Eiskalter Wahnsinn

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

FBI-Agentin Maggie O'Dell hat eigentlich Urlaub. Doch als eine Freundin sie um ihre Mithilfe bei der Suche nach einer verschwundenen Patientin bittet, kann sie nicht Nein sagen. Da wird in einem Steinbruch ein grausamer Fund gemacht: Tonnen voller zerstückelter Leichenteile, denen Organe entfernt wurden. Welcher psychopathische Mörder war hier am Werk? Ist die verschollene Patienten unter den Leichen? Und - wer wird das nächste Opfer des Wahnsinnigen sein?


  • Erscheinungstag 01.12.2003
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783862781843
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Samstag, 13. September

Meriden, Connecticut

Es war fast Mitternacht, trotzdem wartete Joan Begley ab.

Sie trommelte mit den Fingernägeln auf das Lenkrad und hielt im Rückspiegel nach Scheinwerfern Ausschau. Die gelegentlichen Blitze in der Ferne versuchte sie zu ignorieren und redete sich ein, das heraufziehende Gewitter gehe in die andere Richtung. Ihr Blick wanderte immer mal wieder durch die Windschutzscheibe, ohne dass sie die spektakuläre Aussicht auf die Lichter der Stadt bemerkt hätte. Lieber vergewisserte sie sich noch einmal in den Seitenspiegeln, ob sie dort etwas entdeckte, was ihr im Rückspiegel entgangen war.

„Manches ist näher, als man denkt.“

Der Aufdruck auf dem Spiegel der Beifahrerseite ließ sie schmunzeln. Schmunzeln und zugleich frösteln. In dieser verdammten Dunkelheit konnte sie einfach nichts erkennen. Wahrscheinlich sah sie ihn erst, wenn er schon direkt an ihrem Wagen stand.

„Na klasse, Joan“, tadelte sie sich. „Mach dir nur richtig Angst.“

Sie musste positiv denken und sich eine positive Einstellung bewahren. Was nützten die vielen Sitzungen bei Dr. Patterson, wenn sie das Gelernte nicht beherzigte?

Was hielt ihn so lange auf?

Vielleicht war er vor ihr hier gewesen und hatte keine Lust gehabt, auf sie zu warten? Schließlich hatte sie sich zehn Minuten verspätet. Nicht absichtlich. Er hatte die Straßengabelung vor dem Anstieg zur Hügelkuppe nicht erwähnt, was ihr einen unerwarteten Umweg beschert hatte. Schlimm genug, dass es hier oben unter dem Baldachin aus dicht belaubten Ästen, die nicht mal den Mondschein durchließen, pechschwarz war. Der Mond würde bald hinter Gewitterwolken verschwinden, und stattdessen brach dann vermutlich eine Lichtshow aus Blitzen los.

Herrgott, sie hasste Gewitter! Sie spürte die Elektrizität bereits an den Haaren und schmeckte sie, metallisch und unangenehm wie eine frische Füllung vom Zahnarzt. Die geladene Atmosphäre verstärkte ihre Angst, zerrte an ihren Nerven und machte ihr bewusst, dass sie nicht hier sein sollte. Was sie vorhatte, war nicht gut, sie sollte es nicht tun … nicht schon wieder.

Diese dummen, störenden Gewitterwolken hatten ihr sogar den Orientierungssinn geraubt. Zumindest gab sie ihnen die Schuld, obwohl sie genau wusste, dass ihre Orientierung schon dahin war, sobald sie ein Mietauto bestieg und die Türen schloss. Und es half ihr nicht gerade, dass die Straßen in den Städten Connecticuts in alle möglichen Richtungen verliefen, nur nicht im rechten Winkel und geradeaus. Wie oft sie sich in den letzten Tagen hier verfahren hatte, war unglaublich. Auch heute Abend war sie ständig falsch abgebogen, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, es nicht zu tun. Wäre der alte Mann mit seinem Hund nicht gewesen, sie hätte sich auf der Suche nach dem West Peak ständig im Kreis bewegt.

„Ich bin Walnüsse sammeln“, hatte er ihr erklärt, und sie hatte sich nichts weiter dabei gedacht, weil sie zu sehr mit der Wegsuche beschäftigt gewesen war. Aber wenn sie jetzt so darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass er weder Eimer noch Beutel bei sich gehabt hatte. Nur eine Taschenlampe. Wer ging mitten in der Nacht Walnüsse sammeln? Seltsam. Ja, der Mann war irgendwie seltsam gewesen. Trotz des verlorenen, in die Ferne gerichteten Blickes hatte er jedoch nicht gezögert, ihr den Weg hinauf zur Kuppe zu weisen, wo im tosenden Wind Schatten werfende Äste knackten.

Warum war sie bloß hergekommen?

Sie nahm ihr Handy, gab die Nummer auswendig ein und hoffte, sie war da. Doch sie wurde enttäuscht. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter. „Sie haben den Anschluss von Dr. Gwen Patterson erreicht. Bitte hinterlassen Sie Namen und Telefonnummer, und ich werde so schnell wie möglich Kontakt zu Ihnen aufnehmen.“

„So schnell wie möglich könnte zu spät sein“, sagte Joan anstelle einer Begrüßung und lachte. Dann bedauerte sie die Bemerkung, denn Dr. Patterson würde zwischen den Zeilen lesen. Aber zahlte sie ihr nicht genau dafür gutes Geld? „He, Dr. P., ja, ich bin’s wieder. Tut mir Leid, dass ich Ihnen so auf den Wecker falle. Aber Sie hatten Recht. Ich tue es schon wieder. Also nein, ich glaube, ich habe meine Lektion nicht gelernt. Denn ich sitze hier mitten in der Nacht in meinem dunklen Wagen und warte auf … ja, Sie ahnen es, auf einen Mann. Aber Sonny ist wirklich anders. Wissen Sie noch, ich habe Ihnen in meiner E-Mail von ihm erzählt. Wir haben uns getroffen, um zu reden, einfach nur zu reden. Jedenfalls bisher. Er scheint wirklich sehr nett zu sein. Eigentlich gar nicht mein Typ, was? Nicht dass ich in puncto Männer eine besonders gute Menschenkennerin wäre. Genau genommen könnte er auch ein Axtmörder sein, oder?“

Wieder ein gezwungenes Lachen. „Also ich hatte gehofft … ich weiß nicht … vielleicht hatte ich gehofft, Sie würden es mir ausreden und mich vor … Sie wissen schon … mich vor mir selbst schützen, wie Sie das immer tun. Wer weiß, vielleicht kommt er gar nicht. Jedenfalls sehen wir uns am Montagmorgen zu unserer üblichen Sitzung. Dann dürfen Sie mich anschreien, okay?“

Sie unterbrach die Leitung, ehe sich automatisch die Liste weiterer Vorgehensweisen abspulte, wonach sie ihre Botschaft noch einmal hätte hören, verändern oder löschen können. Sie war es Leid, Entscheidungen zu treffen, jedenfalls für heute Nacht. In den letzten Tagen hatte sie nichts anderes getan als entschieden. Das feierliche Arrangement oder das De-Luxe-Vorzugsarrangement, für den Fall, dass man sich schuldig fühlte? Weiße Rosen oder weiße Lilien? Der Walnusssarg mit Messingbeschlägen oder der Mahagonisarg mit Seidenauskleidung?

Allmächtiger! Wer hätte gedacht, dass die Beisetzung eines Menschen so viele dumme Entscheidungen erforderte?

Joan warf das Handy in ihre Tasche, fuhr mit den Fingern in das dichte blonde Haar und schob sich ungeduldig die feuchten Strähnen aus der Stirn. Sie schaltete das Licht über dem Spiegel ein und besah sich im Rückspiegel den dunkel nachwachsenden Haaransatz. Darum würde sie sich bald kümmern müssen. Blond zu sein erforderte einigen Aufwand.

„Du bist arbeitsintensiv geworden, Schätzchen“, sagte sie dem Spiegelbild ihrer Augen. Augen, die sie an manchen Tagen kaum erkannte, da immer mehr Krähenfüße ihre Lachfalten verdrängten. Würde das ihr nächstes Projekt werden, als Teil des neuen Images, das sie sich zulegte? Sie hatte sogar schon einen plastischen Chirurgen aufgesucht. Was bildete sie sich überhaupt ein? Dass sie sich neu erschaffen konnte wie eine ihrer Skulpturen? Tonform, Messingguss und fertig? Und wenn sie schon mal dabei war, gab sie der so geschaffenen Joan Begley auch gleich noch ein paar neue Verhaltensmuster mit.

Vielleicht war dieses Umkrempeln der Persönlichkeit ein hoffnungsloses Unterfangen. Allerdings schien sie allmählich ihre vielen Diäten samt Jo-Jo-Effekten unter Kontrolle zu bekommen. Okay, Kontrolle war vielleicht nicht das richtige Wort, denn sie war nicht überzeugt, dass sie sich wirklich unter Kontrolle hatte. Aber sie musste zugeben, dass sich ihr neuer, abgespeckter Körper gut anfühlte. Richtig gut. Sie konnte jetzt Dinge tun, zu denen sie schon lange nicht mehr fähig gewesen war. Sie konnte sich bei der Arbeit wieder um ihre Metallskulpturen herumbewegen, ohne alle fünf Minuten aus der Puste zu sein. Wie eine Öllampe ohne Öl hatte sie dann warten müssen, bis genügend nachgepumpt war, ehe sie weitermachen konnte.

Ja, die neue, schlanke Figur hatte auch Auswirkungen auf ihre Arbeit. Sie ging mit einem völlig neuen Lebensgefühl daran. Warum wurde sie dann diese ärgerliche kleine Stimme im Hinterkopf nicht los, die dauernd nörgelnd fragte: „Wie lange wird es diesmal halten?“

So wunderbar sie ihren neuen Zustand auch fand, in Wahrheit traute sie dieser neuen Joan nicht. Sie traute ihr so wenig wie zuckerfreier Schokolade oder fettfreien Kartoffelchips. Da musste es einen Haken geben, wie schlechten Nachgeschmack oder chronische Diarrhö. Worauf es eigentlich hinauslief, war ihr mangelndes Selbstvertrauen. Da steckte ihr Problem, das brachte sie in Schwierigkeiten. Deshalb wartete sie in finsterer Nacht hier oben auf der Hügelkuppe im Auto auf einen Typen, mit dem sie sich hoffentlich gut fühlte und der ihr das Gefühl gab – oh Gott, sie mochte es kaum zugeben –, vollwertig zu sein.

Dr. P. behauptete, das käme daher, weil sie glaube, es nicht zu verdienen, glücklich zu sein. Sie fände, Glück nicht wert zu sein – oder irgend so ein Psychokrampf. Immer wieder hatte ihr Dr. P gesagt, es nütze wenig, das Äußere zu verändern, solange man im Innern die Alte blieb.

Wie sie das verabscheute, wenn ihre Seelenklempnerin Recht hatte.

Sie überlegte, ob sie Dr. P. noch einmal anrufen sollte. Nein, das wäre lächerlich. Sie sah kurz in den Rückspiegel. Er kam wahrscheinlich sowieso nicht.

Plötzlich merkte sie, wie enttäuscht sie war. War das nicht lächerlich? Sie hatte ihn wirklich für etwas Besonderes gehalten, für anders als ihre üblichen Bekanntschaften – ruhig, scheu und interessiert. Ja, er war richtig an ihr interessiert gewesen und hatte ihr zugehört. Das hatte sie sich nicht eingebildet. Sonny war nicht nur interessiert, sondern sogar besorgt um sie gewesen. Besonders als sie ihm diesen Mist über ihr Gewicht aufgetischt hatte – dass ein Hormonmangel daran schuld gewesen sei. So als hätte sie nichts dagegen tun können, dauernd futtern zu müssen. Anstatt es als die dumme Ausrede zu entlarven, die es war, hatte Sonny ihr geglaubt. Er hatte ihr einfach geglaubt.

Wenn sie ehrlich war, hockte sie genau deshalb hier mitten im Nirgendwo im Finstern. Wann hatte das letzte Mal ein Mann Interesse an ihr gezeigt? Echtes Interesse an ihr als Person, nicht an ihrem Äußeren, der neuen schlanken Figur und den blondierten Haaren?

Sie schaltete die Innenbeleuchtung aus und blickte auf die Lichter der Stadt hinab. Ein schöner Anblick. Wenn sie entspannt wäre, würde sie es trotz des ärgerlichen Donnergrollens sogar als romantisch empfinden. War das ein Regentropfen auf der Windschutzscheibe? Na, großartig! Wunderbar! Das fehlte ihr gerade noch.

Erneut mit den Fingernägeln auf das Lenkrad trommelnd, nahm sie ihre Nachtwache wieder auf und blickte abwechselnd in die Seitenspiegel und den Rückspiegel.

Warum kam er so spät? Hatte er es sich anders überlegt? Aber warum sollte er?

Sie schnappte sich ihre Handtasche, durchsuchte sie bis zum Boden und hörte das Knistern. Sie zog den Beutel M&Ms heraus, riss ihn auf und kippte sich etliche in die Hand. Danach begann sie die Kugeln eine nach der anderen in den Mund zu werfen, als wären es Zoloft-Tabletten. Sie hoffte, die Schokolade würde sie beruhigen. Gewöhnlich tat sie das.

„Ja, natürlich kommt er“, sagte sie halblaut, als müsste sie zur Bestätigung den Klang der eigenen Stimme hören. „Ihm ist etwas dazwischengekommen, um das er sich kümmern musste. Er ist sehr beschäftigt.“

Nach allem, was er in der letzten Woche für sie getan hatte … nun ja, da konnte sie wirklich ein bisschen warten.

Sie hatte sich etwas vorgemacht zu glauben, Grannys Tod berühre sie nicht besonders. Granny war der einzige Mensch gewesen, der sie verstanden und unterstützt hatte. Sie war für ihre Enkelin eingetreten und hatte sie verteidigt, wo immer es ging. Zum Beispiel hatte sie überall erzählt, Joan sei auf Grund ihres unabhängigen Naturells mit Vierzig noch Single und keineswegs ein bedauernswerter Fall.

Und nun war Granny, ihre Beschützerin, ihre Vertraute, ihre Anwältin, nicht mehr da. Auch dass sie ein langes und wunderbares Leben gehabt hatte, tröstete sie nur wenig. Sonny hatte ihren Schmerz über den Verlust und ihre Trauer erkannt und ihr durch die letzte Woche geholfen. Er hatte ihr erlaubt und sie sogar darin bestärkt zu trauern. Und er hatte sie ermutigt, ein bisschen zu jammern und zu klagen.

Sie lächelte, als sie sich sein Gesicht mit der ernst gefurchten Stirn vorstellte. Sonny wirkte immer sehr ernst und beherrscht. Und im Moment brauchte sie jemanden, der diese ruhige Stärke ausstrahlte.

In der Sekunde erhellten wie zur Belohnung ihrer Gedanken zwei Scheinwerfer die Dunkelheit. Sie sah einen Wagen die kurvenreiche Allee zur Kuppe mühelos nehmen, als kenne der Fahrer die Strecke zu diesem Treffpunkt hoch über der Stadt auch im Dunkeln – als käme er oft hierher.

Unerwartet hatte sie vor Aufregung und Beklommenheit Schmetterlinge im Bauch und schalt sich dafür. Diese Nervosität konnte sie einem unreifen Schulmädchen nachsehen, aber keiner Frau ihres Alters.

Sie sah den Wagen hinter ihrem anhalten und spürte geradezu die starken Scheinwerfer im Nacken, als wären es seine kräftigen Hände, die manchmal leicht nach Vanille rochen. Er hatte erklärt, der Vanilleduft überlagere die anderen penetranten Gerüche, mit denen er regelmäßig zu tun habe. Dabei war er leicht verlegen gewesen, doch ihr machte der Geruch nichts aus. Im Gegenteil, sie mochte ihn inzwischen ganz gern. Vanille hatte etwas Tröstliches.

Der Donner grollte jetzt über ihr. Die Regentropfen wurden dicker und zahlreicher, pladderten auf ihre Windschutzscheibe und nahmen ihr die Sicht. Sie sah einen Schatten, die schwarze Silhouette eines Mannes mit Hut, aus dem Wagen steigen. Er hatte den Motor ausgeschaltet, die Scheinwerfer jedoch nicht, was es ihr fast unmöglich machte, ihn gegen das grelle Licht und durch die feuchte Scheibe zu erkennen.

Er holte etwas aus dem Kofferraum. Eine Tasche. Kleidung zum Wechseln? Vielleicht hatte er ihr ein Abschiedsgeschenk gekauft? Bei dem Gedanken musste sie wieder lächeln. Doch als er näher kam, merkte sie, dass der Gegenstand lang und schmal war. Etwas, das er an einem Griff tragen konnte … eine Reisetasche vielleicht?

Er hatte ihren Wagen fast erreicht, als sie in einem Blitz das Glänzen von Metall sah. Jetzt erkannte sie auch den Kettenmechanismus um die Schneide und die herabbaumelnde Leine des Anlassers. Sie musste sich irren. Vielleicht war das ein Witz. Ja, ein Witz. Warum sollte er eine Kettensäge mitbringen?

Dann sah sie sein Gesicht.

Im Wolkenbruch erhellt vom grellen Blitzlicht wirkte es finster und entschlossen. Er starrte sie unter dem Rand des Hutes hinweg an, die Miene zornig, der Blick durchdringend, wie sie es noch nie gesehen hatte. Durch den Regen und die trennende Seitenscheibe starrte er ihr in die Augen. Hier war etwas auf entsetzliche Weise nicht in Ordnung. Er sah aus wie ein Besessener.

Joan fürchtete, den Verstand zu verlieren vor Panik. Er stand an ihrer Autotür und starrte zu ihr hinein. Ein Donnerschlag über ihr erschreckte sie so, dass sie zusammenzuckte, ließ sie aber auch schlagartig aktiv werden, wie durch einen kleinen Stromschlag animiert. Fieberhaft tastete sie in der Dunkelheit nach Knöpfen, suchte, fühlte, drückte. Ihr Herzschlag pochte ihr in den Ohren, oder war das ein weiteres Donnergrollen? Verzweifelt probierte sie mehrere Knöpfe aus. Ein Surren, und die Fensterscheibe glitt hinab. Falscher Knopf. Verdammtes Mietauto! Sie probierte weiter.

Oh mein Gott! Zu spät!

Er riss die Wagentür auf. Dem klingelnden Warnton folgte das laute Trommeln der Regentropfen. Der ärgerliche Warnton teilte ihr mit, dass der Schlüssel noch im Zündschloss steckte, und bestätigte ihr zugleich, dass es zu spät war.

„Guten Abend, Joan“, sagte er mit seiner sanften Stimme, die in Verbindung mit der finsteren Miene jedoch nur seinen Wahn unterstrich. In dem Moment wusste Joan Begley, dass niemand sie mehr jammern und klagen und niemand ihren letzten Schrei hören würde.

2. KAPITEL

Montag, 15. September,

Wallingford, Connecticut

Luc Racine tat, als wäre es ein Spiel. So hatte es vor einigen Monaten angefangen, als albernes Ratespiel mit sich selbst. Außer dass er jetzt in Socken am Ende seiner Zufahrt stand und auf die in Plastik eingehüllte Zeitung am Boden blickte, als wäre sie eine Rohrbombe, dort abgelegt, ihn zu täuschen.

Er drehte sich einmal im Kreis, um zu sehen, ob seine Nachbarn ihn beobachteten. Was für keinen von ihnen eine leichte Aufgabe gewesen wäre. Vom Ende seiner Straße hier oben konnte Luc kaum ihre Häuser erkennen, geschweige denn ihre Fenster, die hinter dichtem Blattwerk verborgen waren. Die Strahlen der über dem Bergkamm aufgehenden Sonne konnten das dichte Blätterdach der alten Eichen- und Walnussbäume am Whippoorwill Drive nicht durchdringen. Es war unmöglich, oberhalb oder unterhalb seines Hauses etwas auf der Straße zu erkennen. Die Autos blieben nur für Sekunden sichtbar, ehe sie wieder verschwanden.

Die Straße schlängelte sich – zu beiden Seiten von Bäumen und Kletterpflanzen gesäumt, die manchmal sogar oben zusammenwuchsen –, sodass man nie mehr als zwanzig, dreißig Meter überblicken konnte. Wer sie befuhr, fühlte sich wie auf einer schlingernden Achterbahn. Sie führte steil bergan, um dann plötzlich in Windungen von neunzig Grad hinabzuführen, was einem drei, vier Sekunden Heiterkeit bescherte, während einem der Magen in die Kehle geschoben wurde und der Fuß über der Bremse verharrte. Die schöne Umgebung und die dramatische Abfahrt nahmen einem buchstäblich den Atem. Das gehörte zu den Dingen, die Luc Racine an dieser Gegend liebte, und er sagte es jedem, der es hören wollte. Ja, hier im Herzen von Connecticut hatten sie alles: Berge, Wasser, Wald, und der Ozean war nur Minuten entfernt.

Seine Tochter neckte ihn häufig, er könne verdammte Reklame für die Tourismusbehörde machen. Worauf er gewöhnlich antwortete: „Ich habe dich nicht dazu erzogen, zu fluchen wie ein Seemann. Du bist nicht zu groß, dass ich dir nicht immer noch den Mund mit Seife auswaschen könnte.“

Lächelnd dachte er an sein kleines Mädchen. Sie hatte wirklich eine große Klappe, besonders jetzt als erfolgreicher Detective in … verflixt! Warum konnte er sich nicht an den Namen der Stadt erinnern? Es war doch ganz einfach. Da, wo die ganzen Politiker waren, das Weiße Haus und der Präsident. Der Name lag ihm auf der Zunge.

Er merkte, dass er schon wieder auf dem Weg zur Haustür war, aber mit leeren Händen.

„Mist!“ Er drehte sich um und sah den Weg zurück. Die Zeitung lag noch dort, wo der Austräger sie hingeworfen hatte. Wie sollte er sich merken, welches Datum gerade war, wenn er nicht mal daran dachte, die dumme Zeitung mitzunehmen? Das konnte kein gutes Zeichen sein. Er zog ein kleines Notizbuch mit Schreibstift aus der Hemdtasche, notierte das Datum – zumindest glaubte er, dass es dieses Datum war – und schrieb: „Bin zum Ende des Weges gegangen und habe Zeitung vergessen.“

Als er das Notizbuch wieder einsteckte, merkte er, dass er sein Hemd falsch geknöpft hatte. Diesmal waren zwei Knöpfe falsch. Er liebte seine Oxfordhemden – kurzärmelig für den Sommer, langärmelig im Winter –, aber leider musste er sich von ihnen verabschieden. Während er zum Ende des Gartenweges trottete, stellte er sich vor, wie er mit seinem schwarzen Barett in T-Shirts oder Poloshirts aussehen würde. Wirkte das vielleicht albern? Und wenn schon, machte ihm das etwas aus?

Er nahm den Hartford Courant, zog ihn aus seiner Plastikhülle und entfaltete ihn schwungvoll wie ein Magier. „Und der Tag heute ist der … ja, Montag, der 15. September.“ Erfreut faltete er die Zeitung wieder zusammen, ohne sich auch nur eine einzige Schlagzeile anzusehen, und stopfte sie sich unter den Arm.

„He, Scrapple!“ rief er seinem Jack Russell Terrier zu, der aus dem Wald gelaufen kam. „Ich hatte wieder Recht.“ Doch der Hund beachtete ihn nicht. Völlig auf den riesigen Knochen in seiner Schnauze konzentriert, vollführte er einen Balanceakt zwischen Tragen und Zerren und verlor fast seine Beute.

„Scrap, mein alter Junge, eines Tages werden dir die Kojoten auflauern, weil du ihnen ihre Beute klaust“, scherzte er. Kaum hatte Luc zu Ende gesprochen, gab es ein lautes Krachen auf der anderen Seite des Wäldchens, als schlüge Metall gegen Fels. Erschrocken ließ der Hund den Knochen fallen und kam ängstlich zu Luc gelaufen, als wären die Kojoten tatsächlich hinter ihm her.

„Ist schon okay, Scrapple“, beschwichtigte er den Hund, als ein weiterer Schlag den Boden erzittern ließ. „Was ist da denn los?“

Luc schlüpfte eilig in seine Schuhe und ging den Pfad entlang, der in den Wald führte. Etwa eine Viertelmeile Wald und Buschwerk trennten sein Grundstück von einem stillgelegten Steinbruch. Der Besitzer hatte das Geschäft schon vor Jahren aufgegeben und den Steinbruch einfach verfallen lassen. Wobei Geräte und Berge von Fels, die noch zerkleinert und abtransportiert werden mussten, zurückgeblieben waren. Wer hätte gedacht, dass der wertvolle Sandstein den Abgasen von New York City eines Tages nicht mehr standhalten würde?

Irgendjemand hatte angefangen, den abgelegenen Steinbruch als freie Müllkippe zu missbrauchen. Luc hatte gehört, dass Calvin Vargus und Wally Hobbs engagiert worden waren, aufzuräumen und den Müll zu entfernen. Bisher hatte er aber nur große gelbe Baufahrzeuge neben dem alten verrosteten Zeug parken sehen. Er wusste noch, wie er gedacht hatte, dass Vargus und Hobbs – oder Calvin und Hobbs, wie sie von den Leuten in der Stadt genannt wurden – den Steinbruch nur als billiges, sicheres und abgeschiedenes Lager für ihre Ausrüstung nutzten.

Jetzt sah er auf der anderen Seite der Bäume, wie die schwere Planierraupe mit ihrer großen Schaufel riesige Felsbrocken von einer Seite zur anderen schaffte. Er hatte vergessen, wie abgelegen dieser Teil war, und konnte zwischen den Bäumen kaum den Lehmpfad, den einzigen Zugang, erkennen. Die überwucherte Weide davor wurde auf einer Seite von dem ausgebeuteten, seines wertvollen Sandsteins beraubten Berg und auf den restlichen von Wald eingerahmt.

Luc erkannte Calvin Vargus im offenen Führerhaus an den Hebeln der Monstermaschine. Er sah ihn mit seinen dicken Armen an den Hebeln ziehen und drücken, damit die Schaufel wie ein großes Maul Fels aufnahm. Ein weiterer Hebelzug, und die riesige gelbe Maschine drehte sich zur Seite und spie den Fels polternd und donnernd wieder aus.

Die Erschütterung ließ Calvins Kopf wackeln. Der Schirm einer orangefarbenen Baseballkappe schützte seine Augen vor der Morgensonne, jedoch bemerkte er Luc aus den Augenwinkeln und winkte.

Luc erwiderte den Gruß und nahm ihn als Aufforderung näher zu treten. Das Geräusch der schweren Baumaschine dröhnte ihm in den Ohren, und er spürte die Vibrationen von den Zehen bis zu den Zähnen. Was Luc faszinierte, ängstigte Scrapple halb zu Tode. Was für eine Memme, stahl riesige Knochen und hatte Angst vor ein bisschen Lärm. Der kleine Hund folgte Luc so dichtauf, dass er ihm mit der Nase in die Waden stieß.

Das riesige gelbe Maul der Raupe nahm noch einen Bissen, der aus zerkleinertem Fels, Gebüsch und Müll bestand. Diesmal löste sich ein verrostetes Fass und rollte den Felshaufen hinab. Es krachte gegen die scharfen Felskanten, platzte auf, und der Deckel flog wie eine Frisbee-Scheibe davon.

Luc sah dem Deckel nach, verblüfft von seiner Geschwindigkeit und Flugbahn. Den verschütteten Fassinhalt bemerkte er nur aus den Augenwinkeln. Zuerst hielt er es für alte Kleidung oder einen Haufen Lumpen. Dann entdeckte er einen Arm und dachte an eine Schaufensterpuppe. Schließlich diente das hier jemand als Müllkippe.

Aber dann bemerkte er den Gestank.

So roch kein gewöhnlicher Müll. Nein, das hier roch anders. Es roch nach … Tod. Es machte ihm nicht wirklich Angst, bis Scrapple anfing zu heulen – ein hoher lang gezogener Ton, der den Lärm der Maschine übertönte und Luc eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

Calvin hielt die Schaufel in der Luft an und schaltete den Motor aus. Plötzlich verstummte auch Scrapple, und eine unheimliche Stille senkte sich herab. Luc ließ das Fass nicht aus den Augen, bemerkte jedoch am Rande, wie Calvin sich die Kappe in den Nacken schob. Reglos warf er einen Blick zu dem kräftigen Mann in der Fahrzeugkabine, der jetzt wie gelähmt dasaß.

Luc bemerkte ein Pochen in den Ohren, das keine Nachwirkung des Maschinenlärms war. Vielmehr hämmerte sein Herz so laut, dass er kaum die vorbeifliegenden Gänse hörte. Ein Schwarm aus dutzenden Tieren schrie und quakte auf der täglichen Pilgerreise zum McKenzie Reservoir oder zurück. In der Ferne hörte er das Brummen des Berufsverkehrs auf der I-91. Die alltägliche Geräuschkulisse eines ganz normalen Tages.

Ein normaler Tag, dachte Luc versonnen, als er die Morgensonne durch die Bäume kommen und das bläulich weiße Fleisch bescheinen sah, das aus dem Fünfundfünfzig-Gallonen-Fass gerollt war. Er fing Calvins Blick auf und erwartete, in dessen Miene dieselbe Panik zu erkennen, die er empfand. Panik war vielleicht vorhanden, eventuell sogar ein wenig Abscheu über den Anblick. Was Luc zu seinem Erstaunen in Calvins Gesicht jedoch nicht sah, war Überraschung.

3. KAPITEL

FBI-Akademie,

Quantico, Virginia

Maggie O’Dell langte nach dem letzten Doughnut mit Schokoladenguss und Zuckerstreuseln in grellem Pink und Weiß und hörte bereits das tadelnde „Ts, Ts“ ihres Kollegen. Sie warf ihrem Partner, Spezialagent R. J. Tully, einen Blick über die Schulter zu.

„So was isst du zum Lunch?“ fragte er.

„Zum Nachtisch.“ Sie wählte noch ein kleines, in Zellophan gewickeltes Tablett mit der täglichen Spezialität der Cafeteria. Etwas, das auf der Wandtafel als „Tacorito Super“ angepriesen wurde. Maggie dachte unwillkürlich, dass nicht mal das FBI etwas so Gutes wie mexikanische Gerichte verhunzen konnte.

„Doughnuts sind kein Dessert“, beharrte Tully.

„Du bist nicht zufällig sauer, weil es der letzte war?“

„Ich muss doch bitten. Doughnuts sind Frühstück. Kein Dessert“, belehrte er sie und hielt die Schlange auf, während er darauf wartete, dass Arlene ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte, die gerade einen aus dem heißen Ofen genommenen Topf mit Sahnemais abstellen musste. Dann deutete er auf das Roastbeef. „Fragen wir die Expertin. Doughnuts sind doch Frühstück, oder, Ariene?

„Also, wenn ich Agentin O’Dells Figur hätte, könnten Sie mich zu jeder Mahlzeit Doughnuts essen sehen.“

„Danke, Arlene.“ Maggie stellte noch eine Diät-Cola auf ihr Tablett und deutete der Kassiererin, einer kleinen, ihr unbekannten Frau mit Maulwurfsgesicht, an, dass sie auch für die Speisen auf dem nachfolgenden Tablett zahle.

„Wow“, machte Tully, als er ihre Großzügigkeit bemerkte. „Aus welchem besonderen Anlass?“

„Willst du behaupten, ich zahle nie, außer zu besonderen Anlässen?“

„Nun ja, einmal das … und dann der Doughnut.“

„Könnte es nicht sein, dass ich einfach einen guten Tag habe?“ sagte sie ihm auf dem Weg zu einem Fenstertisch. Draußen beendeten auf einer der vielen Bahnen ein halbes Dutzend Rekruten ihren täglichen Lauf mit einem Slalom zwischen den Pinien. „Der Unterricht ist für diese Periode beendet, ich habe keine Albträume mehr, die mich nachts wach halten, und ich nehme mir zum ersten Mal seit… na ja, ungefähr hundert Jahren ein paar Tage frei. Ich freue mich darauf, in meinem Garten zu arbeiten, und habe mir für die südwestliche Ecke sogar drei Dutzend Narzissenzwiebeln gekauft. Ich werde mit Harvey das wunderbare Herbstwetter genießen, in der Erde buddeln und mit ihm Fangen spielen. Warum sollte mich das nicht in gute Laune versetzen?“

Tully beobachtete sie. Irgendwann, so etwa bei den Narzissenzwiebeln, merkte sie, dass er ihr nicht glaubte. Er schüttelte den Kopf. „Du hast dich noch nie über Freizeit gefreut, O’Dell. Ich habe dich vor einem dreitägigen Wochenendurlaub für alle erlebt. Du hast jeden angepflaumt, nur ja Dienstagmorgen frühzeitig im Büro zu sein, damit dich keiner in deinen Ermittlungen aufhält. Es würde mich nicht wundern, wenn du dir für deinen Gartenurlaub die Taschen mit Akten voll gestopft hättest. Also, was ist nun wirklich mit dir los? Warum grinst du wie ein Honigkuchenpferd?“

Sie verdrehte die Augen. Ihr Partner, stets der Profiler, war immer im Dienst und löste Rätsel. Vermutlich eine Berufskrankheit. „Okay, wenn du es unbedingt wissen musst: Mein Anwalt hat die letzten – wirklich die allerletzten – Scheidungspapiere von Gregs Anwalt zugesandt bekommen. Diesmal waren alle unterzeichnet.“

„Demnach ist alles vorüber. Und du kommst damit klar?“

„Natürlich komme ich damit klar. Warum denn nicht?“

„Ich weiß nicht.“ Tully zuckte die Achseln und steckte sich seine Krawatte, die bereits Kaffeeflecken hatte, ins Hemd. Dann lud er sich den Kartoffelbrei mit Soße auf sein Roastbeef.

Maggie sah zu, wie er die Hemdmanschette, ohne es zu bemerken, in die Soße tunkte, während er aus dem Kartoffelbrei einen Damm baute. Leicht den Kopf schüttelnd widerstand sie der Versuchung, über den Tisch zu langen und an seinem neuesten Fleck zu reiben.

Unterdessen arbeitete Tully weiter mit der Gabel und jetzt auch dem Messer an seiner Lunchkreation. „Ich erinnere mich nur, dass ich sehr gemischte Gefühle hatte, als meine Scheidung durch war.“ Er hob den Kopf, sah ihr prüfend in die Augen und verharrte mit der Gabel in der Luft, als erwarte er nach seinem Geständnis nun auch eines von ihr.

„Deine Scheidung hat sich nicht über fast zwei Jahre hingezogen. Ich hatte genügend Zeit, mich an den Gedanken, eine geschiedene Frau zu sein, zu gewöhnen.“ Er sah sie immer noch an. „Mir geht es gut. Wirklich. Es ist verständlich, dass du gemischte Gefühle hattest. Du musst mit Caroline zusammen eure Tochter Emma aufziehen. Greg und ich hatten wenigstens keine Kinder. Wahrscheinlich das Einzige, was wir in unserer Ehe richtig gemacht haben.“

Maggie begann ihren Tacorito auszuwickeln und wunderte sich über Arlenes großzügige Verwendung von Zellophan. Schließlich hielt sie inne und konnte einfach nicht anders, als Tully mit der Serviette die Soße von der Manschette zu tupfen. Solche Gesten waren ihm längst nicht mehr peinlich, und diesmal hielt er ihr sogar das fehlgeleitete Handgelenk hoch.

„Wie geht es Emma überhaupt?“ fragte sie und widmete sich wieder ihrem Lunch.

„Gut. Sie ist beschäftigt. Ich sehe sie kaum noch. Zu viele Aktivitäten nach der Schule. Und Jungs … zu viele Jungs.“

Maggies Handy meldete sich und unterbrach ihre Unterhaltung.

„Maggie O’Dell.“

„Maggie, hier ist Gwen. Können wir reden?“

„Ich sitze gerade mit Tully bei einem frühen Lunch. Was ist los?“ Maggie kannte Gwen Patterson gut genug, um die Dringlichkeit aus ihrem Tonfall herauszuhören, obwohl Gwen das hinter kühler Professionalität zu verbergen suchte. Sie hatte Dr. Patterson vor zehn Jahren kennen gelernt, als sie Assistentin im forensischen Programm des FBI gewesen war und Gwen eine beratende Psychologin, die oft von ihrem Boss, dem stellvertretenden Direktor Kyle Cunningham, hinzugezogen wurde. Trotz des Altersunterschiedes – Gwen war dreizehn Jahre älter als Maggie – waren sie sofort Freundinnen geworden.

„Ich habe mich gefragt, ob du etwas für mich nachprüfen könntest.“

„Sicher. Was brauchst du?“

„Ich mache mir Sorgen um eine Patientin. Ich fürchte, sie könnte in Schwierigkeiten stecken.“

„Okay.“ Maggie war ein wenig überrascht. Gwen sprach nur selten über ihre Patienten, und um Hilfe bat sie schon gar nicht. „In was für Schwierigkeiten?“

„Ich weiß es nicht genau. Vielleicht ist ja gar nichts dran, aber ich würde mich besser fühlen, wenn jemand es überprüfen könnte. Sie hat mir Samstagnacht eine beunruhigende Nachricht geschickt. Ich konnte sie seither nicht erreichen. Dann hat sie heute Morgen unsere Sitzung versäumt. Das tut sie sonst nie.“

„Hast du schon ihren Arbeitgeber oder ihre Familie angerufen?“

„Sie ist Künstlerin, selbstständig. Sie hat keine Familie, außer ihrer Großmutter. Und zur Beerdigung eben dieser Großmutter war sie gefahren. Das ist noch so eine Sorge. Du weißt, was Beerdigungen emotional auslösen können.“

Damit kannte sich Maggie allerdings aus. Selbst nach über zwanzig Jahren konnte sie an keiner Beerdigung teilnehmen, ohne Visionen ihres im Feuerwehreinsatz den Heldentod gestorbenen Vaters zu haben, wie er in dem großen Mahagonisarg lag, die Haare zur falschen Seite gekämmt, die verbrannten Hände in Plastik eingewickelt und an die Körperseiten gelegt.

„Maggie?“

„Könnte sie nicht einfach beschlossen haben, noch ein, zwei Tage zu bleiben?“

„Ich bezweifle, dass sie das tun würde. Sie wollte eigentlich nicht mal zur Beerdigung fahren.“

„Vielleicht hatte sie auf der Rückfahrt eine Autopanne.“ Maggie fragte sich, ob Gwen überreagierte. Es war doch durchaus logisch, dass jemand noch ein, zwei Tage auszuspannen versuchte, anstatt gleich wieder nach Haus zu einer Sitzung mit der Seelenklempnerin zu fahren, die analysierte, wie es einem ging. Aber Maggie wusste auch, dass nicht jeder auf Stress und Tragödien so reagierte wie sie selbst.

„Nein, sie hat am Ort ein Auto gemietet. Das ist auch so eine komische Sache. Der Wagen wurde noch nicht zurückgebracht. Das Hotel sagte, sie hätte gestern ausziehen sollen, hat aber weder ausgecheckt noch mitgeteilt, dass sie länger bleiben möchte. Und sie hat gestern ihren Flug verpasst. Das ist nicht ihre Art. Sie hat psychische Probleme, jedoch nicht im Hinblick auf die Organisation ihres Alltags oder ihre Zuverlässigkeit.“

„Du hast selbst gesagt, dass Beerdigungen emotional belastend sein können. Vielleicht wollte sie sich nur ein paar Tage freinehmen, ehe sie wieder in den Alltagstrott zurückkehrt. Außerdem würde mich interessieren, wie du rausgekriegt hast, dass sie ihren Flug verpasst hat?“ Fluglinien gaben nicht einfach so ihre Passagierlisten preis. Nach Gwens jahrelangen Predigten, sie solle sich beruflich gefälligst an die Regeln halten, erwartete Maggie nun das Eingeständnis eines Regelverstoßes von ihr. Genau betrachtet war Gwen an eine Menge Informationen gelangt, die normalerweise nicht herausgegeben wurden.

„Maggie, da ist etwas faul“, erwiderte Gwen erneut eindringlich, jedoch ohne auf ihre Frage einzugehen. „Sie wollte sich mit jemandem treffen – mit einem Mann. Das hat sie mir auf Band gesprochen. Sie rief mich an, damit ich ihr dieses Rendezvous ausrede. Sie hat diese … diese Tendenz … also, Maggie, ich möchte nicht über Details ihres Problems reden. Sagen wir einfach, dass sie in der Vergangenheit in Bezug auf Männer einige sehr schlechte Entscheidungen getroffen hat.“

Maggie sah über den Tisch und merkte, dass Tully sie lauschend beobachtete. Wie ertappt wandte er rasch den Blick ab. Ihr war seit kurzem aufgefallen, dass er an allem interessiert schien, was Gwen Patterson betraf – obwohl er das zu verbergen suchte. Oder bildete sie sich das ein?

„Was willst du damit sagen, Gwen? Glaubst du, dass dieser Mann ihr etwas angetan hat?“

Wieder Schweigen. Maggie wartete. Erkannte Gwen inzwischen, dass sie überreagierte? Warum sorgte sie sich ausgerechnet um diese Frau so sehr? Sie hatte nie erlebt, dass Gwen eine Art Kindermädchenfunktion bei ihren Patienten übernahm. Bei Freunden schon, aber nicht bei Patienten.

„Maggie, hast du eine Möglichkeit, die Sache zu überprüfen? Kannst du irgendwo Erkundigungen einziehen?“

Maggie sah wieder zu Tully. Der hatte seinen Lunch beendet und blickte scheinbar desinteressiert aus dem Fenster. Unten schlängelte sich eine weitere Rekrutengruppe in verschwitzten T-Shirts zwischen den Bäumen hindurch.

Maggie pickte mit der Gabel auf ihrem Teller herum. Wieso spielte Gwen plötzlich die Fürsorgerin? Der Fall schien doch ziemlich eindeutig zu sein. Da nahm sich jemand ein paar Tage, um zu trauern, und fand vielleicht Trost bei einem freundlichen Fremden. Warum sah Gwen das so dramatisch?

„Maggie?“

„Ich tue, was ich kann. Wo hat sie gewohnt?“

„Die Beerdigung war in Wallingford, Connecticut, aber sie wohnt im Ramada Plaza Hotel in Meriden. Ich habe Adresse und Telefonnummer hier. Ich kann dir später noch weitere Informationen zufaxen, einschließlich einer E-Mail, die sie mir wegen dieses Mannes geschickt hat.“

Maggies Magen reagierte nervös, als sie die Informationen notierte. Dabei dachte sie andauernd: nicht ausgerechnet Connecticut.

4. KAPITEL

Sheriff Henry Watermeier schob den Hut zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Scheiße!“ brummte er vor sich hin und wäre am liebsten losmarschiert, um sich den Frust abzulaufen. Doch er blieb, wo er war. Hände an der Gürtelschnalle, wartete er ab, beobachtete, dachte nach und versuchte den Gestank des Todes und das Summen der Fliegen zu ignorieren. Mein Gott, diese Fliegen waren die reinste Pest. Minihyänen, ungeduldig und beharrlich trotz der Plastikplane.

Es war nicht die erste Leiche, die er an ungewöhnlichen und sonderbaren Orten versteckt gesehen hatte. Während seiner dreißig Jahre bei der New Yorker Polizei hatte er sein Maß an Abartigkeiten erlebt. Aber doch nicht hier.

Verbrechen wie dieses passierten in Connecticut gewöhnlich nicht. Exakt solchen Taten hatte er zu entfliehen gehofft, als er sich von seiner Frau überreden ließ, hierher mitten ins Nirgendwo zu ziehen. Natürlich, Fairfield County und die Küstenregion bekamen auch ihren Teil an Kriminalität ab. Da gab es reichlich Aufsehen erregende Fälle – verdammt große Fälle sogar, wie den der dämlichen Publizistin, die mit ihrem Geländewagen sechzehn Leute überfahren hatte. Oder der Mord an Martha Moxley, den man erst nach Jahrzehnten aufklären konnte. Oder Alex Cross, Connecticuts eigener junger Vergewaltiger. Ja, an der Küste und näher zu New York gab es reichlich Kriminalität, aber im Herzen von Connecticut war es ruhiger. Eine Sauerei wie diese sollte hier nicht passieren.

Er hatte seine Deputys angewiesen, den Bereich weiträumig mit gelbem Band abzusperren. Es würde verdammt viel Band draufgehen. Er beobachtete zwei seiner Männer, wie sie es von Baum zu Baum wickelten. Dabei hatte Arliss eine verdammte Zigarette aus dem Mundwinkel hängen, und Truman, dieser Grünschnabel, keifte jeden an, der sich auch nur auf zehn Fuß näherte.

„Arliss! Passen Sie auf, dass die Kippe nicht auf dem Boden landet!“ Der Deputy blickte erstaunt auf, als habe er keinen Schimmer, wovon sein Boss redete. „Ich meine die verdammte Zigarette. Nehmen Sie die aus dem Schnabel. Sofort!“

Endlich dämmerte es Arliss. Er nahm die Zigarette aus dem Mund, drückte sie an einem Baumstamm aus und wollte sie wegwerfen, hielt jedoch in der Bewegung inne. Henry sah, wie Verlegenheitsröte den Nacken des Deputy hinaufkroch, bevor er den Zigarettenstummel schließlich unter dem Hut hinter sein Ohr schob. Henry war fast so wütend, als hätte Arliss den Stummel tatsächlich weggeworfen. Seine erste Ermittlung am Tatort eines Kapitalverbrechens als County Sheriff von New Haven konnte sehr leicht zur letzten seiner Laufbahn werden. Und diese verdammten Tölpel ließen ihn wie einen Idioten aussehen.

Henry blickte sich über die Schulter, als gelte sein Interesse der Umgebung allgemein. In Wahrheit wollte er nur prüfen, ob Kanal 8 immer noch die Kamera auf ihn richtete. Die Scheißlinse zielte auf seinen Rücken. Er hätte es wissen müssen, er konnte es spüren, wie das Auftreffen eines Laserstrahls. Und genauso gefährlich konnte es werden, wenn er nicht sehr vorsichtig war.

Warum bloß hatte dieser Calvin Vargus die Medien informiert? Natürlich wusste er, warum. Dabei kannte er Vargus nicht einmal persönlich, sondern nur seinen Ruf, dem der Hurensohn mehr als gerecht zu werden schien, wie er da mit dieser hübschen kleinen Reporterin aus Hartford brabbelte, obwohl er ihn ausdrücklich gebeten hatte, den Mund zu halten. Er konnte Vargus jedoch nicht zur Verschwiegenheit zwingen, es sei denn, er sperrte ihn ein. Und danach war ihm zu Mute.

Er musste sich auf den Fall konzentrieren. Vargus war sein kleinstes Übel. Er hob die Plane und zwang sich, die Leiche zu betrachten, zumindest den Teil, der aus dem Fass ragte. Soweit er es erkennen konnte, trug sie eine Seidenbluse mit französischen Manschetten. Die Fingernägel waren professionell manikürt, die Haare vermutlich gefärbt und am Ansatz eine Spur dunkler. Aber das war nicht eindeutig zu klären, so verklebt und blutverschmiert, wie sie waren. Eine Menge Blut klebte da. Das war eindeutig die Verletzung, die zum Tod geführt hatte. Man brauchte keinen Gerichtsmediziner, um das zu erkennen.

Er ließ die Plane fallen und fragte sich, ob die arme Frau von hier stammte. Ehe er sein Büro verlassen hatte, war er die Liste von Vermissten durchgegangen und hatte besonders auf die aus New Haven County geachtet. Doch auf keinen traf die vorläufige Beschreibung dieser Toten zu. Die Liste umfasste einen College-Studenten, der seit dem Frühling nicht mehr zu Vorlesungen erschienen war, einen Drogensüchtigen, der vermutlich von zu Hause abgehauen war, und eine ältere Frau, die angeblich morgens zum Milchholen ging und nicht mehr gesehen wurde. Eine gut Vierzigjährige mit langem Haar, teurer Seidenbluse und manikürten Fingernägeln war nicht darunter.

Henry atmete tief durch, um seinen Kopf zu klären und besser denken zu können. Er blickte zum wolkenlosen Himmel hinauf und entdeckte einen zweiten Gänseschwarm. Glückliche Viecher. Vielleicht wurde er langsam alt und müde. Vielleicht war er aber auch einfach noch nicht so weit, seine Pensionsträume in die Tat umzusetzen: endlos lange Angeltage an den Ufern des Connecticut River mit einem Kühler voller Budweiser und Sandwiches mit geräucherter Pute, Salami und Provolone. Ja, Sandwiches, aber nicht irgendwelche, sondem die mit allem Drum und Dran aus Vinnys Delikatessengeschäft und ordentlich in dieses weiße Papier eingewickelt. Davon könnte er jetzt eins vetragen.

Er warf einen letzten Blick auf das Fass. Die Fliegen krochen unter die Plane, und ihr Summen wurde stärker anstatt leiser. Verdammte Plagegeister. Sie würden die feuchten Körperregionen besiedeln und sich dort einnisten, noch ehe der Rechtsmediziner kam. Nichts als Fliegen und ihre verdammten madigen Nachkommen. Er hatte gesehen, welchen Schaden sie in wenigen Stunden anrichten konnten. Ekelhaft. Und er stand hier und dachte an Vinnys Sandwiches. Nun ja, da musste schon einiges mehr passieren, ehe er den Appetit verlor.

Rosie, seine Frau, würde behaupten, seine mangelnde Anteilnahme sei Ausdruck seiner Erschöpfung. Herrgott, sie redete tatsächlich so geschwollen daher. Er erklärte lieber, er sei schlichtweg leer gepisst und ausgebrannt. Dieser kurze Einsatz als County Sheriff von New Haven hätte ihm helfen sollen, den Übergang von der unerträglichen Hektik New Yorks zur Gelassenheit Connecticuts zu finden, um schließlich in Ruhe und Frieden in Pension zu gehen.

Aber das hier … nein, so hatten sie nicht gewettet. Er brauchte keinen ekelhaften, ungeklärten Mord, der ihm den Ruf ruinierte. Wie sollte er hier mit Rosie seinen Ruhestand verleben, wenn hinter seinem Rücken getuschelt und gelästert wurde?

Er warf wieder einen Blick zu Arliss hinüber. Der gottverdammte Idiot hatte ein Stück Absperrband am Schuh kleben, das er hinter sich her zog wie Toilettenpapier, und der Dummkopf merkte es nicht mal.

Nein, mit einer Pleite wollte er seine berufliche Laufbahn keinesfalls beenden.

5. KAPITEL

Tully sah O’Dell einige auf ihrem Schreibtisch gestapelte Aktenordner durchgehen.

„So viel zum Thema Urlaub“, sagte sie, und ihre gute Laune hatte einen leichten Dämpfer erhalten.

Er hatte geglaubt, nach dem Telefonat mit Dr. Patterson sei ihr die Laune endgültig verdorben gewesen, doch Maggie ignorierte fröhlich das Faxgerät, das mehrere Seiten Details zu Pattersons vermisster Patientin ausspie. Anstatt sich die Blätter zu holen und zu lesen, suchte O’Dell etwas, das offenbar in dem Stapel verloren gegangen war. Vielleicht ein Fall, den sie mit nach Hause nehmen wollte, um ihn in den Pausen ihrer Gartenarbeit zu studieren. Was war schon einer mehr, wenn sie auch noch Dr. Pattersons übernahm?

Tully sank in den Sessel, den sie zu seinem Erstaunen noch in ihr kleines, aber geordnetes Büro gequetscht hatte. Ihre Büros in BSU, der Behavioral Science Unit, der Abteilung für wissenschaftliche Verhaltensstudien, konnte man eher als Schachtel bezeichnen. Trotzdem fanden in O’Dells noch ordentlich sortierte Bücherregale Platz, in denen nicht ein Buch quer obenauf lag. Bei genauem Hinsehen bemerkte er, dass die Bücher außerdem nach Themen alphabetisch geordnet waren.

Sein Büro hingegen sah wie ein Lagerschuppen aus, mit Bergen von Büchern, Akten und Magazinen – nicht zwangsläufig zu Stapeln geordnet – auf Regalen, dem Schreibtisch, dem Gästestuhl und sogar dem Boden verteilt. An manchen Tagen fand er nur mit Glück einen Weg zu seinem Schreibtisch, unter dem es auch nicht viel besser aussah. Dort stand eine Reisetasche mit Laufschuhen, Shorts und Socken, von denen einige – besonders die schmutzigen – irgendwie nie in der Tasche blieben. Wenn er so darüber nachdachte, erklärten sie möglicherweise den seltsamen Geruch, der sich seit neuestem in seinem Büro breit machte. Er vermisste ein Fenster. In Cleveland hatte er ein Eckbüro im dritten Stock gehabt und es hier in Quantico gegen eine fensterlose Schuhschachtel vier Stockwerke unter der Erde eingetauscht. Ihm fehlte die frische Luft, besonders in dieser Jahreszeit. Der Herbst war ihm immer die liebste gewesen, zumindest früher einmal, vor seiner Scheidung.

Seltsam, wie er seine Erinnerungen in letzter Zeit einteilte: vor der Scheidung und nach der Scheidung. Vor der Scheidung war er viel organisierter gewesen, jedenfalls nicht so chaotisch wie jetzt. Seit dem Umzug nach Quantico kam er irgendwie nicht mehr zu Potte. Nein, das stimmte nicht. Es hatte wenig mit dem Umzug zu tun. Seit seiner Scheidung von Caroline war sein Leben ein einziges Chaos. Ja, es war die Scheidung, die seinen Absturz bewirkt hatte, dieses Trudeln in die Unorganisiertheit. Vielleicht war es das, was ihn an O’Dells Haltung so störte. Sie schien das Ende ihrer Ehe als eine Art Befreiung zu empfinden. Vielleicht beneidete er sie ein wenig.

Er wartete, während O’Dell weitersuchte, das Surren der Faxmaschine ignorierend. Er hätte gern etwas gesagt, um ihre gute Laune wiederherzustellen. Etwas wie: „Was? Kein farbcodiertes Aktensystem?“ Doch ehe er das sagen konnte, bemerkte er, dass die herausgezogenen Akten alle eine rote Markierung trugen. Er rieb sich das Gesicht, um sein Lächeln zu verbergen. Warum konnte er bei dieser Berechenbarkeit seiner Partnerin nicht vorhersagen, was sie vorhatte? Zum Beispiel, wie lange sie ihn noch mit dem letzten Doughnut reizen wollte. Sie hatte ihn in der Zellophanhülle aus der Cafeteria mit ins Büro gebracht und auf die Ecke ihres Schreibtisches gestellt – und da stand er nun und führte ihn in Versuchung.

Schließlich stopfte sie die Akten in ihre Tasche und begann, die Faxseiten einzusammeln. „Sie heißt Joan Begley“, sagte O’Dell, las die Informationen und ordnete die Seiten. „Sie ist seit über zehn Jahren Gwens Patientin.“

Gwen. Tully gestattete sich immer noch nicht, sie beim Vornamen zu nennen. Für ihn war sie Dr. Gwen Patterson. Psychologin in Washington, beste Freundin seiner Partnerin und manchmal Beraterin des FBI für ihren Boss, den stellvertretenden Direktor Cunningham. Für gewöhnlich machte sie ihn ein bisschen wahnsinnig mit ihrem arroganten, allwissenden Psychogequatsche. Dass sie rötlich blondes Haar und schöne Beine hatte, machte die Sache auch nicht besser.

Letzten November hatten sie sich während der Ermittlungen an einem gemeinsamen Fall hinreißen lassen, sich zu küssen. Es war nicht bloß ein Kuss gewesen, es war … ach, egal. Danach waren sie übereingekommen, dass sie einen Fehler begangen hatten und die Sache vergessen wollten. O’Dell sah ihn an, als erwarte sie eine Antwort. Da erst wurde ihm bewusst, dass er eine Frage überhört hatte. Pattersons Schuld.

„Tut mir Leid, was hast du gesagt?“

„Sie war oben in Connecticut zur Beerdigung ihrer Großmutter. Seit Samstagabend hat niemand mehr etwas von ihr gehört oder gesehen.“

„Es kommt mir merkwürdig vor, dass Dr. Patterson sich so um eine Patientin sorgt. Gab es da eine persönliche Beziehung?“

„Also wirklich, Agent Tully, es wäre wohl höchst unprofessionell von mir, Dr. Patterson diese Frage zu stellen.“ Sie sah ihn lächelnd an, was ihn nicht davon abhielt, die Augen zu verdrehen. O’Dell mochte organisiert sein, aber in puncto Protokoll und Verfahrensweisen, manchmal auch bei schlichter Höflichkeit, vergaß sie geflissentlich, wem sie auf die Füße trat. „Also nur zwischen dir und mir, ich halte es auch für ein wenig seltsam.“

Autor

Alex Kava
Alex Kava wuchs in einem Dorf in Nebraska auf. Schon als kleines Mädchen träumte sie davon, Schriftstellerin zu werden, doch ihre Eltern hielten Romane für „Zeitverschwendung“. Alex Kava ließ sich von ihrem Traum dennoch nicht abbringen. Sie schrieb heimlich Kurzgeschichten und versteckte sie in einer Kiste unter dem Bett. Zum...
Mehr erfahren