. Molly, du weißt, dass ich dich sehr gern habe, aber wenn du dir unsicher bist – und ich glaube, dass du große Zweifel hast – dann darfst du morgen nicht heiraten. Es wäre weder Josh noch den Jungen gegenüber fair.“

Bevor sie Josh kennengelernt hatte, war Abby der Ansicht gewesen, Molly habe seinen Antrag aus Mitleid angenommen, weil er von seiner Frau verlassen worden war und seine beiden Söhne allein großziehen musste. Doch nun wusste sie, dass Mollys zukünftiger Mann ein netter, sehr gut aussehender Mann war. Sie konnte verstehen, dass eine Frau sich geschmeichelt fühlte, wenn er um ihre Hand anhielt.

„Aber was noch wichtiger ist, mein Schatz“, sie setzte sich neben Molly aufs Bett und legte den Arm um sie, „es wäre nicht fair dir gegenüber.“

„Die Hochzeit ist schon morgen“, entgegnete Molly traurig und legte ihren Kopf auf Abbys Schulter.

Abbys Magen zog sich zusammen. Ihre Freundin hatte also tatsächlich Zweifel. „Bevor du nicht ‚Ja!‘ gesagt hast, ist es noch nicht zu spät, einen Rückzieher zu machen.“

„Clayton würde mich umbringen.“

Abby lachte. Sie wusste genau, wem er die Schuld für eine geplatzte Hochzeit geben würde. „Nein, das würde er nicht. Er würde mich umbringen.“

Abby stieß die Tür auf und spähte vorsichtig durch den leeren Eingangsbereich in die Kirche. Hübsche Gestecke aus Nelken und Lilien schmückten die Bänke. Durch die bunten Mosaikfenster strahlte die Sonne und tauchte den Innenraum in leuchtend buntes Licht.

„Ist schon jemand da?“, fragte Brenna aus der Sakristei, wo sie mit Lara, Colleen und der Braut wartete.

Erschrocken zuckte Abby zurück. Eine ältere Dame mit einem wild dekorierten Hut war hereingekommen.

„Mrs. Hild!“

„Sie wird heute die Orgel spielen.“

„Na großartig.“ Die alte Dame würde vermutlich nicht gerade erfreut sein, Abby zu sehen. Um sich abzulenken, wandte sie sich Lara zu, die mucksmäuschenstill auf einem Stuhl saß und sich von Brenna Blumen ins Haar flechten ließ.

„Du siehst wundervoll aus, mein Liebling.“

„Du bist auch sehr hübsch, Mommy.“

Brenna pfiff anerkennend. „Ja, das stimmt. Und was für ein atemberaubend schönes Kleid du anhast. Diejenige, die die Kleider für die Brautjungfern ausgesucht hat, muss einen sehr guten Geschmack haben.“

Abby blickte an ihrem leuchtend roten, trägerlosen Abendkleid aus Satin herunter. „Tja, ich weiß nicht. Irgendwie finde ich es ein wenig billig.“

Brenna warf eine rote Nelke nach ihr.

„He“, protestierte Abby und duckte sich gerade noch rechtzeitig. „Du gibst ein sehr schlechtes Vorbild ab, Brenna.“

„Da hat deine Mommy völlig Recht“, stimmte eine männliche Stimme von draußen zu, ohne die Tür zu öffnen. Clayton. Abbys Herz pochte gegen ihre Rippen.

„Wer ist das?“, flüsterte Lara. „Ist es Rory?“ Seitdem er am Abend zuvor mit ihr im Garten der Kellys gespielt hatte, war Lara ein wenig verliebt in ihn. Auch Abby hatte vor vielen Jahren – als er noch ein zahnloses kleines Baby gewesen war – seinem Charme nicht widerstehen können. Zusammen mit seinen Schwestern hatte sie immer auf ihn aufgepasst. Kaum zu glauben, dass er nun schon fast erwachsen war.

„Nein, es ist nicht Rory“, erklärte Abby ihrer Tochter.

„Clayton“, stellte Colleen fest, obwohl sie gar nicht in Hörweite war. Doch sie hatte Abbys Gesichtsausdruck gesehen. Sie hielt sich gerade einen Kosmetikspiegel vor ihr Gesicht und frischte ihr Make-up auf. Molly, die neben ihr saß, sah mit leerem Blick in den Spiegel.

„Geht es dir gut, Molly?“, fragte Abby zum wiederholten Mal. Sie hatte schreckliche Gewissensbisse wegen ihrer Unterhaltung gestern Abend. Vielleicht hatte sie ihre Bedenken wegen der Hochzeit mit diesem Fremden etwas zu deutlich zum Ausdruck gebracht? Doch es ging ja nicht nur um Molly und Josh. Er hatte zwei Kinder, die ebenfalls unsagbar leiden würden, wenn die Ehe schiefging. Sie verdienten jemanden, der sich hundertprozentig sicher war.

Hinter ihnen knarrte die Tür. „Seid ihr alle angezogen?“, fragte Clayton. „Kann ich hereinkommen?“

Abby sah die Braut fragend an. „Molly?“

„Alles in Ordnung.“

„Aber du bist doch noch gar nicht angezogen“, wandte Brenna ein und wies auf einen Traum aus weißer Seide und Spitze, der an einem Kleiderbügel an der Wand hing. Molly trug noch immer ihre Jeans und einen grauen Pullover. Ungeduldig zupfte sie an ihrem Schleier. „Soll ich dir helfen?“, fragte Brenna.

Molly schüttelte den Kopf. „Es geht schon. Ich muss nur den Schleier richtig feststecken.“ Sie war schon immer unabhängig und entschlossen gewesen. „Ich brauche nur einen Augenblick für mich allein. Könntet ihr einen Moment hinausgehen?“

„Aber Molly …“, entgegnete Brenna ratlos.

„Bitte!“ Molly meinte es ernst.

Abby seufzte. Sie hatte alles gesagt, was gesagt werden musste. Vielleicht brauchte Molly eine kleine Atempause, um sich endgültig darüber klar zu werden, was sie wollte. „Na kommt schon, Mädels“, forderte Abby die Freundinnen auf. „Lassen wir sie kurz allein.“ Sie öffnete die Tür und begegnete Claytons besorgtem Blick.

„Gleich ist es so weit“, sagte er und wies auf seine Uhr. „Molly, du musst dich anziehen.“

Doch Abby schob ihn – deutlich sanfter als gestern Abend – fort. Sie spürte seine Muskeln und die Wärme seines Körpers unter ihren Handflächen. Mühsam suchte sie nach Worten. „Geh wieder, Clayton. Die Braut braucht einen Augenblick für sich allein.“

Er sah sie an und murmelte warnend: „Abby …“

Abby fröstelte, und zum ersten Mal bedauerte sie es, dass ihr Kleid schulterfrei war, denn Claytons Blick wanderte unverhohlen über ihren Körper und blieb an ihrem Dekolleté hängen. Seine dunklen Augen blitzten auf.

Brenna drängte sich an ihnen vorbei. „Na los, die Braut möchte kurz allein sein.“ Sie senkte ihre Stimme, während sie Lara hinausführte. „Was ihr beide wollt, weiß ich allerdings nicht.“

Clayton ging es ähnlich. Als Abby Colleen und Brenna folgen wollte, griff er nach ihrem Handgelenk. Sie war so zierlich.

„Ich möchte mit dir reden“, sagte er und schloss die Tür, damit Molly ihre Privatsphäre hatte.

Sanft zog er Abby in einen Nebenraum der Sakristei. „Ich möchte mich für gestern Abend entschuldigen.“ Er konnte es noch immer nicht fassen, dass er Lara als einen Fehler bezeichnet hatte. Die ganze Nacht hatte er kein Auge zugetan, weil er sich solche Vorwürfe wegen dieser unbedachten Äußerung gemacht hatte.

„Lass das“, sagte sie und versuchte, seine Hand abzuschütteln. Doch er hielt sie fest und streichelte mit seinen Fingern zärtlich über ihre weiche Haut. Ihr Puls beschleunigte sich.

„Was soll ich lassen?“, fragte er mit rauer Stimme.

„Hör auf, nett zu sein, Clayton.“ Mit ihren blauen Augen sah sie ihn bekümmert an. „Wir sind nicht nett zueinander.“

Er seufzte. „Das war früher. Ich hätte damals freundlicher zu dir sein müssen“, gab er zu. „Du warst schließlich noch ein Kind.“

„Und du, Clayton? Warst du jemals ein Kind?“, fragte sie flüsternd. „Hast du niemals etwas getan, das du später bereut hast?“

Himmel, sie schaffte es immer wieder, seine empfindlichen Stellen zu treffen. Natürlich hatte er als Jugendlicher Träume und Fantasien gehabt, die nicht erfüllt worden waren. Die meisten Pläne hatte er mit dem Tod seines Vaters begraben müssen. Doch im Grunde bedauerte er nichts. „Bis jetzt nicht.“ Wenn sie allerdings noch länger in seiner Nähe blieb und ihn herausforderte, konnte sich das schnell ändern. „Abgesehen davon, was ich gestern Abend zu dir gesagt habe …“

„Denk nicht mehr daran“, entgegnete sie. „Ich habe es auch schon vergessen.“

Wie selbstverständlich griff sie mit ihren rot lackierten Fingern nach seiner Krawatte und richtete sie. Clayton hielt die Luft an. Instinktiv reagierte er auf ihre Berührung und auf ihre Nähe. Ein schwacher Lilienduft ging von der Blume in ihrem Haar aus. Dann strich sie mit einem Finger leicht über sein Kinn. „Mach dir keine Sorgen, Clayton. Ich werde bald wieder fort sein.“

Nicht bald genug, um ihm sein seelisches Gleichgewicht zurückzugeben.

Abby trat aus dem Nebenraum heraus und mischte sich unter die ankommenden Gäste. Er konnte ihr perlendes Lachen hören, als sie sich mit Leuten unterhielt, die sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Sie machte einen völlig unbefangenen Eindruck, doch Clayton wusste, dass sie schauspielerte.

Er ging zurück zum Umkleideraum der Braut. Als er seine Hand hob, um an die Tür zu klopfen, bemerkte er, dass er zitterte. Wenn es nach ihm ginge, konnte Abby die Stadt gar nicht schnell genug wieder verlassen. „Molly?“

„Ja.“

„Bist du fertig?“

„Ja, ich bin so weit.“

„Dann werde ich Brenna sagen, dass es losgehen kann.“ Die Erste Brautjungfer war für alle organisatorischen Dinge zuständig. Als die Hochzeitsgesellschaft sich aufstellte, legte Abby ihre Hand auf seinen Arm. Er wusste nicht genau, wie sie es machte, aber ihre Berührungen hatten einen beängstigenden Effekt auf ihn.

Er schloss kurz seine Augen und atmete tief durch. Brenna drehte sich zu ihnen um und fragte: „Bist du sicher, dass mit Molly alles in Ordnung ist? Sie wollte mich vorhin nicht hereinlassen.“

Er nickte. „Sie sagte, dass sie fertig ist.“

„Na dann los!“, bestimmte Brenna und führte gemeinsam mit dem Trauzeugen, Dr. Nick Jameson, die Prozession an.

Als sie am Altar angekommen waren, trat Clayton unauffällig hinter den Trauzeugen und ging dann um die Sitzreihen herum zur Sakristei zurück.

Im Eingangsbereich standen die Kinder: Buzz und T.J., die Söhne des Bräutigams, die ein rotes Samtkissen hin und her warfen, auf dem eigentlich die Ringe liegen sollten. Und Lara, die mit ihren kleinen Fingern aufgeregt einen weißen Blumenkorb mit roten Blütenblättern umklammerte. Mit ihren blonden Locken sah sie aus wie ein Engel. Vom Altar aus lächelte Abby ihrer Tochter aufmunternd zu.

Ihr Anblick verschlug Clayton den Atem. Nie zuvor war sie so schön gewesen. Doch er hatte jetzt keine Zeit für Gefühle. Und er hatte definitiv keine Zeit für das Durcheinander, das Abby Hamilton in sein Leben bringen würde, wenn er ihr nicht ab sofort aus dem Weg ging.

Entschlossen ging er zur Sakristei hinüber. Warum war Molly noch nicht herausgekommen? „Molly?“

Als sie auf sein Klopfen nicht reagierte, drehte er den Knauf und öffnete die Tür. Der Raum war leer. An einem Wandhaken hing das Brautkleid und bewegte sich sanft in der Brise, die durch das offene Fenster wehte.

„Um Himmels willen!“ Molly war verschwunden und hatte ihr Brautkleid zurückgelassen. Am Oberteil war mit einer Nadel eine Nachricht befestigt. Eine Nachricht, die nicht etwa an den Bräutigam oder an ihn, ihren Bruder, adressiert war, sondern – wie könnte es anders sein – an Abby. Mit zitternden Händen nahm er den Umschlag ab und steckte ihn in seine Tasche.

Jeder Muskel seines Körpers war angespannt, als er wieder in die Kirche trat. Mrs. Hild, die Organistin, spielte den Hochzeitsmarsch. Die Gäste erhoben sich und drehten sich zum Eingang, wo Clayton stand.

Nur Clayton. Er ignorierte das Gemurmel und die neugierigen Blicke. Und er vermied es, den Bräutigam anzusehen. Seine Blicke galten ausschließlich ihr. Abby. Sie war schuld an diesem Desaster. Sie hatte genau das getan, was er ihr mehr oder weniger verboten hatte. Sie hatte die Braut dazu überredet, davonzulaufen. Genau wie Abby selbst es vor acht Jahren getan hatte. Sie machte noch immer nichts als Ärger.

4. KAPITEL

Noch immer erklang der Hochzeitsmarsch. Doch leider war weit und breit keine Braut zu sehen.

Molly ist endlich zur Vernunft gekommen! Abby spürte, wie eine Welle der Erleichterung sie erfasste. Seitdem Molly ihr von ihren überstürzten Hochzeitsplänen erzählt hatte, hatte Abby ein ungutes Gefühl gehabt. Glücklicherweise war es ihr gestern Abend auf der Pyjamaparty anscheinend doch gelungen, Molly zum Nachdenken zu bewegen.

Davon war offensichtlich auch Clayton überzeugt. Er gab ihr die Schuld. Daran ließ sein finsterer Blick, der ihren Magen rebellieren ließ, keinen Zweifel. Doch sie spürte auch noch ein anderes Gefühl. Aufregung. Schon immer hatte sie sich am lebendigsten gefühlt, wenn sie Clayton aus der Reserve locken konnte. Sie hasste seine demonstrative Gelassenheit.

Endlich bemerkte Mrs. Hild, dass etwas nicht stimmte, und hörte auf zu spielen. In der Kirche herrschte eine tödliche Stille. Betreten blickte die Hochzeitsgesellschaft zu Clayton, der jedoch unverwandt Abby ansah.

Obwohl seine Gesichtszüge starr waren, huschte ein gequältes Lächeln über Claytons Lippen. „Die Hochzeit wird sich leider ein wenig verzögern“, gab er bekannt. „Die Braut braucht noch einen Augenblick. Vielen Dank für euer Verständnis.“

Dann hatte Molly die Kirche also gar nicht verlassen? War sie nur noch nicht bereit, zum Altar zu gehen? Abby wollte um jeden Preis verhindern, dass Clayton sie dazu drängte, herauszukommen. Er war gut darin, von Verantwortung und Pflicht zu sprechen. Entschlossen raffte Abby ihren Rock und eilte, ohne auch nur einen Blick auf die Gästeschar zu werfen, zur Sakristei.

Sie sah so umwerfend gut aus in ihrem verführerischen roten Kleid, dass Clayton sie fast vorbeigelassen hätte. Doch dann besann er sich, schluckte angestrengt, um die Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte, zu vertreiben, und griff nach ihrem Arm. Wütend versuchte Abby, sich loszureißen, doch er hielt sie fest und zwang sie, langsamen Schrittes mit ihm in Richtung Sakristei zu gehen.

„Ich will sofort mit Molly sprechen“, zischte Abby.

„Genau wie ich“, erwiderte er und blieb vor dem leeren Raum stehen.

Abby öffnete die Tür und drehte sich dann mit fragendem Blick zu Clayton um. „Wo ist sie?“

„Genau das wüsste ich auch gern“, antwortete Clayton.

Sie starrte ihn an und fing an zu lachen. „Sie ist also fort?“

„Tu doch nicht so, als wenn du überrascht wärst“, sagte Clayton wütend und holte die zerknitterte Nachricht aus seiner Tasche. „Du bist die Einzige, der sie eine Nachricht hinterlassen hat.“

Abby riss ihm den Umschlag aus der Hand, öffnete ihn und zog ein Blatt Papier heraus.

„Was steht drin?“, fragte Clayton, als sie wortlos die Nachricht von seiner Schwester las. Er hätte den Brief aufmachen können, nachdem er ihn gefunden hatte, doch seine Eltern hatten ihn dazu erzogen, die Privatsphäre anderer Menschen zu respektieren. „Na komm schon, ich mache mir Sorgen um sie und möchte wissen, was sie schreibt.“

„Es war gut, dass sie davongelaufen ist“, erklärte Abby. „Sie hätte fast den größten Fehler ihres Lebens gemacht.“

Hinter ihnen schnappte jemand nach Luft. Clayton drehte sich um und sah, dass die Hochzeitsgesellschaft ihnen gefolgt war.

„Josh, es tut mir leid“, sagte er zu Mollys verlassenem Verlobten.

Abby lief rot an. In diesem Augenblick hatte Lara ihre Mutter erreicht und sagte tadelnd: „Mommy, in einer Kirche darf man doch nicht rennen. Und auch nicht laut reden.“

„Ja, Mommy war böse“, murmelte Clayton leise in Abbys Ohr. Sehr böse. Er war überzeugt davon, dass sie für Mollys Verschwinden verantwortlich war.

„Es tut mir leid“, erklärte Abby und sah Josh an. „Sie hat die Hochzeit nicht als größten Fehler ihres Lebens bezeichnet. Sie ist im Moment nur etwas durcheinander.“

„Was ist los?“, fragte Rory und lockerte seine Krawatte. „Ist Molly wirklich abgehauen?“

Clayton zuckte die Schultern. „Frag doch Abby. Sie ist bestens informiert.“

Obwohl Abby erleichtert darüber war, dass ihre Freundin sich ihren wahren Gefühlen gestellt hatte, verspürte sie Mitleid mit Josh und seinen beiden Söhnen.

„Geht es ihr gut?“, fragte Josh besorgt. Jeder andere verschmähte Bräutigam wäre vermutlich wütend und verletzt gewesen, doch für Josh war die Sorge um Molly offenbar wichtiger als sein eigener verletzter Stolz.

Abby konnte gut verstehen, warum ihre Freundin seinen Heiratsantrag angenommen hatte. Es war so schwierig, einen wirklich netten Mann zu finden. Doch wenn Molly ihn und seine Söhne nicht aus ganzem Herzen liebte, dann hatte sie ihnen mit ihrem Verschwinden einen großen Gefallen getan.

„Es geht ihr gut“, versicherte Abby ihm. „Sie ist nur ziemlich durcheinander. Sie braucht ein wenig Zeit für sich, um herauszufinden, was sie wirklich will.“

„Hätte sie das nicht tun können, bevor sie Joshs Antrag angenommen hat? Es ist ja wohl total durchgeknallt, seinen Bräutigam vor dem Altar stehen zu lassen“, grummelte Nick, der Trauzeuge.

„Molly ist nicht verrückt“, verteidigte Colleen ihre Schwester.

Abby schwieg. Sie würde all ihre Kraft dazu brauchen, sich gegen Claytons Angriffe zu verteidigen.

„Es ist vermutlich mein Fehler gewesen“, erklärte Josh. „Ich habe sie zu sehr gedrängt, obwohl ich wusste, dass sie noch nicht so weit ist.“

Nick klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Mach dir keine Vorwürfe. Sie hätte schließlich Nein sagen können. Das Ganze hier zeigt nur wieder einmal, dass man ihnen nicht trauen kann.“

Anstatt empört zu sein, musste Abby grinsen. Nick Jameson hatte anscheinend einschlägige Erfahrungen mit Frauen gemacht, die vom gleichen Kaliber gewesen waren wie die Männer, mit denen Abby ausgegangen war. Sie konnte seine Verbitterung gut verstehen.

„Was machen wir denn nun mit all dem Essen?“, fragte Mrs. McClintock. „Mrs. George und die Kellys sind seit Tagen mit den Vorbereitungen beschäftigt. Wir dürfen das Hochzeitsmahl nicht verkommen lassen!“

„Meinst du das ernst, Mom?“, fragte Colleen, die sichtlich verwundert über die Pragmatik ihrer Mutter war. Abby hingegen war kein bisschen überrascht. Mrs. Mick war schon immer eine überaus patente Person gewesen, die mit großer Gelassenheit alle Herausforderungen des Lebens meisterte. Sie hatte den Tod ihres geliebten Manns überstanden und ihre vier Kinder zu klugen, verantwortungsvollen Menschen erzogen. Genau wie Abby wusste sie anscheinend, dass Molly einen guten Grund haben musste, wenn sie kurz vor ihrer Hochzeit verschwand.

Abby fragte sich, welches ihrer zahlreichen Argumente Molly bewogen haben mochte, diesen Schritt zu gehen. In ihrer Nachricht hatte Molly ihre Beweggründe nicht erklärt. Stattdessen hatte sie um zwei Dinge gebeten: Sie wollte eine Weile allein sein, und Abby sollte in Cloverville bleiben, bis Molly wieder da war. Dieser letzte Wunsch versetzte Abby in Panik. Wie lange würde es dauern, bis sie die Stadt endlich wieder verlassen konnte?

Mrs. McClintock warf einen Blick auf ihre elegante, schmale Armbanduhr. „Das Essen ist jetzt schon im Gemeindesaal. Alles ist bereits bezahlt und kann nicht mehr storniert werden.“

„Wir müssen den Empfang absagen“, erklärte Clayton. „Die ganze Hochzeit muss abgesagt werden.“ Verdammt! Da er sozusagen als Vater der Braut fungierte, würde er diese unangenehme Aufgabe übernehmen müssen. „Ich werde die Gäste informieren.“

„Nein, ich werde das machen“, widersprach Josh.

„Du bist noch neu hier“, witzelte Rory. „Du weißt noch nicht, dass Clayton hier für alles und jeden verantwortlich ist.“

Clayton biss die Zähne zusammen. Dachte Rory im Ernst, dass er es sich ausgesucht hatte, immer die Verantwortung zu übernehmen? Nach dem Tod seines Vaters hatte er keine andere Wahl gehabt.

„Wir können das Essen nicht einfach wegwerfen“, beharrte Mrs. McClintock.

„Daddy, ich habe Hunger“, quengelte Buzz.

„Wann gibt es endlich den Kuchen?“, stimmte T.J. ein. Seine Unterlippe zitterte verdächtig.

„Gibt es jetzt keine Party?“, fragte Lara. Sie gab sich Mühe, gefasst zu wirken, doch die Enttäuschung, die aus ihren Worten klang, traf einen Nerv bei Clayton.

„Ich habe alles schon bezahlt“, gab er zu. Er hatte darauf bestanden, die Kosten für die Feier zu übernehmen. „Mom hat recht. Es wäre verantwortungslos, das Essen verkommen zu lassen. Josh, wäre es für dich okay, wenn …“

„Wenn wir meine Hochzeit ohne meine Braut feiern würden?“, fragte Josh trocken. Statt Verbitterung klang Humor aus seinen Worten. Vielleicht war er gar nicht so unglücklich darüber, dass die Hochzeit geplatzt war? „Nur wenn ich zahlen darf.“

„Kommt überhaupt nicht in Frage“, widersprach Clayton. Seine Schwester hatte diese unselige Situation verursacht, und er würde – wie immer – alles in Ordnung bringen. Doch er machte Molly keine Vorwürfe. Abby war an allem schuld. Genau wie der Bräutigam nahm er das Ganze im Grunde gelassen. Vielleicht hatte Abby ja recht gehabt. „Ich gehe jetzt und erkläre den Gästen die Situation.“

„Situation?“, wiederholte Nick. „Wie um alles in der Welt willst du dafür eine Erklärung finden?“

„Er ist ein Verkäufer“, erklärte Rory lakonisch. „Mach dir keine Sorgen, er wird auch das hier gut verkaufen.“

Und das tat er. Noch Monate später musste Abby lächeln, wenn sie an seine Worte dachte. „Meine Schwester war anscheinend nicht gut genug auf diesen Tag vorbereitet, doch das trifft definitiv nicht auf den Hochzeitsempfang zu. Wir möchten euch deshalb sehr herzlich einladen, mit uns zu Abend zu essen, zu trinken und zu tanzen. Lasst euch die einmalige Gelegenheit nicht entgehen, gemeinsam über diesen Skandal zu reden!“ Er hatte es geschafft, die peinliche Situation zu entspannen.

Autor

Lisa Childs

Die Bestseller-Autorin Lisa Childs schrieb ihr erstes Buch bereits mit 6 Jahren - es war die Biografie des Familienhundes. Inzwischen schreibt sie Liebesromane und Krimis. Als jüngstes von sieben Kindern ist ihr die Familie im wahren Leben ebenso wichtig wie in ihren Romanen. Viele ihrer Geschichten basieren daher auf der...

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